Helaba Volkswirtschaft/Research LÄNDERFOKUS 28. Juni 2016 Zentraleuropa: kein EU-Exodus AUTOR Marion Dezenter Telefon: 0 69/91 32-28 41 [email protected] REDAKTION Dr. Stefan Mitropoulos HERAUSGEBER Dr. Gertrud R. Traud Chefvolkswirt/ Leitung Research Helaba Landesbank Hessen-Thüringen MAIN TOWER Neue Mainzer Str. 52-58 60311 Frankfurt am Main Telefon: 0 69/91 32-20 24 Telefax: 0 69/91 32-22 44 In Zentraleuropa stehen nach dem Sieg der Brexit-Befürworter in Großbritannien besonders Polen, Tschechien und Ungarn im Fokus. Hier wurde der Ton in den letzten Jahren zunehmend EU-kritisch, so dass sich die Frage stellt, ob nach dem Votum der Briten eine Ansteckungsgefahr besteht. Die zunehmend national orientierten Regierungen insbesondere in Polen und Ungarn begünstigen hier die Rückkehr zu einzelstaatlichem Denken und Abgrenzung. Die Haltungen dieser zentraleuropäischen Regierungen gegenüber der EU können schlichtweg als ambivalent bezeichnet werden: In Ungarn zeichnet sich die rechtskonservative Regierung unter Ministerpräsident Orban bereits seit geraumer Zeit durch eine dezidiert auf Autonomie bedachte Politik aus. Dennoch wird darauf geachtet, die Regeln des EU-Stabilitätspakts einzuhalten, so dass ein EU-Defizitverfahren 2013 beendet werden konnte. In Polen ist seit dem Wahlsieg der rechtsnationalen PiS im Oktober 2015 ebenfalls eine härtere Gangart gegenüber der EU festzustellen. Selbstbewusst nimmt das Land auch eine Verschärfung des EU-Rechtsstaatlichkeitsverfahrens als Antwort auf seine umstrittenen Reformen in Kauf. Allerdings kommen von offizieller Seite auch immer wieder klare Aussagen pro EU-Mitgliedschaft. BIP real in % gg. Vorjahr 2015 2016 p BIP pro Kopf Arbeitslosenquote Inflation HVPI Einwohner EU-28=100 2015 in % 2016 p in % 2016 p in Mio. 2015 Polen 3,6 3,0 69 9,6 -0,6 38,0 Tschechien 4,2 2,4 85 5,7 0,6 10,5 Ungarn 2,9 2,0 68 6,6 0,3 9,9 Deutschland 1,4 1,6 125 4,6 0,6 81,2 Eurozone 1,6 1,6 106 10,1 0,4 338,5 Quellen: EU-Kommission, Macrobond, Helaba Volksw irtschaft/Research Die Publikation ist mit größter Sorgfalt bearbeitet worden. Sie enthält jedoch lediglich unverbindliche Analysen und Prognosen zu den gegenwärtigen und zukünftigen Marktverhältnissen. Die Angaben beruhen auf Quellen, die wir für zuverlässig halten, für deren Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität wir aber keine Gewähr übernehmen können. Sämtliche in dieser Publikation getroffenen Angaben dienen der Information. Sie dürfen nicht als Angebot oder Empfehlung für Anlageentscheidungen verstanden werden. Die Ambivalenz in den Äußerungen hat gegenüber dem EU-Beitritt 2004 deutlich zugenommen. Dies dürfte mit dem wirtschaftlichen Erfolg in den diversen Krisen der letzten Jahre im Vergleich zum EU-Durchschnitt zusammenhängen. Die zentraleuropäischen Länder haben sich gewissermaßen emanzipiert und finden zunehmend ihre eigenständige Rolle in der EU. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Erfolgsstory außerhalb der EU aller Wahrscheinlichkeit nach weit weniger glanzvoll verlaufen wäre. Die Entwicklungen an den Finanzmärkten direkt nach Bekanntwerden des Brexit-Votums sind hierfür klare Indizien. Investoren wachsam Die Investoren vertrauen dem wirtschaftlichen Erfolg der Länder maßgeblich auf der Basis einer EU-Mitgliedschaft. Insbesondere in Polen, aber auch in Ungarn waren deutliche seismische Bewegungen auf den Finanzmärkten spürbar. Während deutsche Staatsanleihen am Tag des BrexitVotums mit neuen Tiefständen reagierten und auch tschechische 10-Jährige minimal niedriger verzinst wurden, zeigten sich Investoren gegenüber den entsprechenden ungarischen und den polnischen Staatsanleihen kritischer: Die Verzinsung notierte um gut 20 Basispunkte höher und signalisierte so eine erhöhte Wachsamkeit. An den Aktienmärkten waren deutlichere Erschütterun- H E L A B A V O L K SW I R T S C H A F T / R E S E A R C H · 2 8 . J U N I 2 0 1 6 · © H E L A B A 1 LÄNDERF OKUS Z ENT RALEUROPA gen insbesondere in Ungarn zu verzeichnen, die auch anhielten, als sich die Situation bei den Staatsanleihen wieder etwas beruhigt hatte. Risikoaufschläge bei Bonds…, …Aktienkurse geben nach Spreads 10.jähriger Staatsanleihen zur deutschen Benchmark in Prozentpunkten Aktienindizes in Punkten Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research Devisenmärkte reagieren Deutlich waren die Reaktionen auch auf den Devisenmärkten. Zusätzlich zum schwächeren Euro gaben auch die Kurse der zentraleuropäischen Währungen gegenüber dem Euro nach. Besonders der aufgrund der politischen Turbulenzen in der letzten Zeit ohnehin volatile Zloty büßte in der Folge des Referendums an Wert ein. Aber auch beim Forint waren die Auswirkungen spürbar. Tschechiens Regierung fiel demgegenüber in letzter Zeit weniger mit EU-kritischen Tönen und politischen Sonderwegen auf, außerdem hatte die Zentralbank 2013 einen Mindestkurs festgesetzt, um die Aufwertung der Krone einzudämmen, was als Signal der Stärke gelten kann. So blieben die Kursausschläge der Tschechischen Krone moderat. Tschechische Krone mit Ausnahmestatus Währungen zum Euro, Index, 1.1.2016 = 100 Text Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research Anfällig für Verunsicherung Bereits am Tag nach dem Referendum beruhigte sich die Lage wieder etwas. Die Rhetorik der Regierungen sollte dies unterstützen. Denn eine nachhaltige Verunsicherung der Investoren können sich die Länder nicht leisten. Die rückläufige Verzinsung der Staatsanleihen hat in den zentraleuropäischen Ländern einen wichtigen Beitrag zum Abbau der Haushaltsdefizite geleistet. In Polen ist außerdem das Thema Fremdwährungskredite noch nicht abschließend geregelt, so dass Währungsabwertungen hier zu Verteuerungen führen. Anders in Ungarn: Hier wurde 2015 mehr oder weniger in Übereinkunft mit den Banken eine Regelung zum Umtausch von Fremdwährungskrediten in Forint getroffen. Die Regierungen sind also bei aller EU-Skepsis an Stabilität interessiert. Bekenntnisse zur Mitgliedschaft dürften den Investoren gefallen, jedoch werden die rechtskonservativen Regierungen in Polen und Ungarn auch auf ihre EU-kritischen und auf mehr Autonomie bedachten Wähler Rücksicht nehmen. Dass die enge Bindung an die EU nicht zur Disposition stehen kann, wird beim Blick auf die wirtschaftlichen Fakten klar. H E L A B A V O L K SW I R T S C H A F T / R E S E A R C H · 2 8 . J U N I 2 0 1 6 · © H E L A B A 2 LÄNDERF OKUS Z ENT RALEUROPA Ökonomische Realitäten EU-Mitgliedschaft als Basis für Wohlstandsgewinn Alle zentraleuropäischen Länder haben gegenüber der Zeit vor dem EU-Beitritt (für die meisten Länder im Jahr 2004) Fortschritte gemacht, in einigen, zu denen neben den baltischen Staaten und der Slowakei auch Polen gehört, ist dies besonders deutlich. Das Ziel, zum EU-Durchschnitt aufzuschließen bedeutet aber in den meisten Fällen, dass in Sachen Wohlstand noch ein Stück Wegs zu gehen ist. Pro-Kopf-BIP nähert sich an BIP pro Kopf in Euro, Kaufkraftstandards 120 120 EU-Durchschnitt = 100 100 100 2001 80 2004 2008 80 2015 60 60 40 40 20 20 D SI CZ SK LT EE PL HU LV HR RO BG Quellen: Eurostat, Helaba Volkswirtschaft/Research EU-Mitgliedschaft als Standortfaktor Dass dies maßgeblich auf der Mitgliedschaft im weltweit größten wirtschaftlichen Zusammenschluss souveräner Staaten beruht, ist auch den Regierungen der einzelnen Länder klar, wie die – bei allen Autonomiebestrebungen – klaren Aussagen zum EU-Status etwa von Präsident Duda und Ministerpräsidentin Szydlo (beide Polen), zeigen. Dabei ist eine wichtige Basis der sichere Rechtsrahmen, den die EU bietet und auf den Investoren bei ihren Entscheidungen zählen. Dies belegen wiederholt Umfragen der Auslandshandelskammern in den zentraleuropäischen Ländern, in denen die EU-Mitgliedschaft regelmäßig als Hauptargument bei der Standortwahl genannt wird. Auch die umfänglichen EU-Fördergelder, die in die zentraleuropäischen Staaten fließen, mindern erheblich die Attraktivität einer Austrittsperspektive. Absolut gesehen ist der größte Nutznießer in der aktuellen Förderperiode abermals Polen: für das Land stehen zwischen 2014 und 2020 insgesamt rund 106 Mrd Euro zur Verfügung, davon rund 73 Mrd. im Rahmen der Kohäsionspolitik und knapp 30 Mrd. an Agrarbeihilfen. EU-Haushalt zielt auf wirtschaftliches Zusammenwachsen Länderspezifische Budgets im Rahmen der Kohäsionspolitik 2014-2020 in Mrd. Euro Text 80 80 70 70 60 60 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 0 0 EE LV LT BG HR SK HU CZ RO PL DE Quellen: EU-Kommission, Helaba Volkswirtschaft/Research Enge Handelsverflechtungen Beim Blick auf die Außenhandelsbeziehungen wird deutlich, wie eng die Länder über den Austausch mit der EU verknüpft sind. Besondere Bedeutung hat dies für Ungarn und Tschechien. Auch die Verbindungen mit der deutschen Kfz-Industrie spielen hier eine wichtige Rolle. Polen hat demgegenüber im regionalen Vergleich zwar den größten Binnenmarkt, jedoch gehen auch hier rund 80 % der Exporte in die EU. H E L A B A V O L K SW I R T S C H A F T / R E S E A R C H · 2 8 . J U N I 2 0 1 6 · © H E L A B A 3 LÄNDERF OKUS Z ENT RALEUROPA Außenhandel: Löwenanteil mit der EU bei Exporten… …und bei Importen Exporte in die EU in % aller Exporte Importe aus der EU in % aller Importe Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research Für alle drei Länder ist Deutschland mit einem Anteil von jeweils um die 30 % das wichtigste Warenexportland. Nach Großbritannien gehen nur zwischen 4 % und 7 % der jeweiligen Warenexporte. Über diesen Kanal dürften die direkten Brexit-Auswirkungen daher überschaubar bleiben. Störungsgeräusche in den Umfragen Eurobarometer: Befragte skeptischer Insgesamt hat die Skepsis gegenüber der EU-Mitgliedschaft sowohl im Durchschnitt der EU als auch in Deutschland zugenommen. In den zentraleuropäischen Ländern ist das Bild gemischt. Immerhin wurde die Ansicht, dass das eigene Land außerhalb der EU besser für die Zukunft gerüstet sei, in Polen, Tschechien und Ungarn von 35 % bis 40 % der Befragten geteilt. Der deutlichste Anstieg binnen Jahresfrist war dabei in Ungarn festzustellen. Bei der Frage nach der Haltung zur Eurozone und der gemeinsamen Währung zeigen sich die Teilnehmer aus den drei Ländern ebenfalls wenig geneigt, allen voran in Tschechien. Es kann davon ausgegangen werden, dass die demnächst anstehende Neuauflage des Eurobarometers diese Trends bestätigt. Eurobarometer: grüneres Gras jenseits der EU-Grenzen? „Wäre das eigene Land außerhalb der EU besser für die Zukunft gerüstet?“, Zust. in % Text 45 45 40 40 35 35 2015 30 30 25 2014 25 20 20 15 15 10 10 5 5 0 0 EE LT BG SK RO LV PL HU HR CZ DE EU Quellen: EU-Kommission, Helaba Volkswirtschaft/Research Vieles deutet darauf hin, dass es in den Ländern zwar – auch in der Politik – Befürworter für Alleingänge außerhalb der EU gibt. Die Mehrheit dürfte sich jedoch der Vorteile, die aus dem Verbund erwachsen, durchaus bewusst sein. Einiges davon ist konkret im Alltag spürbar, etwa bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Hier dürfte auch der Brexit ganz unmittelbare Auswirkungen haben: Schätzungen zufolge bilden Polen mit rund 850.000 Personen nach Indern die größte nationale Minderheit in Großbritannien. Nicht (mehr) in einem EU-Land zu arbeiten, hätte für sie weitgehende rechtliche Folgen und würde der Arbeitsmigration bürokratische Hindernisse entgegenstellen. H E L A B A V O L K SW I R T S C H A F T / R E S E A R C H · 2 8 . J U N I 2 0 1 6 · © H E L A B A 4 LÄNDERF OKUS Z ENT RALEUROPA EU-Mitgliedschaft als Wahlkampfthema? Für Tschechien und Ungarn stellt sich die Frage, welche Haltung zum Brexit und zum Status ihres Landes die einzelnen Parteien im Wahlkampf einnehmen: In Tschechien stehen im Oktober 2017 Parlamentswahlen an, in Ungarn 2018, dem Jahr, in dem Großbritannien nach einem Austrittsantrag 2016 vermutlich die EU verlassen würde. Denkbar ist, dass die Politiker den Brexit zum Anlass nehmen, einzelne Aspekte der EU-Verträge zu prüfen und Nachverhandlungen zu fordern. So halten sich die Auswirkungen des Brexit-Votums derzeit in Grenzen. Das liegt auch daran, dass die EU-Länder Zentraleuropas deutlich besser in der Staatengemeinschaft verankert und wirtschaftlich stabiler sind als etwa beim Ausbruch der Finanzkrise 2008. Vieles wird, neben einem klaren Bekenntnis der Politiker zur EU, davon abhängen, ob der Brexit ein Einzelfall bleibt. Sollten sich jedoch, etwa im Norden Europas, Nachahmer finden, würde dies auf klare Zerfallserscheinungen hindeuten. Die daraus folgende Flucht in vermeintlich sichere Werte könnte umfangreiche Kapitalabflüsse aus Zentraleuropa bewirken, die spürbare und nachhaltige Folgen für die dortigen Volkswirtschaften nach sich ziehen würden. H E L A B A V O L K SW I R T S C H A F T / R E S E A R C H · 2 8 . J U N I 2 0 1 6 · © H E L A B A 5
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