Artikel als PDF lesen - ff - Das Südtiroler Wochenmagazin

leitartikel
Der Glaube an ein Wunder
Die Erwartungen an die Verfassungsreform sind übertrieben. Die Befürchtungen auch.
Ein Ja wird Italien nicht retten, bei einem Nein wird es nicht untergehen. Eine wirkliche
­Reform des Landes ist etwas ganz anderes.
von Georg Mair
Die Verfassungsreform ist kein
Allheilmittel für die
Probleme Italiens.
Taugt sie zu mehr,
als nur gute
­Stimmung zu
­erzeugen?
D
ie italienische Verfassungsreform ist das
neue Evangelium von Premierminister
Matteo Renzi. Die Verfassungsreform
soll Italien retten. Und ihn selber. Was ist das
Neue daran? Der Senat wird kleiner und von den
regionalen Parlamenten gewählt, Gesetze ­müssen
nur mehr von der Abgeordnetenkammer verabschiedet werden, die Provinzen werden abgeschafft, Italien wird wieder zentralistisch.
In Italien, und in Südtirol, wird die Reform
heftig diskutiert, sie lässt bei den Gegnern das
­Adrenalin ins Blut schießen. Auch die größte
Regierungspartei, der Partito Democratico, ist
sich darüber uneins wie eigentlich über alles. In
Südtirol sieht man nur den eigenen Nabel, die
„Schutzklausel“, die die Südtirol-Autonomie absichern soll. Für die einen bedeutet sie die Rettung der Südtirol-Autonomie, wie wir sie kennen, für die anderen den Untergang.
Die Auseinandersetzung um die Verfassungsreform bewegt sich nicht entlang von Inhalten,
sie ist zu einer Glaubensfrage geworden. Politik
der Gefühle. Das rationale Abwägen von Argumenten war gestern. Wir leben in einem postfaktischen Zeitalter, in dem eine Verfassungsreform,
die anderswo nur ein Reförmchen wäre, zu einem
Putsch umgedeutet und Matteo Renzi als neuer
Mussolini dämonisiert wird.
Am 4. Dezember wird über die neue Verfassung abgestimmt – das Volk hat das Wort. Und es
wird gelten, unabhängig von der Beteiligung.
Führt diese Reform der Verfassung Italien aus
der Krise oder ist sie nur eine Pille ohne Wirkstoff? Bringt sie die Beschleunigung der Wirtschaft mit sich, das Wachstum, das sich nicht und
nicht einstellen will? Italien ist, genau betrachtet, ein europäischer Krisenfall, mit einer hohen
Schuldenlast und mit einer Neuverschuldung
pro Jahr, die alle Richtlinien der EU sprengt.
Die Erwartungen an diese Verfassungsreform sind völlig übertrieben. Die Befürchtungen
auch.
® © Alle Rechte vorbehalten/Riproduzione riservata – FF-Media GmbH/Srl Eines ist sicher: Ministerpräsident Matteo
Renzi braucht einen Sieg beim Referendum. Nur
so kann er seinen Ruf als Reformer, als Verschrotter des alten Italien, retten – er will nichts weniger als in die Geschichte eingehen, als einer, der
dem Land eine neue Verfassung gegeben hat. Es
ist ein Referendum, das also weniger eine inhaltliche, als vielmehr eine emotionelle Bedeutung
hat, ein Signal ist. Denn die „Märkte“ und die
Wirtschaft reagieren, so seltsam das klingen mag,
sehr gefühlig. Also werden nach einem Ja zum
Referendum die Börsenkurse steigen, der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Junker,
wird vor die Mikrophone treten und sagen, dass
Italien seine Reformfähigkeit unter Beweis gestellt habe. Und Ministerpräsident Matteo Renzi wird den Italienern mehr Jobs und niedrigere
Steuern in Aussicht stellen.
Die Verfassungsreform ist jedoch kein Allheilmittel. Ihre Auswirkungen werden überschätzt.
Vielleicht lassen sich mit der Abschaffung des Senats in seiner derzeitigen Form sogar Gesetzesvorhaben beschleunigen. Doch dazu braucht es
eine tiefgreifende Reform der Parteien, vor allem
des Partito Democratico, der in sich tief gespalten ist. Wenn weiter der Parteienwechsel die Regel ist und nicht die Ausnahme, gibt es auch bei
einer Verfassungsreform und einem neuen Wahlgesetz keine stabilen Mehrheiten.
Italien bräuchte eine Regierung, die keine
Verwandten kennt, sondern ein paar notwendige
Dinge tut – jenseits einer Verfassungsreform, der
man die Wirksamkeit eines Wunders zuschreibt:
Entbürokratisierung, Kampf gegen die Korruption, Beschleunigung der Justiz, Minderung des
Steuerdrucks für Unternehmen und für Arbeitnehmer, Investitionen in Schule, Bildung und
Kultur.
Und etwas, was sogar Sozialdemokraten
kaum auszusprechen wagen: eine gerechte Vern
teilung des Reichtums.
No. 43 / 2016