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ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Philosophen am Bett
Der etwas andere Krankenhausseelsorger
Von Wilhelm Schmid
Sendung: Sonntag, 11. September 2016
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2016
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Ansage:
Mit dem Thema: "Philosophen am Bett – Der etwas andere Seelsorger im
Krankenhaus".
Ja, Sie haben richtig gehört, Philosophen können auch ganz praktisch als Seelsorger
arbeiten, sie müssen nicht immer über das Ding an sich oder das Absolute oder das
logisch richtige Argument nachdenken, sie können sich auch im
Zwischenmenschlichen sehr gut engagieren.
Dabei geht es um Lebenskunst: Philosophie, verstanden als Lebenskunst, hilft
anderen dabei, das Leben wieder in den Griff zu bekommen, mit Krisen fertig zu
werden.
Wilhelm Schmid, Philosoph und Buchautor, arbeitete lange Zeit in einem
Krankenhaus als Seelsorger. In der SWR2 AULA berichtet er über seine
Erfahrungen:
Wilhelm Schmid:
Der Philosophie ist alles zuzutrauen, nur eines nicht: Lebenshilfe. Das ist die
Überzeugung vieler Menschen, die die Philosophie in einem Turm aus Elfenbein
vermuten, aber auch die Überzeugung vieler Philosophen selbst. Dabei ist
Philosophie zunächst nichts anderes als ein Innehalten und Nachdenken – das ist
eine bescheidene Definition, aber Philosophie beginnt seit jeher mit diesem Moment.
Es geht dabei nicht um eine weitere Form von Therapie, sondern um das
Nachdenken über Lebensfragen, die Klärung von Bedingungen, dessen also, "was
ist", und die Eröffnung von Optionen durch das Denken dessen, "was möglich ist".
Die Philosophie ist eine Hilfestellung auf dem Weg zur Lebenskunst, und diese
Hilfestellung findet vor allem auf der Ebene der nüchternen Analyse und des offenen
Denkens statt. Nur die moderne akademische Philosophie hat das im 19. und 20.
Jahrhundert aus den Augen verloren, und dafür gab es Gründe: In einer Zeit, in der
alle Hoffnungen sich darauf richteten, mithilfe von Wissenschaft und Technik
sämtliche großen und kleinen Lebensprobleme lösen zu können, bedurfte es keiner
philosophischen Lebenskunst mehr. Die Philosophie sah, nicht zuletzt aus
Überlebensgründen, ihre Aufgabe nur noch darin, wissenschaftliche Dienstleistung
zu betreiben. Heute ändert sich das von Grund auf, denn immer deutlicher wird, dass
Wissenschaft und Technik zwar einige Lebensprobleme gelöst, neue aber
heraufgeführt haben. So bedarf die Zeit wieder einer Form von Philosophie, die sich
den Lebensfragen widmet.
Wie dies unter heutigen Bedingungen aussehen kann, lässt sich am besten in der
Praxis erproben. Was meinen eigenen Beitrag dazu angeht, machte ich ein
Jahrzehnt lang bei einer Nebentätigkeit in einem Allgemeinkrankenhaus in der Nähe
von Zürich einige Erfahrungen. Ich habe an der Seite von Therapeuten und
Theologen gearbeitet und im engen Austausch mit ihnen, aber eben mit
philosophischem Hintergrund.
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Was soll ein Philosoph im Krankenhaus? Ich selbst war derjenige, der diese Frage
stellte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Philosophie in Situationen, in
denen es oft wirklich um Leben und Tod geht, sinnvoll sein könnte.
Den Anfang machte ein Essay "Vom Sinn der Schmerzen", den ich in einer
Schweizer Zeitung publizierte. Von der Leitung des Spitals Affoltern am Albis bei
Zürich wurde ich gebeten, darüber vorzutragen. Meine Überlegungen bestanden
darin, im Schmerz den Stachel zu sehen, der immer aufs Neue zum Nachdenken
über das Leben nötigt und damit zur Lebensorientierung beiträgt. Das fand Anklang
und zog die Einladung nach sich, auch mal selbst im Haus zu arbeiten.
Die Praxis ist für Philosophen allerdings ein Ärgernis. Die Philosophie kann in der
Praxis scheitern, denn die wirkliche Welt entspricht selten den Begriffen, die
Philosophen sich von ihr bilden. Sie neigen dazu, die Schuld dafür nicht so sehr bei
den Begriffen, sondern bei der wirklichen Welt zu suchen, die selbst daran schuld ist,
wenn sie den Begriffen nicht entsprechen will. Und immer bringt die Praxis für das
Denken die Gefahr mit sich, die Distanz zur Unmittelbarkeit zu verlieren, die für jedes
Denken wesentlich ist. Aber was wäre eine Lebenskunst wert, die sich dem Leben
nicht stellt, wenn es schwierig wird? So kam es dazu, mit dem Blick von außen in
diese so ganz andere Welt einzutauchen.
An diesem Krankenhaus wurde schon seit längerer Zeit versucht, neue Wege zu
gehen. Die dortigen Schulmediziner waren überzeugt, dass sie die volle Wirklichkeit
eines Menschen und seiner Krankheit nicht allein erfassen können. Sie wollten nicht
nur an Symptomen laborieren, sondern die Gesamtsituation gründlicher verstehen
und auf sie antworten. Dieses integrative Konzept wird getragen von einem
Menschenbild, das den körperlichen, seelischen und geistigen Dimensionen des
Menschseins Rechnung tragen will. Es geht dabei um die Lebensbewältigung derer,
die krank sind, aber auch derer, die die Kranken betreuen, unmittelbar im Umgang
mit ihnen oder mittelbar aufgrund der Arbeit im Haus.
Um das integrative Konzept umzusetzen, kam es frühzeitig zu einer starken
Einbeziehung der Psychotherapie, die das medizinische Angebot ergänzt. Und
schließlich fiel die Entscheidung, über die Psychotherapie hinaus und parallel zum
bewährten Angebot der Theologie auch die Philosophie zu beteiligen. Wenn der
Versuch, den Menschen als körperlich-seelisch-geistige Integrität zu verstehen, das
leitende Anliegen ist, kann die Philosophie vielleicht dazu beitragen, dass der
geistige Aspekt, die Rolle des Denkens und Nachdenkens, stärker berücksichtigt
wird. Die philosophische Arbeit im Krankenhaus entfaltete sich auf dieser Grundlage
in vierfacher Hinsicht:
Zum Ersten wurden in Vorträgen einzelne Themen von mir dargestellt, sodann in
abendlichen Seminaren von vielen diskutiert und auf die Praxis im Krankenhaus und
die jeweils eigene Lebenspraxis bezogen. Beispielsweise das Problem der
"Berührung", auf das ich im Laufe der Arbeit aufmerksam wurde, da es im Umgang
zwischen Menschen und ganz besonders im Krankenhaus eine große Rolle spielt.
So widmeten wir uns zwei Wochen lang allen Aspekten dieses Phänomens der
Berührung und des Berührtwerdens.
Zum Zweiten war es möglich, in Gruppengesprächen bestimmten konkreten
Problemen, die sich stellen, intensiv nachzugehen. Beispielsweise dem Umgang mit
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Gewohnheiten, den eigenen des Personals wie denjenigen von Patienten, denn die
Gewohnheiten der Einen kollidieren des öfteren mit denen der Anderen.
Zum Dritten ging es in Einzelgesprächen mit den Patienten, jedoch auch mit den
Pflegenden und den Ärzten um individuelle Lebenssituationen und Gedanken zum
Leben überhaupt. Diese Fragen werden drängend, wenn Menschen mit Schmerz,
Leid und Tod konfrontiert sind. Vor allem Fragen nach dem Sinn bewegen
keineswegs nur Patienten, sondern auch diejenigen, die sich sichtbar in Medizin und
Pflege und weniger sichtbar in der Verwaltung und anderen Bereichen um Patienten
kümmern und oft große Belastungen aushalten müssen.
Zum Vierten wanderte ich immer auch quer durchs Haus und lernte in transversaler
Arbeit die verschiedensten Abteilungen und Arbeitsbereiche im Krankenhaus von der
Küche bis zur Leitungsebene kennen. Die wirklich gelebte Praxis wird auf diese
Weise fassbarer, und der persönliche Umgang miteinander lässt sich besser pflegen,
der die integrativen Kräfte in einer so komplexen Institution stärkt.
Der Philosoph im Krankenhaus ist ein säkularer Seelsorger. Die Seelsorge wird
dabei als Anleitung Anderer zu ihrer Sorge für sich selbst verstanden – ganz so, wie
das heute auch viele theologische Seelsorger sehen. Damit findet neben der
traditionellen, christlichen Auffassung von Seelsorge auch deren vorchristliche
philosophische Bedeutung wieder Eingang in die Praxis. Denn das Wort und die
Sache gehen auf Sokrates und Platon zurück: epimeleia tes psyches im
Griechischen, Sorge um die Seele, Sorge für die Seele, Seele als das Wesentliche
des Menschen verstanden, das besonderer Aufmerksamkeit und Pflege bedarf. Es
ist mir jedoch klar geworden in der Zeit im Krankenhaus, dass die Funktion des
Philosophen nicht mehr, wie in der Antike, die eines "Seelenarztes” sein kann, der
völlige Gewissheit darüber hat, wie das Leben zu leben sei. Der Philosoph kann nicht
mehr normative, nur noch optative Funktion haben: Optionen eröffnen, Möglichkeiten
aufzeigen, das Für und Wider der verschiedenen Möglichkeiten erörtern, auch einen
unverbindlichen Ratschlag aus eigener Sicht geben, anhand dessen und in
Auseinandersetzung damit sein Gegenüber die eigene Position finden und festlegen
kann.
Das geschieht vorzugsweise durch den Sprung auf eine Metaebene, das
Herausspringen aus einer unmittelbaren Situation, um einen weiteren Horizont zu
gewinnen, zeitlich und räumlich, im Denken und im Fühlen, schließlich auch im
Handeln. Es kann dabei um die Begriffe gehen, die für jedes Leben leitend sind,
vorweg um den Begriff des "Lebens" selbst: Was versteht ein Mensch darunter,
welche Idee hat er davon, welche Vorstellungen verbindet er damit? Oft leiden
Menschen darunter, dass ihr Leben nicht so "positiv" verläuft, wie das in moderner
Zeit zur Norm geworden ist. Wir überlegen gemeinsam, ob diese Fixierung auf das
Positive wirklich eine sinnvolle Auffassung sein kann. Und wenn jemand damit in die
Irre gegangen ist: Welche anderen Ideen und Vorstellungen könnte es noch geben?
Wir fragen gemeinsam danach, was im gegebenen Leben rein denkerisch noch
möglich wäre, über das hinaus, was faktisch wirklich ist: Welche Wahl steht offen
oder lässt sich eröffnen, zwischen welchen Alternativen? Welche zwei, drei
Möglichkeiten lassen sich ausdenken, und welche dieser Möglichkeiten zieht
Faszination oder wenigstens Interesse auf sich?
Dann kommt es darauf an, auf der Basis einer getroffenen Wahl zur Verwirklichung
einer Möglichkeit anzuleiten, um ein anderes Denken einzuüben und Gewohnheiten
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zu verändern. Welche Schritte führen zur Verwirklichung einer Möglichkeit? Welche
Anstrengungen erfordert das von wem, welche Organisationsarbeit ist zu leisten,
welche Gespräche sollte wer mit wem führen? Wie bewerkstellige ich den Übergang
vom Leben, wie es ist, zum Leben, wie es sein soll? Seit Menschengedenken ist der
Übergang von einer Einsicht, einer Entscheidung, einer Vorstellung vom Künftigen,
kurz: vom Denken zum Tun schwierig. Daher erfanden bereits die antiken
Philosophen die Übung (griechisch askesis). Askese hilft beim Übergang vom
gegenwärtig wirklichen zum künftig möglichen Leben, das den Vorstellungen und
Sehnsüchten von einem schönen Leben eher entspricht.
Die asketische Brücke ist das Einüben eines anderen Denkens und Verhaltens, die
Schaffung veränderter Gewohnheiten, die geduldige, unverdrossene Anstrengung
von Tag zu Tag, über Wochen, Monate und Jahre hinweg, mit viel Geduld und
Durchhaltevermögen, bis das Eingeübte zur "zweiten Natur" wird. Niemand kann dies
einem Menschen abnehmen. Jede Verwirklichung bedarf einer Gründung in der Zeit,
jeder Schritt an jedem Tag hier und jetzt wird zum Instrument der Arbeit an einem
künftigen Leben dort und morgen. Was der jeweilige Tag an Tätigkeit zulässt, ist
begrenzt und in seiner Begrenztheit ärgerlich, aber die Abfolge der Tage kann zu
einer Ansammlung von Tätigkeiten genutzt werden, deren Summe zum Werk wird.
Asketik ist die Formel des Erfolgs, wie ein kleines oder großes Ziel zu erreichen ist.
In der Gewissheit, mit der alltäglichen Lebensführung etwas für ein anderes Leben
und künftiges Werk zu tun, lässt es sich dann besser in den Tag hineinleben.
Und zugleich gestaltet nicht nur der Mensch, indem er Schritte von einer Möglichkeit
zur Wirklichkeit hin entwirft und wirklich geht, mehr oder weniger bewusst und
planvoll. Auch das Leben gestaltet, indem es Möglichkeiten eröffnet, vermutlich
unbewusst und planlos. Manche Möglichkeiten können ergriffen und verwirklicht
werden, beispielsweise Chancen, andere werden verwirklicht, ohne ergriffen zu
werden, etwa Krisen und Krankheiten, mit denen ein Mensch trotz aller Widrigkeiten
Schritt für Schritt leben lernen kann, ausgehend von der Frage: Was steht in meiner
Macht, was nicht? Um sich auf das zu konzentrieren, was in der eigenen Macht
steht. Ein Mensch kann sich sagen: Ich kann die Situation nicht ändern, ihre Deutung
aber sehr wohl. Hadern ist möglich, bringt aber wenig. Entscheidend ist die Haltung,
die ich zur Situation einnehme: Mich offen und vielleicht offensiv zu verhalten, statt
abweisend und defensiv zu bleiben, ohne damit etwas an der Situation ändern zu
können.
Der Philosoph hat zuweilen Ideen, wie einem Engpass des Denkens und Handelns
am besten zu entkommen ist. Er kann für vieles Verständnis haben und stellt
vielleicht die Frage nach dem Grund eines Geschehens, aber nicht unbedingt die
nach der "Schuld". Und in vielen Fällen hat er einfach die Funktion eines geistigen
"Nahrungsmittelvertreters", denn Menschen ernähren sich nun mal nicht nur
körperlich mit Essen, nicht nur seelisch mit Gefühlen, sondern auch geistig mit
Gedanken. Das Medium, in dem sich das Geistige abspielt, ist das Gespräch. Wenn
Philosophie ein Innehalten und Nachdenken ist, dann ist das Gespräch das
gemeinsame Innehalten und Nachdenken. Was viele suchen, ist das Gespräch über
das Leben: Was soll ich tun oder lassen? Was kann Orientierung im Leben geben?
Was ist das eigentlich, "mein Leben"? Hat Krankheit, hat das eigene Leben, hat das
Leben überhaupt Sinn?
Eigentlich ist Sinn nicht nur ein Thema fürs Philosophieren im Krankenhaus. Meist
nehmen Menschen sich jedoch erst dann Zeit dafür, wenn es existenziell ernst wird.
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Bei Kranken bezieht sich die Frage nach dem Sinn naturgemäß auf die Krankheit:
Warum ich? Warum dies? Warum jetzt? Wozu soll das gut sein? Was soll nun
werden? Hat die Krankheit irgendwelchen Sinn? Ist sie Ausdruck eines Schicksals,
das eine Prüfung für mich vorsieht? Aber wer oder was schickt so etwas?
Jeder Mensch befindet sich auf einem Weg, auf dem dies möglicherweise eine
wichtige Station ist, und in Gesprächen kann er auf diesem Weg begleitet werden.
Die Frage, ob das Geschehen einen Sinn hat, kann nicht zweifelsfrei beantwortet
werden. Es ist möglich, dass eine Krankheit ein bloßer Zufall ist. Alle persönliche
Vorsorge, alle staatliche Fürsorge kann eine ungute Entwicklung, einen
unglücklichen Zufall, einen Unfall nicht ausschließen. Aber auch bei scheinbarer oder
wirklicher Sinnlosigkeit kann allem, was geschieht und geschehen ist, ein Sinn
gegeben werden.
Selbst das, was im Augenblick grundlos erscheint oder es tatsächlich ist, kann
zumindest im Rückblick noch Sinn gewinnen. Grundlegende Einsichten, wertvolle
Erfahrungen, wichtige Beziehungen, neue Lebensziele, die ansonsten unbekannt
geblieben wären, können daraus hervorgehen. Eine Krankheit nimmt etwas, aber sie
gibt vielleicht auch etwas, nichts ist für nichts. Womöglich stellt sie eine Aufgabe und
es ist etwas aus ihr zu lernen. Sie katapultiert in ein anderes Leben und hilft, eine
andere Sichtweise zu gewinnen, eine bisher unbekannte Perspektive des Lebens
kennenzulernen. Sie ermöglicht, intensiver zu erfahren, was Leben ist, das immer
nur als pure Selbstverständlichkeit erschien, ohne sich darüber klarer zu werden,
was im Leben wichtig ist und dass es etwas Schönes gibt, eine Freundschaft, eine
Liebe, eine Familie oder das Leben selbst. Eine Patientin sagt, sie erhoffe sich von
ihrer Krankheit eine Verwandlung zum Menschsein: Jetzt werde alles wertvoll, was
früher einfach normal war.
Im Gespräch lassen sich Überlegungen dazu anstellen, ausgehend davon, dass es
keine Norm ist, Sinn finden zu müssen, nur eine Option, danach suchen zu können.
Vorrang hat natürlich die unmittelbare Hilfe, die Behandlung, das Mitgefühl, dann erst
wird die Besinnung möglich, sofern sie erwünscht ist. Eine andere Option ist, in der
Sinnlosigkeit zu verharren, die wirklich oder nur scheinbar eine solche ist. Ist alles
sinnlos, zumindest aber dieses Geschehen, das mein Leben in Frage stellt? Das auf
neutrale, objektive Weise entscheiden zu können, bedürfte einer Gottesposition,
eines absoluten, universellen Überblicks. Der aber ist Menschen nicht zugänglich,
also ist diese Frage nicht zu beantworten. Das Gespräch hat nicht zum Ziel, eine
Option zur einzig richtigen zu erklären, sondern einem Menschen dabei zu helfen,
diejenige zu finden, die ihm nach eigener Auffassung am besten entspricht.
Diskutiert werden kann die individuelle Vorstellung davon, was "Glück" ist. Denn das,
was darunter verstanden wird, versteht sich keineswegs von selbst. Handelt es sich
wirklich, wie Philosophen am Beginn der Moderne definierten, um eine "Maximierung
von Lust, Eliminierung von Schmerz"? Angenehm zu leben, nur angenehm, und
alles, was unangenehm ist, mit immer besseren Mitteln auszuschalten, das wurde in
moderner Zeit zum Traum vieler. Kaum einer stellte die Frage, ob ein so definiertes
Glück überhaupt Sinn hat. Geht es im Leben um Glück? Kommt darauf an, was
darunter verstanden wird. Kann es wirklich das unentwegt lustvolle, großartige Leben
sein, an das viele glauben?
Manchen scheint es zuteil zu werden, aber vielleicht wollen sie auch nur mit ihrem
Protzglück Neid bei Anderen erregen, nach dem Motto: "Schaut her, wie toll es bei
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mir läuft! Davon könnt Ihr nur träumen – und dass ihr glaubt, bei mir sei es anders, ist
mein eigentliches Glück!" In Wahrheit gibt es nur Teilzeitglückliche, ohne Unterlass
vollzeitglücklich ist niemand. Wer es dennoch versucht, gerät in einen Glücksstress,
der sicher nicht glücklicher macht.
Im Gespräch können Menschen dazu angeregt werden, mit einer Veränderung ihrer
Auffassung von Glück den Blick auf das eigene Leben so zu verändern, dass bei
unveränderter Lebenssituation mehr Glück wahrnehmbar wird. Die große Rolle des
Zufallsglücks kann erörtert werden, um einen Begriff für das zu gewinnen, was im
Leben oft nicht zu verstehen und zu beeinflussen ist, womöglich grundlos so oder
anders ausfällt. Der Begriff eines Glücks der Fülle kann ins Spiel gebracht werden,
das darauf beruht, die Polarität des Lebens anzuerkennen, die sich zwischen
positiven und negativen Erfahrungen spannt, zwischen Freude und Ärger, Gelingen
und Misslingen, Glücklich- und Unglücklichsein.
Und zwischen Leben und Tod. Es ist der Umgang mit dem Tod, mit dem viele sich
schwertun. Niemand kommt umhin, eine Beziehung zum Tod einzugehen, sei sie
positiv, negativ oder gleichgültig. Eine positive Beziehung eröffnet die Möglichkeit,
keine Kräfte im Kampf gegen ihn zu vergeuden, ihn vielmehr in seinem Recht
anzuerkennen und ihm eventuell sogar Sinn zuzubilligen, etwa den, dass er das
Leben durch dessen Begrenzung erst wertvoll macht. Was wäre das Leben, wenn es
nie enden würde?
Viele Menschen sind gebannt vom Gedanken an den Tod, den sie nicht denken
wollen. Eine gedankliche Anregung besteht darin, diese einzige absolute Gewissheit
im Leben zum Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Überlegung zu machen: Wo
möchte ich angekommen sein, wenn die Gewissheit endgültig Wirklichkeit wird?
Welche Schritte kann ich vom Tod aus in Gedanken rückwärtsgehen bis zur
Gegenwart, um von hier aus nun die Schritte vorwärts zu machen und zu
verwirklichen, was ich mir vornehme, damit ich in unbestimmter Zukunft dort
ankommen kann, wo ich hinwill?
Und was ist über den Tod hinaus? Gibt es die Seele? Ist sie unsterblich? Das bewegt
viele. Mit Seele könnte die Energie gemeint sein, die das Leben trägt. Sie ist
räumlich im Körper verankert und kann zugleich, wie die Ausstrahlung eines
Menschen zeigt, weit über ihn hinausreichen. Umgekehrt kann sie sich bis zum
Erlöschen jeder Ausstrahlung in ihn zurückziehen. Kein Mensch, kein Lebewesen
kann ohne diese Energie leben, schwindet die Energie aus dem Körper, schwindet
das Leben. Ähnlich scheint die Energie der Seele auch zeitlich nur bedingt an den
Körper gebunden zu sein, dem Energieerhaltungssatz zufolge kann sie vor seiner
Zeit da sein und danach bestehen bleiben, in welcher Form auch immer. Das ist
jedenfalls meine These, ein mögliches Verständnis, keine endgültige Wahrheit.
Der Philosoph ist ein Partner für das Lebensgespräch, in dem es um all das geht,
was eine Rolle fürs Leben spielt. Das Gespräch dient dazu, alte Anschauungen zu
überprüfen und neue Anregungen aufzunehmen. Es erschließt Zusammenhänge,
Möglichkeiten, Perspektiven, um besser zu bewältigen, was problematisch erscheint,
auch Auswege zu finden, oder aber ein Problem als solches zu akzeptieren, da ein
problemloses Leben wohl unmöglich, ja, nicht einmal wünschbar ist. Beide Seiten
kommen zu Einsichten und vielleicht auf neue Gedanken, beide können
gleichermaßen lernen in diesem Lebensgespräch.
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Aber was geschieht eigentlich in diesen Gesprächen? Erwartet wird etwas
Spektakuläres. Dabei sind es in aller Regel unspektakuläre Gespräche. Sie haben
meist die Lebensgeschichte zum Gegenstand. Nichts machen Menschen lieber, als
ihre Geschichte zu erzählen: Das ist die beste Grundlage für das Gespräch. Und das
hat Gründe, denn in der Erzählung finden Menschen sich selbst: Sie suchen und
konstruieren die Zusammenhänge, die ihr Leben durchziehen, und sie entscheiden
darüber, was davon ihr "Inneres", ihren Kern bilden, was an der Peripherie bleiben
soll. Die dafür erforderliche Hermeneutik der Existenz wird angestoßen durch
Fragen. Indem die Arbeit der Deutung und Interpretation in Gang kommt, stellt ein
Mensch die Beziehung zu sich selbst her, die vielleicht verloren oder noch nie so
recht gefunden worden ist. Er arbeitet damit an der eigenen Integrität, an der
Zusammenfügung seiner selbst, seines Lebens und seiner Welt. Diese
Zusammenfügung scheint eine entscheidende Ressource der Gesundheit und der
Gesundung zu sein, denn sie erzeugt den inneren Sinn, der unentbehrlich fürs Leben
ist.
Es ist beinahe unwichtig, was der Inhalt des Gesprächs ist. Die bloße Tatsache des
Gesprächs ist wichtig, um zu entlasten, zu ermuntern, anzuregen, etwas zu klären,
zu bereinigen, zu befreien: Darin besteht wohl der "Trost der Philosophie". In die
Gesprächssituation fließen so wenig Vorgaben wie möglich ein, und es gibt keinen
Zwang, nun "helfen zu müssen". Ich selbst bin skeptisch, ob Philosophie in einem
direkten Sinne helfen kann, Lebenshilfe ist sie jedenfalls nicht in diesem
unmittelbaren Sinn, sondern eher im Sinne sokratischer Geburtshilfe: Das ans
Tageslicht zu bringen, was im jeweiligen Menschen selbst bereits verborgen liegt,
seine eigenen Gedanken, Einsichten und Überlegungen. Das philosophische
Gespräch ist seit der Zeit des Sokrates ein so genanntes maieutisches Verfahren,
eine Verfahrensweise der Geburtshilfe: Dem Anderen dazu zu verhelfen, Gedanken
zu gebären. Denn nur diese Gedanken wird er als seine eigenen anerkennen, und
das ist wesentlich für die Lebenskunst, denn nur den eigenen Einsichten wird er
letztlich, wenn überhaupt, auch folgen. Und sie mit dem gesamten eigenen Leben
auch verantworten.
Der Philosoph hat keinen genau umrissenen "Auftrag", er ist zu nichts verpflichtet.
Vielleicht wird er gerade dadurch als Gesprächspartner interessant. Was zunächst
nur meine Verlegenheit war – keinen Plan für die Gesprächsführung zu haben –,
erwies sich als Gewinn, um offen zu sein für den Anderen und ihm wirklich
zuzuhören, ohne das Gesagte bereits nach bestimmten Erklärungsmustern zu
sortieren. "Welchen Plan haben Sie?" eröffnete eine Frau das Gespräch, die bereits
sämtliche Formen von Analyse und Therapie durchlaufen hatte und es sich soeben
bequem machen wollte, neugierig, mit welchem Muster man ihr dieses Mal
beikommen wolle. Sie hatte sich selbst die Rolle der amüsierten Beobachterin
zugedacht, "therapieresistent", an der sich eben alle die Zähne ausbeißen, da ihr
nicht wirklich zu helfen ist: Auch so kann eine "Identität" aussehen. Es wurde ein
packendes, irritierendes Gespräch über die Abgründe menschlicher Existenz.
Das Wichtigste bei der Gesprächsführung ist die Person, die Persönlichkeit, die
Erkennbarkeit als Mensch. Nachrangig ist die Profession, die bei einem Philosophen
einen umfassenden historischen und systematischen Horizont des Denkens
verbürgt, wenngleich der ganz im Hintergrund bleiben kann. Wichtig ist, zuhören zu
können, aufmerksam den Anderen wahrzunehmen, achtsam zu sein auf scheinbare
Nebensächlichkeiten, die sich als "Knotenpunkte" der Existenz erweisen können.
Und den Anderen zur Freimütigkeit zu ermuntern, nicht so sehr durch verbale
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Aufforderungen, sondern durch die Situation und Atmosphäre des Gesprächs.
Unerheblich ist, ob Probleme rasch zur Sprache kommen. Will mein Gegenüber
seine Probleme verschweigen, dann bleiben sie verschwiegen, denn Schweigen ist
ein legitimes Mittel des Umgangs damit. Das Gespräch muss auch nicht "zielführend"
sein, denn jede Zielführung würde voraussetzen, dieses Ziel schon zu kennen.
Wie die Erfahrung zeigt, kann das bloße Gespräch schon kleine Wunder bewirken.
Der Grund dafür ist die Aufmerksamkeit, die ein Mensch im Gespräch erfährt, und die
damit verbundene Energie, die ihm fehlte, die Zuwendung, die er entbehrte. Die
Aufmerksamkeit eines Anderen kann die Kräfte eines Menschen in
außerordentlichem Maße aktivieren, daher geht es zuweilen darum, nur zuzuhören,
stundenlang zuzuhören. Beflügelt durch die Aufmerksamkeit, wird das Gespräch zum
Anlass für eine neue Selbstaufmerksamkeit. So wird daraus ein Ereignis, bei dem ein
Mensch sich wieder findet. Wie von selbst sorgt das Gespräch dafür, sich über das,
was ist und was möglich ist, klarer zu werden und Plausibilität und Lebenswahrheit
für sich zu gewinnen.
Anfänglich dachte ich: Was soll ein Philosoph im Krankenhaus? Bald aber fragte ich
mich: Wie kommen all die vielen Krankenhäuser ohne Philosophen aus? Hat es etwa
für den Heilungsprozess keine Bedeutung, wie ein Mensch mit sich selbst umgeht,
was er über sich, seine Situation und sein Leben denkt? Aber um die Besonderheiten
dieser philosophischen Seelsorge, auch ihre Grenzen, besser kennen zu lernen, sie
zu verstehen und auf den Begriff zu bringen, wird noch einige Arbeit zu leisten sein.
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Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie
als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Umfangreiche
Vortragstätigkeit, seit 2010 auch in China und Südkorea. Homepage:
www.lebenskunstphilosophie.de, Twitter: @lebenskunstphil.
Bücher (Auswahl):
 Das Leben verstehen – Von den Erfahrungen eines philosophischen
Seelsorgers. Suhrkamp-Verlag. September 2016.
 Vom Nutzen der Feindschaft, Insel Verlag, 2015.
 Vom Glück der Freundschaft, 3. Aufl., Insel Verlag, 2014.
 Gelassenheit – Was wir gewinnen, wenn wir älter werden, Insel Verlag, 2014.
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