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Verteidiger der Republik
Kreative Buchführung
Bühnen-Berserker
Als Jugendliche zogen die Brüder Cànovas
in den Krieg gegen Franco. Seite 5
Konzerne versteuern Patente gern in
Ländern, wo es wenig kostet. Seite 9
In Castorfs Theater stürzen Pisse
und Pathos ineinander. Seite 15
Foto: Getty/David Ramos
Foto: drama-berlin.de
Montag, 18. Juli 2016
STANDPUNKT
Keine Lösung
Tom Strohschneider über Folgen
des Putsches in der Türkei
71. Jahrgang/Nr. 166
Erdogan putscht zurück
Türkischer Präsident benutzt gescheiterten Umsturzversuch zum Ausbau seiner Macht
LINKE und Grüne fordern Rücktritt
des Berliner Innensenators
Berlin. Berliner Oppositionspolitiker haben
den Rücktritt von Innensenator Frank Henkel (CDU) verlangt. »Falls der Anschlag wirklich der Einschüchterung eines Anwalts gedient hat, wenn das so wäre, dann sind das
Mafia-Methoden in unserer Stadt, dann sind
das Methoden von SA und SS«, das hatte
Henkel beim CDU-Landesparteitag am Freitag gesagt. Henkel bezog sich auf den Anwalt, der den Besitzer des Hauses Rigaer
Straße 94 in Berlin-Friedrichshain vertrat und
nach eigenen Aussagen wegen Einschüchterungen nicht vor Gericht erschienen ist.
»Henkel ist eine Schande für die Stadt«, sagt
LINKE-Landeschef Klaus Lederer. »Abtreten
sollte der Mann, sofort«, fordert er. »So eine
Holocaustrelativierung in der Stadt, in der die
Wannseekonferenz stattgefunden hat, ist unerträglich.« Auch der Berliner Grünen-Landesvorsitzende Daniel Wesener fordert den
Rücktritt Henkels. »Es reicht. Endgültig. Wer
erst Recht&Sicherheit, nun die Nazi-Verbrechen im Wahlkampf instrumentalisiert, ist
raus«, twitterte er am Samstag. nic Seite 11
DGB-Chef gegen
Roboter-Steuer
Debatte über künftige Arbeitswelt
Berlin. Gewerkschafter und Ökonomen lehnen eine Steuer für den Einsatz von Robotern ab. »Die Debatte um die Robotersteuer
lenkt von den zentralen Herausforderungen
ab«, sagte der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, der »Welt
am Sonntag«. Der rasante Wandel der Arbeitswelt müsse offensiv angegangen werden. Dazu gehörten mehr Investitionen in
Weiterbildung, in die Gestaltung der digitalen Arbeitswelt und den Ausbau der Mitbestimmung der Beschäftigten.
Post-Chef Frank Appel hatte zuletzt in einem Interview angeregt, in Zukunft bei der
Arbeit von Menschenhand auf die Mehrwertsteuer zu verzichten und nur noch die
Arbeit von Robotern zu besteuern. »Warum
denn nicht? Man sollte das zumindest einmal durchdenken. Lebensmittel etwa sind ja
auch vergünstigt bei der Mehrwertbesteuerung«, hatte Appel der »Welt« gesagt.
Auch der Bundestag beschäftigte sich unlängst im Ausschuss Digitale Agenda mit den
»Auswirkungen der Robotik auf Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft«. dpa/nd
Seite 10
UNTEN LINKS
ISSN 0323-3375
www.neues-deutschland.de
Henkel setzt Linke
mit SS gleich
Er führt Bürgerkrieg gegen die
Kurden, er unterdrückt die Opposition und die freie Presse, er
hat die Türkei auf einen Weg der
Islamisierung gezwungen, er will
die Verfassung in ein Instrument
seiner Herrschaft verwandeln –
es gibt nicht den geringsten
Grund, den Präsidenten Recep
Tayyip Erdogan politisch in
Schutz zu nehmen. Mancher mag
sogar kurz daran gedacht haben,
ob im Aufstand der Militärs die
Möglichkeit einer Wende zum
Besseren liegen könnte.
Der Punkt aber ist: Eine Kursänderung in der Türkei ist nicht
mit denselben Mitteln zu erreichen, die Erdogan gegen Demokratie und Öffentlichkeit in Stellung bringt. Putsch ist keine Lösung. Ein Wandel, der kein demokratischer ist, wird keiner sein.
Erdogans Gebaren hatte in den
vergangenen Monaten mehr und
mehr Züge des wahnhaften, realitätsverlorenen angenommen, er
erschien immer mehr als der zu
allem fähige Autokrat. Mit dem
Putschversuch ist ihm nun der
»Beweis« in die Hände gegeben,
dass er damit richtig lag – und er
wird seine Herrschaft noch weiter
radikalisieren.
Die außenpolitische Schonung
Erdogans fällt dem Westen mit
dem Putschversuch auf die Füße.
Dieser gescheiterte Aufstand ist
ein vielleicht letztes, dramatisches Warnsignal. Ein mehrfach
gespaltenes Land, eine gespaltene
Armee, ein autokratischer Herrscher – NATO und EU können an
die Türkei nicht länger andere
Maßstäbe anlegen als an andere
Staaten, in denen derart selbstherrlich, antidemokratisch, die
Rechte von Millionen mit Füßen
tretend regiert wird.
Nach der Amokfahrt von Nizza ist
es angebracht, einmal ernsthaft
über ein Verbot von Lastkraftwagen nachzudenken. Denn dass es
sich bei diesen tonnenschweren
Monstern um Schläfer handelt,
die jederzeit zuschlagen können,
hat das Attentat an der Côte
d’Azur grausam unter Beweis gestellt. Ihre Janusköpfigkeit tarnen
die geräderten Kolosse damit,
dass sie jahrein, jahraus Vollkorntoastbrote oder Waschmaschinen durch die Gegend karren,
ehe sie sich als Mordmaschinen
entpuppen. Auch dem Unwesen
vermeintlicher Passagierflugzeuge ist Einhalt zu gebieten, weil sie
eben nicht nur Pauschaltouristen
in Windeseile von A nach B
transportieren, sondern auch Bürotürme in Schutt und Asche legen können. Verbieten wir Drohnen und soziale Netzwerke, die
unterm Deckmantel des zivilisatorischen Fortschritts Tod und
Hass verbreiten! Und schleifen
wir endlich die Küchenmesser,
denen es einerlei ist, ob sie in einer Wassermelone oder in einem
Brustkorb stecken! mha
Bundesausgabe 1,70 €
Der Sultan grüßt huldvoll seine Anhänger: Recep Tayyip Erdogan auf dem Weg zu einem Begräbnis von Putschopfern
Berlin. Der türkische Präsident
Recep Tayyip Erdogan nutzt die
Gunst der Stunde. Nachdem der
am Freitagabend von Militärkreisen gestartete Putsch am Samstag
niedergeschlagen war, setzte Erdogan postwendend zum Gegenschlag an: Mehr als 6000 Menschen wurden verhaftet, darunter
zahlreiche Militärs und sogar zwei
Verfassungsrichter, fast jeder
fünfte Richter in der Türkei wurde entlassen. Gegen Anhänger
seines Erzfeindes, des in den USA
lebenden Predigers Fethullah Gülen, kündigte Erdogan ein gnadenloses Vorgehen an. »Liebe
Brüder, ist das genug?«, sagte er
vor jubelnden Anhängern im Istanbuler Bezirk Fatih mit Blick auf
die Verhaftungen. »In allen Behörden des Staates wird der Säuberungsprozess von diesen Viren
fortgesetzt. Denn dieser Körper,
meine Brüder, hat Metastasen
produziert. Leider haben sie wie
ein Krebsvirus den ganzen Staat
befallen.«
Am späten Freitagabend hatten Teile des türkischen Militärs
geputscht und erklärt, die Macht
im Lande zu übernehmen. Flug-
häfen wurden geschlossen, TVStationen besetzt, Regierungsgebäude angegriffen. Doch Präsident Erdogan, der sich in einem
Urlaubsort außerhalb der Hauptstadt aufgehalten hatte, rief per
Smartphone die Türken mit einer
in einem Privatsender übertragenen Ansprache zu Protesten und
Demonstrationen auf. Schon nach
wenigen Stunden, in denen sich
Polizei, Armee und andere Sicherheitseinheiten bekämpften,
brach der Aufstand zusammen.
Bei den Auseinandersetzungen
wurden nach offiziellen türkischen Angaben 265 Menschen getötet (161 regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten und
104 Putschisten) und mehr als
1000 verletzt.
Türkei-Experten waren sich am
Wochenende einig, dass Erdogan,
dem schon seit Längerem autokratische und sogar diktatorische
Tendenzen vorgeworfen werden,
den Putsch zum Ausbau seiner
Macht nutzen wird. Aykan Erdemir von der Foundation for Defense of Democracies in Washington geht davon aus, dass Erdogan eine solche Gelegenheit zur
Konsolidierung seiner »Ein-MannHerrschaft« nicht verstreichen
lassen werde. Und auch Sinan Ulgen, Direktor des Think Tanks
Edam, sagt voraus, dass der
Staatschef den Putsch für »seine
persönlichen Ambitionen zum
Aufbau eines Präsidialsystems«
nutzen werde.
»In allen Behörden
des Staates wird der
Säuberungsprozess
von diesen Viren
fortgesetzt.«
Recep Tayyip Erdogan
Schon seit geraumer Zeit geht
die islamisch-konservative Regierung unter Erdogan mit aller Härte gegen ihre Widersacher vor –
gegen Journalisten, Anwälte oder
Oppositionspolitiker genauso wie
gegen Kurden. Kritik und Proteste, auch aus dem Ausland, prallten bisher an Erdogan ab. Entsprechend besorgt fielen die Reaktionen in der EU und in den USA
Foto: Reuters/Yagiz Karahan
am Wochenende aus. Der gescheiterte Putsch sei kein »Blankoscheck« für »Säuberungsaktionen«, warnte Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault. Etwas vorsichtiger mahnte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
die »Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit« bei den zu erwartenden
Prozessen gegen die Putschisten
an. Schon wieder etwas deutlicher
wandte sich Bundesjustizminister
Heiko Maas (SPD) gegen »Rache
und Willkür«.
Innenpolitisch kann sich Erdogan der Unterstützung seiner Anhänger sicherer denn je sein. In
vielen Städten der Türkei gingen
am Wochenende Zehntausende
Menschen auf die Straßen und
feierten das Scheitern des Putsches. Männer, Frauen und Kinder trugen Stirnbänder mit dem
Namen Erdogans. Mit türkischen
Fahnen in den Händen riefen sie
»Allahu Akbar« (Gott ist groß). Die
mangelnde Unterstützung in der
Bevölkerung und der Opposition
für den nur von Militärs getragenen Putsch gilt als ein Grund des
Scheiterns. nd/Agenturen
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Nizza-Attentäter
schnell radikalisiert
Innenminister ruft Franzosen zu
freiwilligem Polizeidienst auf
Paris. Der Attentäter von Nizza hat sich nach
Erkenntnissen der französischen Polizei womöglich erst kurz vor der Tat dem radikalen
Islam zugewandt. Das berichtet die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf Polizeiquellen. Bis zu dem Massaker vom Donnerstag war Mohamed Lahouaiej-Bouhlel
nicht als Islamist aktenkundig. Frankreichs
Premierminister Manuel Valls erklärte, die Ermittlungen hätten ergeben, »dass sich der Attentäter sehr schnell radikalisiert hat«.
Im Zuge der Ermittlungen wurden am
Sonntag zwei weitere Personen festgenommen. Zuvor waren bereits vier Männer und
die frühere Ehefrau des Täters verhaftet worden. Der Attentäter war am Donnerstagabend in Nizza mit einem Lkw in eine Menschenmenge gerast, die den Nationalfeiertag
feierte. Bei dem Anschlag wurden 84 Menschen getötet und über 300 verletzt. Die Polizei erschoss den Lkw-Fahrer. Innenminister
Bernard Cazeneuve rief am Wochenende alle
»patriotischen Franzosen« zum freiwilligen
Polizeidienst auf. Agenturen/nd
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