„The world around you is not what it seems” Pokémon GO, Religion und Gesellschaft In weniger als drei Wochen erreichte Pokémon GO mehr als 50 Millionen Downloads und ist damit das erfolgreichste Mobile Game, das es je gegeben hat. Allein in Deutschland gibt es mittlerweile mehr als 16 Millionen Spieler. Die täglichen Zuwachsraten weltweit liegen derzeit bei vier bis fünf Millionen. Dabei wird für die kommenden zwölf Monate mit Umsätzen im zweistelligen Milliardenbereich gerechnet. Und alle fragen sich, warum das Spiel derart erfolgreich ist. Pokémonites investieren nicht nur Zeit und Geld in das Spiel, sie legen auch eine Opferbereitschaft an den Tag, die den Schluss nahelegt, dass jene digitale Poké-Welt der unsichtbaren Wesen bedeutender ist, als die echte Alltagswelt um sie herum. Das hört sich nach Religion an? Vielleicht ist Pokémon GO genau das! Was im ersten Moment absurd erscheint, ist bei genauerem Hinsehen gar nicht mehr so abwegig. Die Anthropologin Hannah Gould bemerkte kürzlich, dass es verblüffende Ähnlichkeiten zwischen dem Pokémon-Universum und der ältesten Religion Japans gibt, dem Shintoismus. Dieser versteht die Welt als Lebensraum tausender Gottheiten, den kami. Jene residieren selbst in scheinbar unbelebten Objekten wie Steinen. Sie können von religiösen Spezialisten, den Schamanen, mithilfe von rituellen Gegenständen namens Yorishiro angelockt werden, in denen sie sich dann temporär niederlassen. Bringt der Mensch den kami Gaben in Form von Essen und Räucherwerk, lassen diese ihm Erfolg, Glück und Gesundheit zuteilwerden. Eine solche Gabenbeziehung existiert auch bei Pokémon GO: Will der Spieler die kleinen Monster als wohlgesonnene Begleiter gewinnen, so muss auch er diese mit Räucherwerk anlocken, sie in sein Smartphone einquartieren und mit „Candy“ und „Stardust“ füttern. Nur dann treten sie schlussendlich gut trainiert in Wettkämpfen gegen andere Pokémons an, um den Status ihrer menschlichen Partner zu verbessern. Wir können Pokémons mit dem Verstande suchen, aber finden können wir sie nur mit dem Smartphone Religion wird ja in aller Regel erst dann interessant, wenn sich übernatürliche Wesen und Mächte in unserem Alltag bemerkbar machen, wenn sich das Gewohnte unter veränderten Vorzeichen zeigt. Studien haben belegt, dass es sich mit Computerspielen nicht viel anders verhält. Es ist die Augmented-Reality-Funktion des Spiels, die die der Beseeltheit der PokéWelt zum Leben erweckt: Wir haben es mit einer Verschmelzung von Wirklichkeiten zu tun. Da es sich um ein positionsbezogenes Spiel handelt, werden die virtuelle Welt und die materielle Alltagswelt anhand der GPS-Standortdaten des Spielers direkt übereinanderlegt und miteinander verschmolzen. Spiele ich das Spiel also am Kurfürstendamm in Berlin, dann befinde ich mich auch im Spiel genau an diesem Ort. Und mit Spielbeginn kommt das Glaubensbekenntnis: „Ja, ich glaube, dass der Kurfürstendamm nicht nur aus Menschen, Tieren, Pflanzen und Objekten besteht, sondern auch noch von einer Vielzahl an Pokémons be© KulturBroker Dr. Stephanie Sommer – Verfasser: Nikolaus Gerold 1 Pokémon GO wohnt wird.“ Und so ein Geständnis fällt gar nicht schwer. Mithilfe der Smartphone-Kamera zeigen sich die beiden Wirklichkeiten auf dem Bildschirm als visuelle Einheit. Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass der Spieler sich in der echten Welt bewegen muss, um in der virtuellen sein Ziel zu erreichen. Dabei ist er vor allem nicht der Einzige, der in aller spielerischen Ernsthaftigkeit mit der anderen Wirklichkeit interagiert: Umgeben von teils mehreren hundert Spielern, die sich dem gleichen Ziel verschrieben haben, weiß er zugleich um die Millionen Gleichgesinnten weltweit. Und Glaube wird ja bekanntlich dann zur Religion, wenn er soziale Relevanz erhält. Diese lebendige Verflechtung der virtuellen Realität mit der echten Welt und dem eigenen Alltag ist wohl auch der Grund für die enorme Durchdringungskraft von Pokémon GO. Nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern gerade im öffentlichen Raum beobachten Nichteingeweihte seit einigen Wochen merkwürdige Verhaltensweisen bei ihren Mitmenschen. Zeitungsmeldungen über Personen, die Polizeistationen und militärische Sperrbezirke stürmen, um dort nach Pokémons zu suchen, sind inzwischen an der Tagesordnung. In Düsseldorf wurde eine Brücke, auf der sich ein begehrter PokéStop befindet, so massiv belagert, dass die Stadtverwaltung gezwungen war, Kraftfahrzeuge auf Dauer von dieser Kultstätte fernzuhalten und mobile Toiletten für die Pokémonites aufzustellen. Diese Ereignisse erwecken den Eindruck, dass die Pokémon-Wirklichkeit für viele bedeutsamer ist als die schnöde Alltagswelt. So wie christlich Gläubige auf Pilgerreisen nach Santiago de Compostela extreme Anstrengungen auf sich nehmen, um Heil zu finden, so wandern Pokémonites bei Tag und Nacht stundenlang umher, ja buchen sogar Taxi-Flatrates, um Pokémon-Eier auszubrüten, seltene Spezies zu finden, oder aber PokéStops und Kampfarenen aufzusuchen. Ganz zu schweigen von anderen Opfern, die die Poké-Anhänger tagtäglich bringen. Neben den horrenden Taxigebühren und finanziellen Schäden durch Autounfälle und dergleichen, nehmen sie vor allem ein stark erhöhtes Gesundheitsrisiko in Kauf, wenn sie „profane“ Dinge wie verkehrsreiche Straßen, Felsenklippen und Gruben in aller nur denkbaren Weltabgewandtheit ignorieren, und mit Märtyrergesinnung nachts unsichere Gegenden aufsuchen, die sie noch vor kurzem sogar tagsüber gemieden hätten. Und selbst wenn der Geldbeutel und die Gesundheit intakt bleiben, geopfert werden in jedem Fall Unmengen an personenbezogenen Daten, sobald den Datenschutzrichtlinien der Betreiberfirma zugestimmt wird. Angesichts dieses religiösen Eifers können etablierte Religionen schon mal nervös werden. So wurde Pokémon GO in Saudi Arabien bereits als „Sünde“ eingestuft und offiziell verboten. Woanders sehen Religionsführer „dämonische Kräfte“ am Werk, und manch ein Geistlicher versucht, verlorene Seelen zu missionieren, während sie vor seiner Kirche Pokémons fangen. Aber spätestens wenn diese Kirche vom Spiel-Algorithmus zum offiziellen PokéStop erklärt wird, hat es eher den Anschein, als ob genau andersherum ein Schuh daraus wird. Es wäre ja nicht das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass erfolgreiche Religionen bereits bestehende Kultstätten einfach in Besitz nehmen. © KulturBroker Dr. Stephanie Sommer – Verfasser: Nikolaus Gerold 2 Pokémon GO Woher das alles rührt, wohin das alles führt Was treibt die Menschen nun zu alledem? Versteht man Religion als einen Bereich, der für Sinnsuche, Heilsversprechen und Erlösung zuständig ist, was verspricht und bietet dann Pokémon GO seinen Anhängern? Level für Level aufzusteigen und irgendwann ein Pokémon-Großmeister zu werden. So zumindest lautet die offizielle Zielsetzung des Spieleherstellers Niantic. Das eigentlich Spannende ist jedoch, was das über die Gegenwart verrät. Sehnt sich die moderne Gesellschaft nach dem Ende einer „entzauberten Welt“? Wollen Menschen dem „urban chill“, der großstädtischen Anonymität und Kälte entkommen, indem sie Gemeinschaftserlebnisse provozieren? Fliehen sie vor den täglichen Hiobsbotschaften über Krieg, Terror, politische Krisen und Umweltkatastrophen in eine heile, niedliche Parallelwelt? Oder wollen alle Pokémons fangen, um damit den Idealen der Leistungsgesellschaft zu entsprechen? Der unglaubliche Erfolg von Pokémon GO scheint definitiv in der perfekten technischdigitalen Umsetzung der animistischen Logik zu liegen. Hier folgt das Spiel den Prinzipien des im Produktdesign gängigen Techno-Animismus. In der post-industriellen Informationsgesellschaft gewinnen Flexibilität, Mobilität und Individualität zunehmend an Bedeutung, wodurch für viele Menschen die Herstellung dauerhafter Nähe zu Familie und Freunden schwierig wird. Zugleich verbringen sie viel Zeit in anonymen öffentlichen Räumen, was ein Gefühl der Heimatlosigkeit und Entwurzelung hervorruft. Sowohl die sich schnell verändernden Lebensläufe und Lebenswelten, als auch die globalen Krisen, die den connected consumer durch Massenmedien 24 Stunden am Tag erreichen, rufen Gefühle der Unsicherheit und Instabilität hervor. Vor diesem Hintergrund wird in der Produktkonzipierung heute neben Effizienz und Funktionalität vor allem auf die Form der Dinge Wert gelegt. Priorität hat hier eine Vermenschlichung der Objektwelt, die das Gefühl erzeugt, die Dinge wären beseelt. Durch diese „Animierung” der Dinge wird die Emotionalität der Mensch-Ding-Beziehung verstärkt, die die technischen Produkte als intimen Teil der eigenen Person erscheinen lässt. Vergessen wir das Smartphone zu Hause, verspüren wir einen Phantomschmerz. Durch Pokémon GO wird nun aber nicht nur das Smartphone zum Yorishiro, dem rituellen Gegenstand des digitalen Schamanen, in dem seine beseelten Pokémon-Gefährten wohnen, sondern gleichzeitig wird die als unsicher und anonym erfahrene Alltagswelt als wundersam belebt wahrgenommen, wodurch der Spieler in eine „verzauberte” Welt eingebunden wird und ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit und Heimat entwickelt. Dieses Gemeinschaftserlebnis wird nicht zuletzt unterstützt durch die „Echtwelt”-Interaktionen mit anderen Spielern der Gamer-Community, die von gemeinsamen Ritualen und Codes getragen werden. Spätestens hier wird nun klar, dass sich das Spiel Pokémon GO ideal in die von Experten beobachtete „Wiederkehr der Religionen” einreiht und anderen religiösen Bewegungen durch sein Angebot an Gemeinschaft, Geborgenheit in einem übergeordneten Zusammenhang sowie Identifikation mit etwas über die Existenz des Einzelnen Hinausweisenden, Konkurrenz machen wird. © KulturBroker Dr. Stephanie Sommer – Verfasser: Nikolaus Gerold 3 Pokémon GO Pokémon GO ist bei weitem nicht die erste Augmented-Reality-Technologie auf dem Markt, es ist auch nicht das erste darauf basierende Mobile Game. Allerdings ist es die perfekte Verbindung von animistischer Logik und digitaler Technologie. Es zeigt zudem, dass die Produzenten und Entwickler des Spiels ein tiefes kulturelles Verständnis der Alltagswelt der User gehabt haben müssen. In diesem Sinne können die Pokémonites nur hoffen, dass ihr Smartphone während eines Poké-Battles nicht „den Geist aufgibt”. Über den Verfasser Nikolaus Gerold ist für KulturBroker im Management und im Bereich Global Research tätig. Seine Spezialgebiete umfassen digitale Transformation, Jugendkultur, Stadtforschung, Soziale Ästhetik, Sinnes- und Emotionsforschung sowie Gender Studies. © KulturBroker Dr. Stephanie Sommer – Verfasser: Nikolaus Gerold 4
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