Boat People

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Boat People
Chi Dung Ngo erinnert sich an seine Flucht übers Meer
Von Nadja Odeh
Sendung: 01.07.16 um 10.05 Uhr, Länge: 24 Min.
Redaktion: Petra Mallwitz
Regie: Maidon Bader
Produktion: SWR 2016
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BOAT PEOPLE
Erzähler:
Wir waren ca. 240 Menschen. Die genaue Zahl kannte ich nicht. Alle Altersklassen
waren vertreten, von einjährigen Kindern bis zu siebzigjährigen Greisen, die alle
erdenklichen Räume ausfüllten, vom Deck bis in die letzte Ecke im Rumpf des
Bootes. Um die Aufnahmekapazität eines ehemaligen Fischkutters zu erweitern, der
knapp zwanzig Meter lang und fünfeinhalb Meter breit maß, hatte man unter Deck
vier Sitzreihen angebracht, zwei an den Bootswänden, zwei in der Mitte, die allesamt
besetzt waren. So saßen die Fahrgäste, Schulter an Schulter, Knie an Knie, eng
aneinander gepfercht. Wollte ein Passagier im Bootsrumpf, zu welchem Zweck auch
immer, nach draußen gelangen, dann musste er sich zunächst durch den engen
Raum zwängen, um überhaupt zu der kleinen Einstiegsluke in der Raummitte zu
kommen. Fand er dort mit seinem Fuß zwischen den Schultern eine Trittstelle auf
dem Holzbalken, dann stieg er auf, indem er - wie ein Sportler am Reck - sich an der
Einstiegluke regelrecht hochzog. Auch das Zwischendeck war gefüllt mit
menschlichen Leibern. Da es nicht einmal einen halben Meter hoch war, gab es dort
keine Sitzbänke. Überall Menschen, in allen Positionen, eigentlich mehr liegend als
sitzend, über die der Rumpfpassagier buchstäblich hinweg kriechen musste, bis er
dann zu der Öffnung gelangte, die ins Freie führte.
Ton 01a:
Mittlerweile fühle ich mich in dieser Sprache zuhause, und ich schreibe gerne auf
Deutsch, muss ich einfach sagen, macht mir auch Freude, mit dem Sätze zu bilden,
zu schauen, wie es weitergeht.
O-Ton 1b:
Mein Name ist Ngo, der Vorname Chi Dung und von Beruf her bin ich Übersetzer und
Dolmetscher.
O-Ton 01c:
Also meine Heimat ist Südvietnam, Can Tho liegt genau am Mekong Delta. Ich bin da
geboren, bin groß geworden, bis 1975, da sind die Kommunisten einmarschiert, da
haben wir noch vier weitere Jahre, drei, vier weitere Jahre gelebt bis 1979. Da haben
wir beschlossen das Land zu verlassen.
Erzähler:
Das Meer, eine dunkle endlose Masse mit einem ungebändigten Bewegungsdrang.
In den sieben Tagen, die unsere Fahrt andauerte, gab es keinen Moment, in dem
das gewaltige Becken ohne Bewegung gewesen war und die Wasseroberfläche
einem Spiegel glich. Ständig schlugen die Wellen gegen die Bootswand, hielten die
kleine Nussschale in ständig schaukelnden Bewegungen, so dass die zumeist
städtischen Bewohner, die bislang das Meer weder zu Gesicht bekommen noch je in
einem Boot gesessen hatten, seekrank wurden. Vom Schwindel befallen hätte man
sich am liebsten zur Entspannung hingelegt. Aber in der Enge gab es keinen Platz.
Also lehnte man sich an die Wand, und später, nachdem die Berührungsangst sich
im Lauf der Zeit gelegt und eine allgemeine Gleichgültigkeit sich breit gemacht hatte,
stützte man sich einfach an seinem Nachbarn ab und versuchte mit geschlossenen
Augen, sich zu beruhigen. Sobald aber die absolute Dunkelheit den Kopf befiel,
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drehte sich alles, bis der Schwindel einen Grad der Unerträglichkeit erreichte und der
Körper den Ausgleich suchte, indem er den Mageninhalt auswarf.
O-Ton 02:
Autorin:
„Boatpeople“ heißt unsere Sendung. Sie haben ja einen Text mir zugeschickt, indem
Sie Ihre Flucht über das Meer beschreiben, damals. Wenn Sie jetzt diese
Nachrichtenbilder sehen, wo Menschen unter Lebensgefahren über das Mittelmeer
fliehen, was geht Ihnen da durch den Kopf?
Herr Ngo:
Ach, also natürlich erinnert mich das an meine Situation von damals, ja. Und ich kann
mich gut erinnern an die Hoffnung anzukommen einerseits und andererseits auch an
die Situation im Flüchtlingslager, wir waren in Indonesien. Und in der ersten Zeit
hatten wir auch nicht gewusst: wohin, was tun, was machen?
Und das war so eine Situation, wo man gedacht hat: ja, man ist zwar in Sicherheit,
aber das muss doch irgendwie weitergehen.
Doch, ich denke an diese, an die Hoffnung der Leute, der Menschen und an ihre
Träume, die ich auch hatte.
Autorin:
Können Sie mal beschreiben was Sie für Träume hatten. Also wie alt waren Sie denn
als Sie in das Boot gestiegen sind?
Herr Ngo:
Ich war damals 16. Und, nein, also das waren keine konkreten Träume, einfach …
ich, man hofft dahin zukommen, auf ein neues Leben, wo man quasi eine
Zukunftsperspektive hat.
Aber überhaupt für einen 16-Jährigen war das der größte Wunsch natürlich, wieder in
die Schule zu gehen und einen Abschluss zu machen.
Erzähler:
Der Abschied fiel mir nicht schwer. Ein letztes Mal die Mutter wie ein kleines Kind
umarmen, ihre Wärme fühlen und heimlich ihren warmen Duft tief einatmen, dann
saß sie auch schon im Fernbus, der sie nach Hause bringen sollte, ein Zuhause, das
nun verwaist war. Was sie empfand, die Frage kam mir nicht in den Sinn, sondern
erst viel später, als ich mich an die Nächte erinnerte, in denen ich ihr im Krankenhaus
beim Sterben zusah. Für mich hieß es damals, nach vorne zu schauen, meinen Blick
in die Zukunft zu richten, die mir Unbekanntes, Aufregendes versprach. Die
Einschiffung erfolgte, als es bereits dunkel war. Ein Polizist las aus einer Liste
Namen vor, deren Träger anschließend das Boot betreten durften. Dann brummte
der Motor. Sanft glitt das Boot an der Flussmündung entlang in Richtung des
südchinesischen Meeres. Es war Vollmond. Das gelbe Licht tauchte die Landschaft
in ein seltsames Grau mit unterschiedlichen Farbschattierungen, aus der die
Motorengeräusche der Boote widerhallten.
O-Ton 03:
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Herr Ngo:
Mit 16 wollte man weg von Zuhause, wollte man in die Welt hinaus, ja. Und da guckt
man wenig auf die Eltern, und Hauptsache man kommt raus und man schaut auch
einfach nicht so zurück.
Das merke ich jetzt, wenn meine Kinder, also sagen wir, aus dem Haus gehen, ja,
dann denke ich: meine Güte, wenn sie jetzt gehen und nicht wiederkommen, wie
damals, echt, ich glaube nicht, dass ich das verkraften könnte.
Und ich kann mich noch erinnern, das habe ich auch so beschrieben, die Stelle, wo
meine Mutter kam, um uns zu verabschieden, ja, und was das für sie damals
bedeutete, das habe ich nicht gewusst, also wie sehr sie eigentlich darunter gelitten
hat, uns gehen zu lassen, vor allem in diese Ungewissheit, wo sie nicht mal wusste,
ob das ankommt. Weil sie musste sich dessen auch wesentlich bewusster sein, wie
gefährlich das war rauszufahren. Es gab ja damals auch schon genug Meldungen
über Schiffbrüche, über Ertrunkene.
Erzähler:
Fast jeder übergab sich. Wer es schaffte, kroch mit letzten Kräften aufs Deck und
leerte sich ins Meer aus. Den meisten aber, vor allem den Rumpfinsassen, blieb
angesichts der großen Schwierigkeit, die der Gang ins Freie bereitete, und des
drängenden Druckes im Magen, der keinen Aufschub duldete, keine andere Wahl,
als sich umzudrehen und sein Erbrochenes in die Lücke zwischen der Bootswand
und dem Brett, das als Sitzlehne an die Schiffsplanken angebracht war, zu spucken.
Dann drehte man sich um und tat, als wäre nichts geschehen. Jeder tat es und jeder
hatte Verständnis für die anderen, zumindest stillschweigend. Auch für mich war es
eine Selbstverständlichkeit, mich auf diese Weise des Magendrucks zu entledigen.
Die Dunkelheit bot Schutz. Bewegungen waren - wenn überhaupt – nur zu erahnen.
Einzig ein kleines Loch in dem Brett gegenüber meinem Sitzplatz vermittelte mir die
Tageszeit. Hell war der Tag, dessen Licht wie ein weißer Punkt leuchtete, sonst war
es dunkel, dunkel wie die Nacht im Bootsrumpf, in dem ich die nächsten sieben Tage
verbringen sollte.
O-Ton 04:
Herr Ngo:
Es gibt keine Kalkulation. Man steigt ins Boot, und man ist sich dessen sicher, dass
man ankommen wird. Also die Vorstellung, dass es je untergehen könnte, das kommt
einem nicht in den Sinn, daran denkt man nicht.
Also, so zuversichtlich waren wir. Ich war damals jung und ich wusste auch nicht,
dass das gefährlich sein könnte.
Aber ich denke, jeder, der in das Boot steigt, der hat dann, der hat die Zuversicht,
dass er ankommen würde.
Autorin:
Und gab es dann aber in diesen Tagen auf dem Meer auch die Momente, wo einem
die Vorstellung vom Tod immer näher gerückt ist?
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Herr Ngo:
Ja. Und das habe ich auch beschrieben, wo die Schiffschraube verlorengegangen
war. Und da war die See ziemlich stürmisch gewesen. Das war die eine Nacht, wo
ich gedacht habe, wir können sterben. Aber, komischerweise, ich habe da keine
Angst gehabt.
Erzähler:
Zum ersten Mal während der Fahrt dachte ich an den Tod. Wie ist es zu sterben?
Was tun mit den Wünschen, die zu Lebzeiten unerfüllt geblieben waren? Wie irrt man
als Geist umher? Würde ich dann die Großmutter wieder sehen, die ich noch kannte?
Und wie sollte eine Vorstellung bei den Großvätern erfolgen, die noch vor meiner
Geburt gestorben waren?
Während ich mir das Jenseits als eine Verlängerung dieses Lebens ausmalte, in der
die Zusammenführung der Großfamilie stattfinden sollte, beruhigte sich das Meer
gegen Morgengrauen. In der Frühe war es so weit, dass die Fischer untertauchen
konnten, um die Ersatzschraube anzubringen. Dann hieß es, weiter fahren. Nachdem
auch die Sandwiches bald aufgegessen waren, blieb mir nichts anderes übrig, als
mich mit Zucker, den meine Mutter zuvor mit Zitronensaft getränkt hatte, buchstäblich
über Wasser zu halten und im Sitzen zu warten, im Warten zu horchen, zu horchen
auf das brummende Motorengeräusch, das mir wenigstens die Zuversicht gab, weiter
zu kommen, einer ungewissen Zukunft entgegen.
O-Ton 05a:
Herr Ngo:
Mein Bruder, der hat sich ständig, standhaft geweigert in den Rumpf zu gehen, der
hat gesagt: „Nein, das mache ich nicht, ich bleibe einfach oben.“ Der war auch 10
Jahre älter. Er wusste auch wie gefährlich das war. Er konnte mich aber nicht
rausholen, weil das war einfach zu voll. Aber er wusste, es könnte untergehen,
deshalb ist er nicht runtergegangen.
Autorin:
Sie saßen mit Ihrem Bruder gemeinsam auf dem Boot?
Herr Ngo:
Wir waren zu 7. Also eine Schwester, ein Schwager, Neffe und drei Brüder, wir
waren zu 7.
Autorin:
Auf ein und demselben Boot?
Herr Ngo:
Ja, auf ein und demselben Boot. Also meine Eltern haben alles auf eine Karte
gesetzt.
O-Ton 5b:
Autorin:
Wie konkret war für Sie damals eigentlich die Gefahr oder die Bedrohung durch
dieses kommunistische Regime, dass man tatsächlich dieses Risiko auf sich
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genommen hat oder dass zum Beispiel auch Eltern dieses Risiko auf sich genommen
haben, alles auf eine Karte zu setzen?
Herr Ngo:
Es war so, wissen Sie, als die Kommunisten gekommen sind, ja, nach und nach
wurde meinem Vater alles weggenommen, was er durch seine Arbeit verdient hat,
und am Ende blieb nur noch ein kleines Stück Land übrig und auch das wollte man
ihm wegnehmen. Und für uns, ich hätte keine Möglichkeit die Schule weiter zu
besuchen, also höchstens vielleicht, hätte ich vielleicht geschafft Abi zu machen,
aber die Hochschule kam sowieso nicht infrage zum einen, zum anderen da ist der
Krieg ausgebrochen und man hätte mich auch sofort einberufen und nach
Kambodscha geschickt. Und das wollte ich nicht.
Es gab für uns nur eine Entwicklung nach unten.
Und hierzulande redet man einfach so geringschätzig von den sogenannten
Wirtschaftsflüchtlingen. Ich will nur einen Menschen hier in Deutschland sehen, dem
das passiert, dass ihm das Haus weggenommen wird, dass ihm sämtliche
Möglichkeiten genommen werden, dass er gar keine Möglichkeit hat einer richtigen
Arbeit nachzugehen, ob er dann doch nicht überlegt, sich anderweitig niederzulassen
und ob man dann einfach so geringschätzig von Wirtschaftsflüchtlingen redet. Man
vergisst auch, dass die Deutschen auch einmal ausgewandert sind, wo es hier nicht
genug zu essen gab.
Erzähler:
Was für ein Glück, ein Ufer am Horizont zu erblicken! Die Besatzer eines Öltankers,
auf den wir gestoßen waren, erklärten sich bereit, uns nach Indonesien zu bringen.
Nach dem Umzug auf ein Transportschiff, das die kleine Nussschale hinter sich
herzog, wurden wir nach Terempa, einer kleinen Insel, die zu Indonesien gehört,
gebracht. Als das Land in Sicht war, ließ man uns wieder in unser kleines Boot
umsteigen, mit dem wir dem Glück am Horizont entgegensteuerten.
O-Ton 06:
Autorin:
Als Sie dann auf einmal an Land gehen konnten, wie war das, nach den sieben
Tagen, zum ersten Mal wieder Boden unter den Füßen zu haben?
Herr Ngo:
Oh, ich war immer noch seekrank, ich konnte nicht laufen. Der Boden, der hat sich
gedreht und bei jedem Schritt, ich hatte immer das Gefühl, er entzieht sich mir, und
ich trat immer daneben.
Man freut sich natürlich, aber irgendwie doch war man, war ich doch sehr verwundert
darüber, dass der Boden auf einmal angefangen hat sich zu bewegen, ja.
Aber schön, also muss man sagen, das war schön.
Autorin:
Und dieses Ankommen an Land, welches Land war das dann?
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Herr Ngo:
Indonesien. Wir sind, also wir sind auf eine Bohrinsel gestoßen und die haben uns
dann nach Indonesien geschleppt.
Erzähler:
Mit einer Fläche von knapp 80 km2, gelegen an der Ostküste Sumatras und nahezu
direkt am Äquator, gehört die Insel Galang zum Archipel Batam-Rempang-Galang.
Die verschlafene Insel wurde in den 80er-Jahren mit einem Schlag berühmt, als die
indonesische Regierung dort ein Übergangslager errichten ließ, das den Flüchtlingen
als Sprungbrett in die verheißungsvolle Welt dienen sollte. Heute können Touristen
auf der Galang-Insel das ehemalige Bootpeople-Village mit einem Boot in
Originalgröße besichtigen. Auch die Holzbaracken, in denen wir damals gelebt
haben, stehen wie einst am Originalschauplatz, nur vollkommen verwittert im
tropischen Klima. Für uns, die ersten Flüchtlinge, rochen die Wände noch nach frisch
geschlagenem Holz, und die geschotterten Wege waren nur halb fertig gestellt, so
dass der Boden in der Regenzeit völlig aufgeweicht und schlammig wurde.
Obwohl eben errichtet, bildete sich sehr schnell im Kern des jungfräulichen
Flüchtlingsdorfes ein Zentrum heraus, das die Funktion eines Marktplatzes hatte.
Dort gab es alles, was eine Kleinstadt als solche auszeichnete: Kleingeschäfte,
Friseur, Kaffee, Bar, Büro des UNHCR, Sicherheitskräfte usw. Später, nach unserer
Weiterreise, kamen ein Tempel sowie zwei Kirchen, eine evangelische und eine
katholische hinzu, die heute alle als Touristenattraktion gelten. Und schließlich gab
es dort auch noch einen Friedhof für die Flüchtlinge, die hier starben. In Galang
wurden insgesamt etwa 250.000 vietnamesische Boatpeople untergebracht, die
später entweder in die westliche Welt weiter reisen durften bzw. im Rahmen der
Repatriierung nach Vietnam zurückkehren mussten, weil kein Land sich für ihre
Aufnahme bereit erklärt hatte. Zeitweise sollen dort bis zu 20.000 Flüchtlinge gelebt
haben.
O-Ton 07:
Herr Ngo:
Ja, das hat sich, so Strukturen herausgebildet, es gibt geschäftstüchtige Leute, die
ihr Geschäft betreiben. Mein Bruder hat dann quasi eine Bäckerei da entwickelt und
ich habe dann Brot verkauft. Im Nachhinein haben mir manche Leute erzählt, also die
Erstankommenden, die haben dann da unten am Strand eine Hütte gebaut, und
wenn die Leute, die später gekommen sind, das kaufen wollten, dann haben sie
einfach das Ding verkauft und sind weiter auf die Berge gezogen. Wie Immobilien
dann.
Ich glaube, wir sind im Juni gekommen und September oder Oktober, für 3, 4 Monate
nur, ja. Aber das hat man auch gemacht, weil man nicht genau wusste, wie lange,
wie lange es dauert. Das war eine ungewisse Situation. Und das war schon schwer
zu ertragen, weil man nicht weiß wie lange, wohin, was passiert, ja.
Autorin:
Würden Sie insgesamt sagen, dass tatsächlich diese Ungewissheit auch mit das
Qualvollste an der ganzen Situation war?
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Herr Ngo:
Ja. Also einfach die Ungewissheit, einfach da zu sitzen, zu warten, zu hoffen
irgendwohin zu kommen. Das ist ganz, ganz schwer zu ertragen für die Leute, ja.
Erzähler:
Die meisten Vietnamesen, die ihre Heimat verlassen hatten, wollten ganz
selbstverständlich nach Amerika. Der Bezug war gegeben. Auch wenn der Krieg
verloren war und Amerika eine seiner größten Niederlagen erlitten hatte, fühlte man
sich den ehemals Verbündeten verpflichtet und nahm sich der Flüchtlinge an. Aber
es waren zu viele. Ohne Verwandte, ohne eine verbindende Tätigkeit unter der
ehemaligen südvietnamesischen Regierung war es aussichtslos, in das gelobte Land
zu kommen. Als Ausweichmöglichkeiten standen Australien, Kanada und Frankreich
auf der Liste. Nach Deutschland wollte kaum jemand, damals nicht. Als ich nach
Galang kam, wurde mir von einer Frau erzählt, die sowohl von Amerika als auch von
Deutschland aufgenommen wurde. Ihre Verwandten in den beiden Ländern hatten
einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt. Wohl aufgrund der geringen
Nachfrage, trafen die Papiere für die Einreise nach Deutschland früher ein. Die Frau,
die sich ihres Traumziels beraubt sah, versteckte sich in einer Badekabine, in die
sich die indonesische Polizei den gewaltsamen Zutritt verschaffen musste, um die
Unwillige zum Flugzeug zu bringen, das sie nach Deutschland brachte.
O-Ton 08:
Herr Ngo:
Na, ich weiß noch damals, als die Nachricht kam, dass wir nach Deutschland
kommen würden, ja, da kam einer und hat erzählt: „Gott, willst du wirklich nach
Deutschland? Berlin ist von Kommunisten umzingelt. Das ist der Horror schlechthin.“
Da wusste ich nicht, ich wusste nicht mal, dass Berlin mitten in der DDR lag, also von
der Teilung, ach da haben wir echt wenig mitbekommen.
Erzähler:
Das Flugzeug, mit dem ich von Jakarta mit einer Zwischenlandung in Bombay nach
Deutschland flog, landete im Morgengrauen. Über eine Fluggastbrücke, die direkt in
die Flughalle führte, gelangten wir in den Warteraum für den Weiterflug nach
Stuttgart. Mit einem grünen, gezopften Pullover, Gummibadelatschen und einer
Tasche, die meine Schwester aus mehreren Stofffetzen unterschiedlicher Farben
zum Aufbewahren der wenigen Utensilien aus Vietnam zusammengenäht hatte, lief
ich zwischen den Geschäftsmännern in grauen Anzügen, die allesamt einen
Aktenkoffer bei sich trugen und mit ihren entschlossenen und schnellen Schritten an
mir vorbeiliefen.
O-Ton 09:
Herr Ngo:
Bei diesem Umsteigen ist mir besonders aufgefallen, dass da ganz, ganz viele
Herren in dunklem Anzug und Aktenkoffer, weil es war ein Innerflug von
Deutschland, der ist einfach nur für Geschäftsleute gewesen. Man hat einfach die
Flüchtlinge dazugesellt. Und das sah schon ulkig aus, neben diesen Herren, und da
ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass ich so nicht ganz ins Bild hinein gepasst
habe, also nicht nur ich, sondern auch der Rest von uns.
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Erzähler:
Diese wenigen Habseligkeiten, die mir in den sechs Monaten in Indonesien durchaus
genügten, fielen mir gut 30 Jahre später wieder ein, als ich eines Tages aufgrund
einer Umbaumaßnahme das komplette Erdgeschoß meines Hauses leer räumen
musste.
Tagelang waren meine Frau und meine Kinder damit beschäftigt, Töpfe, Gläser,
Geschirr, Tüten, Taschen, gefüllt mit Stiften, Blöcken, Krimskrams, in den Keller zu
tragen, vor allem die unzähligen Schuhe, die im Nu den mannshohen Schrank
füllten. Was alles braucht der Mensch zum Leben?
O-Ton 10:
Herr Ngo:
Ich meine, damals als ich mit dem, nachdem ich quasi angefangen habe zu arbeiten,
und ich habe so richtig Geld verdient, da hat sich meine Haltung zum Besitz doch
geändert, nicht so wie früher. Früher, als Flüchtling, auch die ersten Jahre hier als
Schüler und dann später als Student, da hatte ich nie ein ausgeprägtes Verhältnis
zum Besitz, da war mir alles egal. Ich habe immer Sachen von Straßen zusammen
aufgelesen und hingestellt. Aber später, doch irgendwie, man rutscht einfach da
hinein.
Autorin:
Diese Zeit, wo man nichts hatte, wo alles offen war und wo man eigentlich nur
gewinnen konnte, weil man hat ja schon alles verloren, ist das auch eine Zeit einer
besonderen Freiheit?
Herr Ngo:
Ja. Ja, das ist eine, das waren Zeiten einer besonderen Freiheit, insofern dass man
auch noch komplett, die ganze Entwicklungsperspektive vor sich hat, ja. Man weiß
zwar nicht wohin, aber man braucht an sich nicht … Ich habe da nie was großartig
gebraucht und auch keine neuen Sachen. Aber das Gefühl zu haben eine Zukunft
vor sich zu haben, die mal irgendwie, durch sein Tun, sein Bemühen gestalten kann,
das ist gut. Ein Gefühl, das viele, dass man der Jugend unbedingt bieten muss, ja,
das ist das Wichtigste. Nicht Sachen, nicht materielle Werte, sondern diese
Entwicklungsperspektive, das Gefühl zu haben, man, das Leben bietet Chancen.
Erzähler:
Angekommensein, was bedeutet es, im Leben anzukommen? Gibt es einen Ort, in
dem das Leben nicht durch den Drang nach Weiterkommen, nach Fortkommen
verdrängt wird, einen Ort, in dem der Mensch sich einrichtet, um das Leben zu leben,
und nicht von Hast und von dem Wunsch nach Mehr fort getrieben zu werden?
O-Ton 11:
Herr Ngo:
Also ich würde sagen, es war eine harte Zeit. Also ich meine ich muss auch sagen,
ich bin auch kein Sprachgenie in dem Sinne, ich musste auch alles im kleinsten
Schritt zusammenreimen und ich musste Vokabeln pauken. Ich weiß noch damals im
Internat, da sind alle, ich war in ein Internat gekommen, mit Spätaussiedler aus
Russland und Russlanddeutsche und Polen, ja. Also zuvor hatte ich 8 Monate
Deutsch gelernt, in einem Deutschkurs in Freiburg, dann kam ich in ein Internat, und
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die haben alle zuhause Deutsch gesprochen. Und die waren viel, viel weiter, und ich
habe wirklich absolut nichts verstanden, was da gesagt wurde.
Und ich weiß noch, wie die Mathelehrerin, unsere Klassenlehrerin, reinkam und
gesagt hat: „Jungs, was ihr nicht versteht, da müsst ihr nach fragen.“ Dann fing sie
an zu erzählen und, aber dann habe ich gar nicht mehr verstanden, was sie erzählt
hat. Ich habe immer so hingehockt und zugehört und alles aufgeschrieben, was an
Vokabeln da war, und habe dann immer am Nachmittag, also die anderen Leuten,
also die anderen Mitschüler, rausgegangen sind, zum Spielen, ich habe immer 2, 3
Stunden jeden Tag Vokabeln gepaukt, um überhaupt ein bisschen was mitzukriegen.
Aber ich habe dann doch das, den Realabschluss geschafft, ja. Und im Gymnasium
ging’s genauso weiter, da ging’s, es war schon besser, ich konnte mich wesentlich
besser verständigen, aber das Schriftliche, das hat mir noch ungemein viel Probleme
bereitet, sogar bis in die Uni hinein.
Also das Schreiben als solches, der Schreibvorgang, das erfordert so viel
Anstrengung, da muss man komplett die ganze Denkweise umstellen, also für
meinen Begriff, ja.
Autorin:
Sind Sie manchmal traurig, im Rückblick, wenn Sie so denken, das hat so viel Zeit
von meinem Leben gekostet, überhaupt dieses Aufholen?
Herr Ngo:
Nein. Nein, überhaupt nicht. Also, die Frage muss ich vehement verneinen. Ich
meine, gerade das Spannende an der Sache, das war, diese Aufholjagd und diese
Ungewissheit. Ich wusste auch nicht mal, ob ich nach der 10., die, das Abitur machen
könnte, weil ich nicht wusste, wie meine Note war, ich hatte eigentlich schon Angst
drum.
Aber das ist gerade das Spannendste an der Sache, man weiß nicht wie weit es
geht, man weiß nur, man muss sich bemühen, muss man schauen. Aber zumindest
hat man das Gefühl das liegt in der eigenen Hand.
Autorin:
Ja, aber auf der anderen Seite, sprechen wir mal zu diesem „das liegt in der eigenen
Hand“, da … Moment. Ach, doch hier.
Erzähler:
Der Glaube, dass es so etwas wie ein freies Ich gibt, das vor sich hin agiert, autark,
unabhängig von Umwelteinflüssen, grenzt an Hochmut. Die Frage lautet vielmehr,
wie man sich in einer gegebenen Situation zurechtfindet, allen Widrigkeiten und
Umständen zum Trotz, ohne vom eigentlichen Leben abzukommen.
O-Ton 12:
Autorin:
Wie haben Sie das denn gemeint?
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Herr Ngo:
Also, was ich sagen wollte, viele Leute glauben ja „Ich kann das machen, ich kann
das machen, das lag in meiner Hand und das war …“ Ich würde sagen, es lag nicht
in meiner Hand, ich habe einen Rahmen vorgefunden und in Rahmen und innerhalb
dieses Rahmens habe ich, konnte ich das und das tun. Wobei ich sagen muss, dass
viele Dinge, die passiert waren in der Zeit, hätte ich gar nicht anders machen können,
obwohl ich im Nachhinein viele Dinge bedauere. Auch mit der Familie und auch mit
der Freundschaft oder was auch immer, viele Dinge sind kaputt gegangen dadurch,
wo ich gedacht habe, ja … Sagen wir so, in einer ganz konkreten Situation, was auch
ganz viele Leute, junge Leute vor allem erleben würden, wenn die herkommen und
getrennt sind von der Familie, und nach Jahren die Familie wieder sehen, oder erst
die Trennung und dann den kulturellen Bruch und dann, und dann das
Erwachsenwerden und die Familie wieder zu sehen, das ist eine Situation, die, mit
der wahnsinnig schwierig umzugehen ist. Und dass ich das Gefühl habe, ich war
überfordert und ich hätte das netter gestalten können und sollen auch, was ich nicht
getan habe. Das meine ich halt, mit meiner Unfähigkeit, meine Handlung zu
gestalten.
Es gibt immer Situationen wo man sagt: Ich hätte es besser oder anders machen
können, aber ich konnte es nicht. Das meinte ich damit.
Autorin:
Können Sie vielleicht noch mal beschreiben was daran denn eigentlich auch so
unglaublich schwierig war?
Herr Ngo:
Wenn Sie Ihren Vater oder Ihre Mutter 6 Jahre lang nicht gesehen haben, und Sie
als Jugendlicher das Haus verlassen haben, und dann denken Sie auch mal anders
über das Zuhause. Ich habe mich bemüht auch erwachsener zu sein. Aber wenn
man die Eltern wieder sieht, das heißt, man fühlt sich versetzt in eine, in die alte
Situation, wo man das Gefühl hat wieder Kind zu sein. Und es ist eine Diskrepanz
zwischen erwachsen sein wollen und Kind sein müssen.
Das stellt einen in eine Zwickmühle, wie verhalte ich mich, wie bin ich zu denen?
Ganz konkret, kann man hingehen, Umarmung? Ich, wie viel, 1985, da war ich 22,
geht man hin und umarmt die Mutter wie ein kleines Kind?
Sehen Sie, und dann gerade in dem ersten Augenblick, ja. Und deshalb habe ich
auch das geschrieben, ja. Das war richtig authentisch, mein Vater streckt die Hand
raus und:
Erzähler:
Das Wiedersehen fiel kühl aus. Ich stand vor meinem Vater. Die Entfernung
zwischen uns betrug eine Armlänge. Er streckte den Arm aus. Fast wäre ich
zurückgewichen und blieb auf Geheiß einer inneren Stimme stehen. Er sagte:
„Du hast aber viele Pickel!“
Nun war der Schuldige ausgemacht, diese Pickel, die mir seit einem halben Jahr
große Probleme bereiteten und gegen die die Hautärzte mit ihren schärfsten Waffen
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machtlos waren. Diese Pickel also standen zwischen uns und zogen eine
unüberwindbare Barriere auf.
O-Ton 13:
Herr Ngo:
Ich weiß auch nicht wie ich es beschreiben soll, ich war nicht mehr das Kind, aber als
Erwachsener kannten meine Eltern mich nicht und …
Autorin:
Da fehlt ein Stück Zeit.
Herr Ngo:
Da fehlt einfach ein Stück.
Und ich denke mir, das wird für ganz viele Menschen, junge Menschen gerade
schwierig. Und auch, wenn die mit Familie herkommen, und wenn sie hier in diesem
Kulturkreis wiederum aufwachsen, für die Eltern ist es wiederum ein Schock dann, ja.
Aber gut …
Autorin:
Auf der einen Seite ist das große Thema hier in Deutschland: Wie kommt
Deutschland sozusagen mit dieser sogenannten Überfremdung zurecht, aber auf der
anderen Seite muss man natürlich wirklich sehen was eben diese Menschen, die
jetzt hierher kommen an unglaublichen Veränderungen auch bewältigen müssen.
Herr Ngo:
Jaja, die sind großen Veränderungen ausgesetzt. Ja, sie gucken, alleine im
Fernsehen, mit der ganzen Werbung und wenn die Leute auch mal so viel nackte
Haut sehen, was sie gar nicht gewohnt sind, ja.
Aber man guckt eh mehr auf sich selber. Ich sage: okay, wir, ihr seid fremd hier, ihr
müsst euch anpassen, ja. Aber man denkt sich auch nichts dabei, was diese
Anpassung bedeutet.
Natürlich man erwartet, dass die Gäste sich zu benehmen wissen, klar, dass wir nicht
wissen, diesen Anspruch will ich niemandem absprechen, nur man muss sich
darüber im Klaren sein, dass die es auch nicht leicht haben. Es ist auch nicht so,
dass die herkommen und alles geschenkt kriegen.
Und vielleicht mit der Einstellung kann man ein bisschen mehr Offenheit und Geduld
aufbringen, das meine ich.
Erzähler:
Ich habe ein Leben mit allem, was dazu gehört, darunter auch eine Vergangenheit,
die mich nicht immer glücklich stimmt. Aber es ist ein Ganzes. Genau so wenig wie
ich sagen kann, dass ich mir meine Nase entfernen lasse, weil sie mir nicht gefällt,
genauso wenig kann ich bestimmte Teile aus meinem Leben entfernen, eben weil sie
alle dazu gehören. Damit habe ich zu leben. Eine Schnecke kann sich nun mal ihres
Gehäuses nicht entledigen und nach einem anderen umschauen, bloß weil es ihr
nicht schön genug ist. Im Übrigen kommt es auch nicht auf ein schöneres oder
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besseres Leben an. Es kommt darauf an, das Leben anzunehmen und es zu leben,
und vielleicht - wenn es mal hoch kommt - darüber zu reden, davon zu erzählen.
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