Die teilende Gesellschaft (7/10): Unfair geteilt? [PDF, 84,0 KB

Tiefenblick, 21.08.2016
Die teilende Gesellschaft (7/10)
Unfair geteilt?
Ansage:
Unfair geteilt?
Von Uwe Springfeld
Kinderstimmen in Straßenbahn
Sprecherin:
Freiburg, Stadtteil Vauban. Die Straßenbahn fährt auf begrüntem Gleisbett. Der
Supermarkt heißt nicht Supermarkt, sondern Quartiersladen. Der Kindergarten nennt
sich Zwergenland. Durch die architektonisch gestylten Townhouses mit den bunten
Fassaden und außen laufenden Treppen schlängeln sich weitgehend autofreie
Anwohnerstraßen, als Spielstraßen ausgewiesen. Ein Aufsteller steht als Stopper auf
dem Gehweg der Hauptverkehrsachse. Er trägt die Aufschrift „Achtung! Spielende
Kinder“.
Freiburg-Vauban ist keine Arme-Leute-Gegend. Auch keine Alte-Leute-Gegend. Laut
Statistik ist ein Drittel der sechstausend Einwohner unter 18 Jahre alt. Sollte sich hier
auch nur einer als vom Staat benachteiligt, als zu kurz gekommen, in seiner
persönlichen und wirtschaftlichen Entfaltung strukturell benachteiligt betrachten?
Markus Essig wohnt in Vauban. Er gehört als Diakon der katholischen Kirche zu den
besseren Einkommensschichten des Landes. Trotzdem war der Freiburger gegen
seine Krankenkasse vor Gericht gezogen. Zuletzt sogar bis vors Bundessozialgericht
in Kassel. Weil er glaubt, die Krankenkasse habe seine Beiträge zur Rentenkasse
ungerecht festgesetzt. Sein Argument: Er erzieht seine Kinder und das muss die
Kasse honorieren. Also seine Beiträge zur Rentenkasse senken.
O-Ton Markus Essig:
Wir haben damals sehr frech gesagt, dass wir ne Halbierung des Beitrags verlangen.
In dem Klageverfahren haben wir da eben eingeführt, ne Systematik – also da war
auch immer um die Reduzierung um die Hälfte die Rede, hilfsweise eine
Reduzierung in Höhe des Existenzminimums.
Sprecherin:
Wird Markus Essig unfair behandelt? Weil der Staat, weil die Bundesrepublik
Deutschland, weil die Sozialkassen mit ihren Einnahmen die Bevölkerung des
Landes unfair belasten und damit die Ausgaben ungerecht berechnen?
Sprecher:
2001 hatte das Bundesverfassungsgericht die einheitliche Beitragshöhe zur
Pflegeversicherung verworfen. Die Richter hatten geurteilt, dass die Erziehung von
Kindern Geld wert ist und mit in die Beitragsberechnung einfließen muss. Weil Kinder
als künftige Verdiener und spätere Beitragszahler das System für die Zukunft
sichern. Die Politik reagierte. Seit 2005 zahlen Kinderlose ein Viertel Prozent ihres
Einkommens mehr in die Pflegekasse ein, Erwachsene mit Kindern ein Viertel
Prozent weniger.
Außerdem hatten die Richter in ihrem Urteilsspruch ausdrücklich festgestellt, dass
geprüft werden muss, ob die Kindererziehung auch in den Beiträgen der anderen
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Sozialkassen berücksichtigt werden muss. Darauf berief sich Markus Essig in seiner
Klage.
Sprecherin:
Die Klage selbst sieht Markus Essig auch als Beginn weiterer
Auseinandersetzungen.
O-Ton Markus Essig:
Also es geht um alle drei Beiträge zur Sozialversicherung – also der Beitrag zur
Krankenversicherung, der Beitrag zur Rentenversicherung und zur gesetzlichen
Pflegeversicherung. Um die drei Beiträge geht’s.
Sprecherin:
Mit seiner Klage wollte Markus Essig mehr erreichen als dass er weniger in die
Rentenkasse zahlt. Er wollte ein anderes, ein seiner Meinung nach gerechteres
System. Er forderte Freibeträge für die Sozialkassen, wie man sie von der Lohn- und
Einkommenssteuer her kennt. 2016 etwa 8.600 Euro pro Familienmitglied.
Selbst die Krankenkassenbeiträge sind in seinen Augen ungerecht, obwohl seine
Kinder hier beitragsfrei mitversichert waren und ein Freibetrag deshalb überhaupt
keinen Sinn hat.
O-Ton Markus Essig:
Bei der Krankenkasse ist unsere Argumentation tatsächlich die Schwierigste, weil ja
alle wissen, dass Familienmitglieder jetzt mitversichert sind. Wir bezahlen aber als
Haushalt ein. Und nicht als Kopf. Also es ist so, wir bezahlen ja mit unserem
Familieneinkommen den Beitrag für alle.
Sprecherin:
Steuerregeln, die ihn eventuell hätten benachteiligen können, wollte Markus Essig
nicht auf die Sozialkassen übertragen haben. Beispielsweise die Steuerprogression.
Die besagt, dass man mit steigendem Einkommen einen höheren Prozentsatz an
Steuern abführen muss. Die Beiträge zu den Sozialkassen richten sich aber nicht
nach der Höhe des Einkommens. Alle zahlen ungefähr den gleichen Prozentsatz bis
zu einer Bemessungsgrenze. Eine Progression für Besserverdienende hätte Markus
Essig schlechter stellen können – trotz Kinderfreibeträgen.
Andere, für ihn vorteilhafte Regeln wollte er nicht aufgeben. Etwa dass heute die
wirklich Besserverdienenden sich von einigen Sozialkassen ganz befreien lassen
und aus der Solidargemeinschaft austreten können. Was die Kranken- und Pflegeund Rentenkasse zu einer Notgemeinschaft der Armen und Normalverdienenden
macht.
Sprecher:
Was ist gerecht? Gerecht ist, dass alle Menschen in Deutschland unterschiedslos die
gleichen Chancen haben, ihre persönlichen Begabungen und Fähigkeiten im Beruf
zu entwickeln und dass prinzipiell jedem jeder Karriereweg offensteht. Unabhängig
von Geschlecht, Religion, ethnischer Herkunft und – Einkommen.
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O-Ton Markus Grabka:
Die monetären Sachleistungen. Nee, meine Fresse jetzt. Das sind ja nur die
Prozente, das hilft ja nix … Wo sind die? … Das müsste diese gewesen ein. So …
Gut. Dann nehmen wir die Monetären. (Laut) Dann nehmen wir die monetären
Sachleistungen.
Sprecherin:
Es geht nach Berlin, ins Büro des Wirtschaftswissenschaftlers Markus Grabka am
Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Der Raum ist eingerichtet wie die
meisten Büros von Wissenschaftlern, die nicht in Labors arbeiten, sondern Papiere
veröffentlichen. Ein Schreibtisch mit Blick aus dem Fenster, Regale,
Besprechungsecke. Eines der Papiere, die Markus Grabka geschrieben hat, ist der
Wochenbericht 25 aus dem Jahr 2015, in dem er über die Einkommensungleichheit
und das Armutsrisiko in Deutschland berichtet.
Muss man eigentlich zwischen dem Staat, der Steuern eintreibt, von Steuern lebt und
Steuergelder wieder ausgibt, und den Sozialkassen unterscheiden, die keine Steuern
erheben, sondern Beiträge einfordern, und beispielsweise Renten, Arbeitslosen- und
Sozialhilfen und Krankengeld wieder auszahlen?
O-Ton Markus Grabka:
Genau. Das ist nicht originär Bundeshaushalt, sondern über den Parafiskus der
Sozialversicherungen und daher läuft da noch zusätzlich viel an Umverteilung.
Obwohl das vom normalen Menschen ja genauso als Staat wahrgenommen wird
weil‘s ist ja in der Regel ‘ne Zwangs-, ‘ne Pflichtversicherung.
Sprecher:
Der Staat, wie man ihn wahrnimmt. Im Radio als Statement von Politikern aus
Bundestag, EU-Parlament und Landtag. Auf der Straße als Polizist an der Radarfalle
und als Mitarbeiter des Ordnungsamtes, der einen Strafzettel ausstellt. In den
Abendnachrichten und Morgenkommentaren als Pilot eines Aufklärungstornados in
Syrien, als Soldat der Bundeswehr in Afghanistan, als Mitarbeiter des Bundeamtes
für Migration und Flüchtlinge. Zur Jahresmitte als unverständlichen und komplizierten
Stapel Formulare zur Lohn- und Einkommenssteuer-Rückzahlung.
Der Staat ist aber auch eine Maschine, die Gelder in Form von Steuern und Abgaben
erst einsammelt und sie dann umverteilt. Von den etwa 3.000 Milliarden Euro, die die
Menschen in Deutschland pro Jahr als Bruttoinlandsprodukt erwirtschaften, kassiert
er grob gesagt ein Drittel. Tausend Milliarden für die Sozialkassen und an Steuern.
Der größte Teil davon stammt aus dem Einkommen der Bevölkerung.
O-Ton Markus Grabka:
Als wichtigstes die Erwerbseinkommen sowohl aus abhängiger und selbständiger
Tätigkeit, Kapitaleinkommen. – Es gibt privat empfangene Rentenleistungen, die
staatlichen Transfers wie das Kindergeld, das Sozialgeld oder auch das
Arbeitslosengeld II, die gesetzlichen Renten, aber auch Beamtenpensionen.
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Sprecher:
Wer finanziert den Staat? Von wem kommt das meiste Geld? Diese Frage
untersuchte 2011 das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in
Essen. Dabei kam ein Diskussionspapier mit wenig überraschendem Ergebnis
heraus. Fast die Hälfte aller Steuern und Abgaben zahlen Arbeitnehmer mit
Einkommen zwischen 20.000 und 50.000 Euro im Jahr. Also die Einkommensklasse,
in der sich das Gros der Arbeitnehmer versammelt.
[Gruppieren die Forscher die Einkommensklassen jedoch um, finanzieren die oberen
zehn Einkommensprozent den Staat. Sie zahlen beispielsweise über die Hälfte der
Einkommenssteuer. Ein Rechentrick der Wirtschaftswissenschaften?] Wer also trägt
den Staat? Die Forscher zucken die Schultern.
Sprecherin:
Über die Hälfte der Einkommenssteuer stammt von den Einkommensstärksten in
Deutschland. Ist das viel oder wenig für die Bestverdienenden? Manche
Finanzierungsquellen lässt der Staat ungenutzt. Einer, der gern mehr zahlen würde,
aber nicht darf, ist der Rentner Dieter Lehmkuhl.
S-Bahn innen
Sprecherin:
Wieder Berlin. Weit im Norden, wo die Metropole ins Kleinstädtische übergeht, bevor
sie in die Brandenburger Region Oberhavel ausläuft. Hier prägen Villen das
Straßenbild. Um die Wende zum 20. Jahrhundert gebaut, beherbergten sie einst das
Großbürgertum. Heute, in Wohnungen unterteilt, lebt hier die mittlere und obere
Mittelschicht. Wie beispielsweise besagter Dieter Lehmkuhl.
O-Ton Dieter Lehmkuhl:
Nach statistischen Maßstäben muss ich mich als reich empfingen. Also ich gehöre zu
den zwei bis drei Prozent reichsten – oder ein bis zwei Prozent reichsten
Vermögenden in Deutschland.
Sprecherin:
Dieter Lehmkuhl ist Millionär. Kein großer, wie er sagt, sondern ein kleiner, ein ganz
kleiner. Etwa eineinhalb Millionen Euro nennt er sein Eigen. Damit hätte er sein
Leben als Bohemien verbringen können. Als jemand, den Geld allein nicht glücklich
macht, weil er welches hat. Doch das hätte Dieter Lehmkuhl nicht befriedigt.
Zeitlebens hatte er für seinen Unterhalt gearbeitet. Als Psychotherapeut.
Trotzdem weiß er die Vorteile eines Vermögens zu schätzen:
O-Ton Dieter Lehmkuhl:
Ich will nicht bestreiten, dass ne gewisse materielle Absicherung ganz wichtig ist.
Das erlebe ich als großen Vorteil. Keine Angst zu haben, keine Sorge, dass es
irgendwann nicht reicht. Aber wir haben schon exzessive Reichtümer, wo man sagen
muss, dass ist der Tanz ums goldene Kalb, ja? Wo sich die Vermögen selbst
vermehren, ohne eigene Leistung.
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Sprecherin:
Ein weiterer Vorteil seines Vermögens: Mehr Steuern und Abgaben hätten Dieter
Lehmkuhl nicht weiter belastet. Er hat’s ja. Als 2007 mit der Pleite der Lehman-Bank
die Finanzwelt in eine Krise stürzte, schritt er zur Tat. Mit anderen Millionären
gründete er eine Initiative mit der Forderung: „Besteuert mich“. Nicht die unteren und
mittleren Einkommensschichten sollten die Folgen fehlgeschlagener
Finanzspekulationen tragen, sondern die Vermögenden, die vorher davon profitiert
hatten. Deshalb verlangen sie noch heute, große Vermögen wie etwa die eigenen mit
einer einmaligen, zweckgebundenen Abgabe zu belasten. Außerdem fordern sie, die
1997 ausgesetzte Vermögenssteuer wieder einzuziehen.
O-Ton Dieter Lehmkuhl:
Wir haben eine einmalige Vermögensabgabe gefordert auf 10 Prozent auf alle
Vermögen jenseits eines Schonvermögens von 500.000 und die Wiedereinführung
der Vermögenssteuer von mindestens einem Prozent. Das hätte den öffentlichen
Kassen durch die Vermögensabgabe einmalig etwa 150 Milliarden eingebracht und
die Vermögensteuer anschließend noch einmal jährlich 15 Milliarden.
Sprecherin:
Der Staat nimmt Dieter Lehmkuhls Geld nicht. Er will es nicht. 2016 denkt die
Bundesregierung so wenig über eine Abgabe auf Millionenvermögen nach wie
darüber, eine faire Vermögenssteuer einzuziehen. Heute spendet der Millionär
sämtliche Erträge seines Vermögens für soziale Initiativen und lebt ausschließlich
von seiner Rente, die er selbst erwirtschaftete.
O-Ton Dieter Lehmkuhl:
Dass wir die großen Unterschiede in Einkommen, Vermögen haben, ist ja in den
seltensten Fällen Ausdruck großer Leistungsfähigkeit. Es gibt natürlich Leute, die viel
leisten und besser honoriert werden sollten. Sondern es ist eher Ausdruck einer
Gesellschaft, die den gemeinsam erarbeiteten Reichtum unfair verteilt.
Sprecher:
Von den Vermögenden also nimmt der Staat kein Geld, aber von den
Einkommensschichten ganz unten. Wie viel Steuern zahlen untere
Einkommensschichten? Wie viel zahlt ein durchschnittlicher Hartz IV-Empfänger an
den Staat. Markus Grabka:
O-Ton Markus Grabka:
Das muss man schlicht und einfach feststellen, aufgrund des steuerfreien
Grundfreibetrags kommt es eben dazu, dass Personen aus dem untersten
Einkommensbereich faktisch gar keine direkten Steuern zahlen – sie zahlen aber
natürlich indirekte Steuern auf ihren privaten Konsum – das heißt vorrangig die
Mehrwertsteuer.
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Sprecher:
Auch Hartz IV-Empfänger zahlen Steuern? Ja. Beispielsweise KFZ-Steuer, Stromund Energiesteuer, Kaffee- und Versicherungssteuer, Umsatzsteuer, vulgo:
Mehrwertsteuer. Gibt es eine Zahl?
O-Ton Markus Grabka:
Boahh – gibt’s irgendwo. Aber die hab ich nicht im Kopf. (Lachen) Ist ein weites Feld.
Sprecher:
Niemand weiß wirklich, wie viel Steuern und Abgaben Hartz IV-Haushalte bezahlen.
Deshalb kann Markus Grabka den Betrag nicht nachlesen.
Wirtschaftswissenschaftler haben ihn nie ermittelt. Die Forscher befassen sich nur
selten mit Menschen mit einer Finanzkraft im Peanuts-Bereich.
Forschungsprogramme zu diesem Einkommenssektor rechnen sich kaum. In der
Folge fehlen wichtige Sozialdaten. Heute kann man sie bestenfalls grob abschätzen.
Schaut man auf den Warenkorb, der Hartz IV zugrunde liegt, und kalkuliert allein die
Mehrwertsteuer, kommt man auf eben diesen Betrag. 250 Euro monatlich für einen
fünfköpfigen Haushalt, 50 Euro für einen Single. Ist das viel oder wenig?
Es ist etwa der Betrag, der Hartz IV-Empfängern für eine Woche zum Leben zur
Verfügung steht. Denn im Alltag müssen sie von ihrem monatlichen Einkommen auch
Geld für solche Rechnungen zurücklegen, die einmal im Jahr kommen.
Versicherung, Zeitung, Nachzahlungen für Strom, Gas, Miet-Nebenkosten.
Außerdem müssen sie weitere Rücklagen für Eventualitäten bilden. Wenn Schuhe
kaputt gehen, Kinder aus ihrer Kleidung herauswachsen.
Nicht nur Hartz IV-Empfänger befinden sich am unteren Ende der Einkommensskala.
O-Ton Markus Grabka:
Anders sieht es aus, wenn wir uns das Konzept der relativen Armutsrisikos uns sich
äh einmal betrachten, des äh – Ganz schön geblubbert. Zu viele dumme
Zwischenworte.
Sprecher:
Zeitlich befristete Jobs, Arbeitnehmer in Teilzeit, Minijobber, Schein- und solche
Selbständige, die keine Mitarbeiter beschäftigen. Gerade für Solo-Selbständige
scheinen die Honorare ins Bodenlose zu fallen. Im Internet bieten Firmen Aufträge
für Cent-Beträge an. Erfolgreich. Zwei Cent Honorar dafür, drei Produkte eines
Online-Shops zu vergleichen. Drei Cent: einfache Fragen zu Film-Clips zu
beantworten. Ein Euro zwanzig: Schreiben einer Produktbeschreibung. Mit solchen
Tätigkeiten kommen Solo-Selbständige auf durchschnittlich 1,29 Euro pro Stunde.
Spitzenverdiener bringen es auf 60 Euro Umsatz am Tag. Macht, nach Abzug der
Kosten einen Nettobetrag einige zehn Euro über Hartz IV. Wie gesagt: für
Spitzenverdiener.
O-Ton Markus Grabka:
Der entscheidende Unterschied zwischen den obersten Einkommensbeziehern und
den unteren liegt vor allem darin, dass die obersten Einkommensbezieher
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regelmäßig sparen können – man geht in etwa von einer Sparquote von bis zu 20
Prozent aus. Indessen bei den unteren 10 Prozent wird entspart – das heißt, die
Personen müssen sich verschulden häufig, um ihren Konsum überhaupt decken zu
können.
Sprecher:
Viel oder wenig? Wie will man das entscheiden? Ein und derselbe Euro kann einen
ganz unterschiedlichen Wert haben. Es ist ein Unterschied, ob jemandem mit CentHonoraren ein Portemonnaie mit 100 Euro aus der Hosentasche rutscht oder ob
jemand mit durchschnittlichem Akademiker-Einkommen 1.000 Euro an der Börse
verspekuliert, sagt die Sozialwissenschaftlerin Dorothee Spannagel vom Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf.
O-Ton Dorothe Spannagel:
Damit ist natürlich schon mal ein entscheidender Punkt, ob jetzt das Geld, das ich
beispielweise verliere, das Geld ist, dass ich schon fest eingeplant habe, mit dem ich
diese Woche meine Lebensmittel bezahlen kann, muss, weil was anderes habe ich
nicht. Oder ob es das Geld ist, das ich irgendwie noch auf dem Sparbuch
zurückgelegt hätte – dann lege ich es nicht zurück. Das ist dann ja nicht weiter
dramatisch.
Sprecher:
Die Euro, die man im Supermarkt für Lebensmittel ausgibt oder die am
Monatsanfang aufs Konto vom Vermieter überwiesen werden, sind nur schwer
vergleichbar mit denjenigen, mit denen man sich eine Opernpremiere oder einen
Abend im Sterne-Restaurant leistet. Ihr Wert variiert mit dem jeweiligen Verdienst.
Diesem Unterschied innerhalb ein und derselben Währung trägt der Staat
beispielweise mit den steigenden Steuersätzen Rechnung. Untere Einkommen
zahlen 14 Prozent. Hohe Einkommen hingegen 45 Prozent.
Die Frage ist: Kann man den Wert eines Euros aus einem kleinen Einkommen gegen
den eines großen umrechnen? Die Wirtschaftswissenschaften haben keine Antwort.
Auch die Sozialwissenschaften nicht. Dorothee Spannagel weiß lediglich, wofür
untere Einkommensschichten ihr Geld ausgeben:
O-Ton Dorothee Spannagel:
Je weniger man verdient, desto höher ist der Anteil – oder, je weniger Einkommen
man hat, sagen wir so, desto höher ist das Anteil dessen, was man für Konsum
ausgibt. Also die unteren Einkommensschichten verkonsumieren ihr Einkommen fast
komplett – brauchen sie auch, weil sie sich sonst nicht den Alltag finanzieren können.
– In den oberen Einkommensschichten steigt, je höher man kommt, der Anteil des
Einkommens, der nicht für Konsum ausgegeben wird.
Sprecher:
Müssten bundesdeutsche Haushalte allein von ihrem Verdienst leben, wäre jeder
dritte armutsgefährdet. Aber Transfers wie Wohn- und Kindergeld und nach
Aufstockung auf Hartz IV und andere Leistungen halbiert sich die Rate der
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armutsgefährdeten Beschäftigten von einem Drittel der Haushalte auf gerade mal
einem vom sechs. Das zeigt eine Untersuchung des Instituts „Arbeit und
Qualifikation“ an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Essen.
Ob das bedingungslose Grundeinkommen Abhilfe schaffen könnte? Die Idee: Jeder
deutsche Staatsbürger bekommt monatlich Geld auf sein Konto überwiesen. Einfach
so. Das klingt gut, die Idee wird auch international diskutiert, ist aber noch
unausgereift. In Finnland beispielweise diskutiert 2016 die national-konservative
Regierung, jegliche soziale Unterstützung durch ein Grundeinkommen zu ersetzen.
Sprecherin:
Eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern mit Hartz IV Einkommen müsste
plötzlich sich selbst und ihre Kinder mit den dortigen Satz von 800 Euro
durchbringen. Inklusive Miete, inklusive Krankenversicherung, inklusive Lebensmittel.
Während bei dieser Frau die Obdachlosigkeit vorprogrammiert wäre, freute sich ein
Besserverdienender über den Gehaltszuwachs.
Sprecher:
In Deutschland könnte das bedingungslose Grundeinkommen zu ähnlichen
Problemen führen. Statt allen Empfängern ein auskömmliches Leben zu
ermöglichen, könnte das zusätzliche Geld für alle die Inflation anheizen. Miete,
Lebensmittel – alles teurer. Und das, was als Abhilfe aus prekären Lagen gedacht
war, entpuppte sich letztlich als Zusatzgewinn der Besserverdienenden.
Sprecherin:
Sozialpolitik hat wenig mit Mitgefühl zu tun. Hinter ihr steckt ein handfestes,
volkswirtschaftliches Kalkül, wie eine Studie der OECD von 2015 zeigt. Wird die Kluft
zwischen den Einkommen zu groß, schadet das der Wirtschaft. Zu viel Humankapital
eines Staates würde brachliegen, sagt Markus Grabka:
O-Ton Markus Grabka:
Wenn die Einkommensungleichheit steigt, investieren die unteren 40 Prozent der
Einkommensverteilung, also der Bevölkerung weniger in die eigene, als auch in die
Bildung ihrer Kinder – und dementsprechend natürlich die Entwicklungsmöglichkeiten
von Kindern und ihren Möglichkeiten, in ihrem späteren Leben Einkommen zu
erzielen, schlechter ausfallen als wenn die Einkommensverteilung gerechter oder
gleichmäßiger wäre.
Sprecherin:
In seinem Büro ringt er um passende Formulierungen. Immer wieder huscht sein
Blick zum Monitor auf seinem Schreibtisch, auf dem er eben die passenden Zahlen
erscheinen lassen könnte, wenn es sie denn gäbe. Diese Sozialpolitik, erzählt er,
lässt sich Deutschland einiges kosten. Etwa 490 Milliarden Euro.
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O-Ton Markus Grabka:
Also was sind 490 Milliarden? Also das ist vom normalen Menschen so weit weg,
dass man damit auch nichts anfangen kann. Viel Geld, aber – (Lachen). Was
bedeutet das?
Sprecher:
490 Milliarden Euro. Das ist knapp die Hälfte dessen, was der Staat und die
Sozialkassen in einem Jahr einnehmen. Von allen seinen Einkünften zahlt also der
Staat jeden zweiten Euro wieder in bar an die Bevölkerung zurück.
O-Ton Markus Grabka:
Jaaa – jaha – der Staat gibt halt auch für diverse Leistungen halt aus. Da zählt ja
auch tatsächlich dazu das gesamte Bildungssystem, die Finanzierung für die
Krankenversicherung, extrem viel für die Rentenhaushalte – da laufen allein über
100 Milliarden rein. – Also da kommen Riesensummen zusammen.
Sprecherin:
Aber wird das Geld fair verteilt? Wer ist überhaupt arm in Deutschland?
O-Ton Markus Grabka:
Das Konzept des relativen Armutsrisikos versucht den unteren Rand der
Einkommensverteilung zu messen – wie viele Menschen sich aus finanziellen
Gründen eine normale Teilhabe am soziokulturellen Leben, am gesellschaftlichen
Leben nicht leisten können. – Das ist auf Basis unserer Zahlen ein Wert von etwa
1.000 Euro für einen Ein-Personen-Haushalt.
Sprecherin:
Soziale Teilhabe. Bedeutet: Können sich arme Menschen eine Kinokarte leisten?
Oder einen Restaurantbesuch? Können sie eine Flasche Wein mitbringen, wenn sie
am Wochenende eingeladen sind? [Kurz: Können Menschen die Fassade
aufrechterhalten, dass bei ihnen alles in Ordnung ist?
Wichtig ist aber etwas ganz anderes. Nämlich:] Werden Menschen aus finanziellen
Gründen zu einer bestimmten Art der Lebensführung gezwungen, die sie gegenüber
anderen diskriminiert? Können sie sich selbst aus ihrer misslichen Lage befreien?
Oder zumindest ihre Kinder?
Sprecher:
Wer bekommt was durch die Sozialpolitik? Kindergeld zahlt der Staat an Arm und
Reich gleichermaßen. Hartz IV, Wohngeld und Grundsicherung beispielsweise, eine
Art Sozialhilfe für Menschen im Rentenalter, bekommen Bedürftige. Von den
Ausgaben für Bildung soll die ganze Bevölkerung gleichermaßen profitieren.
Deutschland gibt im Vergleich mit den anderen OECD-Staaten im Bildungsbereich
überdurchschnittlich viel Geld aus. Jedoch nicht für die Sekundarstufen, die mit dem
Hauptschulabschluss oder der Mittleren Reife enden. Sondern für Gymnasien –
Abschluss Abitur – und Universitäten. Bachelor, Master, Promotion.
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Welche Ausbildung man bekommt, hängt in Deutschland nicht nur von den
Begabungen und Fähigkeiten des Einzelnen ab, sondern wesentlich von der sozialen
Herkunft. Auf den Gymnasien und Hochschulen finden sich oft die Kinder von
solchen Eltern wieder, die selbst einen Hochschulabschluss haben. Ihnen öffnen sich
dann die Türen zu den gut bis bestbezahlten Tätigkeiten. Anders als in vielen
anderen Ländern muss man in Deutschland für den Lehrer-Beruf studieren. Ebenso
für den Bauingenieur, für einen etwas besseren Schreibtischjob in der Verwaltung.
Allein der Handwerksmeister, manchen ausländischen Fachhochschulabschlüssen
gleichgestellt, erfordert kein Studium. Mit Mittlerer Reife macht man eine Lehre und
wird Automechaniker, Elektriker, Installateur, Arzthelferin, Postbote, Verkäuferin mit
Chance für den Aufstieg zum Abteilungs- oder Filialleiter. Dorothee Spannagel:
O-Ton Dorothee Spannagel:
Bei diesem Mechanismus wird ein ganz enormes Umverteilungspotenzial nicht
ausgeschöpft. Das ist glaube ich der zentrale Punkt. Also dass dadurch, dass der
Staat an dieser Stelle ein enormes Umverteilungspotential nicht nutzt, dass so
soziale Ungleichheit über Generationen verfestigt wird. Wer hat, dem wird gegeben.
Sprecher:
Nach der vom Berliner Robert-Koch-Institut 2015 veröffentlichten Studie „Gesundheit
in Deutschland“ erleiden Menschen unterer Einkommensschichten eher einen
Schlaganfall oder einen Herzinfarkt, eine Depression oder erkranken an Diabetes.
Die Ursachen sind häufig schon im Kindes- und Jugendalter angelegt, weil sich hier
erste Entwicklungsrisiken wie ungesunde Ernährung, Übergewicht oder
Verhaltensauffälligkeiten zeigen. In der Folge sterben Frauen unterer
Einkommensschichten etwa acht Jahre, Männer sogar elf Jahre früher als Menschen
mit höheren Einkommen.
Würde die Gesellschaft gerecht teilen, würde das jeweilige Einkommen so wenig
ausschlaggebend für die Lebenserwartung sein wie Herkunft oder Religion. In der
Realität ist Deutschland hingegen ein Staat, in dem Menschen über Generationen
hinweg arm bleiben, weil ihre Kinder kaum eine Chance auf eine gute Ausbildung
haben.
Sprecherin:
Wieder im Büro von Markus Grabka. Er ist der Experte. Wie wird man in Deutschland
reich? Also richtig reich. Durch Lottospielen? Markus Grabka schüttelt den Kopf.
O-Ton Markus Grabka:
Wenn man die wirklich Wohlhabenden in Deutschland fragt, wie sie zu ihrem
Reichtum gekommen sind, dann ist der Standardweg über Erbschaft und Schenkung.
Sprecherin:
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O-Ton Markus Grabka:
Nee, nee. Erbschaften und Schenkung. Reiche Eltern sich aussuchen. Man muss
schon schauen, dass einen der Storch ins richtige Nest absetzt.
Sprecherin:
Es stimmt also, was der Volksmund sagt. Mit der Wahl seiner Eltern kann man nicht
vorsichtig genug sein.
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