SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Zeitwort 26.09.1941: Leopold Kohr veröffentlicht "Disunion Now" Von Stephan Krass Sendung: 26.09.2016 Redaktion: Ursula Wegener Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Zeitwort können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/zeitwort.xml Autor: Der Kellner weist auf einen Tisch an der hohen Fensterfront des Kaffeehauses: "Der Herr Professor". In den Papierwust einer elend langen Rolle frischer Druckfahnen eher verstrickt als vertieft sitzt dort ein freundlicher älterer Herr, der ganz im Gegensatz zu der feierlichen Miene des Kellners jede Anstrengung um offiziöses Gebaren vermissen lässt. Es ist zum Verzweifeln: nun hat man seine Bücher in den letzten vierzig Jahren vom Englischen ins Französische, Spanische, Italienische, Japanische, sogar ins Walisische übersetzt, aber an der Übertragung ins Deutsche, seine Muttersprache, ist bis heute schon der zweite Großverlag gescheitert. Dem weltläufigen Humor des bekennenden Kaffeehausschreibers und seiner angelsächsisch geprägten Gewitztheit begegnen die deutschen Übersetzungen immer wieder mit schwerfälligen Phrasen und unbeweglichen Wortspielen. Seit Hitler 1938 über den Inn marschierte und Leopold Kohr zunächst nach Paris, dann in den Spanischen Bürgerkrieg und schließlich nach Amerika ging, ist er nolens volens in der englischen Sprache heimisch geworden. "I live in a mess", sagt Leopold Kohr mit resignierendem Achselzucken, als wir die Tür im Erdgeschoß seines zugewachsenen Gartenhauses erreicht haben. Als wir es uns zwischen den Papierstößen bequem gemacht haben illustriert der listige Pythagoräer Kohr anhand einer Anekdote aus dem konservativen akademischen Milieu von Oxford, wie wenig die Fraktion der Schulwissenschaft geneigt ist, sich mit seiner Kritik am Mythos der Größe und am Fetisch des Wachstums ernsthaft zu bschäftigen. Als er einmal von einem renommierten Kollegen, gefragt worden sei, was er, Leopold Kohr, als Nationalökonom denn eigentlich lehre, ob er Keynesianer oder Marxist sei, da habe er geantwortet: "Der Marx hat Marx gelehrt, der Keynes hat Keynes gelehrt, und wie ich heiße wissen Sie ja. Die theologische Deutung schreibt alles historische Geschehen dem Willen Gottes zu, die heroische Deutung den großen Männern, die idealistische den Ideen, Marx der Produktionsweise, Freud der Sexualität, Jung der Angst...und ich der Größe der Gesellschaft." Noch im selben Jahr reiste Leopold Kohr nach London, um als erster den neugestifteten Alternativ-Nobelpreis entgegenzunehmen. Schon lange vor den Wachstumskritikern hatte er seine Philosophie der Kleinheit, oder besser: der angemessenen Größe, entwickelt. Erst mit den kritischen Zukunftsanalysen des "Club of Rome" wurden auch Kohrs Theorien, besonders durch Emil Schumachers Schrift "Small ist Beautiful", populär. Begonnen hatte Leopold Kohrs Bekehrung zu einem modernen Pythagoras mit einem Aufsatz in der links-katholischen Zeitschrift "The Commonwealth" vom 26. September 1941. Kohr bezog sich damals auf einen Bestseller des amerikanischen Journalisten Clarence Streit mit dem Titel "Union Now". In seiner polemischen Entgegnung, "Disunion now", plädierte er - mitten im Zweiten Weltkrieg - für eine dezentrale paneuropäische Union, die durch Teilung in Regionalstaaten nach dem Modell der Schweizer Kantone zur Einigung geführt werde, und nicht durch nationalstaatliche Großgebilde. Als politischer Kopf hat sich Leopold Kohr für Autarkie und Dezentralismus eingesetzt. Der Furor seines anarchistischen Temperaments führte ihn zu radikalen Gesellschaftsdiagnosen, die Konzilianz eines österreichischen Kaffeehausschreibers gebot ihm, die bitteren Wahrheiten in allgemein verträgliche Dosierungen umzusetzen. Weil Leopold Kohr wusste, dass höchst ambivalente Befindlichkeiten viel eher der Stoff sind, aus dem Geschichte sich formt, als die hehren Ideen, konnte er das Scheitern seiner utopischen Modelle in humorvollen Gelassenheit sozusagen anthropologisch verbuchen. 2
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