SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
„Dirigierende Komponisten und
komponierende Dirigenten“ (3)
Von Thomas Rübenacker
Sendung:
Mittwoch, 13. Juli 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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„Musikstunde“ mit Thomas Rübenacker
„Dirigierende Komponisten und komponierende Dirigenten“ (3)
Von Thomas Rübenacker
SWR 2, 11. Juli – 15. Juli 2016, 9h05 – 10h00
Signet: SWR2 Musikstunde
… mit Thomas Rübenacker. Heute: „Dirigierende Komponisten und
komponierende Dirigenten“, Teil 3
MUSIK
Es war einmal in der Berliner Philharmonie. Ich besuchte ein Konzert der
Philharmoniker, mit einem befreundeten Dirigenten. Herbert von Karajan stand
am Pult und leitete den Verkehr so, dass die Musiker ihm immer einen
Blindenhund schenken wollten: geschlossenen Auges, ohne Taktstock, wie
tastend. Das letzte Stück war Strawinskys „Le sacre du printemps“, dessen Finale,
Opfertanz der Auserwählten, ein verflucht schweres, mit tausend Taktwechseln
geschlagenes Orchester-Furioso ist. Mittendrin sah ich, wie mein Freund neben
mir zusammenzuckte. „Um Gottes willen“, flüsterte er erregt, „Karajan hat sich
verschlagen! Jetzt fliegt sicher alles auseinander.“ Aber nichts passierte.
Ungerührt spielten die Berliner Philharmoniker weiter, komplexe Rhythmen und
alles, bis der Maestro wieder Tritt gefasst hatte. Strawinskys „Bilder aus dem
heidnischen Russland“ rundeten sich ohne einen weiteren Zwischenfall. Darf man
daraus schließen, der Dirigent sei überflüssig? Mitnichten. Vielleicht funktioniert
das bei einem Spitzen-Kammerorchester wie dem New Yorker Orpheus, oder
eben bei den Berliner Philharmonikern. Aber überall sonst ist der Dirigent als Mittler
des Komponisten, als sein Dolmetscher, sein Interpret, sein Famulus unverzichtbar.
Vor allem dann, wenn es komplex wird.
MUSIK: STRAWINSKY, LE SACRE DU PRINTEMPS, TRACK 2 (17:44; ACHTUNG! AB CA.
13:09 BIS ENDE!; 4:40)
1) Strawinsky, Le sacre du printemps; Cleveland Orchestra, Lorin Maazel; Telarc
CD-80054 (KEIN LC!)
Das war das Finale von Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“, Opfertanz der
Auserwählten, allerdings nicht von den Berliner Philharmonikern und Karajan,
sondern vom Cleveland Orchestra unter Lorin Maazel. Der verschlug sich in
diesem Finale vermutlich nie: Seine Dirigiertechnik ist legendär. Mit der linken
Hand konnte er einen Dreiertakt schlagen und gleichzeitig mit der Rechten eine
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Vier, als wär's nix. Außerdem, Karajan hatte keine Ambitionen, auch zu
komponieren; Maazel schon.
Lorin Maazel wurde 1930 in Frankreich geboren, als Sohn russischer Auswanderer
en route in die USA. Dort, in New York, hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt
als Dirigent mit neun Jahren; Amerika schloss das (Akzent) „wunderkind“ ins große
Herz und nannte es liebevoll „Little Maazel“. In rascher Folge wurde der Knabe
herumgereicht, dirigierte er jedes Orchester der Big Five, Cleveland und
Chicago, Boston und Philadelphia, die New Yorker Philharmoniker gleich in Serie.
Auch Nachkriegseuropa empfing den Sagenumwobenen mit ersten Musikämtern
in Berlin, Straßburg, Paris und London – und 1982 dann verlieh es ihm sogar die
Gustav-Mahler-Krone, machte ihn zum Direktor der Wiener Staatsoper. Das ging
allerdings nicht lange gut. Der Wiener Schlendrian und Intrigantenstadel
bereitete dem Freund amerikanisch-effizienter Abläufe regelmäßig Sodbrennen,
und bereits zwei Jahre später gab er entnervt auf. Der größte Konflikt war der
zwischen Maazels Blocksystem und dem Repertoiretheater, das
Operninszenierungen 20 oder mehr Jahre stehenließ, bis nicht einmal mehr die
Kulissen heil waren. Maazel wollte das amerikanisieren: Eine neue Inszenierung
wird en bloc abgespielt, über mehrere Monate hin, dann verschwindet sie
wieder. Heute ist das gängige Praxis, aber die Wiener damals schrieen Zeter und
Mordio, bis der Operndirektor Maazel das Handtuch warf. Ein hoffnungsfroher
Beginn war im Keim erstickt worden – frischer Wind wich wieder dem Muff von
altersher.
Lorin Maazel ist allerdings auch bekannt für seltsame bis skurrile Aktionen. Seine
Platte „The 'Ring' Without Words“ mit den Berliner Philharmonikern war ja noch
ganz lustig, weil Maazel eine farbige Readers-Digest-Version von Wagners
Tetralogie selber herstellte, ohne die Stimmen und ergo auch ohne Wagners
Textschwulst, was die begrüßten, die den „deutschen Dichter“ Richard Wagner
ohnehin nie leiden konnten, die Musik aber schon. Schon seltsamer mutet an,
dass er die New Yorker Philharmoniker dazu überredete, ein Gastspiel bei den
Beton-Kommunisten im nordkoreanischen Pjöngjang zu geben. Was glaubte er,
damit zu erreichen? Dass das jeweils regierende Mitglied der Erbmonarchie JongIl oder Jong-Un oder wie immer vom amusischen Saulus zum musikbegeisterten
Paulus mutierte – oder gar die USA nicht mehr als den „großen Satan“
bezeichnete, sondern als „Glücksbringer mit Musike“? Keine Ahnung. Aber als
historisch gilt dieses Gastspiel heute, das immerhin hatte Maazel erreicht. Warum
er allerdings mit dem blinden Magertenor Andrea Bocelli die Platte „Sentimento“
aufnahm, wird für ewig sein Geheimnis bleiben; deren einzige Rechtfertigung ist
es, dass sie 3,5 Millionen mal verkauft wurde. - Doch nun zu dem Komponisten
Lorin Maazel – und zu dem Geiger, der in dieser Aufnahme mit dem
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auch sein eigener Solist ist.
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Musikalisch ist das geschliffenstes Handwerk – und ganz im Zug der Zeit
hocheklektisch.
MUSIK: MAAZEL, MUSIC FOR VIOLIN AND ORCHESTRA, TRACK 15 (5:37; ACHTUNG!
BITTE GEGEN ENDE – BEI KLAVIERGEFLIMMER – AUSBLENDEN!)
2) Lorin Maazel, Music for Violin and Orchestra; Maazel (Violine),
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Arthur Post; RCA/BMG 09026
68789 2 (LC 0316)
Lorin Maazel, eine „Music for Violin and Orchestra“ op. 12 von 1997, der Beginn,
ein Lento. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte, der
Dirigent war Arthur Post. Und Lorin Maazel, der mit fünf Jahren Geige spielen
lernte, war sein eigener Solist.
Wie der Auch-Komponist Maazel war der Auch-Dirigent Hans Pfitzner zeitweise
Direktor der Berliner Staatsoper. Aber hier endet der Vergleich zwischen dem
Juden Maazel und dem Antisemiten Pfitzner. Ein Komponist von heute, Wolfgang
Rihm – dessen einziger Versuch übrigens, sich selbst zu dirigieren, beinahe im
Desaster geendet hätte -, Wolfgang Rihm also sagte über Hans Pfitzner: „Wir
finden nicht auf den ersten Blick das gebrochen Heutige in seinem Werk, aber
auch nicht das ungebrochen Gestrige. Wir finden beides – also keines, und dies
lässt Einordnungsversuche stocken.“ Grob gesagt, begann Pfitzner als
Fortschrittlicher – und bewegte sich immer mehr auf den Reaktionär zu.
Parteimitglied der Nazis war er nie, aber Anhänger ihrer Ideologie schon – ja,
zeitweise sogar deren Brandbeschleuniger; zum Beispiel prägte er in einem
Zeitungsbeitrag das von den Nazis gerne aufgegriffene Verdikt
Musikbolschewismus.
Pfitzners Ziel war die Rettung der deutschen romantischen Tradition vor dem, was
er anti-deutsch nannte: „... in welcher Form es auch immer auftritt, als Atonalität,
Internationalität, Amerikanismus ...“ Ein zeitgenössischer Opernführer nannte ihn
„völkisch im edelsten Sinne“, und Adolf Hitler – der freilich mit Pfitznermusik wenig
anzufangen wusste – besuchte Pfitzner 1923 nach einer Gallenoperation im
Krankenhaus. Aber der Komponist und Dirigent war alles, wenn nicht
widersprüchlich. Anfangs verband ihn Freundschaft mit Thomas Mann, der sich
für ihn einsetzte. 1947 nannte der ihn jedoch einen „namhaften alten Tonsetzer in
München, treudeutsch und bitterböse“. Und bereits 1919 hatte der Dichter
befunden: „Der nationale Künstler hatte sich zum anti-demokratischen
Nationalisten politisiert“. Prompt rangierte Pfitzner später auf der Liste der
Gottbegnadeten unter den ersten drei, die für die Reichspropaganda zu wichtig
waren, um an der Front verheizt zu werden. Seine Kompositionen reichten von
der staatstragenden romantischen Kantate „Von deutscher Seele“ bis zur
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reichlich kitschigen Volksoper „Die Rose vom Liebesgarten“ - und doch wurden
die Nazis letztlich nicht warm mit Pfitzners Musik. Zu eigenbrötlerisch war sie in ihrer
spröden Rückwärtsgewandtheit, zu eigensinnig auch, um für Propagandazwecke
oder zu lukullischem „Erleben“ missbraucht zu werden. Da taten Richard Wagner,
teilweise auch Richard Strauss, vor allem aber Franz Lehár der „Sache“ weit
bessere Dienste.
Pfitzners Meisterwerk bleibt unzweifelhaft die Musikalische Legende „Palestrina“,
1917 am Prinzregententheater München uraufgeführt vom Juden Bruno Walter,
der übrigens auch nach dem Krieg noch der Freund des Antisemiten Pfitzner
blieb – erneut so eine Widersprüchlichkeit. Das stark von der Philosophie Arthur
Schopenhauers geprägte, monumentale Künstlerdrama erkannten übrigens
auch Pfitzner-Verächter neidlos als „großen Wurf“. Oder, je nachdem, neidvoll.
MUSIK: PFITZNER, PALESTRINA, FUNKBAND 012-1493 (5:25)
3) Pfitzner, Palestrina (Vorspiel); Orchester der Staatsoper Berlin, Pfitzner;
FUNKBAND 012-1493
Hans Erich Pfitzners Meisterwerk, die Musikalische Legende in drei Akten
„Palestrina“, das Vorspiel zum 1. Akt. 1928 nahm Pfitzner selbst als Dirigent dieses
Stück auf, mit dem Orchester der Staatsoper Berlin.
Wichtig in Pfitzners Werk sind aber auch die Lieder, weil er konsequent die Linie
Schubert-Schumann-Hugo Wolf in die damalige Gegenwart verlängerte,
musikalisch noch über Wolf hinausgehend, dennoch deutlich rückwärtsgewandt.
In seinem Liedführer schreibt Werner Oehlmann: „Man könnte das gesamte Werk
Hans Pfitzners (…), insbesondere das Liedwerk, als einen versunkenen Garten der
Musik bezeichnen.“ Worauf Oehlmann anspielt, das ist die Magie zarten
Gewebes, die komplexe Farbigkeit des Traumhaften, die höchste Ansprüche an
die Interpreten stellt – nicht nur stimmtechnisch, sondern auch intellektuell. Kein
Problem allerdings für Dietrich Fischer-Dieskau, der uns jetzt Pfitzners Vertonung
von Goethes berühmtem Gedicht „An den Mond“ singt; begleitet wird er von
Hartmut Höll.
MUSIK: PFITZNER, AN DEN MOND, TRACK 9 (6:42)
4) Pfitzner, An den Mond; Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton), Hartmut Höll (Klavier);
Orfeo 036 821 (LC 8175)
Johann Wolfgang von Goethe und Hans Pfitzner, „An den Mond“ op. 18,
gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau, dazu Hartmut Höll.
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Der Generation unmittelbar nach Pfitzner gehörte der Engländer Benjamin Britten
an, der 1913 in Suffolk geboren wurde. Britten war Polystilist wie Strawinsky, das
heißt, er beherrschte die verschiedensten Stile, radikalisierte sich allerdings in
seinen Mitteln nicht so weitgehend wie der Exilrusse – und gilt daher auf dem
Festland (nicht in seiner britischen Heimat und den USA) als „konservativ“. Sohn
eines musikbegeisterten Zahnarztes, erlernte „Benjy“ erst das Klavier- und dann
das Bratschenspiel, bevor er Kompositionsschüler von Frank Bridge wurde. 1935
lud man ihn zu einem job interview ein bei Adrian Boult, der damals Musikdirektor
der BBC war. Große Lust dazu hatte Britten nicht, da er sich auf Jahre hinaus
Noten kopieren und Musikbrücken aus dem Archiv zusammenstellen sah. Es kam
dann aber ganz anders: Der sogenannte GPO Film Unit produzierte spannende
Dokumentarfilme, und Britten schrieb dazu originale Scores für kleines Ensemble,
maximal elf Spieler. Innerhalb von zwei Jahren brachte er es so auf fast 40
Kompositionen für Film, Radio und abgefilmtes Theater; an seiner Seite hatte er
den genialen Dichter WH Auden, genauso alt oder jung wie er selbst. Beider
Porträt eines Nachtexpresszugs, der ausschließlich die Post in ganz Großbritannien
verteilt, wurde denn zu raffiniert rhythmisiertem Sprechen, koloriert mit
„exotischer“ Perkussion sowie mit Originaltönen, wie sie erst viel später die
musique concrète einsetzte.
MUSIK: BRITTEN/AUDEN, NIGHT MAIL, TRACKS 1 BIS 3 (5:50)
5) Britten, Night Mail; Simon Russell Beale (Sprecher), Birmingham Contemporary
Music Group, Martyn Brabbins; nmc records D112 (KEIN LC!)
Benjamin Britten und WH Auden, „Night Mail“, Soundtrack zu einem
Dokumentarfilm über den britischen Postexpress, der nur nachts durchs Vereinigte
Königreich kreuzte. In unserer Aufnahme dirigierte Martyn Brabbins die
Birmingham Contemporary Music Group, der Sprecher war Simon Russell Beale.
Britten-der-Dirigent, der wie Richard Strauss und fast alle dirigierenden
Komponisten ökonomisch Zeichen gab, hat beileibe nicht nur eigene Werke
dirigiert. Zum Beispiel leitete er die westliche Erstaufführung von Schostakowitschs
14. Symphonie, die ihm auch gewidmet ist. Mit dem English Chamber Orchestra
lieferte er farbige, rhythmisch vitale Brandenburgische Konzerte von Bach, oder
Mozart-Sinfonien, denen Nachdenklichkeit ebenso eigen ist wie Charme.
Dennoch möchte ich Ihnen den Dirigenten Benjamin Britten mit einem Eigenwerk
vorstellen: der „Sinfonia da Requiem“, die er 1964 mit dem London Symphony
Orchestra einspielte. Viele große Dirigenten haben dieses geniale Jugendwerk
des Pazifisten aufgenommen – meines Wissens aber keiner mit der gleichen
Intensität wie der Komponist. Der erste Satz, „Lachrymosa“, ist eine einzige
Steigerung, hin zu einem Höhepunkt, worin die Tongeschlechter Dur und Moll
gegen einander antreten, kämpfend die Oberhand gewinnen wollen. Ein
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geradezu qualvolles und quälendes Aus-einander-sich-Schälen findet hier statt,
das der Laie immer noch wahrnimmt wie einen Tritonus: Unerlöst klingt es,
sozusagen als Gegenbild konsonanten Schließens. Wie gesagt: Keinem gelang
dies so wie dem Komponisten selber. 1983 wurde der gerade entdeckte Asteroid
4079 nach ihm benannt, Britten. Nun, Asteroiden verglühen gerne rasch.
Benjamin Britten kann das nicht passieren.
MUSIK: BRITTEN, SINFONIA DA REQUIEM, TRACK 5 (8:46; ACHTUNG! FALLS NÖTIG,
BITTE AUF ZEIT FAHREN UND AM ENDE AUSBLENDEN, DA ES IN DEN ZWEITEN SATZ
NAHTLOS ÜBERGEHT!)
6) Britten, Sinfonia da Requiem; London Symphony Orchestra, Benjamin Britten;
Decca 425 100-2 (LC 0253)
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