2 | Region Zürichsee-Zeitung Bezirk Horgen Samstag, 23. Juli 2016 DIGITAL ZÜRICHSEE-REGIONEN IM POKÉMON-FIEBER – EIN SELBSTVERSUCH Auf der Jagd nach virtuellen Monstern Die zwei ZSZ-Redaktoren Fabia Bernet und Valentin Kälin wagen den Selbstversuch: Sie haben das Spiel «Pokémon Go» auf ihre Smartphones heruntergeladen und machen sich auf die Suche nach den Pokémon-Fabelwesen rund um den Zürichsee. F ür uns als Kinder der 90erJahre waren die kleinen Fabelwesen namens Pokémon überall präsent: Auf dem Pausenhof tauschten wir die beliebten Pokémon-Kärtchen fleissig untereinander. Im Fernseher waren die animierten Pokémon-Abenteuer Pflichtprogramm. Und auf dem Gameboy jagten wir den Fabeltierchen ebenfalls stundenlang hinterher. Das Handyspiel «Pokémon Go» (siehe Box) war also für uns ein Kindertraum, der in Erfüllung ging. Wie gerne wollten auch wir uns früher auf die Suche nach den Pokémon machen. Das Bild der starren Blicke, die im Zug auf das Smartphone gerichtet sind, ist für uns normal: Die Köpfe der Pendler sind gesenkt, die Finger tippen rasant auf den Bildschirm. Seit der Lancierung des Handyspiels «Pokémon Go» ist das anders: Das Szenario verschiebt sich auf die Strassen. Als Erwachsene, die mit dem Internet aufgewachsen sind, war es eine logische Konsequenz, dass wir uns auf den Weg machen und auf Pokémon-Suche gehen. Das Prinzip des Spiels ist einfach zu verstehen: Mit dem Handy in der Hand spazieren wir umher und versuchen Pokémon zu fangen und virtuelle Kämpfe gegen die gegnerischen Teams zu führen, um schlussendlich die Spielarenen einzunehmen. Mittels GPS und der integrierten Kamera sehen wir unsere Umgebung auf dem Bildschirm. Eine Verschmelzung von virtueller Welt und Realität. Unsere erste Etappe führt von Stäfa, der Seestrasse entlang in Richtung Männedorf. Die Bilanz ist einigermassen erfolgreich: 23 Pokémon gehen uns ins Netz. An den 14 sogenannten Pokéstops können wir neue Fangbälle sammeln. Beim Seeclub Stäfa angekommen, lassen wir es uns nicht nehmen, die dort platzierte virtuelle Pokémon-Arena zu erobern. Für eine «Ich musste das Spiel nach einem Tag wieder löschen. Sonst werde ich sofort süchtig.» Avec-Verkäufer, Bahnhof Wädenswil ganze Stunde regiert unser Team Rot an der Seestrasse. Bevor sie dann von einem gegnerischen Team zurückerkämpft wird. Sie sind also wirklich da draussen, die Pokémon-Jäger. Bei der Fischotterhaab in Männedorf entdecken wir auf unserem Bildschirm einen Pokéstop, von dem Pokémon angelockt werden. Wir gesellen uns zu zwei jungen Männern, schätzungsweise Mitte 20, die ebenfalls spielen. Wir tauschen uns kurz über unsere Levels aus und werden nostalgisch: «Die Zeit, als wir auf dem Pausenhof Pokémon-Karten tauschten, war genial», erinnert sich einer der anwesenden Spieler. Am Schiffsteg in Wädenswil an gekommen, staunen wir nicht schlecht: Gleich drei Arenen warten darauf, von uns erobert zu werden. Doch die gegnerischen Teams – vor allem das bei der Arena «Skaterhalle» – sind viel stärker. Uns wird klar: Wir müssen besser werden. Also platzieren wir uns zwischen den beiden Pokéstops «Haus zum Merkur» und «Henkell Trocken», sammeln fleissig Bälle und warten auf weitere Taschenmonster. Ein kurzer Halt im Schatten kommt uns nach fast drei Stunden pausenloser Pokémon-Jagd an der Mittagssonne ohnehin entgegen. Als unsere Handyakkus langsam der Schwäche erliegen, beschliessen wir, uns im Avec am Wädenswiler Bahnhof zu stärken und dann das Schiff zurück nach Stäfa zu nehmen. Während wir in der Schlange stehen, taucht in der Nähe ein Pokémon auf. Dieses müssen wir einfangen. Der Verkäufer lacht: «Spielt ihr ‹Pokémon Go›?» Wir nicken und fragen zurück. «Nein, spinnt ihr!? Ich habe es einen Tag lang gespielt, musste es aber wieder löschen. Sonst werde ich sofort süchtig», entgegnet er. Zurück in Stäfa zogen wir Bilanz: 39 Pokémon gefangen, 21 Pokéstops und acht Arenen passiert, fast sieben Kilometer hinter uns und dabei sehr vielen anderen Pokémon-Jägern begegnet. Das Spiel bringt einem definitiv in Bewegung und unter die Leute. Ob wir nun auch süchtig sind? Noch nicht. Wenn aber ein gegnerisches Team unsere ZSZ-Arena in Stäfa einnimmt, können wir es ab jetzt nicht unversucht lassen, unsere «Heimarena» wieder zurückzuerobern. Fabia Bernet / Valentin Kaelin WAS IST POKÉMON GO? An der Kugelgasse in Männedorf treffen wir auf ein Pokémon. Screenshot Am 6. Juli erschien in Australien und den USA die App «Pokémon Go» des japanischen Spieleherstellers Nintendo. Seit einer Woche ist sie auch in der Schweiz kostenlos erhältlich. Die App löste einen regelrechten Boom aus. Weltweit wurde sie bereits millionenfach heruntergeladen, momentan liegt sie in allen Startländern an der Spitze der Downloadcharts. Im Spiel geht es darum, möglichst viele Fabelwesen, also Pokémon, zu fangen – und das auf quasi-realem Terrain. Das Stichwort lautet «Augmented Reality», eine computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Dank Google Maps erscheinen die fiktiven Wesen auf einer realen Karte, nämlich da, wo sich die Spieler mit dem Smartphone gerade befinden. Dies führt dazu, dass man sich in der realen Welt bewegen muss, um auf Pokémon zu stossen. Dabei trifft man auf andere Spieler sowie auf sogenannte Pokéstops, Wegpunkte, wo für das Spiel wichtige Gegenstände zu finden sind. An belebten Orten hat es zudem Arenen, wo die eigenen Pokémon zum Kampf gegen andere Spieler antreten können. Dabei steigen die Pokémon und der Spielcharakter im Level stetig auf. Ziel des Spiels ist es, alle 151 Pokémon zu finden und zu fangen. kav Den Blick auf das Smartphone gerichtet, gilt es für uns, das Pokémon Evoli zu fangen. Fabia Bernet Nachgefragt Marc Stoll, Psychologe, Feldmeilen «Eine Kopplung zwischen realer Umgebung und Onlinewelt» «Pokémon Go» fasziniert derzeit Millionen von Leuten. Wieso? Marc Stoll: Weil es zu einer Kopplung zwischen der realen Umgebung und der Onlinewelt kommt. Jagte man früher die Pokémon im Kinderzimmer auf dem Gameboy, so geht man heute zu Fuss mit dem Smartphone auf Schnitzeljagd im Quartier. Neben dieser Neuheit kommt der Retrofaktor dazu. Wie bei «Star Wars» spricht das Produkt ein generationenübergreifendes Publikum an. Welche Gefahren lauern beim Spielen von «Pokémon Go»? Das Spiel hat Suchtpotenzial. Zwar freuen sich Eltern und Gesundheitspolitiker, dass dank «Pokémon Go» die Kinder wieder mehr Zeit draussen verbringen und sich bewegen. Aber das Spiel triggert das Gehirn geschickt mit realen und digitalen Reizen und macht somit Lust auf mehr. Dazu kommen die normalen Spielmechanismen von Belohnung und Verknappung der Ressourcen hinzu, die den Spieler zum Dranbleiben und Weiterspielen motivieren. Ab wann gilt jemand als onlinespielsüchtig? Wenn man Freude und Anerkennung fast nur noch in der medialen Gegenwelt findet und deshalb immer mehr Zeit und Energie in der Onlinewelt verbringt. Süchtige empfinden die reale Welt zunehmend als farblos und beängstigend und ziehen sich von den Herausforderungen des Schul- oder Arbeitsalltags zurück und vernachlässigen ihre Beziehungen. Was raten Sie Eltern, deren Kinder Anzeichen von Spielsucht zeigen? Zuerst einmal zu überprüfen, ob es sich wirklich um ein problematisches Spielverhalten oder eher um ein exzessives Hobby handelt. Zu meinen Vorträgen erscheinen in der Regel die vorsichtigen Eltern, die selber wenig Erfahrung mit Gamen haben und vorschnell das Hobby ihres Kindes als problematisch betrachten. Beim genauen Hinschauen erkennt man, dass das Kind zwar viel Zeit mit seinem Lieblingsspiel verbringt, in der Schule aber funktioniert, Freundschaften pflegt und im Fussballklub aktiv ist. Auf der anderen Seite kommen die Kinder oft erst dann in meine Praxis, wenn es in der Schule und zu Hause bereits eskaliert ist. Wie behandeln Sie selber Spielsüchtige? Man kann nicht einfach den Server abschalten oder das Smartphone einsammeln und das Problem ist behoben. Süchtige Menschen haben Angst davor, dass man sie für ihr Verhalten verurteilt und ihnen «ihren Stoff» wegnimmt. Oft verlieren sie sich in der Onlinewelt. Erst wenn ich wirklich verstehe, was die Person als Kompensation sucht und was dazu geführt hat, dass sie sich in der Gegenwelt verloren hat, können wir zusammen eine Brücke in die reale Welt bauen. Etwas vereinfacht gesagt, geht es bei einem chatsüchtigen Menschen darum, dass er oder sie sich wieder getraut, offline mit Menschen in Kontakt zu treten und dabei angenehme Gefühle zu erleben. Sie haben selbst Kinder: Werden Sie zu Hause auch mit «Pokémon Go» konfrontiert? Da ich viel mit Medien arbeite, informiere ich mich zwangsläufig über alle neuen Hypes, von denen meine Kundschaft spricht. So habe ich kürzlich auch «Pokémon Go» zusammen mit meiner Tochter zu Hause im Garten und in der Umgebung gespielt. Nach 15 Minuten wurde es uns beiden aber langweilig und wir gingen lieber baden. kav
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