PREIS DEUTSCHLAND 4,90 € DIE ZEIT WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR 30. JUNI 2016 No 28 Warum wir reisen müssen! Die Welt ist in Aufruhr. Wäre es da nicht besser, im Urlaub zu Hause zu bleiben? Auf keinen Fall! Fünf Seiten zur schönsten Form der Fortbewegung Was tun, wenn die Falschen gewinnen? Z – Zeit zum Entdecken, Seite 51 Trump, Johnson, Le Pen: Was früher nur wenige äußerten, wird plötzlich mehrheitsfähig. Doch die westlichen Demokratien hätten Gegenmittel. Sie müssen aber wollen Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT POLITIK, WIRTSCHAFT, FEUILLETON EINWURF NACH DEM BREXIT Jugend heult Wie viel Volk darf’s denn sein? Sie weint. Tränen laufen über die Wangen. Eine junge Engländerin auf einem Foto im Netz. »I am heartbroken«, steht darunter. Es zeigt den Kummer, den wir gerade teilen: Europa-Schmerz. Wir, das sind die Jungen Europas, die Vielgereisten, die Vielvernetzten. Die, die dachten, am Ende gewinnen doch immer die Guten. Seit Freitag wissen wir: Das stimmt nicht. Es gibt einen Weg zurück in ein Angst-Europa. Jugend heult. Wer tröstet? Die Eltern nicht. Die kommen aus einer Generation, die in Großbritannien mit für den Brexit gesorgt hat: Die Mehrheit der über 50-Jährigen hat für den Austritt gestimmt. Aber wir sind selbst schuld. Zu wenige Junge haben abgestimmt. Das ist zu erklären: Wir mussten kämpfen, aber nur privat. Über Politik streiten? Anstrengend. In vielen Timelines ist das Leben ein Kuschel-Konsens. Zu lange haben wir gedacht, Demokratie sei ein Lebensgefühl und Ironie unser Schutz. Aber wir tun doch was! Letzten Sommer, als die Flüchtlinge kamen. Nach dem Helfen ging es zurück in die Komfortzone. Dass Europa für viele keine Komfortzone mehr ist, haben wir zu spät gemerkt. Unser Engagement ist atomisiert, verteilt auf Netzwerke. Wie stellt man eine Gemeinschaft her, wenn man Parteien langweilig findet? Wir müssen verstehen: Solange man den Institutionen nichts als virtuelle Empörung entgegensetzen kann, sollte man sie ernst nehmen. Wer sich nur darum sorgt, was in seinem Viertel, in seinem Freundeskreis, bei seiner Arbeit passiert, wer nur auf die eigene Karriere und auf die Familie schaut, der ist nicht unpolitisch – das ist der eigentliche Schock: Wir sind politisch, ob wir wollen oder nicht. Denn Europa ist kein Ich, sondern ein Wir. Und wenn wir nicht handeln, tun es die anderen. Es gibt einen Gegner, die Europa-Hasser. Sie müssen wir endlich ernst nehmen. Er ist bestens organisiert, über Ländergrenzen hinweg, er hat einen Slogan: Take back control, »Gewinnt die Kontrolle zurück«. Take back control ist ein verdammt guter Slogan – nur für die falschen Leute. Wir sollten ihn uns zurückholen. Für unser Europa. KILIAN TROTIER Der Autor, 32, ist stellvertretender Ressortleiter der Hamburg-Seiten der ZEIT Den Eliten bleibt nichts anderes übrig, als besser zuzuhören und hinzuschauen W enn in Großbritannien die Brexit-Befürworter siegen, in Österreich ein FPÖ-Mann nur um 30 000 Stimmen an der Präsidentschaft vorbeischrammt oder in einigen deutschen Bundesländern die AfD in Umfragen plötzlich bei zwanzig Prozent liegt – dann schlägt die Stunde der Welterklärer. Am tröstlichsten ist noch die Interpretation, dass Zeiten bedeutender Umbrüche immer eine hohe Zahl von Unzufriedenen und Verunsicherten hervorbrächten, dass das »Rendezvous mit der Globalisierung« (Wolfgang Schäuble) Protestparteien rechts wie links erstarken lasse, dass alles ein vorübergehendes Phänomen sei. Das kann man nur hoffen. Denn wenig spricht dafür, dass die Zwietracht in fast allen westlichen Gesellschaften bald nachlassen wird. Starke Reizthemen wie die zunehmende Ungleichheit von Arm und Reich, vor allem aber der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen bergen so viel negative Energie, dass sie sich immer wieder mit Hass und Unmut aufladen können. Spätestens seit dem Votum für den Brexit ist das Entsetzen groß. Und aufseiten jener, die sich der europäischen Idee verbunden fühlen, ist nun endlich Kampfeslust auszumachen, jedenfalls verbal. Auch das kann man sich nur wünschen. Eine Frage allerdings bleibt offen: Wie holt man jene Bürger zurück, die sich partout nicht überzeugen lassen und andere Prioritäten haben? Was tun, wenn die Falschen gewinnen? Die Frage drängt sich auf, aber sie kann auch eine Falle sein. Dann nämlich, wenn sie eine Spaltung akzentuiert, statt sie zu überwinden. Wenn also mit den Richtigen die aufgeklärten und politisch interessierten, weltläufig und liberal gesinnten Menschen und mit den Falschen die angstgetriebenen, politisch unterbelichteten, ressentimentgeladenen Leute gemeint sind, wahlweise die Zukurzgekommenen, die Alten, die weißen Männer oder die Landpomeranzen, denen man am besten keine Ja/NeinFragen in Form eines Referendums stellen sollte. Wer die Welt so sieht, der muss auf Volkserziehung setzen, nach dem Motto: Erkenne, wie irrational deine Angst vor Flüchtlingen ist! Darum auch das wiederkehrende Stereotyp, wer Probleme der Zuwanderung allzu deutlich benenne oder gar auf Ängste zu viel Rücksicht nehme, stärke die Populisten. Spätestens nach dem Brexit spricht aber vieles dafür, dass wir mit solchen Mitteln nicht weiterkommen, dass stattdessen die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Eliten ihre Haltung zum Volk überdenken müssen. Was wir nämlich heute erleben, sind keine einzelnen politischen Streitfälle, es ist vielmehr ein Zusammenprall der politischen Kulturen und Lebenswelten – und das vor allem zwischen Inländern und Inländern. Gelingt es nicht, den Graben, der sich in fast allen westlichen Ländern aufgetan hat, zu überbrücken, drohen die aus Unverständnis und Unzufriedenheit erwachsenen neuen Bewegungen vieles zum Einsturz zu bringen, was über Jahrzehnte an Gutem und Bewahrenswertem aufgebaut wurde. Dazu gehört auch, Gewalt gegenüber und Diskriminierung von Andersdenkenden zu ächten, eine der großen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte und keinesfalls immer gleichzusetzen mit politischer Korrektheit. Beinahe täglich verschiebt sich der roher und abstoßender werdende Ton weiter über die Grenze des Erträglichen hinaus – von Trumps Beleidigung der Mexikaner als Vergewaltiger bis zu Höckes unsäglichem Wort der »Tat-Elite«, das von der SS gebraucht wurde. Es ist unmöglich, das Desaster des Brexits und das Erstarken populistischer Bewegungen in Europa und Amerika losgelöst von Fehlern des Establishments zu sehen. Wie in der vorigen Ausgabe der ZEIT ausführlich beschrieben, hat der in Harvard lehrende britische Politikprofessor Niall Ferguson kürzlich fünf Faktoren benannt, die zusammenwirken, wenn Populisten stark werden: 1. ansteigende Einwanderungszahlen, 2. große Ungleichheit, 3. der Glaube, dass es korrupt zugehe und Eliten dies für sich nutzten, 4. eine große Finanzkrise (wie die von 2008) oder ein wirtschaftlicher Schock und 5. schließlich ein Demagoge, der die Unzufriedenheit der Masse nutzt (Fergusons Rede gibt es in voller Länge auf YouTube). Für Demagogen mit Charisma können die Eliten nichts, aber man kann Ferguson nur schwer widersprechen: Viele Leute fühlen sich seit Jahren in ihrem Gerechtigkeitsempfinden beleidigt und von Teilen der Politik für dumm verkauft. Kein einziger Topmanager der USBank Lehman Brothers, deren Pleite 2008 die Finanzkrise auslöste, ist bis heute verurteilt worden. Keiner der Banker, die im Boom noch als Stars gefeiert worden waren, musste nach dem Platzen der Blase wirklich haften. Stattdessen kam es zu milliardenhohen Interventionen durch die Zentralbanken, an deren Folgen heute VON GIOVANNI DI LORENZO Kleinsparer nicht nur in Deutschland leiden. Die deutsche Flüchtlingspolitik ist ein Musterbeispiel dafür, was Regierungen im Guten wie im Schlechten ausrichten können. Gut war im September 2015 die spontane, großzügige Hilfe für Menschen, die Krieg und Tod entflohen sind. Dies sollte ursprünglich eine einmalige Aktion sein. Doch als sie dann aus dem Ruder lief, wurde sie mit nicht mehr glaubwürdigen Argumenten verteidigt: dass nämlich die Flüchtlinge eh alle unterwegs gewesen seien und es keinen Anreiz aus Deutschland gegeben habe, zu uns zu kommen. Dass es nicht möglich sei, die Grenzen zu schließen, und so weiter. Durch diese Widersprüche entstehen die Bruchstellen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, nicht an der Frage, ob man Kriegsflüchtlinge aufnimmt – das will eine Mehrheit der Menschen von Herzen gern weiter tun. Nur eben nicht ungefragt, unkontrolliert und ohne eine glaubwürdige und leidenschaftliche Begründung. Weil Zweifel und Ängste als vordemokratisch und irrational kleingeredet oder diffamiert worden sind, konnten in so vielen Ländern furchterregende Bewegungen groß werden, die nach dem Brexit vermutlich noch mehr Auftrieb erhalten. Nun hat man das Gefühl, dass das Volk seine gewählten Vertreter vor sich hertreibt. Aber was sind das für Konstellationen: Regierungen und Eliten, die ihr eigenes Volk fürchten? Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als künftig besser hinzuschauen und hinzuhören. Krisen und Flüchtlingswellen haben immer Ursachen, sie werden nie ganz zu vermeiden sein. Was man aber sehr wohl beeinflussen kann, ist die Verhältnismäßigkeit der daraus erwachsenden Maßnahmen und die Glaubwürdigkeit jener, die sie verkörpern. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, dem nun wirklich niemand ernsthaft vorhalten könnte, die europäischen Ideale gut zu vermitteln, und auch die Bundeskanzlerin haben gerade in diesen Tagen versucht, die Lage als leicht verschärfte Normalität zu beschreiben. Wir leben aber in einer Zeit des Disruptiven, der allgemeinen Zerstörung: Gutes, Bewährtes droht weggefegt zu werden – von der repräsentativen Demokratie über ein vereintes Europa bis hin zu toleranten Gesellschaften. Wer so weitermacht, als sei nichts geschehen, mag auf der richtigen Seite stehen, betreibt aber das Geschäft der Falschen. Schlafzimmer sind gefährliche Orte Die Reform des Sexualstrafrechts ist unnötig und verhängnisvoll Ein Essay von Sabine Rückert Feuilleton, Seite 39 PROMINENT IGNORIERT Füße im Feuer Der amerikanische Motivationstrainer Anthony Robbins hat in Dallas 7000 Gläubige versammelt und ihnen gesagt, mit hinreichender Willenskraft könnten sie über glühende Kohlen gehen. Etwa 30 verbrannten sich dabei die Füße, fünf kamen in die Klinik. Von der heiligen Kunigunde und von der heiligen Christina wird erzählt, sie hätten Glut und Feuer unversehrt überstanden. Merke: Es ist nicht ganz leicht, heilig zu werden. GRN. Kleine Fotos (v. o.): Uwe Krejci/Getty Images; Millennium Images/Look-foto; action press Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. 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J A H RG A N G C 7451 C www.zeit.de/audio WORTE DER WOCHE »Ich muss die Figuren inhalieren, anders kann man es gar nicht sagen, ich inhaliere sie, ohne intellektuell darüber nachzudenken.« Götz George, verstorbener deutscher Schauspieler, über seine Art, Rollen zu spielen »Wo immer es um Europa geht, sollte Deutschland bis zum Schluss dabei sein.« Norbert Lammert, Bundestagspräsident, mit Blick auf das Brexit-Votum und die Fußball-EM »Er würde garantiert keinen Toilettenplatz bekommen.« Theodore Theodoridis, Uefa-Generalsekretär, auf die Frage, wo der wegen dubioser Überweisungen gesperrte Uefa-Präsident Michel Platini beim Besuch eines EM-Spiels sitzen würde Berichtigung Bedauerlicherweise ist uns in der vergangenen Ausgabe Nr. 27/16 ein Versehen unterlaufen: Unter dem Essay Du bist super – gewöhn dich dran! von Steven Hill ist im Verlauf der Produktion der Name des Übersetzers verschwunden. Matthias Schulz hatte den Text für uns aus dem Englischen übersetzt. Leider ist uns dieser Fehler auch nicht zum ersten Mal passiert: In der Ausgabe Nr. 19/16 fehlte unter dem Beitrag Wir sterben vom syrischen Filmemacherkollektiv Abounaddara der Name der Übersetzerin Elisabeth Thielicke. Wir bitten, das Missgeschick zu entschuldigen. Es muss bei dieser Gelegenheit gesagt werden: Ohne Übersetzer, die fremde Stimmen in unseren Debatten erklingen lassen, würde unsere Öffentlichkeit provinziell. DZ TITELTHEMA: WENN DIE FALSCHEN GEWINNEN I st ein Ausstieg aus dem Ausstieg denkbar? Nur wenige Tage nach dem Votum für den Brexit dämmert es selbst einigen seiner Befürworter, dass sie über etwas entschieden haben, was es in der Geschichte noch nie gab und dessen Folgen deshalb niemand vorhersagen kann. »Take control« hatte der Brexit-Kampagnenführer Boris Johnson versprochen. Stattdessen bemerken die Briten gerade einen dramatischen Kontrollverlust. Das EU-freundliche Schottland droht, die Union im Königreich aufzukündigen, das Pfund sinkt schneller als die Titanic, und in Nordirland könnten »Troubles« neuer Art über die Zugehörigkeit der Provinz losbrechen. Wege, den Ausstieg mit allen seinen Folgen doch noch abzuwenden, gibt es durchaus. Denn juristisch gesehen ist bisher überhaupt nichts passiert; das Referendum war lediglich eine Befragung, sein Ergebnis bindet die Regierung nicht. Ausgelöst würde der Brexit erst durch einen Antrag nach Artikel 50 des EU-Vertrages, der Scheidungsklausel. Doch welchen Weg die britische Regierung jetzt auch wählt, sie hat nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder die Glaubwürdigkeit der Demokratie nimmt Schaden oder das Land. Es sei denn, die Wählerschaft bekommt eine Gelegenheit zur tätigen Reue. Welches sind die Möglichkeiten? 1. Ein zweites Referendum Es ist eine ungute Tradition in der EU, Volksabstimmungen zu wiederholen, wenn sie nicht das gewünschte Ergebnis liefern. So war es 1992, als die Dänen den Maastricht-Vertrag ablehnten, und so war es 2005 und 2008, als sich Franzosen, Niederländer und Iren gegen die nächste Integrationsstufe stemmten. Ein paar Zugeständnisse später stimmten alle vier Nationen dann doch noch zu. Nur haben die Briten nicht über neuerliche Integrationsschritte abgestimmt, sondern über »Alles oder nichts«. Dennoch wäre theoretisch ein zweites Referendum auch in Großbritannien möglich. Es gibt mangels geschriebener Verfassung keine Regel, die der Anberaumung einer erneuten Volksbefragung entgegenstehen würde. (Erzwungen werden kann Letztere vom Volk aber auch nicht.) Da David Cameron jedoch versprochen hat, sich an das Ergebnis zu halten, und ein Bruch dieser Zusage das ohnehin angeschlagene Grundvertrauen der britischen Bevölkerung in demokratische Prozesse schwer erschüttern würde, ist diese Option unwahrscheinlich. Raus aus dem Raus Wie die Briten ihren Austritt doch noch abwenden könnten VON JOCHEN BITTNER Für demokratischen Widerspruchsgeist berüchtigt: Bewohner der Britischen Inseln 2. Die Regierung ignoriert das Referendum Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung – unter Berufung auf diese Weisheit des großen Ökonomen John Maynard Keynes könnte die britische Regierung nach dem Blick in den Abgrund einen Brexit schlicht für unverantwortlich erklären. Großbritannien, ließe sich argumentieren, ist zwar das Land des Fair Play, aber es ist auch eine repräsentative Demokratie, die irrationale Politik verhüten soll. Bloß, würde ausgerechnet Boris Johnson, der monatelang für ein Nein gekämpft hat, sich als neuer Premier für einen Verbleib einsetzen? Vielleicht. Im Februar, als Johnson ankündigte, für ein Brexit-Votum zu kämpfen, begründete er dies mit dem scheinbaren Paradox, dass die EU »einer Bevölkerung nur dann wirklich zuhört, wenn diese Nein sagt«. Hat sich der Cameron-Rivale in Wahrheit also nur ein taktisches Nein gewünscht, eines, das ihn zum nächsten Premier macht und zum Rächer der Entnervten gegenüber einem bis zur maximalen Kompromissbereitschaft eingeschüchterten Brüssel-Europa? Ja, genau das könnte sein. 3. Neuwahlen gegen den Brexit Aber was, wenn Boris Johnson gar nicht Premier wird? Es ist keineswegs ausgemacht, dass der Feuerkopf sich innerhalb der Tory-Partei gegen gemäßigte Kandidaten durchsetzen wird, etwa gegen die derzeitige Innenministerin Theresa May. Für David Cameron könnte es daher klug sein, auf den letzten Metern seiner Amtszeit, unterstützt von einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments, Neuwahlen auszurufen. Den Wahlkampf würden die Parteien dann allein der Entscheidung widmen, die EU zu verlassen oder – unter welchen Bedingungen auch immer – in ihr zu verbleiben. Gewönne das Remain-Lager, ließe sich dies als parlamentarisches Mandat lesen, das Volksvotum für den Brexit im Unterhaus zu überstimmen. Diese Lösung wäre die eleganteste, weil sie das Gesicht aller Beteiligten wahren würde – und das der britischen Demokratie. 4. Die schottische Abschreckung Um nicht aus der EU herausgerissen zu werden, droht Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon mit einem zweiten Referendum über den Ausstieg aus dem Vereinigten Königreich. In Nordirland, wo ebenfalls eine Mehrheit für den Verbleib in der EU ist, könnte sich eine ähnliche Dynamik entwickeln. 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Jeder neue Premierminister müsste sich also entscheiden: Ist er oder sie bereit, die Einheit Großbritanniens zu opfern, weil sich am Ende nur England und Wales aus der EU führen ließen? Darüber, außerdem, haben die Briten am vergangenen Donnerstag gar nicht abgestimmt – auf dem Wahlzettel stand die Frage, ob das Vereinigte (!) Königreich die EU verlassen soll. Angesichts dieser neuen Lage wären vier neue, getrennte Referenden in Nordirland, Schottland, Wales und England denkbar. Die britische Bevölkerung hätte dann selber die Chance, zu entscheiden, ob sie den Preis der Zersplitterung ihrer Nation zahlen will. 5. Artikel 50 als Reformhebel Die Regierung könnte aber auch die übrigen Europäer fragen, wie viel ihnen die Mitgliedschaft der Briten im Club wert ist: Entweder die EU schneidet ihre Kompetenzen zurück und gewährt den Nationalstaaten wieder mehr Souveränität – oder die Insel verabschiedet sich. Ganz abgesehen von der Frage, wie richtig eine solche Reform wäre, aus Sicht der Kontinentaleuropäer ist es der falscheste Zeitpunkt ever. In Frankreich, Ungarn und anderswo warten ausgemachte EU-Feinde wie Marine Le Pen oder Viktor Orbán nur darauf, dass die Brüsseler Verträge aufgeschnürt werden; sie würden dann alles daransetzen, dass die Fäden nie mehr zusammenfänden. Zu viel Wut hat sich im System angestaut, um es geregelt zu erneuern. Es würde vielmehr zerbersten. Zudem soll verhindert werden, dass das britische Beispiel anderen Nationen einen Anreiz liefert, eine Mitgliedschaft à la carte herauszuhandeln. Letzte Möglichkeit: Brexit ohne Katastrophe Und wenn nichts davon geschieht, sondern die britische Regierung wie versprochen den Austrittsantrag nach Brüssel schickt? Dann haben UK und EU zwei Jahre Zeit, um über 43 Jahre hinweg gewachsene Rechtsbeziehungen abzuwickeln. Allzu kompliziert müsste das nicht werden, glaubt der deutsch-britische Juraprofessor Stefan Talmon. Großbritannien könnte die EUGesetze als nationales Recht übernehmen und sie anschließend beliebig ändern. Auch die EUHandelsverträge, etwa mit Kanada, könnte London schlicht mitnehmen. Es wäre dann nur Sache der anderen Länder, ob sie diese Abkommen mit Großbritannien weiterführen wollen. Ein Brexit, der nicht als Katastrophe endet, sondern mit dem Modell eines neuen »Plug-inEuropas« – auch das wäre denkbar. Foto (Ausschnitt): Interfoto (Szene aus »Bean«; m. Rowan Atkinson, 1997) 2 POLITIK D I E Z E I T No 2 8 POLITIK 3 WENN DIE FALSCHEN GEWINNEN Foto: Mads Nissen/Berlingske/laif 30. J U N I 2 0 1 6 Eine junge Frau in einem Flüchtlingslager in der Demokratischen Republik Kongo Was hat diese Frau mit dem Brexit zu tun? D ass es die EU überhaupt noch gibt, ist ein reines Wunder. Würde ein Mensch oder ein Staat auch nur annähernd so falsch und so schlecht über sich selbst reden, wie es die EU mit wachsender Wirrnis tut, er wäre schon vereinsamt oder zerbrochen. Zugegeben, auch andere große Mächte erzählen eine Geschichte von sich selbst, die nur lose mit der Realität verbunden ist. Allen voran die USA. Aber die reden sich – jedenfalls wenn es ums Grundsätzliche geht – groß, schön, stark und erhaben. Nicht so die EU, sie liefert zurzeit sicher die am schlechtesten erzählte Geschichte der Welt. Beispielsweise die Sache mit dem Brexit. Da hat eine knappe Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU gestimmt, und schon verfällt Europa in tiefe Selbstzweifel, fragt sich, was es alles falsch gemacht haben könnte, spricht nicht allein über die Probleme der EU, sondern über die EU als Problem. Wer die EU-Politiker in diesen Tagen reden hört, der fragt sich, ob sie ihr Handwerk auf Lummerland gelernt haben oder auf Saltkrokan. Wieder wird angesichts einer offenkundig eher mäßigen Beliebtheit der EU geklagt, dass die Politiker in den Hauptstädten immer alle Schuld auf Brüssel schieben. Ja Gott. Wenn in Berlin etwas schiefläuft, dann schiebt es die CSU auf die CDU, die SPD auf beide und alle zusammen auf den Bundesrat. Oder eben auf Brüssel. Dieses blame game aber ist weder ein Webfehler der europäischen Verfassung noch eine spezifisch gegen die arme EU gerichtete Gemeinheit, es handelt sich schlicht um das offene Geheimnis der repräsentativen Demokratie, die nicht nur, wie es das Schulbuch sagt, den Willen des Volkes wirksam machen, sondern noch viel mehr die Wut des Volkes unwirksam machen soll: Aggressionsabfuhr nach oben statt gegeneinander oder gegen Minderheiten. Die EU sollte froh sein, Teil dieses zivilisatorischen Prozesses zu sein, statt jetzt wieder rumzuhühnern. Ohnehin ist noch nicht mal sicher, ob die Briten bei ihrer Abstimmung über die EU wirklich über die EU abgestimmt haben oder doch über etwas ganz anderes. Denn in Österreich beispielsweise würde man jederzeit eine Mehrheit für die EU bekommen, doch ob bei einer möglichen Wiederholung der Präsidentenwahlen der FPÖ-Mann Hofer, das alpenländische Pendant des Pub-Politikers Farage, noch einmal knapp unterliegen würde, muss bezweifelt werden. Dass man durchaus für die EU sein kann und zugleich für eine nationalistische Regression, für den Rückzug in die kleinste denkbare Einheit, zeigen in diesen Tagen nicht zuletzt die Schotten. Auch in den USA tritt ja ein Mann als Präsidentschaftskandidat an, der sich mit Boris Johnson, Marine Le Pen, Alexander Gauland und Norbert Hofer politisch und kulturell ganz ausgezeichnet versteht. Und Trump will vielleicht aus der Wirklichkeit austreten, aber bestimmt nicht aus der EU. Offensichtlich ist etwas Größeres im Gange, etwas, wovon der Brexit nur ein Ausdruck ist, etwas, unter dem die EU zwar leidet, das sie aber nicht verursacht. Das jedoch kann sich in Europa, insbesondere in Brüssel, kaum jemand vorstellen: Dass nicht die EU die Ursache sein könnte für die Probleme der EU. Und doch, es gibt sie noch, die Außenwelt, die Wirklichkeit, und in der geht etwas vor, das die sogenannte Krise der EU erklärt: Die Mauer zwischen Erster und Dritter Welt ist dabei zu fallen. Die Globalisierung ist an ihrem dialektischen Punkt angekommen, sie geht nicht mehr nur in eine Richtung, von Norden nach Süden, sie kommt jetzt auch zurück: in Gestalt von wirtschaftlicher Konkurrenz wie auch in der von Flüchtlingen und von Terrorismus. Zugleich hat dieselbe Globalisierung die realen und erst recht die gefühlten Unterschiede zwischen Arm und Reich in den westlichen Ländern zuweilen bis ins Obszöne hinein vergrößert. Zwei Gerechtigkeitsfragen kommen jetzt zusammen, nein, sie prallen brutal aufeinander. Auf diese vervielfachte Wucht der Globalisierung haben sich in den vergangenen Jahren zwei große Antworten herausgebildet: Die eine versucht, mit dieser neuen Welt bei allem Schreck konstruktiv und inklusiv, Grenzen überwindend fertig zu werden. Die andere behauptet, die Mauer zur Dritten Welt, zu Südamerika, zum Nahen und Mittleren Osten und zu Afrika könne wieder aufgerichtet werden, der Terror ließe sich bändigen, indem man die Muslime raushält und rausschmeißt, und mit den Chinesen könne man ganz andere Saiten aufziehen, alles eine Frage des politischen Willens. Immer legt die EU falsche Maßstäbe an sich an. Das hat fatale Folgen Liberale Internationalisten gegen autoritäre Nationalisten, so ließe sich die aktuelle globale Alternative umreißen. Die Macht dieser neuen politischen Polarisierung ist so groß, dass sie in den meisten westlichen Staaten gerade in hohem Tempo das bisherige Parteiensystem zerschmettert. Die konservativen Parteien spalten sich, die sozialdemokratischen zerbröseln, die Ränder bedrängen die Mitte. Eine globale Revolution findet also statt, die Überwindung der letzten großen Grenze, der letzten Mega-Ungerechtigkeit – oder aber eine globale Konterrevolution, der Versuch also, dies mit immensen aggressiven Energien zu verhindern. In allen wichtigen demokratischen Entscheidungen geht es derzeit im Kern um diese Richtungsfrage. Mal wird dafür eine österreichische Nichts. Und alles. Denn in Wahrheit haben die Briten über etwas Wichtigeres als den Austritt aus der EU abgestimmt VON BERND ULRICH Präsidentschaftswahl hergenommen, mal ein Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU, demnächst das Referendum über die italienische Verfassung, bald dann schon die Präsidentschaftswahlen in den USA, gefolgt von der in Frankreich, schließlich, in gut einem Jahr, die Bundestagswahl. Es hat also wenig Sinn, jetzt über eine institutionelle Reform der EU nachzudenken, denn ihre Verfasstheit ist nicht das Problem. Wer in diesen Tagen mit Amerikanern über deren Verfassungswirklichkeit und den Zustand der dortigen demokratischen Institutionen redet, der bekommt mindestens so viel von Systemkrise zu hören wie hier. Das perfekte demokratische System gibt es eben nicht. Dass die Demokratien zurzeit überall so unter Druck kommen, hat jedoch weniger mit ihren unvermeidlichen und seit je bestehenden Defiziten zu tun als mit der Ungeheuerlichkeit dieses letzten globalen Mauerfalls. Für Europa stellt sich diese Herausforderung, kurz gefasst, so dar: Die Flüchtlinge kommen, der Terror geht nicht, die Amerikaner ziehen sich zurück, und die Russen attackieren. Gemessen daran war der Kalte Krieg nicht mehr als eine forcierte Schachpartie. Dennoch misst sich die EU in ihren Debatten und Statements nicht an der Größe der Probleme, denn dann hätte sie mehr Verständnis für sich selbst; sie vergleicht sich auch nicht mit der anderen westlichen Supermacht, den USA, die bei ähnlich hohem Problemdruck derzeit einiges mehr an Verrücktheit produzieren. Nein, die EU denkt an bessere, leichtere und vermeintlich heroischere Tage nebst angeblich größeren Europäern, sowie stets an ihr Ideal vom voll integrierten Staatenbund, das viele umso inniger herbeisehnen, je weiter es sich von ihnen entfernt. Weil die EU immer falsche Maßstäbe an sich anlegt, produziert sie unentwegt eine Atmosphäre der Vergeblichkeit, selbst da, wo sie sich zu verteidigen sucht. Diese dunkle Stimmung wird noch genährt durch eine routinierte Apokalyptik, die seit Jahrzehnten von Brüssel ausgeht: Vertiefung oder Untergang, Verfassung oder Zerfall. Dieses Denken war schon immer ein Problem und hat gewiss mehr zum Legitimationsverlust der EU beigetragen als alle vermeintlichen oder realen Demokratiedefizite zusammen. Aber erst heute entfaltet die Ideologie der Depression ihr ganzes zerstörerisches Potenzial. Einmal, weil die Wirklichkeit selbst eine apokalyptische Gestalt angenommen hat. Das heißt nicht, dass sich die Welt auf einen Untergang zubewegt, nur haben die Probleme eine so enorme Größe angenommen, dass man ihnen ohne Weiteres zutraut, einiges hinwegfegen zu können, viel mehr als die EU jedenfalls. Zum anderen betätigen sich die Autoritären, die Abschotter und Mauerbauer selbst als politische Unternehmer des drohenden Armageddon. Gauland, Trump und Le Pen sind allesamt historische Pessimisten, besessen vom Untergang. Dass sie zurzeit so gute Laune haben, hängt keineswegs mit ihrem Weltbild zusammen, sondern mit ihren Erfolgen. Wenn die EU, wie es ihren Instinkten entspricht, mit diesen Leuten in einen Wettstreit um das dunkelste Dunkel einsteigt, dann wird sie ihn verlieren. Cameron hat es schon mal vorgemacht. An zwei Faktoren hängt die politische Lebensbilanz dieser Generation Neben den düsteren Drohungen hat die EU immer noch ein zweites Kampfmittel im Arsenal: die Sachlichkeit. Mal abgesehen davon, dass Sachlichkeit und Apokalyptik sich eher schlecht vertragen, so hat das britische Referendum doch gezeigt, wie wenig die Leave-Leute nach ihren eigenen ökonomischen und sozialen Interessen abgestimmt haben. Und zwar ganz bewusst – diese Menschen sind nicht blöd, sie setzten nur andere Prioritäten. Längst geht es weniger um Interessen als um Identitäten, es geht um das Eigene und das Fremde, mehr um symbolische Gesten als um reale Politik. (Auch das ist natürlich demokratisch erlaubt.) Ohnehin war nicht zu erwarten, dass die Liberalen gegen die Autoritären in diesem und im nächsten Jahr alle Abstimmungen gewinnen würden, in Großbritannien, in den USA, in Italien, Frankreich und Deutschland. Die Frage ist vielmehr, was künftig den Ausschlag gibt, wenn es weder Apokalyptik noch Sachlichkeit allein sein können. An zwei Faktoren hängt – wie soll man es sagen? – das Schicksal des Westens? Die politische Lebensbilanz unserer Generation? Das Schicksal unserer Kinder? Zum Ersten: Stärke. Wer sich wie die EU gewohnheitsmäßig schwachredet, hat keine Chance in diesen Zeiten der großen, mitunter übergroßen Probleme. Bisher jedoch hat Europa es aufgrund seiner oben beschriebenen depressiven Disposition versäumt, sich so starkzureden, wie es ist. Das hängt mit einer fast tragischen Phasenverschiebung zusammen. Staaten und Staatenbünde entstehen nur aus gewaltigen Krisenenergien. Für die EU war dies der Zweite Weltkrieg, ein Impuls, der sie bis in die achtziger Jahre vorangetrieben hat. Dann bekam die Union noch einen zweiten Schub durch den Fall der Mauer und den Beitritt der Osteuropäer. Danach begann aber schon die byzantinische Phase, der Ursprungsimpuls ließ nach, die Völker machten nicht mehr recht mit, und Brüssel hob ab. Und tut das noch immer. Zugleich kamen neue Krisen vor die Hohe Pforte von Brüssel, gottlob nicht so massiv wie einst, aber doch von einiger Geschichtsmacht: Finanzkrise, Euro-Krise, Ukrainekonflikt, Flüchtlinge. Unter dem Druck der Krisen wird das Projekt EU von der anrollenden Geschichte neuerlich vorangetrieben und weitergegründet, aber nicht so, wie es sich die ever closer Union-Anhänger ausgedacht hatten (die infolgedessen auch nicht erfrischt sind, vielmehr beleidigt und verzweifelt), sondern von der Wirklichkeit zusammengehauen, krumm, bucklig und rauchend. Diese staatsschöpferische Kraft der Krisen nicht zu sehen, ja, sie zu Zeichen eines dysfunktionalen Europa umzudeuten gehört zu den größten Fehlleistungen, seit Kolumbus Amerika entdeckte und es für Indien hielt. Zum Zweiten: Wirklichkeitssinn. Der Fall der Mauer zwischen Erster und Dritter Welt ist objektiv eine Revolution, die dringend nach ihrem revolutionären Subjekt sucht. Die Autoritären haben sich dieser Rolle mit ihrer demolition-Politik und ihrer Vision von Mauern, Internierungslagern und Säuberungen schon sehr viel mehr genähert als die Liberalen, die außer Sachlichkeit vor allem Stabilität versprechen – an die indes kaum noch jemand glaubt. Wolfgang Schäuble hat sich zuletzt in dieser Zeitung daran versucht, die Umrisse einer maßvollen Revolution zu skizzieren, bisher blieb er damit allerdings ziemlich allein. Die Autoritären hingegen geben eine visionäre Antwort auf die neue historische Lage, wenn auch in der Darth-Vader-Variante; sie wissen, dass bewahren heute zurückdrehen bedeutet und ein Zurückdrehen ohne gewaltige und gewalttätige Veränderungen nicht auskommen kann. Man muss das nun wirklich nicht mögen, aber die Autoritären haben ein zur Größe der Herausforderung proportionales, ein geschichtssymmetrisches Projekt. Was aber gibt das liberale Lager den Menschen, die sich davor fürchten, dass ihr Empathie-Muskel überstrapaziert werden könnte, dass aus vielen Flüchtlingen unendlich viele werden, dass die neue Zuständigkeit der Europäer für Afrika nicht zu bewältigen ist? Diese Menschen, gerade die Mutigen und Zuversichtlichen, die geborenen Europäer und weltbewegten Zeitgenossen lässt die Politik zurzeit regelrecht verhungern. Wo wird etwa ein neues Konzept für Afrika diskutiert? Wo ein New Deal für den Mittleren Osten? Wo eine neue, proafrikanische Agrar- und Energiepolitik? Wo wird von den Liberalen überhaupt nur ausgesprochen, was auf der Agenda steht? Ist es nicht sogar so, dass sich die liberalen Kräfte von den Autoritären immerzu erwischen lassen beim notdürftigen, stummen Managen der Revolution, die sie dann wieder leugnen? Die Wirklichkeit annehmen, die Revolution gestalten, die eigene Stärke begreifen, die Depression abschütteln – das wäre ein Europa, das den Brexit verkraftet. Und die Briten irgendwann zurückholt. 4 POLITIK 30. J U N I 2016 WENN DIE FALSCHEN GEWINNEN D I E Z E I T No 2 8 London er Himmel über London ist wie meistens bewölkt, die gläsernen Türme der City stehen noch, die roten Busse kriechen die Straßen mit derselben Langsamkeit entlang wie früher. Früher, das ist diese Ära, die am vorigen Donnerstag endete. Alles wirkt gleich, doch alles ist anders. Es ist, als habe sich das Bild im Kopf umgedreht, und dort, wo der Himmel war, verläuft nun die Straße. Die Ordnung ist aufgehoben. Ich erkenne das Land, in dem ich vier Jahre gelebt habe, nicht wieder. Es fühlt sich an wie nach einer Trennung. Hier in Großbritannien; drüben auf dem Kontinent; noch weiter drüben in den USA; in den Sphären des Internets und der Finanzmärkte spaltet sich die Welt nun in zwei Hälften: Es gibt die, die mit dem Brexit den Sieg ihres Lebens errungen haben. Und die, denen etwas aus ihrem Herzen gerissen wurde. Was wollen die Gewinner mit ihrem Sieg erreichen? Wie gehen die Verlierer mit ihrer Niederlage um? Und wie sollen alle jetzt verdammt noch mal weitermachen? D Ein Pub in Westminster Was die Zahlen sagen Durchschnittseinkommen in den Leave-Gegenden: 18 000 Pfund (21 630 Euro, Kurs vom 28. 6.). St. Cathed Paul’s ra n o c h – l s te h t doch d Ordnun ie g in Lo n d o den Ko n ist auf pf gest ellt Upside down Symbolfoto [M]: Daniel Sambraus/SPL/Agentur Focus Ich war so sicher, dass Remain gewinnen würde, dass ich im Wettbüro 100 Pfund darauf gesetzt hatte. Auch wenn alle Umfragen ein knappes Ergebnis vorhergesagt hatten, ging ich davon aus, dass sich die pragmatischen Briten für die Vernunft und gegen die Wut entscheiden würden. Doch am Morgen nach dem Referendum sehe ich auf meinem Handy als Erstes einen Newsletter mit dem Betreff »Independence Day«. Beim Frühstück höre ich David Camerons Stimme brechen, als er seinen Rücktritt erklärt. Am Vormittag kündigt die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon an, die Bedingungen für ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum zu überprüfen. Boom, boom, boom. Die Folgen des Referendums krachen wie Felsbrocken auf den Boden der Realität. Fünf Stunden nach der Verkündung des Brexits liegt die politische Landschaft Großbritanniens in Trümmern. So ist das also, wenn Wahlen Wandel auslösen. So sehen also Wähler aus, die das zum ersten Mal begreifen. »Ich habe nicht geglaubt, dass meine Stimme etwas bewirkt!«, sagen nun einige Briten mit bedröppelten Gesichtern in die Kameras. Ein Gefühl von Müdigkeit und Schwindel begleitet mich auf dem Weg in die Stadt. Ich schiebe mich vorbei an unbeschwerten Touristen, die die Themse fotografieren, und britischen Anzugträgern, die zu ihren Terminen eilen. Ich muss an Google denken, das acht Stunden nach Schließung der Wahllokale die beliebtesten Suchanfragen aus Großbritannien veröffentlicht hat. Platz 1: Was heißt es, die EU zu verlassen? Platz 2: Was ist die EU? Platz 3: Welche Länder sind in der EU? Ich passiere den Palast von Westminster. Mahnmal einer intelligenteren Zeit. Auf dem Bürgersteig laufe ich in einen Mann mit einem roten Schild hinein, das mit lauter Unterschriften bekritzelt ist, wie ein Fußballtrikot. »Vote Leave – take back control«. Das Leitmotiv der Brexisten, im Wahlkampf so oft wiederholt, dass es an neurolinguistische Programmierung erinnerte. Es scheint gewirkt zu haben: Boris Johnson, Führungsfigur des Leave-Lagers, wird wahrscheinlich der Nachfolger von David Cameron. Eine Kampagne, die auf Lügen und Stimmungsmache basierte, soll aus den Trümmern dieses Landes ein neues Empire errichten. Kein Experte hatte an diesen Ausgang geglaubt. Alle hatten prognostiziert, dass die Menschen nicht gegen ihre wirtschaftlichen Interessen stimmen würden. Was wir über die Regeln der Politik zu wissen meinten, war ein Irrtum. It’s not the economy, stupid! It’s immigration! Der Mann, der das »Vote Leave«-Schild trägt, heißt Sean Howlett und war bis gestern Kampagnenmanager. Schmales Kinn, helles Haar, blauer Anzug. Er sei seit 36 Stunden wach, sagt er und wirkt wie besoffen vor Glück. Zwei Frauen in schwarzen Etuikleidern tanzen um ihn herum. Ein Polizist, der hinter dem Gitter von Westminster die Abgeordneten bewacht, grinst ihm zu. Fußgänger klopfen ihm auf die Schulter. Howlett führt eine kleine Gruppe zu einem Pub gegenüber der Downing Street. »Happy Independence Day!«, rufen die Brexisten und stoßen an. Die Regierungskrise, die mir Angst macht, gibt ihnen Hoffnung. »Raus mit den Alten und rein mit den Neuen!«, jubeln sie. Die Frauen sind stolz, denn sie kommen aus Basildon, in der Brexit-Welt so etwas wie ein Leuchtturm. Der Londoner Vorort ist die symbolische Heimat des kleinen Mannes – jenes Wählertyps, der entgegen allen Warnungen für den Austritt gestimmt hat. 70 Prozent für Leave! Glauben Sie, dass der Brexit Ihr Leben verändern wird? Die Frauen zucken die Schultern: »Wahrscheinlich gehen die Preise für Lebensmittel und Benzin hoch, aber sonst? Wahrscheinlich nicht viel.« Howlett ruft herüber: »Im Herbst haben wir endlich eine richtige Regierung, und im Winter ist wieder alles klar!« Zum Abschied umarmen sie mich und raten mir, nicht so pessimistisch zu sein. Am nächsten Morgen beginnen die Brexit-Spitzenleute, die ersten Wahlkampfversprechen zurückzunehmen: Die 350 Millionen Pfund an angeblichen EU-Geldern sollen nun doch nicht an den Krankendienst NHS fließen. Begrenzung der Zuwanderung: war auch nicht so gemeint. Was wird aus den Menschen, die aus Wut über die Elite für Leave gestimmt haben und nun schon wieder enttäuscht werden? London in den Tagen nach dem Brexit: Für viele Bewohner ist eine Welt zerbrochen – auch für unsere Autorin KHUÊ PHAM Er zuckt die Schultern. Der Aktienkurs seines Arbeitgebers ist gestern zwischenzeitlich um 30 Prozent gefallen. Das Geschäft lebt vom Zugang zur Euro-Zone. Nun ist das Pfund gegenüber dem Dollar abgestürzt, die Rating-Agenturen haben das Land herabgestuft, große Investitionen geraten in die Schwebe. Da unklar ist, wer der neue Premierminister wird, ist auch unklar, welche Beziehung Großbritannien in Zukunft zur EU haben wird. Wird die neue Regierung versuchen, den Zugang zum EU-Markt zu erhalten, und dafür euroWir waren verblendet päische Einwanderung akzeptieren wie NorweEs regnet, als mein griechischer Freund Dimitris gen? Oder würde sie darauf verzichten und in am nächsten Abend das Le Mercury betritt und Kauf nehmen, dass die Finanzindustrie nach Dublin oder Frankfurt abwandert? Rob, ein Holsagt: »Das ist das Ende der Welt!« länder, hat sich schon darauf Um nicht allein zu bleiben eingestellt, dass er vielleicht mit meinen Fragen, habe ich War dieses Land so weltumziehen muss. »Ich kann mich mit ein paar Freunden meinen Job überall machen«, in einem französischen Resoffen, wie wir dachten? sagt er. taurant verabredet. Wir fallen Oder haben wir in einer Das Referendum hat die uns in die Arme wie ÜberleMachtverhältnisse umgedreht. bende eines Schiffsunglücks, Londoner Blase gelebt? Die Verlierer der Globalisiedann setzen wir uns an einen rung sind jetzt die Gewinner Tisch mit weißer Decke und Kerze. Eine Selbsthilfegruppe mit sechs Leuten aus und andersherum. Wir, die dachten, dass die Gevier Ländern. Sehr London. Wird das so bleiben? sellschaft im Großen und Ganzen unsere Werte Was wir als Wahlheimat betrachtet haben, hat uns teilt, stellen nun fest, dass wir die Gesellschaft nie kannten. Warum sollte ein Arbeiter in Nordgerade abgewählt. england, der anders lebt, anders arbeitet und anRotwein, bitte! Jeder hat mehrere Meinungen dazu, warum ders denkt, von europäischer Freizügigkeit und Remain verloren hat. »Es war ein Spiel«, sagt Raf- internationaler Solidarität genauso überzeugt sein faella, eine Italienerin. »Cameron, Boris und die wie wir? Warum sollte er dafür sein, dass die Dinge Wähler haben das Referendum nicht ernst genom- so bleiben, wie sie sind? »Sie wollten uns bestrafen«, sagt Dimitris. »Ich men. Jetzt müssen wir alle leiden!« Sie ist vor 14 Jahren aus Italien hergezogen, weil sie die Engstir- war wie ein Schlafwandler und habe es nicht benigkeit der Berlusconi-Ära nicht ertragen konnte. merkt, aber nun weiß ich es.« Nun fühlt sie sich davon eingeholt. War dieses Land so weltoffen, wie wir dachten? Was die Politik macht Oder haben wir in einer Londoner Blase gelebt? In London trifft man immer jemanden, der Die konservative Partei sucht nach einem Nacheinen Akzent, schwule Freunde und eine pro- folger für Cameron und muss diese Woche zwei gressive Einstellung hat. Der Kultur-Clash be- Parlamentarier nominieren, die im Sommer an der ginnt, sobald man die Stadt verlässt. So wie Basis Wahlkampf machen. 81 Prozent der Labour-Abgeordneten haben Großbritannien früher in Bourgeoisie und Proletariat zerfiel, so zerfällt es heute in Welthaupt- Parteichef Jeremy Corbyn ihr Misstrauen ausgestadt und Brexit-Land. In Gewinner und Ver- sprochen, zwei Drittel seines Schattenkabinetts lierer der Globalisierung. Rob, wie ist die Stim- sind zurückgetreten. Bis zum Redaktionsschluss am Dienstagabend beharrte er darauf, zu bleiben. mung bei deiner Bank? Durchschnittseinkommen in den Remain-Gegenden: 32 000 Pfund (38 468 Euro). 60 Prozent der über 60-Jährigen stimmten für Leave. 73 Prozent der 18- bis 24-Jährigen stimmten für Remain. Die Wahlbeteiligung der Alten war höher als die der Jungen. 74 Prozent der Leave-Unterstützer finden Feminismus schlecht. 71 Prozent der Remain-Unterstützer finden Multikulturalismus gut. Eine Petition für ein zweites Referendum erhält rund 3,5 Millionen Stimmen. Eine weitere für die Unabhängigkeit von London hat bislang rund 175 500 Unterzeichner. In den Tagen, in denen die Panik des Börsencrashs auf die Wucht der politischen Krise trifft, gibt es in Großbritannien keine Führung, keinen Plan. In den nächsten Wochen werden beide Parteien mit Machtkämpfen beschäftigt sein. Im nächsten halben Jahr sind Neuwahlen wahrscheinlich. 2017 wird ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für Schottland erwartet. Aufstand in der British Academy Am Montag nach dem Referendum versammelt sich eine Gruppe geschlagener Remain-Anhänger in der British Academy, um den Kampf fortzusetzen. Die nationale Akademie für Geisteswissenschaften bewohnt eines der prachtvollen weißen Gebäude im Herzen Londons. An der Wand hängen Ölgemälde von Nelson und Edward II, die Decken sind mit goldenem Stuck verziert. Die anwesenden Männer tragen dunkle Anzüge zu dunklen Mienen. Die Stimmung erinnert an eine Trauerfeier. Ein schmaler Mann mit weißem Hemd und schwarzer Hose erhebt sich: der Journalist Hugo Dixon, der im Wahlkampf auf der Seite InFacts. org die Lügen der Leave-Kampagne aufgespießt hat. Er hat hochrangige Remain-Vertreter eingeladen – den ehemaligen Chef der Liberaldemokraten, Abgeordnete, Juristen, Autoren. Die Frage ist: Was nun? »Wenn wir jetzt nach der Annullierung des Ergebnisses rufen oder nach einem zweiten Referendum, sehen wir aus wie schlechte Verlierer.« Dixon spricht beschwörend. »Das Referendum war eine legitime Wahl, aber die Menschen wussten nicht, wofür sie abgestimmt haben. Die Leave-Kampagne hat sie mit Absicht im Dunkeln gehalten.« Er fordert die Runde auf, Ideen zu sammeln, wie man weiter vorgehen könne. Ein Schriftsteller will auf einer Webseite Geschichten von Leave-Wählern sammeln, die ihre Entscheidung für den Brexit bereuen. Ein Anwalt will die neue Regierung verklagen, falls sie ohne Zustimmung des Parlaments Artikel 50 des EUVertrages in Gang setzt, also die Trennung von der Union. Eine Journalistin schlägt vor, eine neue liberale Partei zu gründen. Zwei Freunde haben eine Dating-App entworfen, um Pro-Europäer zusammenzubringen. Ein politischer Berater will mit den Brexit-Leuten zusammenarbeiten, um ein norwegisches Modell auszuhandeln. Zugang zum Binnenmarkt plus Freizügigkeit plus Budgetzahlungen. Eine EU-Mitgliedschaft light. Auch Boris Johnson tendiert in diese Richtung. Eigentlich widerspricht das allem, was die Leave-Kampagne in den letzten Wochen versprochen hat. Aber: »Sie sind in der Scheiße. Wir sind in der Scheiße. Wir sind alle in der Scheiße!«, ruft der Berater. Das Paradoxe ist, dass vielen Remain-Anhängern (und einigen Brexisten) jetzt klar wird, wie viel ihnen Europa bedeutet. Der Schock, die Trauer und die Wut haben eine Leidenschaft freigesetzt, die sie alle überrascht. Aus einer unerwarteten Niederlage gehen sie als unerwartete Rebellen hervor. Es geht hier nicht nur um die Mitgliedschaft in der EU – es geht auch um die liberale Tradition Großbritanniens. In den vergangenen Tagen häufen sich Berichte über fremdenfeindliche Angriffe. Auch die Menschen in diesem Raum erkennen ihr Land nicht wieder. Vielleicht, sagt Hugo Dixon, könnte das politische Chaos auch eine Chance bedeuten. Sein Szenario sieht so aus: Boris Johnson wird Premierminister und entscheidet sich für das norwegische Modell. Er stellt es dem Parlament zur Abstimmung, woraufhin konvertierte Brexisten ein neues Referendum auslösen. Die neue Frage lautet: Norwegen oder EU? Die Remain-Kampagne wirbt daraufhin mit aller Kraft für die einfachere von zwei ähnlichen Lösungen. Die Bevölkerung, von den Folgen des ersten Referendums traumatisiert, stimmt für die EU. Je schlimmer sich die politische und wirtschaftliche Krise entwickelt, desto besser stehen die Chancen. Dixon schaut auf und sieht in skeptische Gesichter. Auch ich weiß nicht, ob ich diesen Vorschlag für Wunschdenken oder Realpolitik à la Brexit-Britain halten soll. Vor drei Monaten hätte ich gesagt: Das ist völlig absurd. Nun weiß ich: Die Regeln der Politik sind außer Kraft gesetzt. Vielleicht ist tatsächlich alles möglich. www.zeit.de/audio 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 POLITIK 5 WENN DIE FALSCHEN GEWINNEN Drama Queen Die Krisen werden immer größer, die Kanzlerin wird immer cooler. Aber kann eine einzige Frau einen ganzen Kontinent beruhigen? A Angela Merkel im Kanzleramt am 24. Juni 2016, dem Tag nach der Brexit-Abstimmung Foto: Carsten Koall/Getty Images (Berlin, 24.06.16) m vergangenen Freitagmorgen um Viertel nach neun passiert Angela Merkel, was sie am meisten hasst: Sie wird überrascht. In ihrem Büro im Kanzleramt sieht sie den Fernsehauftritt des britischen Premierministers David Cameron. Der Verlierer des Brexit-Referendums hat an diesem Morgen nicht mit Merkel telefoniert, und was er sagt, kommt ohne Ankündigung: Cameron tritt zurück – aber will noch bleiben. Mit der Möglichkeit eines Brexits hatte Merkel gerechnet, damit jedoch nicht. Chaostage in London. Und in Berlin. Schon um 7.20 Uhr am Morgen hat SPD-Chef Sigmar Gabriel Parteipräsidium und Fraktionsspitze zur Schaltkonferenz zusammengerufen. Die sozialdemokratische Kampflinie lautet: demonstrative Härte gegen die Briten und gezielte Kritik an Merkel. Die SPD-Parteizentrale verbreitet ein Papier von Gabriel und Martin Schulz, dem Präsidenten des EUParlaments: Europa neu gründen. Telefonisch fragt Gabriel bei Merkel nach, ob man nicht gemeinsam vor die Kameras treten wolle, wie in der Finanzkrise 2008, als Merkel mit Peer Steinbrück die Öffentlichkeit beruhigte. Sie lehnt ab. Auch Wolfgang Schäuble ruft an diesem Morgen bei Merkel an: Er warnt sie vor inhaltlichen Zugeständnissen an Gabriel. Die Kanzlerin scheint an jenem Freitag in der Defensive zu sein – jedenfalls tritt sie so auf. Als sie um 12.41 Uhr eine kurze Erklärung abgibt, lautet ihre Linie: Bloß keine Vorwürfe an die Briten. Abwarten. Lage beruhigen. Es ist wie immer bei ihr: Sollen sich die anderen sortieren. Erst dann will sie sich äußern. Doch was zu diesem Zeitpunkt noch defensiv wirkt, erscheint in den Tagen darauf als kluge Taktik. Auch weil es weitere Überraschungen gibt. Vor der britischen Abstimmung dachte man, im Falle des Brexits würde die EU zerfallen. Nun aber droht der Zerfall Großbritanniens. Vor der Abstimmung dachte man, nach einem Brexit würden auch die Franzosen, Niederländer oder Österreicher einen Austritt anstreben. Nun aber sind sie alle vorsichtig geworden. Vor der Abstimmung dachte man, wenn die Brexit-Befürworter siegten, würden bald überall Referenden gefordert werden. Seit Freitag aber klingt das ganz anders. Es ist sogar so, dass mit jedem weiteren Tag die Wahrscheinlichkeit wächst, dass es am Ende gar nicht zu einem Brexit kommen wird. Umso überlegter wirkt Merkels Reaktion: Die Briten sollen schon selbst den Schmerz ihrer Entscheidung spüren, sie brauchen dazu nicht noch Belehrungen aus Berlin. Als David Cameron am Dienstag dieser Woche zum gemeinsamen Abendessen in Brüssel eintrifft, fordern ihn die 27 anderen Regierungschefs auf, »so schnell wie möglich« das reguläre Austrittsverfahren einzuleiten. Doch während es etwa den Franzosen gar nicht schnell genug gehen kann, haben es andere Länder weitaus weniger eilig. Vor allem jene Staaten, die wirtschaftlich oder politisch besonders eng mit Großbritannien verbunden sind. Dazu gehören Irland, Dänemark oder Polen – und auch Deutschland. Die Spitzen der deutschen Wirtschaftsverbände sollen in den vergangenen Tagen in Gesprächen mit dem Kanzleramt und dem Wirtschaftsministerium darauf hingewiesen haben, dass eine radikale Trennung von den Briten nicht in ihrem Interesse sei. Immerhin gehen gut sieben Prozent aller deutschen Warenausfuhren nach Großbritannien. Insbesondere die ohnehin gebeutelte Automobilbranche sowie die Pharmaindustrie würden unter einem erschwerten Zugang zum britischen Markt leiden. Und allen Beteiligten ist klar: Die EU hat keine Mittel, London zum Austritt zu zwingen. Ob und wann die Verhandlungen beginnen, bestimmt allein die britische Regierung. Mindestens so wichtig wie der Umgang mit den Briten ist außerdem die Frage, welche Schlussfolgerungen die Union für sich selbst zieht. In die Schusslinie ist jetzt der EU-Kommissionspräsident JeanClaude Juncker geraten. Der Luxemburger sei »nicht der richtige Mann für den Job«, sagt der slowakische Außenminister Lubomír Zaorálek. Eine Meinung, die man zuletzt auch in Berliner Regierungskreisen hören konnte. Doch die Motive der Kritiker sind unterschiedlich. In Berlin stoßen sich konservative Finanzpolitiker an Junckers lockerer Handhabe des Stabilitätspakts. In den mittel- und osteuropäischen Ländern wird ihm vorgeworfen, die Kommission habe durch ihre liberale Linie in der Flüchtlingspolitik den EUGegnern in Großbritannien Auftrieb verschafft. »Die Kommission ist verantwortlich für den Ausgang des Referendums«, sagt ein osteuropäischer Diplomat in Brüssel. Auch der starke Mann in Warschau, Jarosław Kaczyński, fordert nach dem Referendum eine Schwächung der Kommission. Kaczyński will einen »neuen EU-Vertrag«. Die nationalen Regierungen sollten mehr Souveränität erhalten; das Europäische Parlament solle aus Vertretern der nationalen Parlamente gebildet werden, wie in den Anfangszeiten der Gemeinschaft. Die Kommission müsse sich darauf beschränken, den Binnenmarkt zu regulieren. Sein Ziel ist ein »Europa der Vaterländer«. Auffällig ist, dass die Kritiker ihre Pfeile auf Juncker richten und nicht auf Merkel. Dabei trägt die Kanzlerin für die Flüchtlingspolitik der EU mindestens so viel Verantwortung wie die Kommission, wenn nicht sogar mehr. Angela Merkel hat ihren Einfluss auf das britische Referendum immer mit »zero« veranschlagt. Dennoch steht die Kanzlerin im Zentrum einer Auseinandersetzung, die unabhängig davon stattfindet, ob die Briten wirklich gehen oder am Ende doch bleiben: Was sind die politischen Lehren aus dem Referendum? Während die Beteiligten öffentlich die Gemeinsamkeiten beschwören, ist hinter den Kulissen ein Grundsatzkonflikt über die gesellschaftliche Ausrichtung des Kontinents ausgebrochen. Es geht grob gesagt um die Frage, wo künftig die Grenze zwischen Markt und Staat verlaufen soll. Das französische Lager – unterstützt von Italien, der EU-Kommission und weiten Teilen der deut- schen Sozialdemokratie – will die Gunst der Stunde Ausscheiden der Briten für eine »weitere Vergemeinnutzen, um die Währungsunion schrittweise zu ei- schaftung« nutzen könnten. Dem müsse sich nem engen Staatenverbund auszubauen, innerhalb Deutschland entgegenstellen. Am Montag dieser Woche sitzt Wolfgang dessen viel Geld transferiert wird. Sigmar Gabriel und Martin Schulz fordern in ihrem Papier eine »wirt- Schäuble an einem kleinen Tisch auf der Bühne schaftspolitische Wende« mit mehr Investitionen und des Fürther Stadttheaters, neben sich eine goldene größeren Spielräumen für die Aufnahme neuer Büste von Ludwig Erhard, dem Vater der sozialen Schulden. Der italienische Regierungschef Matteo Marktwirtschaft. Einmal im Jahr wird hier ein Renzi will ein milliardenschweres Subventionspaket Preis an junge Wissenschaftler verliehen. In seiner für die eigenen Banken, das nach europäischem Recht Festrede sagt Schäuble, dass Europa nicht mehr bis jetzt nicht zulässig wäre. Und die EU-Kommis- weitermachen könne wie bisher. Die Mitgliedssion möchte nun rasch einen europaweiten Schutz staaten müssten wieder »Verantwortung für ihr Handeln« übernehmen. Lehren aus dem Brexit zu für die Spargelder durchsetzen. Auch der deutsche Außenminister hat ein Papier ziehen, das heißt für Schäuble etwas anderes als geschrieben, es entstand im Wesentlichen auf An- für Steinmeier: eine Rückbesinnung auf marktregung seines französischen Amtskollegen. Frank- wirtschaftliche Grundsätze – den freien Warenverkehr, die Einhaltung von ReWalter Steinmeier und Jeangeln, die Stärkung der WettMarc Ayrault sprechen sich Das ist ihre Stärke und bewerbsfähigkeit. Es gibt nedarin für einheitliche Sozialben der sozialdemokratischen standards und sogar ein geihre Schwäche zugleich: eben auch eine konservative meinsames Budget der MitSie weiß immer genau, Vision von Europa. gliedsstaaten der Euro-Zone Am Anfang dieser Woche, aus. Bereits Ende April trafen was nicht geht noch bevor der Brüsseler EUsich deutsche und französische Gipfel begann, reisten die Regierungsbeamte, um an diesem Papier zu arbeiten; erst am vergangenen Freitag wichtigsten Akteure erst einmal nach Berlin. Es kommt in diesen Tagen schon sehr darauf an, wie informierte Steinmeier die Kanzlerin. Wie sehr die Franzosen drängen, zeigt sich auch sich die Deutschen verhalten werden, zu welchen Verin der – für die internationalen Medien gedachten änderungen sie bereit sind. – englischen Übersetzung des Steinmeier-AyraultAm Montagnachmittag saß EU-Ratspräsident Papiers. Während es in der deutschen Fassung heißt, Donald Tusk im Kanzleramt, um sich bei Kaffee und einen gemeinsamen Haushalt für die Euro-Zone Erdbeertörtchen mit Angela Merkel zu beraten. Am könnte es »ab 2018« geben, steht dort auf Englisch: Abend reisten François Hollande und Matteo Renzi »It should start by 2018 at the latest«. an. Während Merkel mit den beiden zu Abend aß, Aus Sicht der Franzosen und ihrer Verbündeten arbeiteten die Vertrauten der Kanzlerin noch an den war Großbritannien eben auch ein Störfaktor, der letzten Details der für den nächsten Morgen geplanwegen seiner ausgeprägten marktwirtschaftlichen ten Regierungserklärung. Tradition eine Sozialdemokratisierung des europäAls Merkel am Dienstagmorgen im Bundestag ischen Verbunds verhinderte. Insofern ist ihnen das spricht, mag man nicht glauben, dass sie am Vorabend Ausscheiden der Briten eine historisch einmalige mit Hollande und Renzi geredet hat. Mit keiner Gelegenheit für den Umbau der Union. Formulierung erweckt sie den Anschein, inhaltlich Genau das befürchtet man im Bundesfinanzminis- auf die beiden zugehen zu wollen. Merkel analysiert terium, wo die Briten trotz aller politischer Differen- die gegensätzlichen Kräfte in der EU, bittet herzlich zen immer als Partner im Kampf gegen staatsinter- um Vorschläge, die die EU zusammenführen, statt ventionistische Bestrebungen im Süden Europas zu spalten – macht aber selbst keinen einzigen Vorgeschätzt wurden. Mit dem Brexit fällt ein wichtiger schlag. Nicht einmal eine Andeutung. Stattdessen Alliierter aus. In einem vertraulichen Positionspapier organisiert sie einen Prozess. Das ist ihre Stärke als aus dem Bundesfinanzministerium warnen Wolfgang Europapolitikerin und ihre Schwäche zugleich: Sie Schäubles Beamte, dass Italien und Frankreich das weiß immer genau, was nicht geht. Merkel sagt, dass Europa seine Versprechen nicht immer eingehalten habe. Sie spricht vom Vertrag von Lissabon und von dem dort gefassten Entschluss, Europa »zur wettbewerbsfähigsten Zone der Welt« zu machen. Es ist exakt die Linie, die sie seit Jahren verfolgt. Und es ist bezeichnend, dass Gabriel und Steinmeier genau während dieser Lissabon-Passage in Merkels Rede auf der Regierungsbank die Köpfe zusammenstecken und tuscheln. Man müsse behutsam in eine inhaltliche Diskussion darüber kommen, wo die Herausforderungen Europas liegen, heißt es im Kanzleramt. Aber der Schutz der Außengrenzen und die Ängste der Bevölkerung vor Migration, das gehöre sicherlich dazu. Das klingt, als könnte sich damit auch die widerborstige Schwesterpartei CSU anfreunden – der innerparteiliche Streit mit Horst Seehofer ist Merkels anderer großer Konflikt in diesen Tagen. Tatsächlich hat der Brexit-Schock auch auf die Christsozialen mäßigende Wirkung entfaltet. Zwar pocht die CSU weiterhin darauf, in Europa müsse auch über das Thema Sozialleistungen gesprochen werden – aber bitte einvernehmlich. Die britische Angelegenheit habe »manches wieder auf Normalmaß« schrumpfen lassen, heißt es in der CSU. Beim großen Versöhnungstreffen der Unionsparteien in Potsdam flüchtete man erleichtert in die größeren Probleme. Bis weit nach 21 Uhr sprachen die Teilnehmer am Freitag über das Thema, das offiziell gar nicht auf der Tagesordnung stand, den Brexit. Auch von einem getrennten Wahlprogramm ist – vorerst – nicht mehr die Rede. »Ich gehe davon aus, dass wir gemeinsam marschieren und die Wähler mit einem gemeinsamen Wahlprogramm von uns überzeugen«, sagt Gerda Hasselfeldt, die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe. Daneben werde es vermutlich wie üblich einen »Bayernplan« geben, um »eigene Akzente« zu setzen. Darin könnten durchaus auch Punkte untergebracht werden, über die es mit der CDU keine Einigung gebe. Klingt so, als hätte Merkel an dieser Front etwas Ruhe. Das Fundament, befand Horst Seehofer nach dem Treffen in Potsdam, sei intakt. Wie hieß noch mal der alte Werbespruch? Hoffentlich ist es Beton. Marc Brost, Peter Dausend, Daniel Erk, Tina Hildebrandt, Matthias Krupa, Mark Schieritz, Michael Thumann 6 POLITIK 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Euch sollte es doch mal besser gehen Bis vor Kurzem hatten wir nur Sorge, dass unsere Kinder zu verwöhnt sein könnten und an zu vielen Möglichkeiten verzweifeln. Das hat sich brutal geändert VON HEINRICH WEFING Illustration: Davide Bonazzi für DIE ZEIT I ch habe zwei Kinder, eine Tochter, einen Sohn, fast 16 und 13 Jahre alt. Sie sind nicht mehr klein, sie sind noch nicht groß, sie wachsen, wie man wohl sagt, behütet auf, aber sie bekommen vieles mit. Sie sehen abends die Nachrichten, sie sind im Netz unterwegs. Hören von Putin, von Trump, von Erdoğan. Und manchmal fragen sie mich, in letzter Zeit häufiger: Spinnen die eigentlich alle? Tja, gute Frage. Vater zu sein, das ist für die Männer meiner Generation ja so etwas wie ein Projekt, eigentlich das Großprojekt schlechthin. Wir wollen das gut machen, aber tasten uns immer nur versuchsweise vorwärts. Man hat so seine Gedanken, man hat so seine Sorgen. Und in den letzten Monaten beschleicht mich immer häufiger ein mulmiges Gefühl. Das Gefühl, dass sich gerade etwas ziemlich Grundlegendes verändert. Für mich, aber auch für meine Kinder. In was für einer Welt werden sie eigentlich erwachsen? Früher, als sie noch kleiner waren, vor drei, vier Jahren, da haben sie gern eine Art Spiel gespielt, so etwas wie ein Familienquiz. Sie haben mich gefragt, was es denn noch nicht gegeben habe, als ihre Großeltern Kinder waren. Was war damals anders? Da gab es noch kein Telefon in jedem Haus, habe ich gesagt, denn eure Großeltern sind ja schon ziemlich alt. Es gab noch keine Fernseher, nur Radios. Keine Geschirrspüler, keine Toaster, keine Pizza vom Lieferdienst. Überhaupt keine Pizza. Das schien ihnen eine fremde, merkwürdige Welt, faszinierend, aber unglaublich weit weg. Dabei ist es erst sechzig, siebzig Jahre her. Manchmal haben sie auch mich gefragt, was es noch nicht gegeben habe, als ich so alt war wie sie heute. Da gab es noch keine iPhones, habe ich dann gesagt, kein Google, kein WhatsApp oder Skype. Nur drei Fernsehprogramme. Und Sendeschluss irgendwann kurz nach Mitternacht. Komisches Leben, haben sie geantwortet und gelächelt, halb erstaunt, halb mitleidig. Was ich ihnen nicht erzählt habe oder erst viel später, ist all das, was es damals, Mitte der siebziger Jahre, gab und heute nicht mehr gibt. Damals gab es noch Flüsse in Deutschland, in denen man nicht baden konnte, weil sie zu giftig waren. Damals stand das Schwulsein noch unter Strafe, und eine Frau an der Spitze des Staates war undenkbar. Das kommt mir selber heute schier unglaublich vor. Damals gab es noch eine Grenze mitten durch Deutschland, mit Betonwällen und Stacheldraht, und wer darüberzuklettern versuchte, in die falsche Richtung, wurde erschossen. Ich habe meinen Kindern nicht erzählt oder nur einmal, eher beiläufig, dass eine Stunde Autofahrt von Hamburg entfernt sowjetische Panzer standen und Soldaten der Roten Armee, feindliche Soldaten. Ich habe ihnen nicht erzählt, dass meine Freunde und Mitschüler, als wir so alt waren wie sie jetzt, über die Aufstellung von neuen Atomraketen mitten in Deutschland gestritten haben. Und dass wir fest davon überzeugt waren, es gehe dabei wirklich um das Überleben der Menschheit. Warum ich das nie erwähnt habe? Nicht weil ich das verschweigen wollte. Sondern weil es mir nicht mehr so wichtig schien. Weil es auch mir wie ein ferner, seltsamer Albtraum vorkam, eine Verirrung der Geschichte. Weil es danach immer besser wurde. Und weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass sich die Dinge positiv entwickeln. Nicht von selbst, aber durch Hartnäckigkeit und Arbeit. Als 1989 die Mauer fiel, als der Stacheldraht verschwand und auch die russischen Panzer, da begann etwas Neues, etwas grundlegend anderes, so schien mir, eine glücklichere Epoche, und für diese Zeit haben wir, halb bewusst, halb unbewusst, unsere Kinder erzogen. Da spielte der Ost-West-Konflikt wirklich keine Rolle mehr, das Wettrüsten, die atomare Bedrohung. Ich wollte meine Tochter und meinen Sohn auf eine andere Welt vorbereiten. Und ich bin noch immer sicher, dass das richtig ist. Natürlich wissen die beiden von den Verbrechen der Nationalsozialisten, sie lesen die Bücher, sie lernen in der Schule, wie es zum Holocaust kommen konnte, aber dennoch haben sie und ihre Freunde, vielleicht als erste Generation nach dem Zweiten Weltkrieg, ein entspanntes Verhältnis zu diesem Deutschland, heiter und selbstbewusst, so wie man es auch aus anderen Ländern kennt, in denen die Menschen unbefangen ihre Flagge schwenken. U nd warum auch nicht? Viel besser als hier, viel besser als heute, in dieser Bundesrepublik, lässt es sich ja kaum leben. Mehr Sicherheit, mehr Toleranz, mehr Reichtum, mehr Freiheit ist schwer vorstellbar. Natürlich, auch hier gibt es Abgehängte und Ausgeschlossene, Menschen, die nur das Allernötigste haben oder weniger als das, auch in Deutschland gibt es Armut und Einsamkeit und Depression. Aber für circa neunzig Prozent aller Menschen auf der Welt ist das Land, in dem wir leben, schlicht das Paradies. Deshalb machen sich ja auch so viele auf den Weg zu uns. Und wir würden es wahrscheinlich genauso tun, wenn wir an ihrer Stelle wären, um unseren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Unsere Kinder sind in eine Welt hineingeboren worden, die voller Optionen ist und fast frei von Widerständen schien. Wenn ich mir Sorgen um sie gemacht habe, dann war es eher die Sorge, dass sie vor lauter Optionen verzweifeln könnten, dass sie überwältigt würden von den vielen Möglichkeiten, dass sie nichts richtig machen, in Verwöhntheit versinken könnten. Aber Eltern müssen sich wohl immer Sorgen machen, und diese Sorge war halbwegs erträglich. So kommt es mir jedenfalls im Rückblick vor. Denn seit ein paar Monaten schiebt sich etwas anderes, Neues ins Bild, verändern sich die Sorgen. Jeden Tag sterben im Mittelmeer Menschen, jeden Tag, wir haben uns schon fast dran gewöhnt. Es gibt Terroranschläge, in Paris, in Brüssel, in Florida. In der Türkei werden Journalisten verhaftet, in Österreich wird um ein Haar ein Rechtspopulist zum Präsidenten gewählt, in Deutschland brennen Flüchtlingsheime. Und jetzt haben die Briten dafür gestimmt, ausgerechnet die pragmatischen, nüchternen Briten, aus der Europäischen Union auszutreten. Die Bewohner des Landes, in dem meine Kinder vor einem Jahr Gastschüler waren. So wie ich vor mehr als dreißig Jahren. Es kommt mir vor, als seien die Fundamente plötzlich wieder in Gefahr. Was selbstverständlich schien, ist nicht mehr selbstverständlich. Das ist für meine Generation eine ziemlich verstörende Erkenntnis. Fast überall, so scheint es, schwillt die Wut an, wird herumgebrüllt, ist die Gesellschaft gespalten. Nicht so sehr in Arm und Reich oder Oben und Unten oder Links und Rechts. Eher in Wütend und Gelassen, in Empört und Zuversichtlich. Die eine Hälfte setzt auf Abschottung und Nationalismus, die andere auf Offenheit und Zusammenarbeit. Die eine sieht in den Fremden eine Bedrohung, die andere eher in Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Für die eine Hälfte ist Europa ein Monstrum, für die andere eine Hoffnung. Natürlich frage ich mich, wie das passieren konnte, und ich habe bislang keine wirklich gute Antwort darauf. Und noch mehr frage ich mich, wieso ich diese andere Hälfte, die Wütenden, die Empörten, die Nationalisten, so lange nicht bemerkt habe. Oder wieso ich sie nicht wirklich ernst genommen habe. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir sicher war, zu sicher, dass in Europa nichts mehr so richtig schiefgehen kann. Natürlich hatte ich Sorge vor Terroranschlägen auch bei uns, mir war klar, dass wir uns mit Ausländerfeinden und Rassisten herumschlagen müssen. Aber das Grundlegende, die Fundamente, die wichtigsten Spielregeln? Die schienen nicht mehr bedroht. Und dann hat Putin die Krim erobert. Dann hat die Regierung in Polen das höchste Gericht des Landes entmachtet, wie zuvor schon die Regierung in Ungarn. Und nun sieht es plötzlich fast so aus, als könne die Europäische Union zerbrechen. Das ist schon ein bisschen viel auf einmal. Im Grunde dachte ich, wir hätten die tiefsten Einschnitte bereits erlebt, die Ereignisse, die alles verändern, den Mauerfall 1989 und dann, zwölf Jahre später, die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington. Oder genauer, ich dachte, im Stillen jedenfalls, ohne mir darüber selbst ganz klar zu sein, das sei eigentlich schon genug Geschichte für das Leben meiner Generation, genug Wen- de, viel mehr Historisches werde da nicht mehr kommen. Und nun kommt es mir so vor, als sei das, was wir da erlebt haben, nur ein Anfang gewesen. Als springe uns die Geschichte wieder an, von allen Seiten. Und wenn das so ist, dann frage ich mich natürlich, was das für meine Kinder bedeutet. Für ihr Leben, für ihre Zukunft. V ielleicht ist es noch ein bisschen zu früh, um darauf eine Antwort zu geben. Ich bin aber sicher, dass sie auch weiter sehr viele Möglichkeiten haben werden. Möglichkeiten, von denen die Mehrzahl der Menschen nur träumen kann. Doch zu diesen Möglichkeiten werden nun, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, auch echte Widerstände kommen. Härten. Abwehr, Gegendruck. Und das ist neu und ungewohnt für sie. Und für mich. Wir haben ja das Autoritäre, das Herrische, Brutale zurückgedrängt, aus den Familien, aus den Schulen, auch aus vielen Unternehmen, aus der Nationalmannschaft sowieso, diesem Labor unserer Wunschgesellschaft. Undenkbar heute, dass ein Michael Ballack noch vor wenigen Jahren mitten im Spiel einem Mitspieler ins Gesicht schlug, weil der sich nicht unterwerfen wollte. Gewalt ist heute zum Glück verpönt und geächtet, außer in den Schattenreichen am Rande der Gesellschaft. Doch nun kommt das Autoritäre mit Macht zurück, und auch die Gewalt. Und ein wenig bang frage ich mich jetzt, ob wir unsere Kinder eigentlich auch darauf vorbereitet haben, auf die Auseinandersetzung mit Leuten und Mächten, die sich nicht an die Regeln halten, die mit Gewalt drohen und Angst verbreiten. Wie Putin. Wie Erdoğan. Wie Trump. Und deren Anhänger. Wie wehrt man sich dagegen, ohne selbst aggressiv zu werden? Wie werden meine Kinder mit blanken Lügen und physischer Gewalt umgehen? Wir haben sie Sprachen lernen lassen und Klavier und Volleyball. Aber haben sie auch ein hartes Tackling gelernt? Das taktische Foul? Haben wir ihnen auch das beigebracht? Werden sie, wenn sie auf Widerstand stoßen, klein beigeben? Oder standhalten? Und gegenpressen? Ich weiß es nicht. Aber eigentlich bin ich da ganz zuversichtlich. Sie sind ja stark geworden, auch wenn sie das selbst vielleicht noch nicht genau spüren. Sie sind selbstbewusst und können auf vieles bauen. Als letztes Jahr die Flüchtlinge kamen, da sind sie losgezogen mit ihren Freunden und haben geholfen, in Kleiderkammern und Unterkünften, einfach so. Wir haben sie nicht dazu gedrängt, sie haben es von sich aus getan, es schien ihnen richtig, und wir, die Eltern, waren ziemlich stolz darauf. Manche von ihnen helfen immer noch, auch ein Jahr später. Ich weiß noch nicht, was aus den Veränderungen wird, die sich jetzt abzeichnen, niemand kann das sagen, aber ich vermute, irgendwann werden sie zurückschauen und sagen, damals, im Spätsommer 2015, hat sich etwas verändert. Gut möglich, dass sie sagen werden, sie seien in diesen Wochen politisch geworden. Denn vorher mussten sie gar nicht politisch sein. Warum auch? Die Abschaffung der Atomenergie? Ordnete Angela Merkel an. Das Ende der Wehrpflicht? Beschloss die Bundesregierung. Mehr Rechte für Schwule? Setzte das Verfassungsgericht durch. Viele Jugendliche engagieren sich in der Entwicklungshilfe, gehen für ein paar Monate oder ein ganzes Jahr nach Guatemala oder nach Sambia. Einige der Mitschüler meiner Kinder sind für Edward Snowden auf die Straße gegangen und gegen die Vorratsdatenspeicherung, und viele protestieren gegen das Freihandelsabkommen TTIP. Die großen Kämpfe jedoch schienen alle schon ausgetragen, und an uns, an der Generation ihrer Eltern, konnten sich unsere Kinder nur schwer politisch reiben, wir sind ja so liberal und lässig, sanft und ökologisch, jedenfalls versuchen wir das, und so blieb als Gefechtsfeld allenfalls der Kampf um den veganen Weihnachtsbraten. Das ist gar kein Vorwurf. Es war ja ein Glück. Aber damit ist es jetzt wahrscheinlich erst mal vorbei. Und das muss kein Unglück sein. Was genau es heißt, in diesen Zeiten politisch zu werden, das kann ich gar nicht sagen. Das müssen meine Kinder selbst herausfinden. Aber vielleicht ist das auch nicht so schwer. Denn das Diffuse schwindet, das Beliebige, das Gleichgültige. Die Fronten klären sich, die Fragen spitzen sich zu. Die Zukunft, um es mal ein wenig pathetisch zu formulieren, ist wieder offen. Das, was so abstrakt Globalisierung heißt, schiebt sich massiv in unser Leben: die teils aufreizend ungleiche Verteilung des Reichtums zwischen den wenigen und den vielen. Die destruktive Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd. Die Flüchtlinge. Deutschlands neue, noch ganz unerprobte Rolle in der Welt. Wie das gemanagt, ausbalanciert, neu justiert werden kann, das ist ganz ungewiss. Aber es muss passieren. Und unsere Kinder sind darauf vielleicht besser vorbereitet als irgendwer sonst. Sie wachsen in einem Land auf, das ein waches soziales Gespür hat. Sie sprechen mehr Sprachen als unsereiner in ihrem Alter, sie haben schon mehr von der Welt gesehen. Und, das ist vielleicht das Wichtigste, sie werden erleben, dass es auf sie ankommt. Ja, und eine Weile lang sind wir natürlich auch noch da. www.zeit.de/audio 8 POLITIK 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Ein Fehler für 300 000 Euro Wer eine Stadt regieren will, führt einen täglichen Kampf gegen deutschen Vorschriftswahn. Ein Interview mit dem Leipziger Oberbürgermeister Foto: Daniel Hofer für DIE ZEIT (Leipzig, 03.06.16) DIE ZEIT: Herr Jung, als vor einem Jahr die Flücht- lingszahlen stark stiegen, sagte die Kanzlerin: »Deutsche Gründlichkeit ist super, aber jetzt wird deutsche Flexibilität gebraucht.« Hat das geklappt? Burkhard Jung: Nur bedingt. In meinem Alltag als Oberbürgermeister erlebe ich immer noch die absurdesten Dinge. Nur ein Beispiel: Es ist ja seit einem Jahr möglich, Flüchtlingsunterkünfte auch in Gewerbegebieten zu errichten. Anders ging es einfach nicht mehr. Nun zeichnet sich ab, dass wir bestimmte Unterkünfte phasenweise nicht brauchen. Es kommen derzeit ja viel weniger Flüchtlinge. ZEIT: Wie viele nimmt Leipzig im Moment noch auf? Jung: Ganz wenige, vielleicht 65 pro Woche. Wir könnten in den Unterkünften also andere Menschen unterbringen: Studenten, Lehrlinge, Obdachlose. Für sie brauchten wir in Leipzig dringend Wohnraum. Nur: Das geht nicht. Denn die Ausnahmegenehmigung besteht ausschließlich für Flüchtlingsheime. ZEIT: Klingt nicht sehr flexibel. Jung: Es gibt viele solche Beispiele. Wir hatten ein Altenpflegeheim, ein wunderschönes Gründerzeitgebäude, das wurde bis 2015 vom städtischen Altenhilfebetrieb genutzt. Nachdem wir ein neues Pflegeheim gebaut haben, wollten wir im alten Gebäude Flüchtlinge unterbringen. Schlagartig waren Brandschutzauflagen zu erfüllen, die jenseits aller Vorstellungen liegen. Was jahrelang für alte Menschen funktioniert hatte, sollte plötzlich nicht mehr zulässig sein ...! ZEIT: Also haben Sie dort keine Flüchtlinge untergebracht? Jung: Doch, es ging nicht anders. Wir haben zwei Millionen Euro investiert. Leipzig ist momentan die am schnellsten wachsende Großstadt in Deutschland, und da sind die Flüchtlinge noch nicht einmal mit eingerechnet. Jedes Jahr kommen rund 15 000 Menschen dazu. Das bedeutet: Wir brauchen 20 neue Schulen bis 2025. Wir brauchen neue Kindergärten. Da werden natürlich die Bauplätze eng. Und zugleich sind die Vorschriften abenteuerlich: Es ist zum Beispiel nahezu unmöglich, einen Kindergarten an einer belebten Straße zu bauen. Allein die Lärmschutzvorschriften machen unglaubliche Zusatzinvestitionen erforderlich. Oder in Altenpflegeheimen muss gewährleistet sein, dass es in jedem Zimmer eine genau vorgeschriebene Sonneneinstrahlung gibt – das habe ich bei mir zu Hause nicht. Der Abstand zwischen Waschbecken und Toilettenschüssel muss so groß sein, dass ein breiterer elektrischer Rollstuhl ANZEIGE Burkhard Jung, SPD, ist seit 2006 Oberbürgermeister von Leipzig gewendet werden kann. Einmal haben wir einen Fehler gemacht, da fehlten fünf Zentimeter zwischen Waschbecken und Toilettenschlüssel. Also mussten alle Waschbecken ersetzt werden. Das bedeutet Mehrkosten von 300 000 Euro. Dabei ist der vorgeschriebene Abstand so groß bemessen, dass ein elektrischer Rollstuhl zweimal wenden kann! ZEIT: Das klingt frustriert. Jung: Nein, ich ärgere mich nur. Meine Erfahrung nach zehn Jahren im Amt ist: Jeder, der Entbürokratisierung verspricht oder versucht, fabriziert im Ergebnis nur mehr Verwaltungsvorschriften. ZEIT: Woran liegt das? Jung: Daran, dass wir aufgrund von Lobbyinteressen bestimmte Standards vorschreiben, die nur dazu dienen, die Bedeutung der jeweiligen Lobbyisten zu erhöhen. Die Bauordnungsleute versuchen, ihre Standards festzulegen, Versicherungen tun ihr Übriges, staatsanwaltliche Ermittlungen gegen einzelne Mitarbeiter einer Verwaltung erzeugen ein Klima, in dem niemand mehr Verantwortung übernehmen mag. ZEIT: Sie sind immerhin Oberbürgermeister von Leipzig. Können Sie nichts gegen den Regulierungswahn unternehmen? Jung: Das haben wir natürlich versucht, über den Städtetag zum Beispiel. Aber die bauordnungsrechtliche Lobby ist sehr stark in Deutschland. Es ist wirklich irre, was da alles geregelt wird: Wie viel Quadratmeter braucht ein Kind im Klassenzimmer, wie viel auf dem Schulhof? Müssen alle Schulen behindertengerecht ausgebaut sein? Inklusion ist mir sehr wichtig, aber schaffen wir es, auch eine alte Gründerzeitschule exakt nach Vorschrift umzubauen? Wie steil darf die Neigung einer Rampe sein? Wir haben alles geregelt, und dieses Regelwerk wird stets weitergedreht. ZEIT: Und daran hat auch die Flüchtlingskrise nichts geändert? Jung: Wir hatten eine Chance, aber ich fürchte, wir haben sie vertan. Wir leben in einer solch gesättigten Gesellschaft, dass wir kaum in der Lage sind, schnell und flexibel etwas wirklich grundsätzlich infrage zu stellen. Ich glaube, das hat vor allem zwei Gründe: zum einen die Macht der Fachlobbys, zum anderen ganz schlicht Angst. ZEIT: Angst wovor? Jung: Angst vor dem Fremden, Angst vor der Veränderung. Ich bin der Letzte, der auf die Medien schimpft, aber die tägliche Flut von Bildern im vergangenen Jahr, ich glaube, das hat eine unglaubliche Wirkung gehabt. Man hatte das Gefühl, dass da Menschenmassen kom- men, ungesteuert, und dass das an den Grenzen nicht organisiert abläuft; Stichwort Staatsversagen. Die Kanzlerin sagte zwar, »Wir schaffen das«, aber ich glaube, dass die Bevölkerung vielfach nicht gespürt hat, dass es zu schaffen ist. Wenn dann gleichzeitig die Rede davon ist, dass Regeln aufgebrochen und Normen fallen gelassen werden sollen, dann klingt das womöglich nicht nach einer Erleichterung, sondern bedrohlich. Vorschriften, und seien es auch nur Verwaltungsvorschriften, können verunsicherten Menschen ein Stück Sicherheit geben. Sie haben dann etwas, das weiterhin gilt, auch wenn scheinbar alles in Bewegung geraten ist. ZEIT: Würden Sie sagen, die Beharrungskräfte, die Sie da beschreiben, speisen sich aus derselben Quelle wie der Hass und die Wut, die sich gerade ausbreiten? Jung: Ja, vielleicht ist das so. ZEIT: Sie haben das selbst zu spüren bekommen. Sie wurden von Unbekannten bedroht, die »No Asyl« und »OB Jung, wir kriegen Dich« auf einen Baustellencontainer sprühten. Wer will Sie kriegen? Jung: Das ist ganz klar: Das kommt aus dem Umfeld der Fremdenfeinde von Legida, also dem Leipziger Ableger von Pegida. Neben den Spruch war ja ein Galgen gemalt, das war eindeutig. Kurz davor hatten die PegidaLeute in Dresden einen Galgen hochgehalten. Für mich ist das eine neue Erfahrung: dieser offene Hass, diese Brutalität in der Sprache, diese Verrohung. ZEIT: Sie haben im Vorfeld des Kirchentages gesagt: »Ich halte die Stimmung im Land Sachsen kaum noch aus.« Das war aber auch kein Beitrag zur Mäßigung, oder? Jung: Also, ich muss das doch mal sagen dürfen. Ich ertrage in der Tat diesen dumpfen Hass nicht, weil ich ihn letztlich auch nicht verstehen kann. Ich kann nicht verstehen, dass wir uns daran gewöhnen, dass Flüchtlingsheime brennen. Da gibt es Hunderte von Übergriffen in Sachsen – aber haben Sie je eine Empörung erlebt? Ich finde, wir haben uns zu empören! Ich möchte auch nicht auf Bürgerbriefe antworten müssen, in denen sich Menschen beschweren, dass sie montags nicht mehr in die Innenstadt zum Einkaufen kämen, weil dort die Leute von Legida demonstrieren. Ich möchte Briefe bekommen, in denen ich gefragt werde, wo man montags hingehen kann, um gegen Legida zu demonstrieren! Da sind wir wieder bei dem Sättigungseffekt, über den wir vorhin gesprochen haben: Uns geht es so unglaublich gut, dass die fehlende Möglichkeit einzukaufen einige Menschen offensichtlich mehr belastet als der Fremdenhass in ihrer unmittelbaren Umgebung. Die Fragen stellten Marc Brost und Heinrich Wefing 30. J U N I 2 0 1 6 POLITIK 9 D I E Z E I T No 2 8 MAIL AUS: Corinto Von: [email protected] Betreff: Landschaftsführung Fotos: Michael Engelberg/BILD-Zeitung (Ausschnitt); IAM/akg-images (u.); privat (r.) »Gefährlich soll ich sein?« Sami A. am 15. Juni im Prozess gegen die Abschiebung Sami A. wurde nach Ansicht der deutschen Justiz in Afghanistan von Al-Kaida ausgebildet – vielleicht war er sogar der Leibwächter Osama bin Ladens. Doch die Behörden dürfen ihn nicht abschieben, weil ihm in seiner Heimat Tunesien Folter droht. Verrückter Rechtsstaat? VON MARTIN KLINGST Ich nehme immer einen ortskundigen Führer mit, wenn ich in die problematischen Landstriche Kolumbiens reise. Sicher ist sicher. Der Mann ist sauertöpfisch, aber verlässlich. Kürzlich noch fuhren wir stundenlang in einem Geländefahrzeug durch satte Wiesen und gepflegte Felder, nur mein Begleiter schaute etwas angespannt aus dem Fenster. In der einen Hand hielt er eine Suppenschüssel aus Plastik, aus der er kalten Kaffee vom Vorabend trank, mit der anderen umklammerte er eine Gauloise, die seit längerer Zeit erloschen war.»Ah, kein Rebellengebiet«, werfe ich munter ein, als wir einen Militärposten passieren. »Hast du gesehen, wie verängstigt die hinter ihren Sandsäcken kauern?«, gibt mein Kolumbienführer zurück. Wir halten an einem Dorfplatz; ein kleiner Markt am Rand ist gut besucht, Kinder spielen auf der Straße. »Hier hat es schon Massaker gegeben«, bekomme ich als Antwort auf meinen gut gelaunten Blick, »auf dem Dorfplatz haben die Farc-Rebellen öffentliche Hinrichtungen durchgeführt.« Aber heute sind doch andere Zeiten, ist die Staatsgewalt denn nicht in diesen Landstrich zurückgekehrt? »Die Leute wollten das gar nicht, einmal haben die Bauern sogar wütend mit Mangos nach den Soldaten geworfen. Da wurde gleich scharf geschossen, und zwei Menschen starben.« Wir erreichen unser Ziel, ein Bergdorf mit gepflasterten Straßen. Wir atmen die kalte, dünne Luft kolumbianischer Berge. Mein Begleiter entspannt sich. »Hier kenne ich mich aus, hier können wir in Ruhe übernachten.« Vorn im Wagen meldet sich der Fahrer, der bisher kaum gesprochen hat. »Vergangene Woche gab es hier aber noch sieben Morde«, sagt er und stellt unser Gepäck auf die Straße. MAIL AUS: Paris Von: [email protected] Betreff: Männer aus Eisen Gelsenkirchen/Bochum r selbst sieht sich als »Opfer« und hält die Anschuldigungen für eine »fatale Mischung« aus Lüge und Irrtum. Die Gerichte sagen, der in Deutschland lebende Tunesier Sami A. sei Ende 1999, Anfang 2000 in einem Terrorlager in Afghanistan gewesen und gefährde darum die öffentliche Sicherheit. Seit zehn Jahren ist er zur Ausreise verpflichtet, doch darf er nicht abgeschoben werden, weil er in seiner tunesischen Heimat verhaftet und unter Folter verhört werden könnte. Soeben hat das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ein neues Abschiebeverbot verhängt. »Skandal!«, rufen die einen, Deutschland übertreibe es mit den Menschenrechten und sei nicht einmal in der Lage, Terroristen loszuwerden. Fälle wie dieser trieben der rechtspopulistischen AfD die Wähler in die Arme. Andere dagegen sehen im Abschiebeverbot den Sieg des Rechts. Tunesien sei immer noch ein Folterstaat und dürfe darum auch nicht, wie es die Bundesregierung jetzt plane, zu einem »sicheren Herkunftsland« erklärt werden. Zu einem Land also, aus dem niemand fliehen müsse. Wenige Fälle erregen derart die Gemüter. Und wenige Fälle zeigen so deutlich, wie kompliziert das Ausländer- und Asylrecht ist, wie strikt das Folterverbot die deutschen Behörden bindet und warum Terrorverdacht oft so schwer zu beweisen ist. E Ein Terrorist? Er sei doch viel zu klein, argumentiert der rundliche Mann Nein, nie sei er in Afghanistan gewesen, nie in einem Ausbildungslager von Al-Kaida, und nie habe er dem Terrorchef Osama bin Laden als Leibwächter gedient. »Wie auch, mit meinen gerade einmal 1,65 Metern?«, sagt der rundliche Mann mit dem schwarzen Bart und der sanften Stimme. »Alles erfunden.« Eigentlich wollte Sami A. nicht mit Journalisten reden, denn die würden ja nur alles verdrehen und ihn als einen Terroristen beschreiben. Doch er ist gekommen, sitzt in der Kanzlei seiner Anwältin in einer beschaulichen Wohnstraße am Rande von Bochum und streitet alles ab, was über ihn behauptet wird. Salafist? Nein. Mitglied des radikalislamistischen Vereins Tablighi Jamaat? Nein. Fundamentalistischer Prediger, zu dessen Schülern zwei junge Männer gehörten, die sich im Mittleren Osten dem Dschihad angeschlossen haben sollen? Die kenne er gar nicht. Nie sei er ein Prediger gewesen und habe auch nie zur Gewalt aufgerufen. »Gefährlich soll ich sein?«, lächelt er und schaut zu seiner Anwältin auf der anderen Schreibtischseite, »ich werde doch von morgens bis abends überwacht und muss mich seit zehn Jahren täglich zwischen 10 und 12 Uhr auf der Polizeiwache melden.« Sieben Tage die Woche, 365-mal im Jahr. Diesen Druck, diesen Stress ertrage er nur dank seines Glaubens. Er wolle mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Bochum ein normales Am 10. März 2006, wenige Monate nach dem Leben führen. Niemand danke es ihm, dass er seit Ende des Düsseldorfer Al-Tawhid-Prozesses lehnt fast 20 Jahren seine Glaubensbrüder im Ruhrge- die Ausländerbehörde der Stadt Bochum eine Verbiet in persönlichen Gesprächen dazu anhalte, ein längerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab und rechtschaffenes Leben zu führen, keinen Alkohol weist ihn wegen Unterstützung einer terroriszu trinken und einen Beruf zu erlernen. tischen Vereinigung aus. Sein Pass wird einbehalBehörden und Gerichte des Landes Nordrhein- ten und Sami A. verpflichtet, sich jeden Tag auf Westfalen zeichnen ein anderes Bild von Sami A. der Polizeiwache zu melden. Wenige Wochen daFür sie ist er eine schwere Sicherheitsbedrohung. nach, Ende März, eröffnet der GeneralbundesanDie Reise nach Afghanistan ist der Dreh- und walt gegen A. ein Ermittlungsverfahren wegen Angelpunkt ihrer Argumentation. Verdachts der Mitgliedschaft in der TerrororganiIm September 1997 reist der damals 21-jährige sation Al-Kaida. Ein Jahr später wird das VerSami A. zum Studium nach Deutschland ein und fahren eingestellt, Deutschlands oberster Ankläger erhält eine Aufenthaltsbewilligung, die regelmäßig hält fest: Der Verdacht habe weder erhärtet noch verlängert wird. An der Fachhochschule Nieder- ausgeräumt werden können. rhein in Krefeld belegt er zunächst das Fach TexSami A. wehrt sich vor Gericht gegen die Austiltechnik, dann technische Informatik und weisungsverfügung. Ohne Erfolg. Im Jahr 2015 schließlich Elektrotechnik. Einen Abschluss bestätigt das Oberverwaltungsgericht Münster noch macht er nicht. Er zieht nach Köln einmal seine Gefährlichkeit. Es hat und Anfang 2004 nach Bochum. dafür eigens Beweis erhoben und eiÜber ihn ist wenig bekannt. nen weiteren Mitreisenden von damals Doch 2005 wird er im Al-Tawhidals Zeugen vernommen. Prozess vor dem Oberlandesgericht Bereits am 10. April 2006 stellt Düsseldorf als Zeuge geladen. Es geht Sami A. beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorsichtsdabei um die Vorbereitung eines Terrorhalber einen Antrag auf Asyl. Die anschlags in Deutschland, mit der Sami Begründung: Müsste er nach TuneA. nichts zu tun hat. Doch einer der Ansien zurückkehren, drohten ihm geklagten, der Kronzeuge in diesem Verdort ein unfairer Prozess und Folter. fahren, berichtet, er sei Ende 1999, Der Antrag wird anderthalb Jahre Anfang 2000 gemeinsam mit dem Tuspäter abgelehnt, denn wer eine Genesier und drei anderen Männern von fahr für die öffentliche Sicherheit Deutschland aus über Saudi-Arabien Arbeitete der ist, hat dieses Schutzrecht verwirkt. nach Pakistan gereist. Er und Sami A. Tunesier Sami A. Doch im März 2009 verpflichtet das seien weiter nach Afghanistan gefahren, für Osama bin Laden? Verwaltungsgericht Düsseldorf das A. habe sich dort militärisch ausbilden Bundesamt, ein Abschiebungsverlassen und danach einige Monate lang bot zu erlassen. In Tunesien regiert für Osama bin Laden gearbeitet. Organisiert wurde diese Reise von der sunnitisch- damals noch der Diktator Ben Ali, Folterungen islamischen Missionsbewegung Tablighi Jamaat (TJ). von Islamisten und Oppositionellen sind an der Laut einem Bericht des Bundesamts für Verfassungs- Tagesordnung. Das Regime kennt die Medienbeschutz aus dem Jahre 2006 neigt sie zum islamischen richte über Sami A. und würde ihn gern verhören. Im Januar 2011 wird Ben Ali vom Volk verjagt, Radikalismus, einzelne Mitglieder von terroristischen Organisationen hätten den Verein zu Reisezwecken die neue Regierung verpflichtet sich, die Menschengenutzt. Allerdings ist TJ nicht verboten. rechte zu achten. Zwei Jahre nach der Revolution, Die Richter halten die Aussage des Kronzeugen im Sommer 2014, gelangt das Bundesamt zu der für glaubwürdig. Seither steht trotz gegenteiliger Auffassung, die Verhältnisse in Tunesien hätten sich Beteuerungen des Zeugen Sami A. gerichtlich fest: nun endgültig zum Besseren gewendet und Sami A. Er war bei Al-Kaida in Afghanistan und ist darum könne ruhigen Gewissens abgeschoben werden. Der eine Gefahr. wehrt sich und bekommt vom Verwaltungsgericht Bis heute beschwört Sami A., er sei nur zu Reli- Gelsenkirchen recht. Das Bundesamt muss ein gionsstudien in den Mittleren Osten gereist, habe neuerliches Abschiebeverbot erlassen. nie seinen Fuß auf afghanischen Boden gesetzt und In seinem Urteil vom 15. Juni 2016 bezieht sich sich bis zu seiner Rückkehr ausschließlich in Mo- das Verwaltungsgericht auf Stellungnahmen des Ausscheen der pakistanischen Stadt Karatschi aufgehal- wärtigen Amtes und der Weltorganisation gegen die ten. Belegen kann er das nicht. Weder kann er genau Folter (OMCT), die der ZEIT vorliegen. Am 18. sagen, wann und in welcher Moschee er gewohnt Dezember 2015 schreibt das Außenministerium in und gebetet hat. Noch kann er Zeugen benennen, Berlin: »Eine abstrakte Gefährdung« von Terrorverdie ihn dort gesehen haben und seinen Aufenthalt dächtigen in tunesischer Haft sei »nicht auszuschliebestätigen können. Sami A. sagt, das sei auch so gut ßen«. Es gebe Hinweise auf Misshandlungen, und wie unmöglich, denn die Religionsschulen führten seit 2011 sei es noch »in keinem einzigen Fall gekein Buch über ihre Besucher. Zwar habe er einige lungen, eine Verurteilung von Amtspersonen wegen Moscheen um Auskunft gebeten, aber auf seine Folter, Misshandlung oder rechtswidriger InhaftieE-Mails keine Antwort erhalten. rung zu erreichen«. Eigene Erkenntnisse besitzt das Amt allerdings nicht, es bezieht sich in erster Linie auf Berichte des OMCT. Das Gericht stellt der Weltorganisation gegen die Folter fünf Fragen, die diese am 10. Februar 2016 ausführlich beantwortet. Es ist ein erschreckendes Dokument der Polizei- und Justizwillkür. Auch wenn Tunesiens Verfassung seit 2014 die Folter als ein »unverjährbares Verbrechen« bezeichne, steht dort, »dauern Folter und Misshandlungen auch nach der Revolution bis heute an«. In Folterfällen sei »die Justiz von einer solch extremen Langsamkeit, sodass dies bereits an Rechtsverweigerung grenzt«. Gerade nach den Anschlägen des vergangenen Jahres hätten »brutale Massenverhaftungen« und Übergriffe auf Terrorverdächtige massiv zugenommen. Man könne von einer »gewissen Rach- bzw. Vergeltungssucht« der Ordnungskräfte sprechen. Die tunesischen Sicherheitsbehörden hätten ihn gern in ihrer Gewalt Auch die neue Regierung in Tunis äußert Interesse an Sami A. Laut eines Vermerks des Bundeskriminalamts hat sich die tunesische Regierung am 19. November 2012 beim BKA-Verbindungsmann in Tunis erkundigt, »worin die Problematik der Abschiebung des Klägers begründet sei und welche aktuellen Erkenntnisse in Deutschland gegen diesen vorlägen«. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen kann gar nicht anders entscheiden, es muss die Abschiebung von Sami A. wegen Misshandlungsgefahr ein weiteres Mal verbieten. Das Folterverbot, eines der ältesten Menschenrechtsgebote, steht im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, es gilt absolut und kennt keine Ausnahme. Der Terrorverdacht besteht weiterhin, aber Sami A. darf in Deutschland bleiben. Mehr als geduldet wird er jedoch nicht. Das hat rechtliche Konsequenzen für ihn und seine Familie, schränkt die Chancen, eine Arbeit aufzunehmen, enorm ein. Mit seinen Kindern besuchte er ein muslimisches Schwimmbad und musste eine Strafe bezahlen, weil er dafür die Stadtgrenze von Bochum überquerte. Weil seine Frau und seine Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, bat er 2009 aus Gründen des Familienschutzes um eine Aufenthaltserlaubnis. Vergeblich. Die juristischen Möglichkeiten sind inzwischen ausgereizt, auf dem Schreibtisch seiner Anwältin stapeln sich die Gerichtsakten. Um herauszufinden, wie es weitergehen kann, traf man sich vor zwei Monaten im Büro der Anwältin mit zwei Herren vom nordrheinwestfälischen Innenministerium, zuständig für das »Aussteigerprogramm Islamismus«. Man unterhielt sich freundlich. Nach einer guten Stunde standen die beiden Herren auf und meinten, sie könnten leider nichts ausrichten. Denn woraus solle Sami A. sechzehn Jahre nach seiner Afghanistan-Reise und nach zehn Jahren nahezu lückenloser Überwachung jetzt noch aussteigen? Es gibt eine Christuslegende der schwedischen Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf, in der ein römischer Legionär auf Wachposten in Bethlehem, »ein Mann aus Eisen«, den Überzeugungskräften des dreijährigen JesusKindes erliegt. Die Geschichte hat mich als Kind sehr beeindruckt und kommt mir nun bei fast jedem Pariser Spaziergang mit meiner knapp dreijährigen Tochter wieder in den Sinn. Denn fast zwangsläufig begegnen wir einer Gruppe französischer Soldaten, nicht mit »Harnisch und Helm« wie der Legionär in der Geschichte, aber doch in beeindruckender Uniform, mit Gewehr, Rucksack und roter Mütze. Überall in Paris trifft man seit den Attentaten vom 13. November diese Patrouillen. »Die Soldaten, die Soldaten«, ruft dann jedes Mal meine Tochter, sagt »bonjour!« und winkt. Oft geht der erste der Soldaten noch grußlos vorbei, wagt der zweite nur einen Seitenblick. Doch sie kommen meist zu fünft oder sechst, und noch nie ist es passiert, dass nicht einer der Soldaten meiner Tochter zurückwinkte, sich dabei sein Gesicht aufhellte und ein Lächeln über seine Lippen ging. Über die französischen Patrouillen schmunzeln viele. Aber diese Freude der Soldaten, wenn sie heute in den Straßen von Paris ein Kind erblicken, zeugt davon, wie bitterhart und aufopferungsvoll ihr Dienst ist. MAIL AUS: Moskau Von: [email protected] Betreff: Rythm is a Dancer Du nimmst ein Taxi, nachts, wenn es dämmert und Moskau zur Verheißung wird. Du kommst von außerhalb, die Stadt liegt erleuchtet vor dir, sie wirkt unwirklich schön. Du fährst an Birkenwäldern vorbei, und sie erscheinen dir vollkommen mit ihren zarten, biegsamen Stämmen. Du steckst den Kopf aus dem Fenster, der Wind rauscht dir in den Ohren, die Luft ist warm, und die Lichter rücken näher. Es ist Sommer, endlich. Könnte es einen besseren Ort geben als diesen? Kitsch tröpfelt in dein Gemüt, während die Dunkelheit sich auf die Stadt senkt, die du gleich erreichen wirst, das Auto fährt und fährt, kein Stau und keine Ampeln, da, war das nicht der Gesang einer Nachtigall? Du denkst an nichts, nur an die Wärme und den Duft der Sommerstadt, die dir gerade so viel verspricht, du lässt dich davon tragen, bis du plötzlich frontal mit der Realität zusammenstößt. Der Fahrer macht das Radio an. Snap. Rhythm is a Dancer. »Guter Song, oder?«, sagt der Fahrer. Hallo, Moskau. Schön, zurück zu sein. 10 POLITIK 30. J U N I 2016 MEINUNG D I E Z E I T No 2 8 ZEITGEIST Hello Muslime! Warum in Amerika keine Parallelwelten entstehen und Integration funktioniert Heute Der Einreisestopp für Muslime ist ein Trump-Klassiker; nach Orlando hat er nun jene drei Millionen aufs Korn genommen, die bereits in Amerika leben: »Die assimilieren sich nicht wirklich. Und ich rede über die zweite und dritte Generation.« Wie die meisten seiner Sprüche ist auch dieser falsch. Wie misst man Assimilation? Man vergleiche die Sitten und Gebräuche der Neuen mit denen des Rests der Republik. Siehe da: Die Muslime sind so amerikanisch wie alle anderen. Ebenso viele – drei Viertel – trennen Müll. Sie verbringen fast genauso viel Zeit vor dem Fernseher. Und fast sechs von zehn sind in den Sozialen Netzwerken unterwegs – in der Gesamtbevölkerung sind es nur 44 Prozent. Es wird noch besser. Muslime sind zufriedener mit Amerika: Gut sechs von zehn meinen, dass »es gut läuft« in der neuen Heimat, was nur 23 Prozent der Bürger insgesamt glauben (Pew Research Center, A Portrait of Muslim Americans). Eine frühere Pew-Studie (2007) wirft ein Schlaglicht auf die Kluft zwischen Amerika und Europa. Entschieden Josef Joffe mehr US- als Euro-Muslime ist Herausgeber bekunden, es gehe Frauen in der ZEIT der neuen Heimat besser als in der alten. Das Gefühl der Nichtzugehörigkeit teilt weniger als die Hälfte; in Europa sind es zwei Drittel. Assimilation heißt: Ich will Amerikaner werden! Auf der Patriotismus-Skala liegen Muslime vor allen anderen Einwanderern. Von diesen beantragen nur 50 Prozent die Staatsbürgerschaft, bei den Muslimen sind es 70. Trump weiß also nicht, wovon er redet. Warum die Integration in den USA so gut funktioniert, dafür gibt es drei Gründe. Erstens: Selbstselektion. Aus der islamischen Welt gehen viele nach Amerika, um dort zu studieren (und zu bleiben); als Gruppe sind sie besser ausgebildet als etwa Türken in Deutschland oder Algerier in Frankreich. Die Einkommen belegen das. Der Anteil jener, die 100 000 Dollar oder mehr melden, ist fast so hoch wie unter den Alteingesessenen. Dramatisch ungleicher geht es dagegen in Europa zu. Zweitens: nationale Vielfalt der Neuen. Anders als in Europa, wo jeweils eine Nationalität dominiert, etwa Marokkaner in Belgien, kommen Amerikas Muslime aus achtzig Ländern – von Indien über Iran bis Ägypten, unterteilt in unzählige Sekten. Das Gemisch stärkt den Druck aufs gedeihliche Zusammenleben. Parallelwelten wie in Molenbeek werden hier rasch aufgesogen. Drittens: religiöse Toleranz (oder besser: Indifferenz) auf beiden Seiten. Amerika kennt keine Staatsreligion; jeder kann nach seiner Fasson selig werden, sich sein Gotteshaus bauen. Unter den Muslimen sorgt die chaotische Sektenvielfalt dafür, dass sich die Gläubigen untereinander sowie mit Christen und Juden vertragen müssen. Der Moschee-Architekt Chris McCoy bringt’s auf den Punkt: »Es geht nicht darum, ob die Kuppel nach saudischem oder indischem Muster gebaut wird, sondern darum, ob man sich überhaupt eine Kuppel leisten kann.« Geld schlägt Gott. Wie gut die Assimilation läuft, zeigen auch die hässlicheren Statistiken. Die Harvard-Soziologin Mary Waters notiert: »Amerikaner zu werden heißt, weniger Sport zu treiben, fetter und straffälliger zu werden.« Herzkrankheiten und Scheidungsraten passen sich in der zweiten Generation ebenfalls an. Der Schmelztiegel funktioniert also im Guten wie im Schlechten – wie einst für Deutsche, Iren, Polen und Juden. Bloß sind dem Demagogen Zahlen und Trends egal. ANZEIGE 27. JUNI 2016 So sehen Verlierer aus. Als den Einwohnern des britischen Königreichs gerade dämmerte, dass dieser Brexit möglicherweise eine ganz blöde Idee gewesen sein könnte, oblag es plötzlich allein elf Männern in kurzen Hosen, Englands Daseinsberechtigung im europäischen Spiel zu verteidigen. Der Schlachtruf der gegnerischen Wikinger (»Huuuh!«) gab den gebeutelten Brexisten dann aber offenbar den Rest: Island fegte England bei der EM in Frankreich mit 2:1 vom Platz und ist spätestens jetzt unser Favorit der Herzen. Well done, boys. MTH Foto: Laurence Griffiths/Getty Images Foto: Larry Fiebert VON JOSEF JOFFE Petzen gilt nicht NEIN. QUARTERLY IDEOLOGIE DES ALLTAGS Die Regierung zieht eine seltsame Lehre aus dem NSA-Abhörskandal. Sie will den Geheimdiensten ihre Geheimnisse nehmen VON MARIAM LAU W enn am Freitag der neue Prä- Viele dieser Ziele waren sozusagen automatisch sident des Bundesnachrich- in die Datenüberwachung eingespeist worden. tendienstes, Bruno Kahl, sein Der inzwischen abgesetzte BND-Präsident GerAmt antritt, wird er sich einer hard Schindler war darüber nach eigenem BePhalanx des Misstrauens ge- kunden ebenso wenig im Bilde gewesen wie genübersehen. Zeitgleich wird nämlich ein Ge- seine Aufsicht im Kanzleramt. Es ist zwar richsetz von den Regierungsfraktionen gebastelt, tig, dieses Durcheinander an Verantwortung zu dem zufolge künftig »jeder Tätigkeitsbereich des entwirren, indem künftig beide Seiten größere Dienstes umfassend reguliert und kontrolliert« Abhöraktionen abzeichnen müssen. Vor allem wird. Bald sollen nicht wie bisher drei, sondern das Kanzleramt wird sich dann nicht mehr wegvier Gremien darüber wachen, was der BND tut ducken und die Schuld einzig auf den BND abladen können wie zuletzt und lässt. Das erhöhe seine geschehen. demokratische Legitimation, Der Versuch, den BND Nur, damit ist das eiheißt es. gentliche Problem der deutDas Gegenteil wird der parlamentarisch völlig schen Nachrichtendienste Fall sein. Der Versuch, einen kontrollieren zu nicht gelöst: Ein immer Geheimdienst der völligen wollen, kann nur größerer Teil des Publikums parlamentarischen Transparenz zuzuführen, kann nur Enttäuschung produzieren – und deshalb auch immer mehr politisch VerantwortEnttäuschungen produzieren: liche – glaubt ernsthaft, Entweder ist das Ergebnis ein permanenter Untersuchungsausschuss, mit staatliche Behörden dürften überhaupt keine den immergleichen Vorwürfen, Verteidigungs- Geheimnisse mehr haben. Schon der Name linien und Indiskretionen, der ganze Bataillone »Nachrichtendienst« statt »Geheimdienst« sugvon Personal auf beiden Seiten bindet. Oder es geriert, dass BND oder Verfassungsschutz (BfV) läuft auf die faktische Abschaffung von geheim- im Grunde nichts anderes tun sollten, als Zeidienstlicher Arbeit hinaus, weil in den entspre- tungsarchive auszuwerten. Ehrenhaft kann in diesem Gewerbe aus Sicht chenden Gremien oft mindestens zwei Parteien sitzen, Grüne und Linke, die ohnehin nicht von der Geheimdienstkritiker eigentlich nur einer der Notwendigkeit solcher Dienste überzeugt sein: der Whistleblower, für den im neuen Gesetzentwurf sogar ein extra Schutzparagraf vorsind. Das Gesetz ist der Versuch, auf die Enthül- gesehen ist. Vergebens hat BfV-Präsident Hanslungen im Zuge des NSA-Skandals zu reagieren. Georg Maaßen immer mal wieder die Frage Damals hatte der BND im Auftrag des amerika- aufgeworfen, warum unter Edward Snowdens nischen Dienstes europäische Ziele ausgespäht. zwei Millionen Datensätzen nicht ein einziger aus Russland oder China stammte. Es half nichts. Snowdens Konterfei prangt nun auf T-Shirts, nicht Maaßens. Viele der jüngeren Deutschen sehen Geheimdienste als eine Art Gürtelrose, eine systemische Erkrankung, die sich immer weiter ausbreitet, wenn sie nicht eingedämmt wird. Das ist einmalig in demokratischen westlichen Gesellschaften, wo die Notwendigkeit eines »Secret Service« außer Frage steht. Die Bundesregierung, die Kanzlerin zumal, hat wenig dafür getan, das zu ändern. Man kann es mit der StasiErfahrung erklären, mit der Gestapo – es ändert nichts daran, dass den Diensten der politische Rückhalt fehlt. Die Bundesregierung müsste etwas sagen, was die meisten Menschen nicht hören wollen. Deutschland ist dabei, so etwas wie die USA Europas zu werden – ein Land, das Hoffnungen auf Freiheit, Fairness und Wohlstand auslöst. Und deshalb hat Deutschland auch mehr Gegner als früher. Für autoritäre Regime, aber auch für aggressive Nichtregierungsorganisationen wie den IS sind wir mit allem, was wir repräsentieren, eine Bedrohung. Da reicht es nicht, Zeitungsausschnitte zu sammeln. Gerhard Schindler hat darauf immer wieder hingewiesen. Der BND muss »operativer« werden, muss Agenten in die Reihen der Gegner einschleusen können, und diese Agenten müssen sich im Fall einer tödlichen Gefahr zur Not auch mit der Waffe wehren können. Gerade wer auf regime change und Säbelrasseln verzichten will, braucht gute Geheimdienste. Wir haben Feinde. Wir sollten sie kennen. ERIC JAROSINSKI #WieEsWeiterGeht Zukunftsfrage: Same procedure as last Brexit, Miss Sophie? Zukunftsantwort: Same procedure as every Brexit, James. Als @NeinQuarterly kommentiert Eric Jarosinski, 44, auf Twitter das Weltgeschehen. Seine abgründigen Sinnsprüche finden dort Zehntausende Follower. Jarosinski ist amerikanischer Germanist und deutscher Aphoristiker. Bei uns erscheint seine Printkolumne 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 POLITIK 11 MEINUNG Doppelt ein ganzer Kerl Mit Bud Spencer stirbt auch das Männerduo Damals UM 1987 Fotos: Gillman&Soame/Internet (gr.); ZIF (kl.) Auch so sehen Verlierer aus. Wobei den Studenten, die es in Oxford in den elitären Bullingdon Club schaffen, eine Karriere in der Wirtschaft oder Politik ja eigentlich in den maßgeschneiderten Frack eingewebt ist. Auch auf einen gewissen David Cameron (oben, 2. v. l.) und seinen Kommilitonen Boris Johnson (unten, 3. v. l.) schien Großes zu warten. Knapp 30 Jahre später haben die beiden tatsächlich Monströses vollbracht, wobei selbst Camerons potenzieller Nachfolger Johnson nun nicht wie ein Sieger wirkt. Well done, boys. MTH VON AUSSEN DAUSEND Statt weißer Tauben Mister 120 000 Volt Die internationalen Krisen nehmen zu und werden komplizierter. Deshalb brauchen wir Friedensmediatoren VON ALMUT WIELAND - K ARIMI CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer und »Politikergattin« Sabine gewähren Einblick in ein Leben zwischen Rauhaardackel und Ruhepol D er Bundespräsident hat es gesagt, die Bundesverteidigungsministerin hat es gesagt und der Bundesaußenminister auch: Deutschland will und wird sich international stärker engagieren. Aber was bedeutet ein stärkeres Engagement genau? Mehr Soldaten? Mehr Waffen? Wir können es auch ganz anders handhaben. Wegen seiner überschaubaren Kolonialgeschichte und seiner Berechenbarkeit genießt Deutschland ein hohes Ansehen, auch in den Konfliktregionen dieser Welt. Deshalb sollte die Friedensmediation künftig eine deutlich stärkere Rolle spielen, wenn es um das internationale Engagement Deutschlands geht. Das Grundprinzip einer internationalen Friedensmediation ist dasselbe wie bei Mediationsverfahren in Nachbarschafts-, Eheoder Geschäftsstreitigkeiten. Mit der HarvardMethode entwickelten Roger Fisher und William Ury 1981 vier Grundsätze: Unterscheide klar zwischen den Personen und ihren Interessen; konzentriere dich auf die zentralen Interessen, die ihren Positionen zugrunde liegen; entwickle mehrere Handlungsoptionen; und verankere möglichst objektive Beurteilungskriterien, wie Gesetze oder völkerrechtliche Vereinbarungen. So entsteht idealerweise eine Win-win-Situation oder wenigstens ein Kompromiss, der für alle Konfliktparteien tragbar ist. In Syrien muss sich diese Theorie derzeit an der Wirklichkeit messen lassen. Mögen Almut Wieland-Karimi ist Direktorin des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze mit Sitz in Berlin die oppositionellen Gruppierungen auch einen Rücktritt Assads zur Bedingung für Verhandlungen machen, so ist ihr zentrales Interesse ein anderes: ein Ende der Gewalt und eine Transformation des politischen Systems unter ihrer Beteiligung. Dem steht Assad zwar eindeutig im Weg, aber auch er will, dass seine Partei und Teile des Regimes an der Macht beteiligt bleiben. Das ist die Grundlage, auf der das Mediatorenteam unter der Ägide der Vereinten Nationen derzeit mit den Konfliktparteien verhandelt. Ergebnis der Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen könnte sein, dass Assad selbst nicht mehr Teil der Regierung sein wird, dafür aber Vertraute aus seinem Umfeld plus Vertreter aus der Opposition. Kein anderer Krieg fordert zurzeit weltweit mehr Opfer als der in Syrien. Und er zeigt nur zu deutlich die qualitative Veränderung von Konflikten in Form von Extremismus und Regionalisierung. Seine Komplexität ist immens, da es sich auch um einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland und zwischen dem Iran und SaudiArabien handelt. Eine erfolgreiche Mediation muss auch diese Akteure einbeziehen, um konvergierende Interessen zumindest ansatzweise zu integrieren. Ganz zu schweigen vom Elefanten im Raum, dem sogenannten »Islamischen Staat« (IS). Obwohl er eine zentrale Kriegspartei ist, möchte den IS niemand am Verhandlungstisch sitzen haben. Aus der Vergangenheit nichts gelernt oder, wie einer der Mediationsgrundsätze heißt: Unterscheide zwischen den Personen und ihren Interessen. So saßen die Taliban bei den Petersberger Verhandlungen im Jahr 2001 auch nicht mit am Tisch. Das Ergebnis kennen wir: Afghanistan ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen. Inzwischen verhandelt nicht nur die afghanische Regierung mit den Taliban, sondern auch China und die USA. Der Afghanistan-Chefunterhändler von 2001, der ehemalige algerische Außenminister Lakhdar Brahimi, bereut heute das Versäumnis von damals: »Tabu hin oder her, wir hätten mit den Taliban sprechen müssen und nicht hoffen dürfen, dass sie sich in Luft auflösen.« Tabus der Vergangenheit aufzubrechen, auch hierin liegt eine Chance der Mediationsteams. Für Mediatoren sind die großen Weltkonflikte Alltag. Ihr Leben gleicht oft dem eines Vertreters. Sie reisen im Auftrag einer Regierung oder internationalen Organisation, leben aus dem Koffer und ziehen von Region zu Region. Manchmal sind schmucke Hotels in der Schweiz ihre Unterkunft, manchmal aber auch heruntergekommene Herbergen in der Ukraine. In der Regel weiß ein Mediator nicht, wie lange er vor Ort sein wird. Kommt es zu einem Waffenstillstand oder einem umfassenden Friedensschluss? Oder bricht eine der Konfliktparteien den Verhandlungsprozess ab? Bisher sind fast nur ältere Herren aus wenigen Ländern in Sachen Friedensmediation unterwegs, sie kommen aus der Schweiz, Norwegen und Finnland. Nur etwa fünf Prozent der Unterhändler sind Frauen. Von ihnen brauchen wir viel mehr, schließlich vertreten sie rund 50 Prozent der Weltbevölkerung. Zudem sind »klassisch« weibliche Kompetenzen genau das, was ein Mediator braucht. Erstens: »Den Mund halten und zuhören!«, wie Julian Hottinger, der erfahrenste schweizerische Mediator in Krisen- und Kriegsgebieten, einmal gesagt hat. Zweitens: Den Weg zu einer Lösung nicht vorgeben, sondern begleiten. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Gewaltkonflikte – nachdem sie seit Ende des Kalten Krieges lange rückläufig war – deutlich gestiegen. Mediatorennachwuchs wird also dringend gesucht. Die Motivation: Frieden zu stiften und Menschen vor Gewalt zu schützen. Die Fähigkeiten: gute Sprachkenntnisse, interkulturelle Kompetenz, hohe Frustrationstoleranz, Grundoptimismus und viel Geduld. Vor allem aber hartgesotten sollte dieser Nachwuchs sein – heute Syrien, morgen Kolumbien und übermorgen eine andere Region in dieser Welt, in der Konflikte mehr und zugleich komplexer werden. Übrigens: Bei gleicher Eignung werden Frauen bevorzugt! Als der Andreas damals von dem riesigen Baustellenfahrzeug sprang, so ganz und gar nicht Politiker, da hat es schon etwas gefunkt bei der Sabine, weshalb die Sabine und der Andreas heute eine Tochter und zwei Hunde – Loisi, einen echten Rauhaardackel, und Henry, einen Parson Russell Terrier – haben, die Sabine aber nicht mehr als Redaktionsleiterin bei Donau TV arbeitet, weil der Andreas ja einen Ruhepol braucht und der Sabine Liebe und Familie wichtiger sind als der Beruf, zumal da der Andreas ja seine Ideale verfolgt, weshalb die Sabine den Andreas zwar kraftstrotzend, aber auch erholungsbedürftig ANZEIGE kennt, was vorkommt, wenn man, wie der Andreas, Duracell zum Freund, aber nicht jeden Tag 120 000 Volt in sich hat. All das erfahren wir in einem Interview, das CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer und »die Politikergattin« Sabine der Bunten gaben. Dass es bei der Sabine schon etwas gefunkt hat, als der Andreas damals, so gar nicht erholungsbedürftig, seine 120 000 Volt in Loisi, einen echten Rauhaardackel, entlud, weshalb der Sabine riesige Baustellenfahrzeuge heute wichtiger sind als der Andreas, wäre zwar die interessantere Geschichte gewesen. Aber was wissen wir schon von Donau TV? PETE R DAU S E N D Zusammen waren Bud Spencer und Terence Hill wie das heutige Menü 1 in unserer Kantine, Gyros mit Zwiebeln, Knoblauch und Zaziki: krass in der Mischung, penetrant in der Außenwirkung und dennoch von sättigendem Wohlgefühl. Nun ist Bud Spencer tot. Mit ihm hat das Halleluja zwei seiner vier Fäuste verloren. Und mit diesen zwei verlorenen Fäusten endet auch endgültig die Ära des Männerduos. Dick und Doof, Derrick und Harry, Winnetou und Old Shatterhand, Batman und Robin, Dieter Bohlen und Thomas Anders, Fix und Foxi – sie sind das Yin und Yang in der Welt der Testosteronbesitzer gewesen. Jeder von ihnen wäre für sich genommen nur ein Mann mit Macken gewesen, im Doppelpack aber erlangten sie Vollkommenheit. Was der eine nicht war, durfte der andere sein. Im Duo konnte schon als Manns genug gelten, wer einen Wagen holte, hautenge Strumpfhosen trug, fehlerfrei dreimal hintereinander Brother Louie sang oder einfach nur einen Plattfuß hatte. Es war das Zusammenspiel mit dem anderen, das selbst Banales zum Part eines großen Ganzen werden ließ. Das Duo ist Teil der Evolution des modernen Mannes. In Kurzform lässt die sich so beschreiben: vom Rat Pack über das Doppelpack zum Metrosexuellen. Diesen Namen, der so weltläufig daherkommt, hat man ihm gegeben, damit er nicht merkt, dass der Verlust des eigentlich so primitiv klingenden »Pack« ein einschneidender ist. Denn der Metrosexuelle muss nun ohne Konterpart auskommen. Er muss das Gegensätzliche, das sich anzieht, wenn es auf zwei verteilt ist, nun in einer Person einen. Er muss alles zugleich sein – vier Fäuste, der Wagenholer, der Indianer, der keinen Schmerz kennt und die Mutter unserer Kinder ist. Mit unserem heutigen Kantinenspeiseplan gesprochen, ist der Metrosexuelle nicht mehr Menü 1 – Gyros mit Zwiebeln, Knoblauch und Zaziki –, sondern Menü 2: bunter Linsensalat mit Joghurt-Minz-Dip. Von allem ein bisschen und hübsch anzusehen, aber doch nur eine Hülse. Des Teufels rechte und linke Hand kann eben einer allein nicht ersetzen. DAGMAR ROS E NFE LD Siehe auch Feuilleton, S. 39, Doppelbackpfeife – ein Nachruf auf Bud Spencer 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 RECHT & UNRECHT Ein Bürger führt einen Privatkrieg gegen das Gericht: Unbezwingbar, unversöhnlich Das hat womöglich weniger mit der feinsinnigen Unterscheidung zwischen »äußern« und »zu eigen machen« zu tun als mit den Orten, an denen über beides entschieden wurde – schließlich gilt gerade die Hamburger Justiz in presserechtlichen Streitigkeiten als besonders klägerfreundlich. Dass die dortigen Richter für die Äußerung eines Kölner Satirikers über einen türkischen Politiker auf einem Fernsehkanal aus Mainz überhaupt zuständig waren, kann man durchaus erstaunlich finden – normalerweise müssen Prozesse nach deutschem Recht schließlich am Sitz des Beklagten (hier: Böhmermann) geführt werden. Im Kölner Verfahren sind die Parteien freilich genauso über die Landkarte verteilt: Döpfner wohnt in Potsdam, die Welt sitzt in Berlin, und auch der türkische Präsident ist zwischenzeitlich nicht nach Köln migriert. Eine solch bizarre geografische Konstellation ermöglicht der sogenannte »fliegende Gerichtsstand« – eine Sonderregelung des deutschen Prozessrechts, nach der sich ein Kläger etwa in presserechtlichen Verfahren den Ort des Geschehens frei aussuchen darf. Dahinter steht die einleuchtende Überlegung, dass, wer in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt wurde, nicht auf eine Klage am womöglich weit entfernten Sitz eines Mediums angewiesen sein soll, dessen Anwälte mit den örtlichen Richtern obendrein aus früheren Verfahren bestens vertraut sein dürften. Stattdessen soll er die Rufschädigung überall dort bekämpfen dürfen, wo sie sich auswirkt – also im gesamten Verbreitungsgebiet des Mediums. Diese Möglichkeit hat aber keineswegs zu einer bundesweit gleichmäßigen Verteilung der Verfahrenslast geführt: Nach einer im Jahr 2014 vom Spiegel-Justitiar Uwe Jürgens durchgeführten Untersuchung entfallen knapp zwei Drittel aller presserechtlichen Verfahren auf die Oberlandesgerichte Hamburg, Berlin und Köln, obwohl dort nicht einmal zwölf Prozent der Bevölkerung leben. Für diesen Befund gibt es eine Reihe von Erklärungen, von denen manche harmlos, andere ANZEIGE aber alarmierend sind. Zur harmlosen Gattung zählt, dass in den drei Metropolen überdurchschnittlich viele Prominente leben, die überdurchschnittlich oft in der Zeitung stehen und sich deshalb auch häufig zu einer Klage veranlasst sehen. Problematisch wird es hingegen, wenn Kläger ohne jeden Bezug zu Berlin, Köln oder Hamburg einen der drei Standorte wählen, weil sie sich dort die besten Erfolgsaussichten für ihre Verfahren versprechen. Für dieses sogenannte forum shopping bildet das Presserecht ein ideales Terrain: Da sich die Lösung eines Rechtsstreits in dieser Sparte fast nie rein aus dem Gesetz ergibt, sondern stets von den Neigungen und Überzeugungen des Richters durchdrungen ist, kann in dessen Auswahl schon eine Vorentscheidung des Verfahrens liegen. Und weil die Landgerichte in Hamburg, Berlin und Köln (und ei- Tatsächlich haben die Richtersprüche aus der Hansestadt es in der Vergangenheit mehrmals zu fragwürdiger Bekanntheit gebracht: etwa im Jahr 2005, als die Pressekammer den Heise-Verlag für einen rechtswidrigen Nutzerkommentar in seinem Internetforum haftbar machte, obwohl der Verlag den Kommentar auf einen entsprechenden Hinweis hin sofort gelöscht hatte. Oder 2008, als die Saarbrücker Zeitung wegen eines Interviews verurteilt wurde, in dem gar nicht sie selbst, sondern ihr Interviewpartner eine unwahre Behauptung aufgestellt hatte. Oder im selben Jahr, als Spiegel Online verpflichtet wurde, die – ursprünglich zulässige – namentliche Nennung des Täters aus archivierten Berichten über den Mord am Schauspieler Walter Sedlmayr zu tilgen, da das Persönlichkeitsrecht des Verurteilten nun, viele Jahre nach dem Verbrechen, schwerer wiege als das Infor- rung entströmt. Und es ist ganz gewiss nicht überraschend, wenn den Richtern ihr unpopulärer Beschluss zugunsten des türkischen Präsidenten als »von allen Witzen in dieser Sache der schlechteste« (Tagesspiegel) vorgehalten wird. Man ist dort ohnehin andere Dimensionen der Kritik gewohnt, seit 2005 ein Rentner namens Rolf Schälike seinen persönlichen Kreuzzug gegen die Hamburger Medienrichter begonnen hat. Als Stammgast besucht er seither die öffentlichen Verhandlungen und verfasst auf seiner Website bruchstückhafte Sitzungsprotokolle, die das Geschehen zwar nur annähernd aufklaren, ihren anderen Zweck jedoch durchaus erfüllen: die maximale Schmähung der »Zensoren in Richterrobe«. Nebenbei macht Schälike erfolgreiche Unterlassungsklagen gegen unzulässige Berichterstattung dadurch zunichte, dass er über die Klage und die zu unterlassenden Äußerun- Fotos: Getty Images; Rolf Vennenbernd/dpa (r.) D ass ein paar giftige Reime das Verhältnis Deutschlands zur Türkei vor nicht allzu langer Zeit auf die Zerreißprobe gestellt haben, wirkt im Angesicht jüngerer diplomatischer Krisen wie eine Obskurität der Geschichte. Doch die Auseinandersetzung in dem Fall dauert an und dürfte die deutsch-türkischen Beziehungen in den kommenden Wochen und Monaten weiterhin belasten. Voraussichtlich Anfang Juli wird Präsident Erdoğan am Landgericht Hamburg Klage erheben, nachdem seinem einstweiligen Unterlassungsantrag gegen Jan Böhmermann dort weitgehend stattgegeben worden ist. Viele Zeilen des Schmähgedichts seien in einer Weise beleidigend und ressentimentgeladen, die auch von der Kunst- und Meinungsfreiheit nicht mehr gedeckt sei, erklärte die Hamburger Pressekammer am 17. Juni ihre Unterlassungsverfügung. Die steht in seltsamem Kontrast zur nur vier Tage später ergangenen Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln, das eine Verfügung gegen Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner ablehnte, obwohl dieser in der Welt erklärt hatte, er wolle sich Böhmermanns »Formulierungen und Schmähungen inhaltlich voll und ganz anschließen und sie [sich] in jeder juristischen Form zu eigen machen«. Anders als ihre hanseatischen Kollegen erklärten die Richter in Köln, dass an den Äußerungen des Beklagten nichts auszusetzen sei, obwohl Döpfner sich mit seiner Loyalitätsbekundung ganz offenkundig genauso angreifbar hatte machen wollen wie Böhmermann selbst. 12 Erdoğan (Türkei) vs. Böhmermann (Köln). Gerichtsstand? Hamburg! Wichtige presserechtliche Verfahren landen in der Regel in Köln, Hamburg oder Berlin – und selten vor Kammern etwa in Bremen oder München. Warum? Fliegende Richter VON CONSTANTIN VAN LIJNDEN nigen anderen Städten) presserechtliche Konflikte stets denselben Richtern zur Entscheidung zuteilen, ist es für spezialisierte Anwälte ein Leichtes, sich mit deren jeweiligen Gepflogenheiten und Einstellungen vertraut zu machen. »Wer den höchsten Schadensersatz will, klagt in Berlin, wobei die Kachelmann-Entscheidung Köln attraktiver machen könnte. Wer eine möglichst schnelle Unterlassung sucht, wird in Köln ebenfalls gut bedient – die besten Chancen auf eine Unterlassungsverfügung hat man hingegen nach wie vor in Hamburg«, sagt Markus Kompa, der als Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht die Piratenpartei vertritt, seit ihr die Wiedergabe des Böhmermannschen Schmähgedichts zu Demonstrationszwecken untersagt worden ist. Die Entscheidung gegen den Satiriker hält Kompa für typisch: »Wenn es darum geht, den Kontext einer Aussage zu ignorieren oder von mehreren Interpretationsmöglichkeiten die für den Beklagten ungünstigste zu wählen, ist man in Hamburg von jeher ganz vorne dabei. Das hat sich in den letzten Jahren zwar ein bisschen relativiert, kann aber gerade in knappen Fällen immer noch den Ausschlag geben.« mationsinteresse der Öffentlichkeit. Diese und andere Entscheidungen, deren Implikationen weit über den Fall hinausreichten und die Existenz von Foren, Kommentarspalten und Nachrichtenarchiven oder gar den Abdruck von Interviews grundsätzlich infrage stellten, wurden später vom Bundesgerichtshof gekippt (oder, wo dies nicht möglich war, für falsch erklärt). Nach den Untersuchungsergebnissen von Uwe Jürgens lag die Quote für die Aufhebung von Hamburger Presseentscheidungen durch den BGH in den Jahren 2010 bis 2012 bei etwa 50 Prozent und damit um ein Vielfaches höher als bei anderen Zivilverfahren. Viele Medien scheuen den Weg nach Karlsruhe aber, weil er Jahre dauern und Zehntausende kosten kann. Und beim Oberlandesgericht, der zweiten Instanz in Hamburg, brauchen sie auf eine Kurskorrektur meist nicht zu hoffen – umso weniger, als dem für Berufungen in Pressesachen zuständigen Senat seit 2011 der Richter Andreas Buske vorsitzt, der zuvor elf Jahre lang selbst die Leitung der Pressekammer innehatte. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn den Medienberichten über die Hamburger »Kammer des Schreckens« (Focus) eine gewisse Verbitte- gen selbst ausführlich berichtet. Gegen »Zensuranwälte« polemisiert Rolf Schälike auch – mit solcher Beharrlichkeit, dass der Medienrechtler Christian Schertz, der aktuell zwar als Verteidiger von Jan Böhmermann, sonst aber vor allem als Klägervertreter agiert, ihn sich im Jahr 2009 mithilfe von Stalking-Gesetzen vom Halse halten musste. Mit Hunderten Klagen haben Christian Schertz und seine Leidensgenossen den renitenten Rolf Schälike im Laufe der Jahre überzogen – doch der hat die Ausdauer und ganz offenbar auch das Geld, um jede bis zum Ende durchzufechten. Man könnte meinen, er sei die fleischgewordene Rache für alle überzogenen Hamburger Presserechtsurteile: unbezwingbar, unversöhnlich. Der perfekte Gerichtstroll. »Auf jeden Fall ist er eine Heimsuchung«, meint Sven Krüger, als Hamburger Medienrechtler selbst leiderprobt im Umgang mit Schälike. Dessen Tiraden deutet er als extreme Erscheinungsform einer Gerichtsschelte, die in milderer Ausprägung manchmal auch in seriösen Medien vorkomme. »Es liegt in der Natur der Sache, dass die Presse eigene Niederlagen nicht mit Begeisterung registriert und vermeldet. Daraus folgt aber gelegentlich unfaire Ur- teilsschelte – und das völlig unzutreffende Narrativ, die Richterschaft in Hamburg oder Köln oder Berlin habe sich gegen die Pressefreiheit verschworen.« Für die hohe Verfahrenskonzentration an diesen drei Standorten hält Sven Krüger eine andere Erklärung bereit: »Die drei Städte sind die größten Medienmetropolen des Landes, also lassen sich dort die meisten Anwälte für Medienrecht nieder. Und die klagen oft schon aus Zeit- und Kostengründen am liebsten bei jenem Gericht, das sie am schnellsten erreichen können – auch wenn sie sich ein anderes aussuchen könnten.« Wenn einzelne Kammern in einzelnen Rechtsfragen zeitweise strengere oder laxere Maßstäbe anlegten, dann deshalb, weil neue Mitglieder hinzukämen oder alte ausschieden oder die vorhandenen ihre Auffassung änderten. Einen – von Kritikern des »fliegenden Gerichtsstands« unterstellten – stillen Wettbewerb um Fallzahlen mittels klägerfreundlicher Urteile hat Krüger unter den Gerichten jedenfalls nicht beobachtet. Schließlich sei eine Pressekammer kein Unternehmen, und die Posten ihrer Mitglieder seien selbst dann nicht in Gefahr, wenn sämtliche Kläger zu einem vermeintlich vorteilhafteren Standort abwanderten. Die Berechenbarkeit der Entscheidungen der wichtigsten Pressekammern sei zudem kein Missstand, sondern – im Gegenteil – für alle Beteiligten ein Segen: »Gerade weil Presserecht Richterrecht ist, müssen die Richter erfahrene Presserechtler sein. Nur wer ständig mit der Materie zu tun hat und weiß, wie ähnliche Sachverhalte bisher entschieden wurden, kann dieselben Maßstäbe auch im nächsten Verfahren anlegen und den Parteien ein Mindestmaß an Planungssicherheit geben.« Selbst bei den spezialisierten Gerichten ergingen hin und wieder noch verblüffende Entscheidungen – »aber beim Landrichter in Aurich oder Schweinfurt, der im Jahr zwei derartige Fälle auf den Tisch kriegt, könnten Sie genauso gut eine Münze werfen«. Es gibt eine Art Wettkampf der drei großen Pressekammern: Momentan greift Köln an In dem unter Fachleuten schwelenden Streit hat sich Krügers Auffassung bislang durchsetzen können: 2008 fasste das Bundesjustizministerium eine Abschaffung des »fliegenden Gerichtsstandes« in Presseverfahren (auf Drängen von Verlegern und Journalisten) zwar ins Auge, ließ das Vorhaben nach Kritik seitens der anwaltlichen und richterlichen Berufsverbände aber fallen und nahm es auch dann nicht wieder auf die Agenda, als dem Spiegel-Juristen Uwe Jürgens in seiner Untersuchung 2014 der Beweis gelang, dass das Klageaufkommen einzelner Gerichte tatsächlich von ihrer Entscheidungspraxis abhängt. Jürgens hatte beobachtet, dass die Eingangszahl am Landgericht Köln just vom Jahr 2002 an zu steigen begann, als eine neue, klägerfreundliche Richterin den Vorsitz der Pressekammer übernahm. Das bei ihrem Antritt mit jährlich 125 Presseverfahren noch unbedeutende Kölner Landgericht konnte seine Eingänge bis 2010 mehr als verdreifachen und neben Hamburg und Berlin (deren Zahlen im selben Zeitraum entsprechend sanken) zu einem der drei zentralen deutschen Pressegerichte aufsteigen. Gern würde man hören, was die Richter in Hamburg vom neuen Nebenbuhler halten und wie viele weitere der als kurzweilig und angenehm geltenden Presseverfahren sie ihm abzutreten bereit sind. Doch die hanseatischen Vorsitzenden halten sich gegenüber Journalisten grundsätzlich bedeckt, was man vornehm finden kann – oder einfach clever. Schließlich besagt eine Grundregel des Medienrechts, dass man sich umso angreifbarer macht, je mehr man sich äußert, und sei es in bester Absicht. »Die Kammer und der Senat sprechen durch ihre Entscheidungen«, heißt es daher auf die Anfrage der ZEIT. Das kann man wohl sagen. 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 DOSSIER Epochales Ereignis: Vor 150 Jahren siegte Preußen über Österreich Seite 17 13 Brüssel, 22. März 2016 Drei Bomben. 35 Tote. 340 Verletzte. Gibt es ein Leben nach dem Terror? VON AMR AI COEN UND TANJA STELZER E s ist Freitagnachmittag, die gläubigen Muslime der Stadt sind vom Gebet zurück, die gläubigen Juden treffen die letzten Vorbereitungen für den Sabbat. Auch Walter Benjamin, Jude, aber nicht gläubig, ist vorbereitet. Er hat dabei: das Antibiotikum, das Mittel gegen die Phantomschmerzen, die Tabletten gegen die Angst, die Thrombosespritzen, das Pflaster gegen den Grundschmerz, die Kapseln gegen den Akutschmerz. Die Medikamente stecken in drei Papiertüten, »Freitag«, »Samstag«, »Sonntag«. Walter Benjamin ist guter Dinge. Noch 26 Treppenstufen bis zum Wochenende. Am besten, riet die Krankenschwester, nimmst du eine von den Akutkapseln, bevor du raufgehst. Walter Benjamin, 47 Jahre alt, bis zum 22. März dieses Jahres, 7.58 Uhr, Chef einer Partnervermittlungsagentur, seitdem Attentatsopfer auf der Suche nach einer Zukunft für sich und die Welt, hat Heimaturlaub. Jetzt, an diesem Freitag im Mai, darf er für zwei Tage sein Zimmer im Krankenhaus gegen seine Wohnung im Brüsseler Stadtteil Ixelles tauschen. Ein Jugendstil-Altbau, im ersten Stock: vier Zimmer, zwei Erker, ein Hund. Seit zwei Monaten hat Walter Benjamin nur noch ein Bein, das linke, und das ist, sechsfach gebrochen, in ein Metallgestell eingespannt. Rechts trägt er seit zwei Tagen eine Prothese. Die Ärzte sagen, er muss ausziehen aus seiner Wohnung. Walter Benjamin sagt, die kennen Walter Benjamin nicht. Ihn, der seit der Explosion eine noch viel größere Aufgabe hat als jene, die 26 Stufen zu bewältigen. Es sind zwei Freunde da, um ihn aufzufangen, falls er fällt. Walter Benjamin stemmt sich mit der Krücke aus dem Rollstuhl hoch und wankt die Treppe hinauf, das Prothesenbein, eine Schiene aus Stahl, ist auf einmal aus Gummi, und Walter Benjamin, eben noch ein kräftiger Mann, hat sich in eine viel zu schwere Marionette verwandelt, die jede Sekunde zu Boden sinken muss. Auf Stufe 19 strauchelt er, die Freunde halten ihn. Sie halten ihn noch einmal auf Stufe 21. Stufe 25 ist schräg angeschnitten. Er setzt die Krücke ab und findet auf Stufe 25 keinen Platz für das Prothesenbein. Er hat vergessen, die scheiß Schmerzkapsel zu nehmen, denkt Walter Benjamin, aber da liegt er schon. 340 Menschen wurden bei den Brüsseler Anschlägen am 22. März verletzt, 35 getötet, davon drei Attentäter. Viel ist geschrieben worden über die Terroristen Ibrahim und Khalid El Bakraoui, Mohamed Abrini und Najim Laachraoui. Nach den Anschlägen wurde ein Netz sichtbar, das der »Islamische Staat« zwischen Rakka in Syrien, Paris und Brüssel gesponnen hatte, auch nach Deutschland führen einige Fäden. Es gibt aber noch ein zweites Netz, über das bisher wenig geschrieben wurde. Das Netz, das die Opfer miteinander verbindet. Walter Benjamin, der gerade den aufrechten Gang neu lernt, bildet eine Schmerzensgemeinschaft mit Menschen in den USA, in Liberia, China, Japan, Ecuador, Polen, Deutschland. Mit Frommen und Atheisten, Armen und Reichen. Walter Benjamin, benannt nach seinem Großvater, nicht nach dem berühmten Philosophen, ist aus Zufall und ohne dass er sich dazu entschlossen hätte, verbunden mit den Angehörigen des Software-Ingenieurs Raghavendran Ganesan, die am anderen Ende der Welt leben, in Chennai, Indien. Er ist verbunden mit dem Witwer und den drei Kindern der muslimischen Lehrerin Loubna Lafquiri, die am anderen Ende der Stadt leben. Walter Benjamin ist verbunden mit den Eltern von Sascha und Alexander Pinczowski, zwei Geschwistern, die zwischen Maastricht und New York pendelten. Alles Menschen, denen sich die für unser Jahrzehnt existenziellen Fragen brutal konkret stellen: Wie kann man nach dem Terror weiterleben? Wie kann man mit ihm leben? Wie geht das, »die Terroristen nicht gewinnen lassen«, wie alle reflexhaft fordern, sobald wieder einmal etwas passiert ist? Man kann als westlicher Bürger ein halbes Jahr nach dem 13. November zu einem EM-Spiel ins Stade de France in Paris gehen. Man kann in Orlando demonstrativ in einem Schwulenclub tanzen. Man kann in Brüssel, wo tagtäglich EUBeamte, Diplomaten und Politiker ein- und ausfliegen, weiter einen globalen Lebensstil pflegen. Man kann in der Türkei Urlaub machen, auch nach dem jüngsten Anschlag am Atatürk-Flughafen in Istanbul. Aber es wird sich nicht anfühlen, als würde man »einfach weitermachen wie bisher«, sondern, unterschwellig zumindest, wie eine geFortsetzung auf S. 14 14 DOSSIER 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Brüssel, 22. März 2016 Fortsetzung von S. 13 E s ist der 22. März, halb neun am Morgen, am Flughafen Zaventem hält der Muslim Hassan Elouafi den Juden Walter Benjamin wach, als Raghavendran Ganesan in seiner Brüsseler Wohnung sitzt. Wie jeden Morgen öffnet er das Computerprogramm Skype, um die 8000 Kilometer in seine indische Heimat zu überbrücken und seine Mutter und seine Frau anzurufen. Sie reden über die Hitzewelle in Indien, und er fragt, wie es seinem Jungen geht, Arjun, erst sechs Wochen alt, die letzten Tage hat er ein wenig gekränkelt. Wieder gesund, sagt die Mutter, aber komm bald, er braucht seinen Vater. In zwei Monaten bin ich zurück und bleibe für immer, sagt er und legt auf. Raghavendran Ganesan ist 30 Jahre alt und schlauer als die meisten Menschen, ein Programmierer, der von seinen Kollegen »Genie« genannt wird. Ein schlanker, langer Mann mit freundlichem Gesicht, Seitenscheitel und Brille. Vor vier Jahren kam er nach Brüssel, um für den größten Mobilfunkanbieter des Landes zu arbeiten. Er hat hier in Belgien viel Geld verdient und sich in Indien eine Wohnung gekauft, in einem neuen Hochhauskomplex, fernab von den überfüllten, schmutzigen Straßen der Stadt, in einer Gated Community. Die Globalisierung, sie hat ihm den sozialen Aufstieg ermöglicht. In wenigen Wochen will er dort einziehen: mit seinem Sohn, seiner Frau und seinen Eltern. Den Flug in seine Zukunft hat er schon gebucht, ein One-Way-Ticket. Raghavendran Ganesan ist ein pünktlicher Mensch, jeden Tag um kurz vor neun verlässt er das Haus, um die U-Bahn zur Arbeit zu nehmen. Von der Station Merode sind es mit der Metrolinie 5 vier Stationen bis zu seiner Arbeit. Er steigt an diesem Morgen in den zweiten Waggon, jenen, in den zwei Stopps zuvor auch Khalid El Bakraoui gestiegen ist. Die Metro hält bei der Station Schuman und dann in Maelbeek. Um 9.11 Uhr sprengt Khalid El Bakraoui sich in die Luft. Im indischen Chennai sitzt die Mutter des Getöteten, vergräbt ihr Gesicht in den Händen und ruft: »Fünf Minuten! Hätte ich doch nur fünf Minuten länger mit meinem Sohn gesprochen! Ich hätte sein Leben gerettet.« Sechs Wochen sind vergangen, seit der Terror auch ihren Alltag zerstörte. Sechs Wochen, in denen sie sich in Hätte-wäre-könnte-Spiralen verfängt. Sie sitzt auf dem nackten Boden ihres bescheidenen Hauses aus Beton, an den Wänden hängen Bilder von Hindu-Göttern, ein Ventilator weht die Hitze durch den Raum. Von draußen dringt eine Kakophonie aus Hupen und knatternden Rikscha-Motoren ins Haus. HASSAN ELOUAFI Besuch am Krankenbett: Nach dem Anschlag sind der Muslim Hassan Elouafi und der Jude Walter Benjamin Freunde geworden zurückbomben in eine Welt, in der sich Kulturen nicht mischen. Am 11. September 2001 griffen die Terroristen den Kapitalismus an, beim Massaker in der Redaktion von Charlie Hebdo die Meinungsfreiheit, beim Attentat vom Bataclan den westlichen Lebensstil und in Orlando die sexuelle Freiheit. Brüssel war ein Angriff auf die Internationalität. Der Anschlag am Flughafen Zaventem und an der Metrostation Maelbeek mitten im EU-Viertel steht wie kaum ein anderer für die Überforderung durch diese neue Weltordnung. Während die Mutter indisches Curry und Chapatis serviert, erzählt die Familie von den Stunden nach dem Attentat. Als sie das Skype-Gespräch beendet hatten, schaltete die Mutter den Fernseher ein und sah die Trümmer am Brüsseler Flughafen, die Menschen, die aus dem Terminal flüchteten. Immer wieder wählte sie die Handynummer ihres Sohnes, es klingelte und klingelte, aber Raghavendran hob nicht ab. Der Bruder erreichte Brüssel noch am selben Tag und lief in der panischen Stadt von Krankenhaus zu Krankenhaus, aber keiner konnte ihm sagen, wo Raghavendran war. Zwei Tage später kamen auch die Eltern in Brüssel an, Arbeitskollegen von Raghavendran halfen ihnen bei der Suche. Als sie auch am dritten Tag nichts von ihm hörten, wuchs der Gedanke an das Unerträgliche. Benjamin darum bitten, die Besucher mögen nicht unangemeldet kommen. Wer immer kommen darf: Hassan. Walter Benjamins Nachricht, Hassan Elouafi habe beim Wiedersehen im Krankenhaus in seinen Armen geweint und gesagt: »Ich bin so froh, dich lebend zu sehen«, wurde 28 000-mal auf Facebook geteilt. »Hassan« heißt übersetzt »der Gute«. Am Flughafen war Hassan Elouafi bis zum 22. März zuständig für die Luftzufuhr der Flugzeuge und die Bildschirme im Flughafengebäude. Als die erste Bombe explodierte, machte er gerade einen Kontrollgang durch die Abflughalle. Seitdem war er nicht mehr am Flughafen, er weiß nicht, wie er diesen Ort wieder betreten soll, an dem er den Daueralarm der blockierten Gepäckbänder hörte, wie er den Fuß auf den Boden setzen soll, auf dem die Trümmer und die Leichen und die abgetrennten Körperteile lagen. Das Wasser der Sprinkleranlage regnete darauf, bis alles einen See bildete und bis irgendjemand ihn, den Techniker, bat, die Sprinkleranlage abzuschalten. Sein Körper ist gesund, und trotzdem wirkt Hassan Elouafi im Vergleich zu Walter Benjamin viel schwerer verletzt. Er ist krankgeschrieben. Anstatt zur Arbeit zu gehen, bringt er jetzt Couscous an Walter Benjamins Klinikbett. Er rasiert seinem Freund den Schädel, er schiebt ihn im Rollstuhl durch den Krankenhauspark. Ein Zeichen des Sieges über die Terroristen: Ihr wolltet den Krieg zwischen den Religionen – was ihr bekommt, ist unsere Versöhnung. Sobald Walter Benjamin wieder reisen kann, wollen sie zusammen nach Israel fliegen. Walter Benjamin will einen Baum für Hassan Elouafi pflanzen, Hassan Elouafi will in der Al-AksaMoschee in Jerusalem beten, weil ein Gebet dort 500-mal so viel wert ist wie ein Gebet in Brüssel. Walter versucht, seinem Freund Hassan zu erklären, dass die israelische Mauer ein notwendiges Übel ist. Hassan ermahnt seinen Freund Walter, ihn bitte nicht als »Araber« zu bezeichnen, sondern als »Muslim«. Die beiden versuchen im Kleinen, was die Gesellschaft im Großen lernen muss, nach jedem Terroranschlag mehr: sich auszutauschen. D ie weiterführende Schule La Vertu, »Die Tugend«, an der Loubna Lafquiri unterrichtete, ist in einem Altbau im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek untergebracht. Die Nachbarn rechts und links: zwei katholische Schulen. La Vertu ist eine muslimische Schule. Sie wurde, nach jahrelangem Streit mit den Behörden, erst im letzten Sommer gegründet. Zuletzt hatten Gegner eine Online-Petition gestartet. Die Unterzeichner wüteten: »Man will uns infiltrieren!« – »Wir sind nicht in Saudi-Arabien!« – »Aus diesen Schülern werden Dschihadisten!« Heute hat La Vertu 122 Schüler. Sport, Schwimmen, Biologie sind Pflicht, das Kopftuch ist es nicht. Trotzdem tragen es viele Schülerinnen und die meisten Lehrerinnen. Das Wort »Ghetto-Schule« trifft es nicht. Die Schüler sind wild gemischt: Diplomaten- und Professorenkinder sind dabei, viele kommen aus einfachen Familien. Imame schicken ihre Töchter und Söhne hierher, auch Salafistenfamilien. An der Schule La Vertu zählt die Toleranz mehr, als die Kritiker vermuteten. Und die Toleranz gilt auch für die, die ihren Glauben streng leben. Mit allen, auch mit den Salafisten, sagen die Kollegen, kam die Sportlehrerin Loubna Lafquiri gut zurecht. Loubna Lafquiri trug kein Kopftuch, dafür neonfarbene Turnschuhe, was gut zu ihrem Tempo passte, wie die Kollegen sagen. Sie ging oft schwimmen und joggen, sie tanzte, sie spielte Hockey. Vor einigen Jahren hatte sie einen Verein gegründet, der Schwimmkurse und Wanderausflüge für Frauen anbot. Loubna Lafquiri wollte die muslimischen Mütter aus ihren Wohnungen herausholen, ihnen ein positives Körpergefühl vermitteln, Selbstbewusstsein. Ein Foto, das nach dem Attentat kursierte, zeigt eine strahlend lächelnde Frau, die ein Kleinkind auf dem Rücken trägt. Ihren Arm hat sie um ein älteres Kind gelegt. Die beiden sind ihre jüngeren Söhne, zwei und acht Jahre alt, es gibt auch noch einen Zehnjährigen. Bevor sie ihre Arbeit an der neuen Schule antrat, hatte Loubna Lafquiri zehn Jahre an einer muslimischen Grundschule unterrichtet. Jetzt wollte sie sich um die Älteren kümmern, sie dazu motivieren, sich eine Zukunft aufzubauen. Im Lehrerzimmer ist das Fach mit der Aufschrift »Loubna« unberührt, die Schule will noch keinen Nachfolger suchen. »Wir stecken immer noch mittendrin«, sagt Loubna Lafquiris Vorgesetzter Hamza Boukhari. Ein bärtiger Mann, Belgier mit marokkanischen Wurzeln, 35 Jahre alt. An seinem Büro hängt ein Schild mit einem Descartes-Zitat: »Der Zweifel ist der Weisheit Anfang.« Hamza Boukhari bedauert es, dass die Gesellschaft so viel über Kopftücher streitet. Er würde sich lieber über Bildung unterhalten. »Die muslimische Gemeinschaft zahlt einen höheren Preis als alle anderen«, sagt Hamza Boukhari. Seine Schüler trauern nicht nur um ihre Lehrerin, die viele von früher aus der Grundschule kannten. Fotos: Geert Vanden Wijngaert/AP/dpa; Bas Bogaerts für DIE ZEIT; Amrai Coen für DIE ZEIT (v.o.n.u.) sellschaftliche Pflicht. Andere ahnen es erst. Diejenigen, die zum Netz der Opfer gehören, wissen es: »Einfach weitermachen wie bisher« ist weder klug noch möglich. Die chirurgisch-orthopädische Station des Universitätskrankenhauses Jette, Brüssel, ein Tag im Mai. Gerade hat die Besuchszeit begonnen. In Walter Benjamins Zimmer drängeln sich schon seine Mutter, ein Freund, den er seit 20 Jahren nicht gesehen hat, und zwei frühere Schulkameraden. Die Tür steht offen, es lohnt sich nicht, sie zu schließen. Weitere Besucher werden kommen, und für jeden werden die Pfleger geduldig einen neuen Stuhl hereintragen. Zwei Tage nach dem Attentat beginnt Walter Benjamin, auf Facebook über sein Leben im Krankenhaus zu schreiben, erst nur für Freunde, um ihnen zu sagen, dass er noch lebt. Für Helfer, Ärzte, Krankenschwestern, um ihnen zu danken. Dann für ein größeres Publikum. Das Fernsehen wird auf ihn aufmerksam. In seinem Krankenzimmer gibt er dem Sender RTL ein Interview. Er sagt, dass 99,99 Prozent der Muslime fabelhafte Leute seien. Am 28. März, sechs Tage nach dem Attentat, schreibt Walter Benjamin auf Facebook: »Ich lese im Internet, dass manche denken, ich hätte 99 Prozent meiner Neuronen verloren.« Am 29. März, eine Woche nach dem Attentat, bringen die Pfleger Stühle für das belgische Königspaar. Am 31. März, neun Tage nach dem Attentat, klopft ein Mann schüchtern an die Tür. Es ist Hassan Elouafi, den Walter Benjamin zuletzt am Flughafen sah und der ihn in der Universitätsklinik ausfindig gemacht hat. Von nun an wird er drei-, viermal die Woche zu Besuch kommen. Auch heute, an diesem Tag im Mai, quetscht er sich zu der Mutter und den anderen Besuchern ins Zimmer. Sofort beginnt Walter Benjamin, seinen alten Freunden von Hassan Elouafis Heldentat zu berichten. Er hat diese Geschichte schon Hunderte Male erzählt, aber auch dieses Mal wird er seinen Retter wieder nach einigen Details fragen, um die Lücken in seiner Erinnerung zu füllen. Es ist, als erobere er sich seine eigene Biografie zurück. Walter Benjamin wollte nach Tel Aviv fliegen, zu seiner Tochter, die dort bei seiner Ex-Frau lebt. »Ich stand am Check-in-Schalter gegenüber von Starbucks«, sagt er, »da hörte ich einen Knall. Ich dachte, es wäre ein Böller, und fragte mich, wer so doof ist, mitten am Flughafen mit einem Böller rumzuknallen. Dann sah ich eine Feuerkugel ein paar Meter von mir entfernt.« Als in der Abfertigungshalle alle Menschen, die noch rennen konnten, rannten – um nach draußen zu fliehen, um sich im Gepäckverladeraum zu verstecken oder hinter dem Vorhang eines Fotoautomaten –, da sah der Flughafentechniker Hassan Elouafi, ein 41 Jahre alter Belgier mit marokkanischen Wurzeln, Muslim, verheirateter Vater von vier Kindern, dass sich zwischen all dem Staub und den Trümmern, zwischen den Leichen und den herumliegenden Körperteilen etwas bewegte. Hassan Elouafi stieg über die Toten und kam etwa gleichzeitig mit einem Soldaten bei Walter Benjamin an: Das rechte Bein war weggesprengt, aus dem Stumpf schoss Blut. Der Soldat legte einen Druckverband an. Hassan Elouafi fragte den Schwerverletzten: »Wollen Sie jemanden anrufen?« Walter Benjamin sagte die einzige Nummer, die er auswendig kann. In das Handy, ans Ohr gehalten von seinem Helfer, sprach er hinein: »Mama, sei einmal im Leben still, das ist jetzt wichtig. Ich bin am Flughafen. Es gab eine Explosion, ich bin verletzt worden. Vielleicht werde ich sterben.« Sie solle in Israel anrufen, bei der Familie. Die Mutter, im Krankenzimmer zusammengesackt auf dem Stuhl, sagt: »Ich bin verrückt geworden vor Angst.« Hassan Elouafi flüstert: »Der Mann neben Walter hatte keinen Kopf mehr.« An ihrer Seite sitzt die trauernde Familie: der Vater, der früher Angestellter bei einem Logistikunternehmen war und vor ein paar Monaten in Rente gegangen ist. Der kleine Bruder, der in Paderborn Elektrotechnik studiert und nun angereist ist, um der Familie zu helfen. Und die Ehefrau Vaishali, Witwe mit 26, eine indische Schönheit mit riesigen braunen Augen, aus denen Tränen fallen. In ihren Armen hält sie das schlafende Baby, eine ständige Erinnerung an das Hätte-Leben. Raghavendran war der einzige Verdiener der sechsköpfigen Familie, er hatte seinen Eltern gesagt, er werde sie nun, da sie alt sind, versorgen. Auch deshalb schien den Ganesans die Globalisierung wie ein Segen: Raghavendran konnte in Europa Karriere machen, konnte sich und seiner Familie damit in der Heimat neue Freiheit erkaufen. Heute wissen sie, dass die Globalisierung nicht nur den Wohlstand bringt, sondern auch den Terror. Brüssel, die Stadt, in der die Attentäter ihre Zelle gegründet hatten, ist eine der globalsten Städte der Welt. Die Hauptstadt Europas, 1,2 Millionen Einwohner, davon sind zwei Drittel nichtbelgischer Herkunft. Wer durch die Straßen geht, hört Niederländisch, Französisch, Arabisch, Englisch, Türkisch. Globalisierung bedeutet immer, dass Grenzen verwischt werden, die Grenzen zwischen den Ländern, die Grenzen in den Köpfen, die Grenzen zwischen den Kulturen. Traditionen gehen verloren, alte Regeln gelten nicht mehr. Die neue Freiheit bringt auch neue Unsicherheit. Man kann sagen: Die Globalisierung ist die Stärke und die Schwäche der Moderne zugleich. Die Bakraoui-Brüder, Abrini, Laachraoui und die anderen Terroristen: Sie wollen den Westen WALTER BENJAMIN Bei der Explosion am Flughafen verlor er sein rechtes Bein. Inzwischen lassen ihn die Klinikärzte die Wochenenden zu Hause verbringen. Hier begrüßt Walter Benjamin seinen Hund, um den sich zurzeit meistens die Mutter kümmert FAMILIE GANESAN Bruder, Mutter, Vater, Witwe (von links): Die Hinterbliebenen von Raghavendran Ganesan in Chennai, Indien Raghavendran Ganesan, Walter Benjamin, Hassan Elouafi: Man könnte sie als Kriegsopfer unserer Zeit bezeichnen. Wie die Weltkriege bringen die terroristischen Attentate Witwen und Waisen hervor, Versehrte und Traumatisierte. »Frankreich ist im Krieg«, sagte François Hollande nach den Anschlägen von Paris. Auch Joachim Gauck nannte den Terror eine »neue Art von Krieg«, und Papst Franziskus sprach vom »Dritten Weltkrieg«. Es gibt heute keine klare Definition mehr: Krieg bedeutet längst nicht mehr, dass Staaten gegen Staaten kämpfen. Nicht mal im Frieden ist kein Krieg. Als George W. Bush nach dem 11. September den »Krieg gegen den Terror« begann, war das eine Entschuldigung für alles: für Guantánamo, für Folter, für den Angriff auf den Irak. Wenn wir das, was jetzt geschieht, einen Krieg nennen – tun wir dann genau das, was die Terroristen von uns wollen? Am 7. April, 16 Tage nach dem Attentat, postet Walter Benjamin: »Wir dürfen nicht das Spiel jener Barbaren spielen, die zu Unrecht eine Religion benutzen, um den Tod zu säen und Unschuldige in Henker zu verwandeln. Muslime, Juden, Christen, lasst uns handeln.« 9. April, 18 Tage nach dem Attentat: »Ich weine wie ein Idiot, ich bin 47 Jahre alt, und ich sage mir: Scheiße, welchen Schmerz habt ihr diesem Land zugefügt, das ich so sehr liebe?« Walter Benjamins Äußerungen werden immer politischer. Der Oberrabbiner von Brüssel, der Vorsitzende der Muslime in Belgien und die israelische Botschafterin besuchen ihn im Krankenhaus. Es tauchen fremde Menschen auf, die Walter Benjamin kennenlernen wollen. Menschen, die ihn schon lange vergessen hatten. Alle bekunden ihre Solidarität. Bald muss Walter Sie haben nicht nur, wie alle, Angst vor einem neuen Attentat. Für sie gibt es da noch etwas anderes, etwas, wovon sie erst eine grobe Ahnung haben. »Die Islamophobie wird noch ganz neue Formen annehmen.« Einmal, erzählt Hamza Boukhari, sei Loubna Lafquiri mit 50, 60 Schülern zu einem Ausflug gefahren. Viele der Mädchen trugen ein Kopftuch. In der Metro stürmte ein Mann auf die Lehrerin zu und schrie sie an: »Ihr seid alle Terroristen!« Nachdem Loubna Lafquiri selbst Opfer von Terroristen geworden war, kam niemand von den katholischen Schulen nebenan vorbei, um zu kondolieren. Kein Politiker ließ sich blicken. Das kränkt Hamza Boukhari. Als Opfer passen die Muslime nicht ins Bild, nur als Täter. Am 18. März hetzte Loubna Lafquiri zur Schule. »Bei uns im Viertel ist der Teufel los«, sagte sie zu Hamza Boukhari, »die haben alles abgesperrt.« Loubna Lafquiri lebte mit ihrem Mann und ihren Kindern in Molenbeek, jenem Stadtteil, den die Welt seit einiger Zeit zu kennen glaubt. Sie fühlte sich wohl dort, sagen die Kollegen. Doch an dem Tag, an dem die Polizei Salah Abdeslam festnahm, den Attentäter von Paris, wurde es Loubna Lafquiri unheimlich. Die Wohnung, in der er sich versteckt hatte, ist nur ein paar Häuser von ihrer entfernt, »so nah!«, sagte sie. Vier Tage später, am 22. März um 9.07 Uhr, steigt Loubna Lafquiri auf dem Weg zur Schule an der Station Schuman in den zweiten Waggon der Metrolinie 5, in jenen Waggon, in dem schon der indische Programmierer Raghavendran Ganesan sitzt. Der Mann von Loubna Lafquiri war Metrofahrer. Ein Beruf, den er kaum wieder ausüben wird. Am 1. April, zehn Tage nach dem Attentat, verliest eine Lehrerin bei einer Trauerfeier einen Brief des Witwers: eine Liebeserklärung an seine tote Loubna. Der letzte Satz lautet: »Molenbeek, das ist nicht nur Salah Abdeslam, Molenbeek, das ist auch Loubna Lafquiri.« B DOSSIER 15 D I E Z E I T No 2 8 ei der Feuerwehr gibt es eine Regel, die besagt: Der Jüngste muss als Erstes los. Die Regel soll dafür sorgen, dass Feuerwehrleute Einsatzerfahrung sammeln. Als um 8.10 Uhr in der Zentralen Wache von Brüssel, Avenue de l’Héliport, über Lautsprecher die Ansage »Notruf wegen Feuer« tönt, haben die Männer gerade ihren Morgenappell im Innenhof beendet. Der Kapitän Nicolas Jalet, 36, nimmt die Meldung »zwei Explosionen in Zaventem« entgegen und schickt den Jüngsten der Offiziere mit einer Kolonne zum Flughafen. Um 9.12 Uhr wieder ein Alarm – die Explosion in Maelbeek. Maelbeek, das ist die Metrostation von Nicolas Jalets Kindheit. Er kennt sie in- und auswendig. Und er hat, seitdem er Feuerwehrmann ist, immer wieder durchgespielt, wie er bei einem Attentat auf eine U-Bahn-Station vorgehen würde. Er hat das Attentat von London im Kopf. Es gibt einen Offizier, der jünger ist, der nun eigentlich rausmüsste. Aber das hier ist Nicolas Jalets Ding, »ich mache das«. Seine Kolonne rast los. Sie stoppt an einem Seiteneingang der Metrostation. Dann steigt Nicolas Jalet hinunter in den Rauch. »Wir sind für das Schlimmste zuständig«, sagt er. »Alle Probleme landen am Ende bei uns.« Es war seine Kompanie, die den verletzten Salah Abdeslam ins Krankenhaus brachte – und es waren er und seine Leute, die die Verletzten aus der Station Maelbeek rausholten. An seinem freien Tag sitzt Nicolas Jalet in seinem Wohnzimmer, ein durchtrainierter Mann in grauem T-Shirt und einer kurzen blauen Hose, die in auffälligem Kontrast zu seinen strengen Gesichtszügen steht. Er wohnt alleine hier in einem Stadthaus am Rande von Brüssel. Im Regal: Bücher über Stalingrad, Hitler, den D-Day, Pompeji. Eigentlich wollte er Historiker werden. Dann fand er, es sei klüger, im Heute etwas zu verbessern, als zu versuchen, das Früher zu verstehen. Nicolas Jalet zieht einen Stadtplan aus dem Regal, faltet ihn auseinander und breitet ihn auf dem Marmortisch aus. Über den Plan sind größere und kleinere schwarze Punkte verstreut. Er hält alle Feuer fest, die er gelöscht hat, er kartografiert seine Siege über den Schrecken. Bei der Metrostation Maelbeek ist noch nichts eingezeichnet. Nicolas Jalet hat noch nicht abgeschlossen mit diesem Einsatz. Vielleicht kann man erahnen, was Nicolas Jalet erlebt hat, wenn man weiß, dass er die Menschen, deren Überreste er in der Metrostation gesehen hat, nicht mit den Fotos zusammenbringen konnte, die später in den Zeitungen erschienen. »Vielleicht bin ich auf diese Leute draufgetreten«, sagt er, als enthalte die Brutalität seiner Worte gleichzeitig eine Beruhigung: »Ich halte das aus.« Als sie unten waren in der Metrostation, klingelten unablässig die Handys der Toten. Nicolas Jalet denkt mit Grauen an jenen Tag. »Meine Kollegen und ich, wir sind in gewisser Weise auch Opfer. Wir sind alle gezeichnet.« Trotzdem sagt er, dass er das Leben seit dem 22. März positiver sieht. Er hat überlebt. Er konnte helfen. Und in Zukunft wird er noch besser vorbereitet sein. »Ich will nicht«, sagt er, »dass der 22. März mein Leben ist.« Wie kommt es, dass der eine ein grauenvolles Erlebnis gut verkraftet, der andere nicht? Und wenn es eine Antwort auf diese Frage gibt, können wir als Gesellschaft etwas daraus lernen? Die erste Therapeutin, bei der Walter Benjamins Freund Hassan Elouafi Hilfe suchte, war überfordert. Als er weinte, weinte auch sie. Es war Walter Benjamin, der Hassan Elouafi empfahl, es einmal mit einem Spezialisten zu versuchen, den er kennt. Ein Israeli, der mit der Psyche von Attentatsopfern vertraut ist. Israel hat auf dem Gebiet einen traurigen Vorsprung an Erfahrung. Yori Gidron ist ein kleiner, freundlicher Mann, der versucht, Gefühle zu ordnen. Ein Psy- chologe und Neurowissenschaftler, für den das Leiden einer Seele viel mit Hirnzellen, Synapsen und Nervenbahnen zu tun hat. Yori Gidron hat in Kanada und Israel geforscht, zurzeit lehrt er an der Universität Brüssel. Er ist besessen von der Idee, herauszufinden, was genau im Gehirn geschieht, wenn ein Mensch eine existenzielle Bedrohung erlebt – und wie man dieses Wissen nutzen kann, um eine Traumatisierung zu verhindern oder zu behandeln. Er war schon oft an Orten, an denen sich Katastrophen ereignet hatten. Er hat humanitäre Einsätze im Erdbebengebiet in Nepal begleitet, Einsätze bei Tsunami-Opfern in Japan, zuletzt war er für die Vereinten Nationen in Haiti. Das Erstaunliche ist: An all diesen Orten hat Yori Gidron viele Menschen kennengelernt, denen noch so schreckliche Ereignisse nichts anhaben konnten. Diese Menschen hatten alles verloren, sie hatten Tage in Todesangst verbracht, dennoch waren sie psychisch vollkommen intakt. Yori Gidron nennt sie lieber »Überlebende« als »Opfer«, was ein feiner und gleichzeitig ein großer Unterschied ist. Betritt man Yori Gidrons kleines Büro an der Brüsseler Universitätsklinik, zwei Etagen unter dem Krankenzimmer von Walter Benjamin, erscheint einem das, was der Terror mit den Opfern macht, zwar noch immer grausam, aber doch zu fassen, mit Zahlen, Berechnungen, Statistiken. Im Gespräch mit dem Fachmann für die Leiden der Seele wird der Blick auf das Leben mit dem Terror beruhigend rational. Yori Gidron klappt sein Notebook auf und startet eine PowerPoint-Präsentation. Auf dem Bildschirm bauen sich Balkendiagramme auf: Nach einem Verkehrsunfall haben 20 Prozent der Opfer eine posttraumatische Belastungsstörung, nach einer Vergewaltigung 45 Prozent. Bei einem Terrorakt sind es knapp 30 Prozent. 30 Prozent – das heißt, dass 70 Prozent der Menschen, die einen Terrorakt miterleben, seelisch gesund bleiben. Sie haben keine Flashbacks, keinen erhöhten Puls, keine Schlaf- oder Konzentrationsstörungen, alles typische Merkmale einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Fachbegriff für die Unverwüstlichkeit dieser Probanden lautet »Resilienz«. Was ist anders im Gehirn dieser Menschen?, fragte sich Yori Gidron. Forscherkollegen schoben Patienten, die etwas Bedrohliches erlebt hatten, in ein MRT-Gerät und spielten Geräusche ein, die der Klangkulisse des traumatischen Ereignisses ähnelten: zerspringendes Glas, berstendes Holz, zusammengedrücktes Metall. Andere Wissenschaftler machten ähnliche Versuche mit Videos. Bei den Traumatisierten war eine Hirnregion besonders aktiv, während sie die Geräusche hörten und die Videos sahen: die Amygdala, die für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig ist. Bei den resilienten Patienten flackerte der Neokortex auf, der für den Verstand zuständig ist. Was, wenn man den Neokortex animieren könnte? Es ist bekannt, dass Bilder eher die Amygdala reizen, Worte eher den Neokortex. Yori Gidron bat Unfallopfer, ihre Geschichte zu erzählen. Sie taten das wie alle Menschen, die einer bedrohlichen Situation entkommen sind: durcheinander, aufgeregt, voller Emotion. Yori Gidron unterbrach sie immer wieder. Sagte ein Proband »Ich hatte Angst« oder »Ich war in Panik«, fragte der Professor: Warum hatten Sie Angst? Warum waren Sie in Panik? Er hakte nach: Was geschah zuerst, was genau passierte dann? Er machte sich Notizen, und dann erzählte er seinen Probanden ihre Geschichte noch einmal neu, nüchtern, klar, eins nach dem anderen. Eine logische, ein wenig langweilige Schilderung, in der viele Sätze mit »weil«, »deshalb«, »darum« verbunden waren. »Der Knall, den Sie hörten, kam von dem Aufprall.« – »Sie fürchteten sich, weil Sie Ihre Tochter nicht sehen konnten.« Dann bat er die Patienten, ihre Erlebnisse noch einmal auf genau diese Weise zu berichten. Er bat sie, sie aufzuschreiben. In Belgien und Israel hat Yori Gidron mehrere Studien zu dieser Methode gemacht, auch mit Terroropfern. »Wir konnten es selbst nicht glauben«, sagt er. Drei Monate nach dem Ereignis hatten die Probanden so gut wie keine Flashbacks mehr. Auch ein israelischer Kollege, der eine ähnliche Methode entwickelte, hat großen Erfolg. Wenn Yori Gidron seine Forschungsergebnisse bei Kongressen vorstellt, verlassen manche seiner Kollegen den Saal. Denn die Methode widerspricht dem, was in der Traumatherapie lange üblich war und noch oft praktiziert wird: Man animiert den Patienten dazu, die traumatische Situation immer und immer wieder emotional zu durchleben – man provoziert also ein ständiges Feuern der Amygdala. In Israel ist Yori Gidron selbst um Sekunden einem Attentat in einem Zug entkommen, seine Mutter wurde bei einem Anschlag verletzt. »Wir wissen noch so wenig«, sagt er, »und wir müssen so dringend mehr wissen.« Nicht nur die Medizin wird sich weiterentwickeln müssen. Es geht darum, den Neokortex der ganzen Gesellschaft zu aktivieren. E dmond und Marjan Pinczowski sind ein schönes Paar, immer noch. Er: 70 Jahre alt, schlank, graue Haare, das Hemd mit Manschettenknöpfen, Kurzname Ed. Sie: 63, zierlich, hellgrüne Augen, der Teint lässt ihre indonesischen Wurzeln erahnen. Die beiden Niederländer sind seit 38 Jahren verheiratet, er war Hotelmanager, sie die Frau an seiner Seite, die ihm überallhin folgte, wo er die Hotels großer Ketten leitete: nach Nairobi, Jerusalem, Jamaika, Brüssel, Antalya, Frankfurt, Athen. Ein Leben, das ihnen viele schöne Momente schenkte. Zu den schönsten gehörten jene Abende in Antalya, wenn der Muezzin rief. Dann ging Marjan Pinczowski raus auf den Balkon, um ihm zuzuhören. Die Pinczowskis sind Weltbürger, aufgeschlossene Menschen. Seit Kurzem lebt das Ehepaar in der Nähe von Maastricht, Niederlande, wo Edmond, der die Rente gerade mal zwei Wochen lang ertrug, nun an der Hotelfachschule unterrichtet. Die Tochter Sascha, 26 Jahre alt, und der Sohn Alexander, 29, pendelten nach New York, wo sie studierten. Mit den Eltern waren sie, über Ozeane und Zeitzonen hinweg, ständig über das Handy verbunden. Gerade waren die Kinder für ein paar Wochen bei den Eltern zu Besuch gewesen, am 22. März wollten sie zurück in die USA. In der Abflughalle, an Schalter 11, Delta Airlines, warteten sie auf die Abfertigung. Alexanders Handy klingelte, es war seine Mutter. »Habt ihr schon eingecheckt?« – »Wir stehen gerade in der Schlange«, sagte Alexander Pinczowski. »Warte«, sagte die Mutter, »Papa will dir noch was sagen.« Als Edmond Pinczowski das Vier Opfer RAGHAVENDRAN GANESAN Der indische Programmierer war 30 Jahre alt und arbeitete in Brüssel. In diesem Sommer wollte er zurück in die Heimat, zu Frau und Kind SASCHA PINCZOWSKI Die Tochter eines Hotelmanagers führte schon als Kind ein globales Leben. Zuletzt studierte sie in New York. Sie starb mit 26 ALEXANDER PINCZOWSKI Saschas Bruder wurde in Jerusalem geboren. Er studierte in London und dann in New York, wo er 2013 heiratete. Er wurde 29 Jahre alt LOUBNA LAFQUIRI Sie unterrichtete Sport an einer muslimischen Schule in Brüssel. Sie war 34 Jahre alt und hinterlässt einen Mann und drei Söhne erträglicher zu machen. Einen Sitz neben ihnen, nur durch den Gang von ihnen getrennt, saß ein düster blickender junger Mann. Marjan Pinczowski fand, er sehe den Attentätern ähnlich. Wie konnte er einfach so einen Film schauen und das Bordmenü essen? Sie brach in Tränen aus und weinte den ganzen Flug über, sechs Stunden lang, die Stewardess versuchte, sie zu trösten. Beschämt erzählt Marjan Pinczowski, die schon auf der ganzen Welt gelebt hat, umgeben von Menschen aller Religionen und Hautfarben, der junge Mann sei vielleicht nicht mal marokkanischer Abstammung wie die Attentäter gewesen, vielleicht war er Inder. Seine Hautfarbe reichte, um ihn in ihren Augen verdächtig zu machen. »Er hörte mit, wie Ed der Stewardess unsere Geschichte erzählte«, sagt sie, »und dann beugte er sich hinüber zu meinem Mann und sagte: Ich bete für Sie und Ihre Frau.« Nach dem Terror wächst die Angst vor dem Fremden, so war es in den USA nach dem 11. September, so war es in Madrid nach den Zuganschlägen, so war es in Israel nach der Zweiten Intifada. Eine verletzte Gesellschaft ist empfänglich für Vorurteile – und für Populismus. Unsicherheit soll überspielt werden mit Machtdemonstrationen. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt Parteien wie die AfD, die FPÖ, der Front National so erfolgreich sind in Europa. Nach 9/11 schoss der Verkauf amerikanischer Flaggen in die Höhe, die Hersteller kamen nicht hinterher mit der Produktion. Zu groß war der Wunsch, sich gegen den Feind abzugrenzen, den eigenen Patriotismus auszustellen. In der Vergangenheit haben Terroranschläge Gesellschaften immer nach rechts driften lassen. Man würde annehmen, dass eine Gemeinschaft, die ständigem Terror ausgesetzt ist, auch in ständiger Angst lebt. Dass sie irgendwann angeschlagen sein wird und krank wie ein Boxer, der zu viele Kämpfe hinter sich hat. Das Gegenteil ist der Fall. Irgendwann gewinnt der Neokortex die Oberhand, jener Teil des Gehirns, der für den Verstand zuständig ist. Je häufiger eine Gesellschaft vom Terror erschüttert wird, desto mehr gewöhnt sie sich daran. Es gibt nicht nur eine individuelle, sondern auch eine soziale Resilienz. Im Zweiten Weltkrieg verließen Menschen in den Pausen zwischen Luftangriffen den Bunker und holten beim Bäcker Brötchen. Während des Nordirland-Konflikts, in dem Tausende Bomben gezündet wurden, fuhren die Menschen weiter mit dem Bus zur Arbeit. In Israel trafen sich die Bürger mitten in der Intifada im Café und aßen Falafel, auch wenn sie dabei auf ausgebrannte Autos blickten. Und in Bagdad gehen die Menschen jetzt noch täglich auf den Markt, obwohl dort immer wieder Bomben explodieren. »An alles kann sich der Mensch, dieses Schwein, gewöhnen!«, so formulierte es einst Fjodor Dostojewski. Der Terror wird zu einer neuen Normalität und dient als weiterer Beweis, unter welch widrigen Bedingungen wir leben können. Und wie immer, wenn der Mensch widrigen Bedingungen ausgesetzt ist, versucht er sich durch Rituale zu beruhigen. Z Fotos: privat 30. J U N I 2 0 1 6 Handy nahm, hörte er ein berstendes Geräusch. Dann war die Leitung tot. Es ist vieles zerstört seitdem. Der Alltag, ein Lebensplan, Überzeugungen. Nichts ist mehr wie zuvor, die Welt hört sich nicht einmal an wie früher. Die Mutter schläft jetzt mit Ohrstöpseln, weil das Vogelgezwitscher am Morgen sie an den ersten Tag erinnert, an dem sie mit dem Gedanken aufwachte: »Meine Babys sind fort.« Fünf Wochen nach dem Anschlag, vier nach der Beerdigung der Kinder, begleitete Marjan Pinczowski ihren Mann auf eine Dienstreise in die Vereinigten Arabischen Emirate. Als sie im Hotel eincheckten, drang die Stimme des Muezzins in die Lobby, und Marjan trat vor das Hotel. Die Stimme des Muezzins, sagt sie, klang bittersüß. Der Flug nach Dubai war ihr erster nach dem Anschlag gewesen. Abflug in Düsseldorf, um es wei Monate sind seit dem Attentat vergangen, als die belgische Regierung zu einer Gedenkfeier lädt. Der 22. Mai ist ein verregneter Sonntag, in Brüssel sind die Straßen um den Königlichen Palast abgesperrt, Soldaten marschieren über die Bürgersteige, Polizisten kontrollieren Autos. Vor einer Absperrung steigt aus einem Taxi die indische Familie Ganesan. Die Eltern des Programmierers Raghavendran, der Bruder, die Witwe mit dem Kind im Arm. Die beiden Frauen tragen ihre feinsten Saris, die Männer Lungis, traditionelle Wickelröcke. Sie gehen die Treppen des gigantischen Palasts hinauf. Vor einem Jahr ist die Witwe Vaishali die Stufen schon einmal hochgelaufen, an ihrer Seite der Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte. 2014 hatte sie Raghavendran kennengelernt, und es war eine Liebesgeschichte wie aus einem Bollywood-Film: verliebt beim ersten Treffen, ein halbes Jahr später die Hochzeit mit Henna und Blumen und Tanz. Sie zog zu ihm nach Brüssel, sie spazierten durch den Botanischen Garten und ließen sich durch den Königspalast führen. Als sie schwanger wurde, beschlossen die beiden, dass ihr Kind in Indien geboren werden und aufwachsen sollte. Vaishali sollte auf ihrem gemeinsamen Weg ins neue, indische Leben vorausgehen und dort auf ihn warten. Rund 600 Gäste sind in den Thronsaal gekommen, Regierungsmitglieder, Botschafter, Soldaten, Feuerwehrmänner, Überlebende und Hinterbliebene aus der ganzen Welt. Zwischen ihnen nimmt Familie Ganesan nun schüchtern Platz in der zweiten Reihe, unter goldverzierten Kronleuchtern, auf Stühlen, die mit rotem Samt bezogen sind. Ein Bläserquintett spielt Mozart, der König und der Premierminister halten auf Niederländisch und Französisch Reden, in denen sie von Anerkennung, Mut und einer besseren Welt sprechen. Familie Ganesan sitzt still im Publikum und versteht kaum ein Wort, weil keiner für sie übersetzt. Die Namen der 32 Todesopfer werden laut und langsam verlesen, und für jedes einzelne wird eine weiße Rose niedergelegt. Raghavendran Ganesan. Loubna Lafquiri. Alexander Pinczowski. Sascha Pinczowski. Nach dem Anschlag von Brüssel hat es weitere Attentate gegeben, auf den Schwulenclub in Or- lando, auf einen Polizisten bei Paris. Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe dann der Angriff auf den Atatürk-Flughafen. Er wirkt wie eine Kopie der Tat von Brüssel, auch diesmal könnte es der IS gewesen sein. Die Bilder aus Istanbul und die aus Brüssel gleichen sich. Es ist, als wären wir in einer Endlosschleife des Terrors gefangen. Wie kann man mit dem Terror leben? Die Opfer von Brüssel und ihre Angehörigen haben unterschiedliche Antworten gefunden. Die Eltern und die Witwe von Raghavendran Ganesan werden mit dem Baby in die Wohnung ziehen, die er gekauft hatte; der Bruder überlegt, von Paderborn nach Chennai umzusiedeln, denn er ist es jetzt, der für die Familie sorgen muss. Auch die Pinczowskis überlegen wegzugehen, die Mutter sieht in Europa keinen sicheren Ort mehr. An der Grundschule, an der Loubna Lafquiri früher unterrichtete, wollen sie eine Turnhalle nach ihr benennen. Der Feuerwehrmann Nicolas Jalet hat sich in der Schweiz über Brände im Tunnel fortbilden lassen, denn wer weiß, ob die nächste Bombe nicht in einem Tunnel explodiert. Und Walter Benjamin? Im Universitätskrankenhaus, Abteilung Reha, hat er Besuch von einer Schülerzeitungs-AG. Sechs Mädchen, zwischen 15 und 17 Jahre alt, eine Lehrerin und ein Lehrer sitzen auf dem Krankenbett, auf Stühlen, auf dem Fußboden. Die Mädchen gehen auf eine katholische Schule. Trotzdem sind von den sechs Schülerinnen fünf Musliminnen, zwei kommen aus Molenbeek, »die Eltern schicken sie zu uns«, sagt die Lehrerin, »weil sie wissen: Hier lernen sie was.« Jetzt hören sie zu, mit aufgerissenen Augen, wie Walter Benjamin seine Geschichte erzählt: von dem Knall, von der Feuerkugel, von Hassan Elouafi, der ihm den Hörer ans Ohr hielt und der blieb, auch als ihm klar wurde, dass Walter Benjamin Jude ist. Ein Mädchen sagt: »Ich habe noch nie einen Israeli gesehen. Wenn das mein Vater wüsste.« Walter Benjamin erklärt ihr geduldig, dass er zwar Jude sei, aber die belgische und die französische Staatsangehörigkeit habe, dass Religionszugehörigkeit und Nationalität nicht dasselbe sind. Unter den ungläubigen Blicken der Mädchen entblößt er die Wunde an dem Bein, das ihm geblieben ist, und sagt: »Es wird weitergehen. Es wird noch mehr Attentate geben. Und man wird Moscheen anzünden. Es liegt jetzt bei eurer Generation. Ihr müsst miteinander reden.« Als das Gespräch zu Ende ist, stehen die Mädchen so vorsichtig auf, als könnten sie mit einer einzigen fahrigen Geste, mit einem einzigen zu lauten Geräusch das Band zwischen Walter Benjamin und ihnen zerreißen. Höflich verabschieden sie sich, aber er lässt sie noch nicht gehen. Er muss ihnen noch von dem Fotoapparat erzählen, den er in seinem Rucksack hatte, als am Flughafen die Bombe explodierte und wohl auch den Fotoapparat sprengte. Walter Benjamin hing sehr an dieser Kamera. Oft zog er am Wochenende los, um Brüssel, seine geliebte Stadt, zu fotografieren. Nach Molenbeek kam er nie. Und jetzt will Walter Benjamin nichts dringender als das. Deshalb ist er an seinem Wochenende daheim, dem ersten Wochenende, an dem er wieder aufrecht ging, noch einmal mit seinem Marionettenbein die 26 Treppenstufen hinabgestiegen. Er hat sich zu einem Fotogeschäft fahren lassen und eine neue Kamera gekauft. Wenn er wieder laufen kann, sagt er jetzt zu den Mädchen, will er als Fotograf durch Molenbeek ziehen. Er will die Jugendlichen, die bei ihm im Krankenhaus waren, auch die Mädchen, zu Hause besuchen. Er will die Welten zusammenbringen. Das ist der einzige Sinn, den er in dem Attentat sehen kann. HINTER DER GESCHICHTE Ausgangsfrage: »Charlie Hebdo«, Bataclan und Brüssel – wir wollten wissen, wie es an dem Punkt weitergeht, an dem die Berichterstattung normalerweise aufhört, für die Opfer und die Angehörigen, aber auch für uns alle. Wie verändert der Terror eine Gesellschaft? Recherche: Die Autorinnen haben per E-Mail und über soziale Netzwerke Angehörige von Opfern und Überlebende kontaktiert. Einige, wie ein Mann aus Deutschland, der auf dem Weg in die Flitterwochen seine Ehefrau verloren hatte, waren nicht bereit, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Andere waren froh, Gehör zu finden. Nach der Recherche: Es gibt Momente, in denen Reporter sich nicht auf ihre Beobachterrolle zurückziehen können. Als die Protagonisten erfuhren, mit wem die Autorinnen bereits gesprochen hatten, baten sie um die Kontaktdaten der anderen Verletzten und Angehörigen – und bekamen sie. Den Opfern und Hinterbliebenen ist es wichtig, Erfahrungen auszutauschen, Erinnerungslücken zu schließen und sich womöglich als Gruppe zu organisieren. Walter Benjamin hat eine Anwältin beauftragt, die Klagen gegen die belgische Regierung sowie den Flughafenund den Metrobetreiber vorbereitet. Der Vorwurf: unzureichende Sicherheitsmaßnahmen. Für die Auseinandersetzung sucht Benjamin noch Mitstreiter. 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 LESERBRIEFE DAS LESERZITAT IM NETZ »Aus unseren Mitgeschöpfen haben wir zu Unrecht Waren und dann sich selbst verschleißende Produktionsmaschinen gemacht.« Von Ute Esselmann Weitere Leserbriefe finden Sie unter blog.zeit.de/leserbriefe 0 ZUR AUSGABE N 26 Der Wahlkampf ist eröffnet Heiko Maas: »Wir müssen reden, Leute« ZEIT NR . 26 Der Justizminister beklagt zu Recht den Verfall der politischen Streitkultur und die daraus folgende Spaltung der Gesellschaft. Diese Entwicklung ist aber gerade ein herausragendes Merkmal der Bundesregierung, deren Mitglied er ist! Die große Koalition bevorzugt, wie Heiko Maas selbst beklagt, Scheindebatten, statt sich intensiv den drängenden Problemen der Bürger zu widmen. Die Regierung, allen voran die Kanzlerin, lehnt es notorisch ab, alternative Lösungen zu diskutieren. Stichwort: »alternativlos«. Es wird beschlossen und gehandelt, ohne die Bürger zu überzeugen. Die Wahrheit ist wohl, dass große Koalitionen eben keine Dauerbrenner sind und die jetzige hat mit absoluter Sicherheit ihr Verfallsdatum überschritten. Michael Deil, Bargteheide Ein starker Artikel von unserem Justizminister. Der Mann kann Kanzler. Sigi muss ihn nur vorbeilassen. Marc Pitzer, Marburg Welcher Ihrer Redakteure ist auf die Schnapsidee gekommen, ausgerechnet Heiko Maas mit dem Verfassen dieses Textes zu betrauen? War es nicht Heiko Maas, der populistisch die Pegida-Demonstranten als »Schande für Deutschland« bezeichnete? War es nicht Heiko Maas, der mit diesen Leuten nicht reden wollte? War es nicht Heiko Maas, der Anfang des Jahrhunderts im Fall der sogenannten Tosa-Klause das freisprechende Gericht massiv bekämpfte? Ausgerechnet dieser Populist, sucht nun mit dem Ausruf »Leute, wir müssen reden!« das Gespräch. Dass Sie solchen Leuten Platz gewähren, halte ich für äußerst fragwürdig. Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT Reiner Bühling, Hamburg Kühe am Weltmarkt Tanja Busse: »Die Milchmaschine« ZEIT NR . 26 D tierhaltung einstellen, besser heute als morgen. Es gibt kein Menschenrecht auf Tierquälerei. er Artikel eröffnet mir eine neue Sichtweise auf die unglückliche Entwicklung der Milchproduktion. Eine Kuh kann bis zu 20 Jahre alt werden, überlebt aber als Hochleistungsmilchmaschine gerade mal zwei bis drei Jahre? Ein neuer Aspekt, der mich darin bestätigt, Biomilch zu kaufen. Lisa Strippchen, Bielefeld Der Artikel beschreibt eindrücklich die desolate Situation der konventionellen Milchproduktion. Jedoch ist zu bedauern, dass die Alternative dazu, Biomilch zu produzieren und zu vermarkten, nur ganz am Schluss erwähnt wird. Ich sehen die Alternative nicht nur in Biomilch, sondern mehr noch in der Kombination von biologischer Erzeugung und Direktvermarktung. Die Schwäche der Landwirtschaft ist, dass sie sich vollständig in die Klauen der Molkereien und des Handels begeben hat – selbst landwirtschaftliche Großbetriebe sind winzig im Vergleich zu den Großmolkereien und Supermarktkonzernen. Dr. Bernhard Wessling, Gesellschafter des Kattendorfer Hofes, per E-Mail Aus unseren Mitgeschöpfen haben wir zu Unrecht Waren und dann sich selbst verschleißende Produktionsmaschinen gemacht. Wer braucht denn wirklich Milchprodukte? Eiweiß und Kalzium sind leicht auch über pflanzliche Alternativen und Mineralwasser aufzunehmen. Wir sollten die Nutz- Über den Beitrag des Justizministers habe ich nur den Kopf geschüttelt. Was denkt er sich eigentlich dabei, die Leser der ZEIT als Leute zu titulieren? Für kumpelhaftes Verhalten besteht kein Anlass. Hat Herr Maas Kreide gefressen, dass er Dialoge führen will? Die Menschen, die er mit seinen verbalen Ausrastern beschimpft hat, wird er mit so einem Angebot sicherlich nicht zurückgewinnen. Er hat ja fast drei Jahre Zeit gehabt, mit den Bürgern Gespräche zu führen. So erscheint die ganze Aktion doch eher als ein verfrühtes Vorwahlkampfmanöver. Jörg Lau: »Fetisch Gewalt« Der Kunde des Bauern sind die Großmolkereien, die von wenigen Eigentümern bestimmt werden. Der Bauer hat fast keine Wahl, wenn er seine Milch verkauft. Hinter den Großmolkereien stehen dann die fünf Supermarktketten, die sich einig sind, so wenig wie möglich zu bezahlen. Bitte rütteln Sie die Bauern auf, sich wieder zu Genossenschaften zusammenschließen. Sich gegen halsabschneiderischen Zwischenhandel aufzulehnen war der Urgedanke der Genossenschaften. Alexander Breitenbach, per E-Mail Was für ein wunderbarer Artikel! Vorbehaltlos! Informativ und in einer schönen, unaufgeregten Sprache. Klaus Riediger, per E-Mail Neben viel Nostalgie und wichtigen Informationen zum Problem, aber auch sachlichen Ungenauigkeiten, enthält der Artikel nur einen weiterführenden Vorschlag, der leider nicht genauer erläutert wird: die Bindung der Milchproduktion an die Verfügbarkeit von Grünland für jeden Betrieb. Eine solche Regelung wäre ökologisch doppelt sinnvoll: Schutz des Grünlandes in der landwirtschaftlichen Kulturlandschaft und tiergerechte Haltung des Rindviehs. Politisch wäre das allerdings wohl nicht durchsetzbar: Gerade Großbetriebe ohne Grünland müssten schließen, und regional würde sich die Milchproduktion stark verschieben beziehungsweise konzentrieren, zum Beispiel nach Irland mit ganzjährigem Weidegang. W as für ein irreführender Titel: »Frauen ganz oben«! Da möchte man als Frau nur lachen – oder weinen. Oder beides. In den Beiträgen geht es eigentlich um das Gegenteil. Hätten Sie lieber geschrieben: »Eine Frau ganz oben und eine zweite, die dasselbe versucht.« Beide Frauen sind immer noch Ausnahmen in einer männlich dominierten Welt. Ganz oben? Wir Frauen sind noch weit davon entfernt. Pia Carazo, per E-Mail Dr. Artur Behr, Hermannsburg Ein neuer BMW ist Prestige, steht vorne auf der Einfahrt. Die Milch versteckt sich im Kühlschrank. Der tägliche Weidegang gehört der Vergangenheit an, in Laufställen fressen die Kühe ganzjährig Silage und Kraftfutter, ob bio oder konventionell. Die Milch schmeckt entsprechend eintönig (mangelnde Kräutervielfalt, weniger gesättigte Fettsäuren). Ich traue mir zu, dies zu beurteilen, bin seit Jahren im Sommer Senn auf den Schweizer Alpen. Die Kühe geben hier im Durchschnitt zwölf Liter Milch am Tag. So viel gibt eine Kuh, die Bewegung hat und kein Kraftfutter bezieht – das schmeckt man! Und bei all den vielen Siegeln: wieso nicht eines »aus kleinbäuerlicher Erzeugung«? Dann braucht sich die Milch im Kühlschrank auch nicht mehr zu verstecken. einziehen wird und seine Frau – wie diese schon angekündigt hat – beraten soll. Die Clintons sind ein politischer Mini-Clan, nicht unähnlich anderen Clans vor ihnen. Es bleibt Benedikt Erenz vorbehalten, in derselben Ausgabe der ZEIT auf die »Ehe mit Bill, dem vormaligen US-Präsidenten« hinzuweisen, nachdem er die anderen politischen Clans und ihre Frauen aufgelistet hat, angefangen bei Indira Gandhi über Benazir Bhutto bis Marine Le Pen. So gesehen ist Hillary Clinton mit ihrer vom Ehemann abgeleiteten politischen Existenz eher eine Repräsentantin der alten Zeit. Dr. Hans-Peter Basler, Frankfurt am Main Carsten Lorenzen, per E-Mail Mit welchem Recht oder Anspruch erlauben Sie sich, die Lebensweise meiner Mutter, meiner Tante Martha und vieler anderer Frauen als »haustierartig« zu bezeichnen? Schämen Sie sich nicht? Begriffe wie Zeitenwende wären Iris Radisch mit Blick auf eine mögliche US-Präsidentin Hillary Clinton wohl nicht so leicht aus der Feder geflossen, wenn sie Frau Clinton als Ehefrau eines früheren US-Präsidenten betrachtet hätte. Darüber aber verliert sie kein Wort. Gerade so als wäre es nicht wichtig, dass Bill Clinton im Falle des Wahlsieges seiner Ehefrau auch ins Weiße Haus ZEIT-Scrabble-Sommer (2) Mitspielen und gewinnen bei der großen Simultan-Partie Als schwuler Mann interessierten mich besonders ihre Einlassungen, die Bezug auf die entsetzlichen Morde in Orlando nahmen. »Homophobie ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die enormen Emanzipationsgewinne der Schwulen und Lesben«, schrieben Sie. Ich musste ihren Satz schon dreimal lesen und war immer wieder aufs Neue irritiert. Kann man denn Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen und Intersexuellen ein Eigenverschulden anlasten? Haben wir Anteil an den Morden, weil wir uns zeigen und aus dem Schattendasein heraustreten? Arno Klüglein, Schweiz Die Preise für Grundnahrungsmittel sind extrem niedrig. Auch als Rentnerin mit 700 Euro im Monat plädiere ich dafür, dass Milch teurer werden muss, damit die Bauern davon leben können. Der Aufschlag dürfte aber nur den Bauern zugutekommen. Thomas Beyer, Leipzig Warum der Fokus auf Fußball, EM und Islam? Weil er gefällig ist. Was ist mit den Drogenkartellen in Mittel- und Südamerika, die vom Auseinanderklaffen von Moral und Realität in den Konsumentenländern am Leben gehalten werden? Was mit Exportsubventionen und Schutzzöllen bei Agrarprodukten, die die kleinbäuerlichen Strukturen in aller Welt zerstören und Gewalt über die Menschen bringen? Was ist mit Klimawandel und Waffenexporten? Wir leben in einer gewalttätigen Welt. Die Gewalt brach bisher nur meist anderswo los. Gudrun Wizisla, Falkensee Johannes Stockerl, per E-Mail männliche Seiten. Jesus Christus ist ein Mann und somit Sohn, denn eine Frau hätte im damaligen Palästina nicht öffentlich wirken können. Der Heilige Geist ist im Hebräischen weiblich und wird von den Kirchenvätern als Trösterin und Mutter weiblich benannt. Von der alten Taufformel daher eine Erfindung eines männlichen Gottes durch Männer abzuleiten ist ein Trugschluss. Es gibt ein probates Mittel gegen Gewalt: niemanden zum Verlierer werden lassen! Bis sich Denken und Handeln diesbezüglich geändert haben, bleibt wohl nur die Möglichkeit, Gefährder rechtzeitig zu erkennen und entweder zu resozialisieren oder wegzusperren. Ich bin immer wieder erstaunt, zu lesen, dass Attentäter zwar wegen vorheriger Straftaten der Polizei oder dem Verfassungsschutz bekannt, aber dennoch nicht als gefährlich eingestuft waren. Dr. Michael Preß, München Dr. Ulrich Willmes, Paderborn Es ist falsch zu glauben, Frauen wüssten bessere Wege. Wenn das stimmte, sähe es im Privaten, Beruflichen und Politischen anders aus. IHRE POST Friedrich Beyer, Pfahlbronn Thomas Lohmann, per E-Mail Der christliche Gott hat kein Geschlecht. Gottes Name ist: Ich bin, der ich bin. Wenn Gott Frau und Mann nach seinem Bild schafft, so hat er in der Beziehung zu den Menschen weibliche und Scrabble-Turnier freuen darf, das im Herbst in Rheinsberg ausgetragen wird. Wir gratulieren! Nun liegen sieben neue Buchstaben auf dem Bänkchen. Und wieder lautet die Frage: Welcher Zug bringt die höchste Punktzahl? Teilen Sie uns das bitte bis Montag, 4. Juli 2016, 12 Uhr, unter der Internetadresse www.zeit.de/scrabble mit! Bitte füllen Sie die Eingabemaske vollständig aus, und vergessen Sie nicht, Ihre Telefonnummer anzugeben, damit wir Sie umgehend verständigen können, falls Sie gewonnen haben! Als Trostpreise verlosen wir am Ende der neun Wochen unter allen Mitspielern, die mindestens einmal eine gültige Lösung eingesandt haben, 20 ScrabbleSpiele aus dem Hause Mattel. erreicht uns am schnellsten unter der E-MailAdresse [email protected] Leserbriefe werden von uns nach eigenem Ermessen in der ZEIT und/oder auf ZEIT ONLINE veröffentlicht. Für den Inhalt der Leserbriefe sind die Einsender verantwortlich, die sich im Übrigen mit der Nennung ihres Namens und ggf. ihres Wohnorts einverstanden erklären. Zusätzlich können Sie die Texte der ZEIT auf Twitter (@DIEZEIT) diskutieren und uns auf Facebook folgen. Bei dem Absatz »Die Männer erlegten Tiere (...). Die Frauen sammelten und blieben im Iglu« bin ich skeptisch. Meiner Kenntnis nach ist dies eine Erfindung der – natürlich männlichen – Anthropologen und Archäologen des letzten Jahrhunderts. Es gibt bis heute Stämme, die vom Jagen und Sammeln leben – und in vielen davon jag(t)en Frauen und Männer gleichermaßen. Carola Kamuff, Frankfurt am Main Das sind unsere Preise: MEXIKO Atlantik DOM. REP. JAMAIK A se schöne Lösung brachte – je nach Platzierung – jedoch nur 79 bis 90 Zähler ein. Nicht zu toppen war hingegen die Beugungsform ARTIGEM, die auf 13C–13I mit insgesamt 94 Punkten zu Buche schlug. Neben gut 800 weiteren Mitspielern kam auch Astrid Hurt-Rosengarten aus Oberursel auf dieses Wort. Sie ist die Glückliche, die sich über die Einladung zum ZEIT- Arne Baron, Berlin ZEIT NR . 26 Glückwunsch, Frau Radisch! Herzerfrischend, Ihre Brandrede, und längst überfällig! BEILAGENHINWEIS Alle Buchstabensteine in einem Zug abgelegt – derlei lässt das ScrabblerHerz stets höher schlagen. Schließlich fällt in jedem Fall die Bonusprämie von 50 Punkten an. In der ersten Runde des Scrabble-Sommers kamen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gleich auf ein gutes Dutzend dieser sogenannten Bingos. Sehr häufig wurde uns dabei der RAGTIME vorgeschlagen. Die- Sie behaupten, wir hätten alles getan, um den Terror zu bekämpfen?! Dass der Einfall in den Irak 2003 mit dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung eine Farce war, um einen Krieg um das Öl zu starten, ist mittlerweile allen bekannt. Donald Trump als alleinigen Visionär darzustellen ist ebenfalls unangebracht. Sind Ihnen Antiterrormaßnahmen wie ein Stopp von Waffenlieferungen und ein Ende der Rohstoff- und Arbeitskraftausbeutung entsprechender Länder wirklich nicht in den Sinn gekommen? Haustier oder Jägerin Wiebke Karstens, per E-Mail Unsere heutige Ausgabe enthält in Teilauflagen Publikationen folgender Unternehmen: Digitec Galaxus AG, CH-8005 Zürich; Hamburger Theater Festival, 20457 Hamburg; HS Bildende Kunst Braunschweig, 38118 Braunschweig; LeibnizGemeinschaft, 10115 Berlin; Staatliche Museen zu Berlin, 10785 Berlin Sind die Schwulen etwa selber schuld? ZEIT NR . 26 Ute Esselmann, Bielefeld Iris Radisch: »Na endlich, sie kommen!«/Titelthema »Frauen ganz oben« 16 Pazifik PANAMA Eine Mittelamerika-Kreuzfahrt für 2 Personen auf der »Mein Schiff 4«, dem vierten Wohlfühlschiff von TUI Cruises, von La Romana (Dominikanische Republik) über Ocho Rios, Montego Bay, Cozumel, Belize, Roatán, Puerto Limón, Colón, Cartagena und Santo Domingo zurück nach La Romana. Balkonkabine, »Premium Alles Inklusive«, An- und Abreise von (und nach) einem deutschen Flughafen, Termin 9. bis 23. Dezember 2016. Gewinnen kann, wer mindestens einmal die optimale Scrabble-Lösung findet. 20-mal die Duden-Profi-Box Deutsch Rechtschreibung, Grammatik und Fremdwörterbuch: In dieser limitierten Ausgabe, die im September neu erscheint, finden Sie alles, was Sie brauchen, um die deutsche Sprache wirklich zu beherrschen. Gewinnen kann am Ende der neun Wochen jede gültige Einsendung. 9-mal: ZEIT-Scrabble-Turnier Jede Woche verlosen wir unter jenen Mitspielerinnen und Mitspielern, die den besten Spielzug gefunden haben, eine Einladung zum 17. ZEIT-Scrabble-Turnier, das vom 30. Oktober bis zum 6. November 2016 im Maritim Hafenhotel Rheinsberg stattfindet. Für jeweils eine Person: An- und Abreise per Bahn, Transfer zum Hotel, Unterkunft mit Halbpension und Turnierteilnahme. Spielregeln: Mit dem wertreichsten Wort, das uns vorgeschlagen wird, spielen wir nächste Woche weiter. Es zählen nur Wörter, die im Duden, »Die deutsche Rechtschreibung«, 26. Auflage, verzeichnet sind. Es gelten die allgemeinen Scrabble-Regeln in Verbindung mit dem Turnierreglement (www.scrabble- info.de). Über alle Gewinne entscheidet das Los, sie können nicht in bar ausgezahlt werden und sind nicht übertragbar (im Fall der Kreuzfahrt auch nicht auf eine andere Reise). Die Punkte aus den einzelnen Runden werden automatisch registriert und addiert, wenn Sie jedes Mal unter demselben Namen und derselben Anschrift teilnehmen. Pro Person und Woche wird nur eine Einsendung gewertet: die mit der höchsten Punktzahl. Weitere Informationen unter www.zeit.de/newsletter 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 GESCHICHTE 17 Ein deutscher Vernichtungskrieg Vor 150 Jahren siegte Preußen in der Schlacht von Königgrätz über Österreich – ein epochales Ereignis, das Europa verändert hat war zugleich ein Bild für das gewaltgestützte Bewahren der alten Herrschaftsverhältnisse innerhalb des Deutschen Bundes gegenüber aufbegehrenden Partizipationsansprüchen aus der Gesellschaft. Dem »bewaffneten Frieden« folgte der »Prinzipienkrieg«. Während Zeitgenossen damit ihre Kriegsvorstellungen zusammenfassten, stützt der Begriff aus heutiger Sicht die Einschätzung, das 19. Jahrhundert sei ein »Zeitalter der Ideologien« gewesen. Der Meinungs- und Deutungsstreit – zunächst über den imaginierten, dann über den beendeten tig als vor zweihundert Jahren der dreißigjährige es war«, warnte Ende Mai 1866 ein anonymer Autor der konservativen preußischen Kreuzzeitung. Er zielte auf das Schreckensbild eines Bürgerkrieges, der zugleich als fanatisch und leidenschaftlich geführter Kampf unter christlichen Glaubensbrüdern imaginiert wurde. Zwar riefen nur sehr wenige Stimmen offen dazu auf. Aber umso engagierter suchte man wechselseitig den Gegner durch den Vorwurf zu diffamieren, mit dem Appell an die Konfession den Religionskrieg erst zu provozieren. Protestanten und Katholiken erlagen dieser Versuchung staaten ein, deren Koalition mit Habsburg den Waffengang erst zum Bruderkrieg machen würde. Die damit einhergehende Radikalisierung der verbalen Kriegsführung, bei der entmenschlichte Feindbilder an bürgerlichen Ordnungs- und Besitzängsten rüttelten, nahm man billigend in Kauf. Wer in der öffentlichen Debatte hingegen den Duellcharakter in der Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich unterstrich, zielte auf dynastische Loyalitäten und partikularstaatliche Bindungen. Nach Kriegsende wurde vom »Siebenwöchigen Krieg« oder auch vom »Seven Weeks’ War« gesprochen. In Abb.: akg-images; kl. Abb.: Interfoto; Wappen: Wikipedia Z eitgenossen fühlten sich an Waterloo erinnert: Als sich am 3. Juli 1866 der Pulverdampf nahe dem nordböhmischen Königgrätz, dem heutigen Hradec Králové, legt, ist nicht nur eine blutige Schlacht geschlagen; fast 8000 Tote und 14 000 Verletzte blieben zurück. Der deutschdeutsche Krieg hat mit der verheerenden Niederlage Österreichs gegen die preußische Armee auch politisch Weichen gestellt. Königgrätz war ein weltgeschichtlicher Einschnitt. Umso erstaunlicher ist es, dass er in Deutschland weitgehend vergessen ist. Die preußischen Sieger schrieben in der Folge ihre eigene, kleindeutsche Geschichte. Mit ihr geriet aus dem Bewusstsein, dass Österreich vor 1866 ganz selbstverständlich zu Deutschland zählte und die Habsburger, die über Jahrhunderte die deutschen Kaiser gestellt hatten, seine zumindest historisch legitime Führungsmacht waren. In Österreich ist die Erinnerung daran noch wach und Königgrätz bis heute traumatisch aufgeladen. Der vor 150 Jahren geführte Krieg verdient unsere Aufmerksamkeit auch aus einem anderen, aktuellen Grund. Denn während Schlachtenverlauf, Bündnisse und militärgeschichtliche Aspekte, etwa die kriegsentscheidende Wirkung des preußischen Zündnadelgewehrs, oft erörtert wurden, ist kaum bekannt, welch extreme Rhetorik den Krieg begleitete. Beide Seiten griffen auf religiöse Gefühle zurück, die als Mittel der Kriegspropaganda ausgeschlachtet wurden. Die Zeitgenossen hatten hellsichtig die epochale Bedeutung der Schlacht von Königgrätz erkannt. »Casca il mondo!«, die Welt stürzt ein, soll der römische Kardinalstaatssekretär Giacomo Antonelli ausgerufen haben, als er von ihrem Ausgang erfuhr. Die in München erscheinenden Historischpolitischen Blätter für das katholische Deutschland konkretisierten: »Das Neue hat definitiv gesiegt über das Alte; das besiegte Alte aber datirt nicht erst von 1815 herwärts, sondern bis auf Karl den Großen zurück. Die Reichs-Idee ist gefallen und begraben; und wird das deutsche Volk je wieder in einem Reiche vereinigt werden, so wird es ein Reich seyn, das nicht eine tausendjährige, sondern nur eine dreihundertjährige Geschichte hinter sich hat.« Das war klug beobachtet, auch wenn erst Jahrzehnte später ein österreichischer Gefreiter die exhumierte Reichsidee endgültig in den Orkus der Geschichte beförderte, als er die Entscheidung von 1866 revidierte, seine Heimat »heim ins Reich« holte und skrupellos ein neues tausendjähriges Reich anstrebte – das nach nur zwölf Jahren in einer beispiellosen Katastrophe unterging. Die Ursache für den Krieg von 1866, der drei Wochen nach der entscheidenden Schlacht von Königgrätz endete, bildete der schwelende Wettstreit Preußens mit Österreich um die Führungsrolle im Deutschen Bund. In dem waren seit der politischen Neuordnung durch den Wiener Kongress 1815 die deutschen Einzelstaaten zusammengeschlossen. Der Zwang zu einer gewaltsamen Entscheidung, den Otto von Bismarck im jahrzehntealten preußisch-österreichischen Dualismus angelegt sah, machte einen »gründlichen inneren Krieg« aus seiner Sicht alternativlos. Später bekannte der Generalstabschef Helmuth von Moltke: »Es war ein im Kabinett als notwendig erkannter, längst beabsichtigter und ruhig vorbereiteter Kampf, nicht um Ländererwerb, Gebietserweiterung oder materiellen Gewinn, sondern für ein ideales Gut, für Machterweiterung.« Als Anlass diente Bismarck ein Konflikt um die beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein. Ihretwegen hatten Preußen und Österreich 1864 noch vereint einen Feldzug gegen Dänemark geführt. Doch der Sieg war schnell in die Konfrontation der beiden konkurrierenden Großmächte im Deutschen Bund gemündet. Im Zentrum des neuerlichen Streits stand das Wiener Vorgehen bei der Verwaltung Holsteins, das seit der Gasteiner Konvention von 1865 Österreich unterstand, während Preußen Schleswig erhalten hatte. Am 9. Juni ließ Bismarck seine Truppen in Holstein einmarschieren. Fünf Tage darauf beschloss der Bundestag die Mobilmachung des Bundesheeres, in das alle Mitgliedsstaaten Truppen entsandten. Preußen reagierte wiederum mit dem Austritt aus dem Deutschen Bund und erklärte ihn für aufgelöst – die Entscheidung wurde fortan auf dem Schlachtfeld gesucht. Damit endete ein lang gewahrter »bewaffneter Frieden«, eine Art Kalter Krieg avant la lettre. Dieser Begriff beschrieb die auf einem prekären Mächtegleichgewicht beruhende Friedenszeit in Europa und Das preußische Heer in der Schlacht von Königgrätz, nach einem Aquarell von Carl Röchling, 1894 Krieg – wurde wesentlich auf den Schlachtfeldern geschlagener Kriege ausgetragen. Wer die Folgen eines innerdeutschen Krieges mit einem historischen Beispiel belegen wollte, berief sich auf das Bild vom Dreißigjährigen Krieg als einer »Art Armageddon der deutschen Geschichte«, wie der Historiker Nikolaus Buschmann sagt. Das war keine Laune der Kriegspropaganda 1866. Die Kontrahenten knüpften vielmehr an Deutungsmuster an, die seit den Befreiungskriegen zu Beginn des Jahrhunderts besonders in Krisenzeiten präsent waren. In der Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg als deutsches Urtrauma pflegten Eliten der National- Die Österreicher warnten vor einem »Bruderkrieg«, vergleichbar dem amerikanischen Sezessionskrieg bewegung eine Art Tragikstolz: Nationale Minderwertigkeitsgefühle, ausgelöst durch die partikulare Zersplitterung und Schwäche des Deutschen Bundes, und Einkreisungsängste gegenüber dem Ausland mischten sich mit einer spezifisch deutschen Hybris – dem aus einem verklärten Bild des mittelalterlichen Reiches abgeleiteten Sendungsbewusstsein. Hier zeigt sich, wie nachhaltig sich die Erfahrungen extremer Gewalt und nicht verarbeiteter Schuld auf die politische Kultur in der nationalen Findungsphase auswirkten. Das offenbart insbesondere die konfessionelle Intonation der Kriegsauslegung. »Vielfache Anzeichen deuten darauf hin, daß ein Religionskrieg im Anzuge ist, vielleicht ebenso blu- gleichermaßen und griffen tief in die Asservatenkammer der konfessionellen Polemik. In Preußen wurde von der »neuen Österreichischen Liga« fabuliert und den »Römlingen in Österreich« unterstellt, sie strebten einen »heiligen Krieg«, einen »Kreuzzug gegen die protestantischen Ketzer in Deutschland« an. In Süddeutschland wiederum machte eine Kriegsspielfigur mit Pickelhaube Furore, deren Inschrift das Kinderlied Maikäfer flieg aus der Zeit der Glaubenskämpfe aktualisierte: »Leise, Kindlein, leise! / Sonst kommt der böse Preuße / Der Bismarck kommt dahinter / Und frisst die großen Kinder«. In unzähligen Artikeln beider Seiten trieben die Feldherren des Dreißigjährigen Krieges Gustav Adolf, Wallenstein und Tilly als historische Wiedergänger ihr Unwesen. Der Versuch, religiöse Gefühle politisch auszubeuten und die Kriegsführung zu fanatisieren, blieb 1866 – auch wenn vereinzelt über Kirchenschändungen und Gewalt gegen katholische Priester berichtet wurde – ein Phänomen der Propaganda. Religion war längst, wie Heinrich August Winkler betont, zur Ideologie geworden, so wie sie auch heute oftmals ein Vehikel zur Durchsetzung machtpolitischer Ansprüche ist und vielfach bloß dazu dient, weltliche Interessen oder soziale und kulturelle Verwerfungen zu kaschieren. Als wirkmächtig erwiesen sich in der angespannten Vorkriegsstimmung Berichte über den amerikanischen Sezessionskrieg, der von 1861 bis 1865 währte. Als Bürgerkrieg wie als Vorbote des modernen industrialisierten Krieges konnte er Ängste schüren. Im Deutschen Bund gehörte die Warnung vor dem »Bruderkrieg« insbesondere zum Arsenal großdeutsch-österreichischer Deutungseliten, die sich in Zeitungen, Zeitschriften, Flugschriften und Büchern ihren Gegnern entgegenstemmten. Anhänger der preußischen Konfrontationspolitik stellte das Bild vom »Brudermord« vor eine ernste Herausforderung. Wohl als Reaktion darauf fantasierten sie mit Blick auf den habsburgischen Vielvölkerstaat von einem drohenden »Rassekrieg«. Dadurch forderten sie die Neutralität der süddeutschen Mittel- der Assoziation des auf wundersame Weise gewonnenen Siebenjährigen Krieges Friedrichs des Großen spiegelt sich die allgemeine Überraschung über den Sieg Preußens gegen das vermeintlich überlegene Österreich, auf dessen Seite immerhin die Mehrzahl der Bundesstaaten gekämpft hatte. »Du hast’s erreicht. In dreißig Tagen / Hast Du den dreißigjährigen Krieg / und dreißig Herrn aufs Haupt geschlagen«, fasste entsprechend ein dem preußischen König gewidmetes Gedicht die partikularstaatlichen Konsequenzen des Kriegsausgangs in pathetische Verse. Im Moment des preußischen Sieges brachen im liberal- und nationalprotestantischen Lager alle Die Preußen stilisierten den Krieg zum Kampf um Sein oder Nichtsein der Nation Dämme der konfessionspolitischen Zurückhaltung. »In der Schlacht bei Königgrätz hat endlich der dreißigjährige Krieg seinen Abschluß gefunden: der nationale Gedanke und der Protestantismus haben gesiegt«, jubelte in Berlin die Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland. Unter Preußens Führung könne sich die nunmehr selbstständige deutsche Nation durchweg nach protestantischen Grundsätzen gestalten. Diese kulturkämpferische Deutung des Krieges war für das kulturprotestantische Lager im Ganzen typisch. Zwar stand sie im Kontrast zur Bedeutung der »unbeseelten« Kriegstechnik, die für den Ausgang des Krieges verantwortlich gemacht wurde. Doch VON HILMAR SACK selbst das Zündnadelgewehr wusste man mit der grotesken Überhöhung seines Erfinders Johann Nikolaus von Dreyse zum »Luther der Waffentechnik« konfessionell zu deuten. Im militärischen Dreisprung zur kleindeutschen Einheit unter preußischer Führung – 1864, 1866, 1870/71 – nimmt der innerdeutsche Krieg eine Sonderstellung ein. Hans-Ulrich Wehler hat zu Recht seine komplexe Natur betont. Er sei ebenso ein konventioneller Staatenkrieg um die Vorherrschaft wie ein nationaler Integrationskrieg und im Ergebnis ein Bürgerkrieg gewesen. Im militärischen Sinn waren die Schlachten der Höhepunkt der Kabinettskriegsführung im industriellen Zeitalter. Den Rubikon zur Totalisierung des Kriegs überschritt die militärische Führung noch nicht, wie der Historiker Stig Förster sagt. In der öffentlichen Debatte hatten Teile der politischen Öffentlichkeit den entscheidenden Schritt allerdings bereits getan. Hier wurde die Auseinandersetzung zum Kampf um Sein oder Nichtsein der Nation stilisiert und in unversöhnlicher Härte zum »Vernichtungskampf« aufgerufen. Der Kriegsausgang hinterließ tiefe Spuren im politischen Bewusstsein und zog Parteigrenzen neu. Manche von Bismarcks schärfsten konservativen und liberalen Kritikern ergaben sich der Realität, andere sahen ihren Kriegsfatalismus oder ihre kriegstreiberische Haltung vom Frühsommer in der Entscheidung von Königgrätz nachträglich sanktioniert. Einige Zeitgenossen erkannten im Sieg Preußens und in der anschließenden Annexion von Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und der Freien Stadt Frankfurt eine nationale Umwälzung. »Die 1848 und 1849 von unten nicht durchgeführte Revolution ist 1866 von oben fortgeführt worden«, lautete das überraschend positive Fazit der liberalen Augsburger Allgemeinen Zeitung, deren großdeutsches Ideal in Königgrätz zerschlagen worden war. Finis Germaniae riefen diejenigen, die sich der legitimierenden Interpretation der preußischen Annexionspolitik als nationaler »Revolution von oben« nicht unterwerfen wollten. In einer Einschätzung trafen sich alle Seiten: Der Ausgang der Schlacht von Königgrätz hatte das deutsche Schicksal nur halb entschieden – innerdeutsch. Dass sich der »bewaffnete Frieden« Europas erst im einigenden Nationalkrieg gegen Frankreich wirklich beenden lasse, wurde zum Allgemeinplatz der Nachkriegsdebatte. Der Frieden mit Österreich trug, wie die Zeitgenossen ahnten und später Marx und Engels betonten, den Krieg mit Frankreich bereits in seinem Schoß. Als dieser Krieg fünf Jahre später geschlagen war, kommentierte Jacob Burckhardt das Ergebnis ironisch mit den Worten, von nun an werde »die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870/71 orientirt«. Er sollte recht behalten. Der Sieg über den vermeintlichen Erbfeind, mit dem sich im Spiegelsaal von Versailles der Traum vom deutschen Nationalstaat in seiner kleindeutschen Version erfüllte, ließ den Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 und den innerdeutschen Krieg von 1866 als Zielgerade einer nationalpolitischen »Einbahnstraße« (Dieter Langewiesche) erscheinen. Auf ihr lief die deutsche Geschichte zwangsläufig auf das Kaiserreich unter preußischer Führung zu – eine Interpretation, der über Generationen hinweg nachhaltig Erfolg beschieden war. Vermutlich wird das 150-jährige Jubiläum des Deutsch-Französischen Kriegs in fünf Jahren eine große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Dem deutsch-deutschen Krieg ist das in diesem Jahr nicht beschieden. Was man bedauern muss, zumal HansUlrich Wehler zufolge der historische Einschnitt des Kriegs von 1866 tiefer reichte als der des DeutschFranzösischen Krieges. Mit dem wurde die innerdeutsche Weichenstellung nur noch einmal besiegelt. Dass sich das ansonsten so gedenkaffine Deutschland für den 150. Jahrestag von Königgrätz kaum interessiert, ist auch deshalb schade, weil wesentliche Aspekte des Kriegs von 1866 bemerkenswert aktuell sind. Das trifft vor allem für die erstaunliche religiöse Überfrachtung der Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich zu. Diesem Befund sollten wir uns gerade in heutiger Zeit stellen, da wir nicht selten mit einer Attitüde kultureller Überlegenheit auf andere Religionen und Weltregionen schauen. Von Hilmar Sack erschien 2008 beim Berliner Verlag Duncker & Humblot das Buch »Der Krieg in den Köpfen. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg in der deutschen Krisenerfahrung zwischen Julirevolution und deutschem Krieg« 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 FUSSBALL EURO 2016 18 Offene Wunde Nach dem EM-Aus 2012 trifft Joachim Löws Team nun erneut auf Italien. Hat sich der Trainer seitdem weiterentwickelt? VON CATHRIN GILBERT Löw ist nicht zu dechiffrieren, er will sein Inneres als letzten Rückzugsort bewahren Es gibt kaum einen Tag, an dem der 56-Jährige nicht präsent ist. Jogi Löw ist nicht nur Trainer, er wirkt während dieses Turniers auch wie der Außenminister des DFB. Vielleicht liegt das daran, dass es seit dem Weggang von Co-Trainer Hansi Flick kein weiteres bekanntes Gesicht auf der Trainerbank mehr gibt. Seit Wochen erklärt er akribisch die Entwicklung der Mannschaft und seine Arbeit. Aber warum bloß verfliegen seine Worte so schnell, und am Ende hallt, wie bei der Pressekonferenz in Lille, wieder nur diese lästige Frage eines österreichischen Reporters nach: »Herr Löw, wissen Sie schon, welches T-Shirt Sie beim nächsten Spiel tragen werden?« Vielleicht ist das ständige Beurteilen seines Äußeren Resultat der Tatsache, dass Löw als Person trotz seiner Präsenz nach wie vor nicht zu durchschauen ist. Er ist nicht zu dechiffrieren, er will sein Inneres als letzten Rückzugsort bewahren. Seit der Niederlage gegen die Squadra Azzurra im Halbfinale der Europameisterschaft 2012 hat sich etwas Entscheidendes geändert: Die Deutschen sind Weltmeister, und Joachim Löw ist Weltmeistertrainer. »Dieses tiefe Glücksgefühl«, sagte er nach dem Titelgewinn 2014, »wird auf ewig bleiben.« Wie sehr ihn das geprägt hat, kann man hier in Frankreich in den Momenten beobachten, die nicht von der Kamera eingefangen Bundestrainer Joachim Löw und Jérôme Boateng beim Achtelfinale gegen die Slowakei HITZLSPERGER Island im Finale? Wie bezwingt man ältere Herren? Dringende EM-Fragen an unseren Kolumnisten DIE ZEIT: England ist bei diesem Turnier aus- geschieden, Nationaltrainer Roy Hodgson ist nach der Niederlage gegen den Außenseiter Island zurückgetreten. Wollen wir jetzt alle Isländer sein? Thomas Hitzlsperger: Zugegeben, das Ergebnis hat mich sehr überrascht. So souverän die Engländer die Qualifikation bestritten haben, so kläglich sind sie diesmal wieder gescheitert. Die Isländer haben jedoch wieder eine ganze Menge Fans hinzugewonnen, weil sie mit ihrer ganzen Leidenschaft den Sieg erzwungen und erkämpft haben. ZEIT: Wie weit kann diese Begeisterung die Isländer tragen? Bis ins Finale? Hitzlsperger: Das ist natürlich nicht ausgeschlossen, aber ich würde trotzdem nicht darauf wetten. Diese Überraschungssiege machen doch einen großen Teil der Attraktion aus. Allerdings: Die Deutschen sollten nicht zu viel über Island nachdenken. Dafür ist das Spiel gegen Italien am Samstag eine zu große Hürde. Es ist das vorweggenommene Endspiel dieser Europameisterschaft. ZEIT: Eine Altherrenmannschaft sollte doch zu schlagen sein. Hitzelsperger: So leichtsinnig ist Jogi Löw nicht. Es ist unerheblich, dass hier die jüngste gegen die älteste Mannschaft des EM-Turniers antritt. Joachim Löw steht vor einer großen und schwierigen Aufgabe. Italien hat nämlich bewiesen, dass sie nicht nur hervorragend verteidigen, sondern auch das Spiel bestimmen können. Letzteres war bisher die Spezialität der Deutschen und der Spanier. Die Taktik wird eine ganz wichtige Rolle spielen. Es gilt, von Beginn an zu agieren und nicht zu reagieren. ZEIT: Was beeindruckt Sie am Spiel der Italiener besonders? Hitzelsperger: Ihre taktische Disziplin. Die Spanier, die als Favorit gehandelt wurden, hatten kaum Tormöglichkeiten gegen die Italiener. Ich war erschrocken. ZEIT: Spätestens seit dem Sieg im Halbfinale bei der EM 2012 gilt Italien als der Angstgegner der deutschen Nationalmannschaft ... Hitzelsperger: Vier Jahre sind eine lange Zeit im Fußball. Am Samstag beginnt eine neue Zeitrechnung. Die Fragen stellte Hanns-Bruno Kammertöns W as stört eigentlich an Cristiano Ronaldo? Warum wird der größte Star der EM unablässig mit Schmutz beworfen? Spielt er nicht wie ein Gott, nämlich wirklich spielerisch, springt er nicht wie ein Gott, nämlich flügelleicht, kann er nicht sogar – das Schwierigste – sich zurücknehmen, wenn es die Taktik verlangt? Gewiss, er hat Tore nicht geschossen, die er hätte schießen können. Aber gehört zum Fußball nicht immer auch etwas Glück? Spricht mangelndes Glück gegen Begabung? Doch wohl nur dann, wenn man wie der zynische römische Diktator Sulla der Meinung ist, dass Glück ein Teil der Begabung sei. Wir alle wissen, dass es so nicht ist. Auch Pech und Begabung können sich vermählen. Im Übrigen hat Ronaldo in seiner glänzenden Karriere von Sporting Lissabon über Manchester United zu Real Madrid das Glück schon im Übermaß genossen. Viermal hat er den Goldenen Schuh als bester Torschütze Europas bekommen. Was vermag dagegen die eine oder andere Mattigkeit, der eine oder andere Fehlschuss in einer ohnehin matten EM voller fehlgeschlagener oder, schlimmer noch, gar nicht versuchter Torschüsse anderer? Und es ist ja auch nicht so, dass sich Ronaldos Charisma gar nicht entfaltet hätte. Er hat schon sehen lassen, was er kann. Eine besondere Aura, dieses gewisse Strahlen, ist sowieso immer um ihn, jener Glamour, den sonst nur Schauspieler durch ihre bloße physische Präsenz entfalten. Natürlich ist er auch ein hübscher Junge, natürlich erzählt seine Karriere auch vom Wunder der Befreiung aus elenden Verhältnissen. Vieles wird daran übertrieben sein, manches spricht dafür, dass der Vater, werden: Rollte er früher noch den Oberkörper schutzsuchend ein, streckt er jetzt die Brust raus, er lächelt, sucht die Begrüßung selbstbewusst mit Handschlag, fragt, wie es dem Gegenüber geht. Da ist kein Suchender, kein Fragender unterwegs, der Weltmeister Löw weiß, was er erreicht hat. Aber weiß er auch, wo er hinwill? Er möchte den WM-Titel in Russland verteidigen. Davon spricht er oft. Dieses Ziel ist sein größter Antrieb. Und natürlich will er auch die Europameisterschaft gewinnen. »Am Samstag treffen die beiden stärksten Teams dieses Turniers aufeinander«, sagt Löw, er habe keine bessere Mannschaft als Italien und Deutschland beobachtet. Die Chancen auf einen Sieg der Deutschen im Viertelfinale stehen nicht schlecht, die DFB-Elf hat sich im Verlauf dieses Turniers immer weiter gesteigert, jetzt wirkt sie vor allem in der Defensive stabil. Löw veränderte seine Mannschaft in der vergangenen Partie gegen die Slowakei nur auf einer Position: Julian Draxler rückte für Götze in die Startelf und interpretierte die Rolle des Linksaußen anders. Er bewegte sich nicht nur im linken Halbraum, er war meist dort zu finden, wo der Ball war. Durch flexibles Wechseln der Seiten sorgte er mal für Überzahl auf dem rechten Flügel, mal bot er sich an der linken Seitenlinie für einen Doppelpass mit dem Linksverteidiger an. Das Team zeigte viel Bewegung im letzten Drittel, das Positionsspiel entfaltete sich jetzt freier als in den Begegnungen zuvor. Thomas Müller ließ sich immer wieder ins zentrale Mittelfeld fallen, Mesut Özil rochierte im Gegenzug dazu nach links oder rechts. Diese Sprints in den Sechzehner oder auf die Flügel führten dazu, dass mehr Akteure anspielbereit waren, sie zogen Gegenspieler auf sich. Mit ihrem Aufrücken sorgten die Außenverteidiger für eine breitere Spielanlage. Löw sagt, er habe aus der Niederlage gegen die Italiener im Jahr 2012 gelernt. Und dies gilt auch für Profis wie Manuel Neuer, Thomas Müller, Mesut Özil oder Toni Kroos. Sie alle spielen seit Jahren auf höchstem Niveau, die Niederlage vor vier Jahren könnte eine zusätzliche Motivation sein. Sie gilt als der bislang einzige echte Rückschlag in der Ära von Jogi Löw, die einzige Wunde, die es noch zu schließen gilt. Was geschieht mit dem Bundestrainer im Falle einer Niederlage gegen Italien? DFB-Präsident Reinhard Grindel hat sich bereits festgelegt: Er will den Trainer sogar über die WM-Endrunde 2018 in Russland hinaus an den DFB binden. »Selbstverständlich wünsche ich mir, dass wir mit ihm noch sehr lange zusammenarbeiten. Wenn der Bundestrainer nach der EM auf mich zukommt und über eine Vertragsverlängerung reden möchte, werden wir uns zusammensetzen«, sagt Grindel. Das Angebot sei unabhängig vom Ausgang der EM in Frankreich. »Ich halte ihn für den besten Trainer für unsere Nationalmannschaft. An diesem Urteil wird sich auch nichts ändern, wenn Deutschland nicht den EM-Titel holt«, sagt Grindel. Joachim Löw genießt so hohe Beliebtheitswerte, da kommt es in der Öffentlichkeit gut an, wenn man sich zu ihm bekennt. Aber die Situation ist trügerisch. Eine Niederlage am Samstag könnte vieles verändern: Der Nimbus des erfolgreichen Weltmeistertrainers wäre beschädigt. Das Schöne am Erfolg ist, dass man ihn nicht erklären muss. Das Hässliche ist, dass er sich manchmal verflüchtigt, ohne sich zu verabschieden. Diese Erfahrung machte Spanien am vergangenen Montagabend im Spiel gegen Italien. Der Titelverteidiger wirkte lethargisch, als hätte die Mannschaft Valium zu sich genommen. Ihr Coach Vicente del Bosque hat immer Wert darauf gelegt, Teams eine nachhaltige Identität zu geben. Das lebte er schon als langjähriger Vereinstrainer von Real Madrid vor. Der Spanier glaubt, dass sich »in einer Mannschaft der Charakter des Trainers widerspiegelt«. Taktisch wie zwischenmenschlich und auch im öffentlichen Auftreten verstand er es perfekt, den Mittelweg zwischen Extremen zu finden. Er beherrschte nicht nur lange die Kunst, zwischen schwierigen und glamourösen Spielerpersönlichkeiten Harmonie aufzubauen, sein Antrieb als Coach ging darüber hinaus: Sein Beitrag als Nationaltrainer war es auch, »eine gewisse Einfachheit beizubehalten, diese ganze Welt des Marketings zu entdramatisieren«. Weil er sich nicht verbiegen lassen wollte, wurde er bei Real Madrid entlassen. Der Präsident sagte damals, del Bosques Profil passe nicht zum Image des Vereins. Das Strahlen von CR7 obzwar Alkoholiker, reizend war. Aber in der Legende liegt ohnehin nicht die Erklärung. Ronaldo zwingt zur Bewunderung; das ärgert die Leute. Darum suchen sie unablässig nach Gründen, sich der Bewunderung zu entziehen. Was könnte man gegen Ronaldo sagen? Wobei ihn ertappen? Wie, besser noch, seine Stärken in Schwächen umdeuten? Darum versucht man, Charisma in Arroganz umzudeuten, obwohl er nach allen Spielerzeugen der Allerlustigste im Umgang ist. Aber hat er nicht gerade einem zudringlichen Reporter das Mikrofon ins Wasser geworfen? Gegenfrage: Warum sollte er nicht? Hat nicht auch ein Prinz von Hannover einen Reporter sogar mit dem Regenschirm geschlagen? Ungesetzlich ist so etwas, aber unrecht noch lange nicht. Ungebetene Reporter sind die Pest. Nur leider neigen diese Reporter und andere Schnattermäuler zu einer rachsüchtigen Solidarität. Auch sie fühlen sich als Stars, da stört es, wenn ihnen ein Fußballer in die Sonne tritt. Ist Ronaldo, der manchmal schmollt und verzagt, vielleicht ein verwöhntes Bürschchen, das sich als etwas Besseres fühlt? Das wäre natürlich, aus dieser journalistischen Perspektive, hassenswert. Der tiefste Grund der Antipathie könnte darin liegen, dass er so gar nicht als das dumpfe und stumpfe, verschmierte und verschwitzte Männertier daherkommt, das hierzulande als Inbegriff des Fußballers gilt. Ist dieser manierlich gescheitelte Ronaldo mit den feinen Gesichtszügen am Ende unzureichend proletarisch? Die besessene Kritik an ihm verrät viel über ein archaisches Männerbild, dessen Ideal die Rohheit ist. Cristiano Ronaldo zwingt zur Bewunderung, das ärgert die Leute. Deshalb rächen sie sich, deuten seine Stärken in Schwäche um VON JENS JESSEN Ein Bürschchen, das sich als etwas Besseres fühlt? Der Mann aus dem Schwarzwald nimmt Situationen immer so an, wie sie sind Nun ist Joachim Löw der Trainer dieses Turniers, der vor allem für Kontinuität steht. Er ist kein Revolutionär. Er stellt sich nicht gegen das System und die Bedingungen. Er hat sich schon immer mit den Begebenheiten arrangiert. Als sich der damalige Kapitän Michael Ballack im Sommer 2010 so schwer verletzte, dass er für die WM in Südafrika ausfiel, baute Löw kurzfristig die Mannschaftsführung komplett um. Aus der Not heraus entwickelte sich ein neuer Spielstil mit begeisternden Auftritten. Als einer der Vereine, die Löw in Österreich trainierte, zahlungsunfähig war, trainierte er die Mannschaft ohne Gehalt weiter und führte sie zum Titel. Er übernahm den VfB Stuttgart zu einem sportlich schwierigen Zeitpunkt, obwohl sein Nachfolger schon feststand. Und erreichte mehr, als man ihm zunächst zugetraut hatte. Er verfügt über die Fähigkeit, Turniere auf sich zukommen zu lassen. Er führt und entscheidet intuitiv. Bei der Einwechslung im WM-Finale sagte er Mario Götze: »Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi.« Das war kein Satz, den er sich lange zurechtgelegt hatte. Er sagte ihn spontan, aus der Spannung des Augenblicks heraus. Der Mann aus dem Schwarzwald nimmt Situationen immer so an, wie sie sind. Er ist derjenige, der den Raum schafft, damit äußerst begabte und sehr unterschiedliche Ballartisten zusammen ihre Kunst vollenden können. Im Moment ist er noch der umjubelte Stararchitekt. Im Erfolgsfall wird er das auch noch nach dieser EM sein. Er möchte keinen Heldenstatus, der über den des Trainers Löw hinausgeht. Er hat nicht vor, sich zu verstellen und sich selbst zu erhöhen. Fotos: Tim Groothuis/Witters; [M] Francisco Leong/AFP/Getty Images (u.) G erade wirken die Bilder des Triumphs der Squadra Azzurra noch nach, da vibriert das Handy. Keine Stunde ist seit dem Schlusspfiff des Duells zwischen Italien und Spanien vergangen, schon vermeldet der Deutsche Fußball-Bund per SMS: »Jogi Löws Statement zum Viertelfinalgegner Italien ab 20:45 Uhr auf DFB-TV«. Und so erscheint der Bundestrainer wenig später vor einer im Garten des Mannschaftshotels in Évian aufgestellten Kamera und blinzelt in die Abendsonne, bordeauxrote Hecken blühen im Hintergrund, eine rauchige DFBStimme fragt: »Italien 2 : 0 gegen Spanien, du hast das Spiel gesehen, wie hat’s dir gefallen?« Ganz schön imponierend, dieses Spiel der Italiener, sagt Löw und fügt hinzu, Deutschland sei diesem Team bisher bei jedem Turnier unterlegen, aber: »Jetzt haben wir die Chance, das mal umzudrehen.« Warum macht Joachim Löw so was, anstatt seine Einschätzung in Ruhe am nächsten Morgen zu erklären? Weil selbst er sich an die Spielregeln seines Jobs halten muss, und dazu gehört im Jahr 2016 auch verbandsinterne Öffentlichkeitsarbeit via DFB-TV. Es ist bereits die zweite SMS des DFB an diesem Tag: Löws Besuch auf der Pressekonferenz am nächsten Morgen wurde auch schon angekündigt. Und am Vorabend saß der Trainer nach dem 3 : 0-Sieg gegen die Slowakei vor versammelter Presse auf dem Podium im Stadion in Lille und sagte: Falsche Neun, richtige Neun, das sei doch jetzt wirklich nicht so entscheidend. Hauptsache, »wir kommen aus der Tiefe in die gefährliche Zone«. 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 EURO 2016 19 Mit Tugenden zum Tor D er Abpfiff im Stadion von Toulouse war kaum verklungen, da brachen zu Hause in Belgien alle Dämme. »Außerirdisch«, »stratosphärisch«, »der neue Messi« – kein Wort und kein Vergleich schien groß genug zu sein, um die Leistung von Eden Hazard zu würdigen. Endlich, nach mehr als 60 Einsätzen, hatte der kleine, feine Techniker ein großes Länderspiel gezeigt. Ein Tor vorbereitet, eines geschossen, 4 : 0 hatten die Belgier Ungarn geschlagen. Und, was noch wichtiger war: Endlich hatten Hazard und seine Mitspieler das Versprechen erfüllt, das diese hochbegabte belgische Mannschaft bei diesem Turnier begleitet. Von nun an dürfe Belgien wirklich träumen, kommentierte die sonst eher zurückhaltende Tageszeitung Le Soir: »The sky is the limit«, nach oben gibt es keine Grenzen. Um die Erwartungen zu verstehen, mit denen die belgische Mannschaft bei dieser Europameisterschaft konfrontiert wird, muss man zurückblenden in den Sommer 2014. Das kleine Land hatte sich zum ersten Mal nach langer Durststrecke wieder für ein großes Turnier qualifiziert. Spieler wie Hazard, Axel Witsel oder Kevin De Bruyne waren schon damals keine Unbekannten. Doch Vincent Kompany, der Kapitän, bemühte sich noch vor dem Abflug, die Erwartungen zu dämpfen. Man möge von dieser Generation der Roten Teufel in Brasilien nichts Unmögliches verlangen, sagte er: »Der Augenblick der Wahrheit kommt für uns in zwei Jahren bei der Europameisterschaft. Dann werden wir bereit sein!« In Zukunftsteams bekommen Spätentwickler eine Chance Kompany ist verletzt, er verfolgt die EM auf der Tribüne. Aber das Versprechen, das er damals formulierte, hat die belgische Mannschaft eingeholt. Wie schwer es wiegt, konnte man ahnen, als sie das erste Gruppenspiel recht klanglos mit 0 : 2 gegen Italien verlor. Belgien wähnt sich im Besitz einer goldenen Spielergeneration. Das bedeutet aber auch: Die Ansprüche an das Team sind gewachsen. Anders als noch bei der WM reicht es jetzt nicht mehr, nur dabei zu sein und vielleicht das Viertelfinale zu erreichen. Wenn diese Spieler nicht mindestens unter die letzten vier kämen, »können sie den Beruf wechseln«, forderte JeanMarie Pfaff, einst belgischer Weltklassetorhüter in Diensten von Bayern München, bereits vor Beginn des Turniers. »Diese Ambitionen sind vollkommen neu«, sagt Jean-Michel De Waele, Soziologe an der Freien Universität Brüssel (ULB). »Wir sind ein kleines Land mit einer fragilen Identität und einer Reihe von Komplexen. Wir haben keine Geschichte, keine Erzählung, die erklärt, warum wir gewinnen sollten.« Einmal erst stand Belgien in einem großen Finale, 1980 bei der Europameisterschaft, den Titel gewann damals Deutschland. Belgien fehlt die Erinnerung an große Siege. Hinzu kommt, dass der Fußball in kaum einem anderen Land politisch so aufgeladen ist wie in Belgien. Das Land, zerrissen zwischen Flamen und Wallonen, ringt seit je um eine gemeinsame Identität. Die flämischen Nationalisten würden Belgien lieber heute als morgen auflösen, die Bürger haben sich in einer politischen Dauerkrise eingerichtet. Zuletzt kam auch noch der Terror hinzu. Die Nationalmannschaft war lange Zeit ein Spiegelbild dieser Misere. Wann immer ein Trainer eine Mannschaft aufstellte, stets wurde nachgerechnet: Wie viele Flamen standen auf dem Platz, wie viele Wallonen? Die souveräne Qualifikation für die Europameisterschaft, der vorübergehende Aufstieg an die Spitze der Fifa-Weltrangliste und die Anerkennung, die dem belgischen Fußball plötzlich weltweit entgegengebracht wurde, haben viele Belgier daher mit Stolz erfüllt. Im Stadion wissen die Anhänger zwar nach wie vor nicht, in welcher Sprache sie die Nationalhymne singen sollen, ob auf Niederländisch oder Französisch. Dennoch funktioniert die Nationalmannschaft als Klammer, die das zerrissene Land zumindest für 90 Minuten zusammenhält. Außerdem, sagt der Soziologe De Waele, habe der Fußball ein Beispiel dafür gegeben, dass diese Gesellschaft sich trotz aller Widerstände erneuern kann – die Roten Teufel als Ikone eines »neuen Belgiens«. Wie kommt es, dass ausgerechnet das kleine Belgien über so viele außerordentliche Talente verfügt? Die Vertreter der goldenen Generation spielen zwar ausnahmslos im Ausland, aber die meisten von ihnen sind zu Hause ausgebildet worden. De Bruyne, Witsel oder Nainggolan haben die Kaderschmieden des belgischen Fußballs durchlaufen, bevor sie aufgebrochen sind, um ihr Glück in Manchester, St. Petersburg oder Rom zu suchen. Nun hängt der Erfolg im Fußball von vielen Variablen ab; damit etwas gelingt, müssen mehr als zwei Rädchen ineinandergreifen. Bob Browaeys will deshalb die Frage, wie groß sein Anteil am Aufschwung des belgischen Fußballs ist, lieber nicht beantworten. Stattdessen schickt er noch vor dem Treffen eine 144 Seiten umfassende PowerPoint-Präsentation: die belgische Vision für die Entwicklung des Jugendfußballs. Browaeys, 46, verantwortet den Jugendbereich des belgischen Fußballverbands. Er hat die U-17Auswahl trainiert, die bei der WM in Chile 2015 Bronze gewann. Belgische Nachwuchsspieler sind zu einem international begehrten Markenartikel geworden. Den Anfang dieser Entwicklung datiert Browaeys fast 20 Jahre zurück. 1998, nach der WM in Frankreich, habe die Stunde null des belgischen Fußballs geschlagen. »Wir hatten nichts«, sagt Browaeys, »keine Trainerausbildung, keine Philosophie, keinen Plan. Die Nationalmannschaft spielte einen armseligen Fußball.« Heute, 18 Jahre später, verteilt sich ein engmaschiges Netz von Fußballschulen über das Land. Im Süden von Brüssel ist ein nationales Leistungszentrum entstanden, mit fünf Rasenplätzen und angeschlossenem Hotelbetrieb. Die Auswahlmannschaften spielen durchgängig, von der U15 bis zur A-Mannschaft, ein 4-3-3-System. Als einer der ersten Verbände überhaupt hat Belgien zusätzlich sogenannte Zukunftsteams gegründet, in ihnen sollen auch körperliche Spätentwickler eine Chance bekommen. Yannick Carrasco, ein rasanter Tempodribbler – gegen Ungarn hat er das vierte Tor geschossen –, spielte früher in einem solchen Zukunftsteam. »Wenn wir im Wettbewerb mit Deutschland oder Frankreich bestehen wollen, können wir es uns nicht erlauben, auch nur ein Talent zu verlieren«, sagt Browaeys. Die Vorbilder, denen der belgische Fußball dabei folgt, sind unschwer zu erraten. Bob Browaeys zieht die Linie von den Niederländern Rinus Michels und Johan Cruyff zu Pep Guardiola. Lange Zeit waren die Niederländer die kleine unter den großen Fußballnationen, nun fehlen sie in Frankreich. Ihre Rolle würden die Belgier gerne übernehmen. Der Trainer der belgischen Auswahl heißt allerdings Marc Wilmots. Dass ausgerechnet ihm die Aufgabe zugefallen ist, aus den vielen Hochtalentierten ein Ensemble zu formen, ist eine hübsche Pointe. Auf Schalke galt der bullige Offensivspieler als »Kampfschwein«, in Belgien hieß er »der Stier von Dongelberg«, nach seinem Heimatort. Als er mit dem Fußballspielen aufhörte, wechselte er vorübergehend in die Politik, als Abgeordneter saß er im belgischen Senat. Der 47-Jährige kennt die Komplexe seines Landes besser als viele andere. Wilmots ist Wallone. Als er im Frühjahr 2012 die Nationalmannschaft übernahm, begrüßten ihn vor allem flämische Journalisten mit Herablassung. Einer von ihnen schrieb, es reiche nicht, »rote Shorts zu haben und am Spielfeldrand ›Hopp, hopp!‹ zu rufen«. Auch nach der Auftaktniederlage gegen Italien klang die Kritik im flämischen Teil des Landes lauter als in der Wallonie. Früher galt Wilmots als »Kampfschwein«, jetzt gilt er als »großer Einiger« Dabei ist Wilmots etwas gelungen, woran seine Vorgänger allesamt gescheitert waren: Er vermittelte der belgischen Auswahl Disziplin und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit jenseits der notorischen Sprachgrenzen. Früher aßen die niederländisch- und französischsprachigen Spieler in getrennten Gruppen, heute sitzen sie an einem großen Tisch. Dass sie aus Tottenham, Barcelona oder St. Petersburg anreisen und nicht mehr aus Lüttich oder Brügge, hat dazu beigetragen, frühere Konflikte zu entschärfen. Handys sind beim Essen verboten; wenn die Spieler aus dem Mannschaftsbus aussteigen, müssen sie die Kopfhörer abnehmen, um Ordner und Sicherheitsleute zu begrüßen. Respekt und Regeln sind der Kitt, mit dem Wilmots versucht, die Fliehkräfte zu bändigen. »Das Wir wird bei uns großgeschrieben«, wird er nicht müde zu betonen. »Wer das nicht kapiert, spielt nicht mehr mit. So einfach ist das.« Spricht er, erinnert Wilmots eher an Huub Stevens als an Johan Cruyff oder Pep Guardiola. Das »Wir«, das der Trainer beschwört, klingt banal. In Belgien hat es zwangsläufig politische Bedeutung. In den vergangenen Jahren wurde Wilmots als »großer Einiger« gefeiert. Die Zweifel an seinen taktischen Fähigkeiten indes sind nie ganz verschwunden. Nach dem 0 : 2 gegen Italien kritisierte selbst Thibaut Courtois, der Torhüter, das Team sei »taktisch deklassiert worden«. An diesem Freitag spielt Belgien gegen Wales, für Wilmots und seine Hochbegabten ist es schon fast ein Endspiel. Noch ein Sieg, dann hätten sie die Vorgabe von Jean-Marie Pfaff erfüllt, mindestens das Halbfinale zu erreichen. Verlieren sie, könnte aus der goldenen Generation hingegen schnell eine verlorene Generation werden. 90 Minuten, die über die Arbeit und die Träume von fast 20 Jahren entscheiden. Siegreiche vier: Eden Hazard (rechts unten), Michy Batshuayi Tunga (rechts oben), Radja Nainggolan (links unten) und Kevin De Bruyne (links oben) Foto: Pascal Pavani/AFP/Getty Images Belgiens Fußball hat es weit gebracht – dank guter Nachwuchsarbeit. Dazu fordert Trainer Marc Wilmots Höflichkeit VON MATTHIAS KRUPA 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 WIRTSCHAFT 21 DIESE WOCHE TITELTHEMA: WENN DIE FALSCHEN GEWINNEN Foto: Imago; kl. Fotos.: Dominik Butzmann für DZ; Claus Hecking; Wolfgang Rattay/Reuters (v. o.) Erst »Spiegel«-Chef und jetzt »Welt«-Chef: Stefan Aust wird 70 und zieht im Interview Linien durch sein Leben Seite 24 Brexit-Befürworter Boris Johnson beim Verlassen eines Festlandautos Jetzt redet die Wirtschaft Äthiopien soll mit Solarenergie zum Industrieland werden. Kann der große Sprung gelingen? Seite 26 Was VW in den USA bezahlen muss, ist jetzt klar. Aber was droht dem Ex-Chef Martin Winterkorn? Seite 28 QUENGEL ZO N E Konzerne sind die Vorreiter Europas. Sie wollen dafür sorgen, dass auch nach einem Brexit alles so bleibt, wie es ist Wege zur Weißheit VON CLAUS HECKING, JOHN F. JUNGCLAUSSEN , DIETMAR H . LAMPARTER , ROMAN PLETTER , ARNE STORN UND JENS TÖNNESMANN MARCUS ROHWETTERS wöchentliche Einkaufshilfe D er Premierminister ist in die Hafenstadt Hull im Nordosten Englands gereist, um die Nettozahler aus Deutschland feierlich zu begrüßen. Manager des Siemens-Konzerns hatten hundert Standorte in Europa geprüft und sich für die britische Nordseeküste entschieden, um dort Rotorblätter zu fertigen. Die Aussichten zu verkünden ist eine dankbare Aufgabe für David Cameron: Tausend neue Jobs in einer von Arbeitslosigkeit geplagten Region, die mit dem Bau von Offshore-Windrädern den Anschluss an die Zukunft gewinnt! Für einen Politiker gibt es kaum Schöneres. Auch der zuständige Siemens-Vorstand zeigt sich zufrieden mit England: »Wir investieren in Märkte mit zuverlässigen Rahmenbedingungen...« Das war vor zwei Jahren. Nun haben die Briten in einer Volksabstimmung für den Austritt aus der EU votiert. David Cameron erklärte seinen Rücktritt. Und die Rahmenbedingungen sind überhaupt nicht mehr zuverlässig. Siemens hat inzwischen mit Partnern 310 Millionen Pfund in die Rotorenfabrik investiert und ein Netz aus Zulieferfabriken gespannt, das vor allem ein Binnenmarktnetz ist: ohne Zoll und Bürokratie. Hull wird fertiggestellt. Doch nach dem Brexit hat Siemens sofort weitere geplante Windkraftinvestitionen in Britannien gestoppt. Zugleich lässt Vorstandschef Joe Kaeser eine kaum verhohlene Drohung auf die Website des Konzerns setzen: Die britische Regierung solle »unverzüglich Maßnahmen einleiten, um sich über die Natur der Beziehungen Großbritanniens zur EU und zu anderen Handelspartnern abzustimmen und einen klaren Weg vorzuzeichnen, um künftige Investitionen anzuziehen«. Nach nationaler Selbstbestimmung der Briten klingt das nicht. Dabei hatten die Brexit-Befürworter bis zur vergangenen Woche mit dem Slogan »Take back control!« geworben, der sehr nach Selbstbestimmung klang. Doch nachdem eine Mehrheit der Wähler beschlossen hat, keine EU-Bürger mehr sein zu wollen, ist der Alltag vieler in Großbritannien aktiver Konzerne weiter: europäisch. Und deren Führungen planen keineswegs, diesen Umstand wegen des Brexit-Referendums zu ändern. Im Gegenteil: Sie arbeiten daran, dass aus dem Abschied der Briten ein EU-Austritt light wird: mit möglichst freiem Handel, einheitlichen Standards und ohne Hürden für Arbeitsmigranten. Es ist dies eine ironische Pointe der Geschichte: stark zu beschädigen und die Rolle Londons zu verEuropas Politiker nutzten seit der Montanunion die zwergen, das bislang der Brückenkopf der globalen Wirtschaft und den Markt als Werkzeuge, um die Finanzwirtschaft nach Europa ist. Interessen der Staaten auf dem Kontinent zu verVor allem Investmentbanken der New Yorker Wall flechten und die EU politisch zu vertiefen. Nun könn- Street wie J.P. Morgan, die Citigroup oder Goldman te eine politische Entscheidung diese Verflechtung Sachs haben sich in London niedergelassen, um von zunichtemachen – und Unternehmen versuchen, das der englischsprachigen Stadt aus Geschäfte in der mit wirtschaftlichem Druck zu verhindern. Ihnen ganzen EU zu machen. Basis dafür ist der sogenannte graut davor, dass die EU die Kontrolle verliert. EU-Pass. Er sorgt dafür, dass die Lizenz einer einzelnen Europa hat dafür gesorgt, dass nicht jede Regie- nationalen Aufsichtsbehörde ausreicht, um überall in rung ihre eigenen Regeln erlässt für Standards, dass der EU aktiv zu sein. Die britische Lizenz ist für inUnternehmen Produkte und Dienstleistungen nicht ternationale Großbanken die Eintrittskarte nach in jedem Staat neu genehmigen lassen müssen. Klar, Europa. »Wenn London nicht mehr wie bisher als die Konzernmanager haben es manchmal auch nicht Sprungbrett für Geschäfte in der EU dienen kann, dürften viele Banken ihre so gern gehabt, wenn die EUStandortwahl überdenken«, Kommission sie zu mehr glaubt ein einflussreicher InWettbewerb und damit zu vestor. Finanzhäuser könnten günstigeren Angeboten zwang Zehntausende Jobs nach Paris – zum Beispiel bei Telefontarioder Frankfurt verlagern. fen oder Medikamenten. Und Viele Banker in London natürlich haben irre Subvenhoffen, dass es eine Einigung tionssysteme für die Agrargeben wird zwischen der EU wirtschaft und strukturschwaAxa-Chef Henri de Castries im Interview über den Brexit Seite 22 che Regionen den Wohlstand und Großbritannien. Doch die Außerdem: Was wird aus der nicht nur gemehrt. Doch für werden die Briten nicht gratis deutschen Konjunktur? Bekommen bekommen: »Die EU dürfte Konzerne und Verbraucher ist die Briten einen neuen Deal? Und wohl keinen freien Zugang in Brüssel bei allen Defiziten warum irrte die Börse? Seite 23 gewähren, ohne dafür etwas auch eine Ordnungsmacht erzu verlangen«, sagt Andrew wachsen: Die Beamten und Bosomworth, DeutschlandPolitiker dort haben der Wirtschaft einen Rahmen geschaffen, der nationale Büro- Chef der Investmentfirma Pimco. Vertreter deutscher kratien geschwächt und Konsumenten gestärkt hat. Banken rechnen schon mit dem norwegischen MoDen Verlust dieser Ordnungsmacht fürchten jene dell. Danach erhalten Banken den EU-Pass, obwohl Konzerne, die inzwischen weit europäischer sind als ihr Land kein EU-Mitglied ist. Im Gegenzug dürfen viele Bürger Europas. Aus ihrer Sicht haben die Briten sich EU-Arbeitnehmer in Norwegen frei bewegen. nicht etwa ein Bürokratie-Europa abgewählt. Sie Für die Brexit-Briten wäre das ein hoher Preis, hatten haben sich vielmehr für ein Bürokratie-Britannien sie doch vorher gegen Migranten Stimmung gemacht. entschieden, dessen Unternehmen gleichzeitig weiter Bislang spielen die Briten auf Zeit, den Antrag zum mit dem Ordnungs-Europa auskommen müssen. Austritt wollen sie nicht überstürzen. Doch Banker Dagegen wehren sich nun viele Konzerne. Die bri- hassen wenig mehr als Unsicherheit, zumal da Nietische Regierung wird sich diesem Druck kaum ent- derlassungen zu gründen eine Weile dauert. »Große ziehen können. Banken können es sich nicht leisten zu warten. EiniEs beginnt schon damit, dass ansonsten das Herz ge werden sicher schon bald erste Maßnahmen trefdes britischen Kapitalismus weniger kraftvoll schlagen fen«, sagt Neville Anderson, Vorsitzender der British würde: das Finanzzentrum in der City of London. Chamber of Commerce im Rhein-Main-Gebiet. Vor allem Fintechs, also Internet-Alternativen zu Die Hauptstadt des Königreichs steht für 20 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung. Der vor allem dort den klassischen Banken, spielen den Abschied aus beheimatete Finanzsektor macht allein acht Prozent London durch. Die unsichere Lage sei »ganz, ganz aus. Der Austritt aus der EU droht dieses Geschäft beschissen«, sagt etwa Jutta Frieden vom britischen Mehr zum Titelthema Start-up GoCardless, das es Unternehmen europaweit ermöglicht, Lastschriften einzuziehen. Nun müssen sich die 75 Mitarbeiter wie die der Großbanken auf den Fall vorbereiten, dass die Zulassungen der britischen Aufsicht für den Rest der EU ungültig werden. Dazu kommen Probleme mit Personal aus dem EUAusland: »Es wird sicher schwieriger, qualifizierte Leute hierherzulocken«, sagt Frieden. Gerard Grech, Londons oberster Lobbyist von der staatlich geförderten Initiative TechCity, versichert zwar tapfer, seine Stadt werde bei Innovation und Unternehmertum führend bleiben, »ganz egal, wie die Verhandlungen mit der EU ausgehen«. Doch die Konkurrenz läuft sich schon warm: Frankfurts Standortlobbyisten schickten bereits diese Woche einen Emissär nach London, um Unternehmen anzulocken, und Florian Nöll, der Vorsitzende des Bundesverbands Deutsche Startups, kürte die »deutsche Startup-Hauptstadt Berlin« nach dem Referendum zur Gewinnerin des Brexits. Der Brexit befällt die Wirtschaft wie ein Virus. Selbst wenn Großbritanniens Politiker das Herz der britischen Wirtschaft heilen und die Rhythmusstörungen im Finanzzentrum beruhigen können, wäre dies nur eines von vielen Organen der Volkswirtschaft, die das Virus angreift, weil sie so sehr mit der EU verwachsen sind. In der britischen Luftfahrtindustrie zum Beispiel warten die Manager der Unternehmen schon gar nicht mehr darauf, dass Verbandslobbyisten die Regierung bearbeiten. Vor lauter Panik machen sie das selbst. Nur wenige Stunden nach dem Brexit-Votum verschickte Carolyn McCall, die Konzernchefin der Billig-Fluglinie easyJet, Brandbriefe an die britische Regierung und die EU-Kommission, mit der Bitte, »den Verbleib des Vereinigten Königreichs im EULuftverkehrsbinnenmarkt zu priorisieren«. Bislang haben die britischen Fluglinien das Recht, innerhalb der EU von Flughafen zu Flughafen zu fliegen. EasyJet aus Großbritannien darf etwa ohne spezielle Genehmigung Flüge von Hamburg ins kroatische Split anbieten. Dieses Geschäft ist nun in Gefahr. So sich die britische Regierung nicht mit der EU einigt, werden die nationalen Fluglinien ihren Zugang zum europäischen Luftverkehrsmarkt verlieren. An der Börse spiegelt sich diese Aussicht schon wider. EasyJet gab unter anderem wegen des Brexits Fortsetzung auf S. 22 Zu den Phänomenen der Überflussgesellschaft gehört es, dass Konsumenten regelmäßig zwischen Produkten wählen sollen, die sich kaum mehr voneinander unterscheiden. Für die Hersteller dieser Produkte ist das ein Problem – schließlich müssen sie Kunden dazu bringen, sich genau für dieses und nicht etwa für ein Produkt der Konkurrenz zu entscheiden. Dann beginnt die Phase der bekloppten sprachlichen Differenzierung. Sie ist typischerweise der letzte Versuch, einen echten Innovationsschub noch zu verhindern und die dafür notwendigen Investitionen zu sparen. Bei Zahnpasta ist das derzeit schön zu beobachten, wie Leser Christian P. auffiel. Alle Hersteller versprechen auf unterschiedliche Weise das Gleiche: weiße Zähne. Sie nennen das nur unterschiedlich, etwa Samtweiß, Max White, Sensation White, White & Shine oder 3D White, was immer das genau ist. Von Odol-med3 ist das schöne High Definition White zu haben, man sollte beim Zähneputzen aber nicht zu lange über die Übersetzung »hochauflösend« nachdenken. Perlweiß hingegen unterscheidet bereits zwischen Schönheits-Zahnweiß, Pro-Age Zahnweiß und Raucher-Zahnweiß. Was gut klingt, jeden gelbzahnigen alten Raucher aber verwirrt, weil er vermutlich nicht weiß, welches der drei Perlweiß-Sub-Weiße für ihn das richtige ist. Die Entwicklung des Zahnpastamarketings folgt einem aus der Waschmittelwerbung bekannten Muster. Auch dort ging es jahrzehntelang nur um Weißheit, die von strahlendem Weiß über den Weißen Riesen bis hin zum weißesten Weiß aller Zeiten und was weiß ich noch alles führte. Diese Entwicklung endete mit einer disruptiven Innovation, die demnächst wohl auch bei Zahnpasta zu erwarten ist. Etwas Vergleichbares wie Colorwaschmittel für leuchtende Farben zu erfinden ist für die Zahnpastaindustrie allerdings kein Ausweg. Solange sie nicht dafür sorgt, dass bunte Zähne in Mode kommen. Von Verkäufern genötigt? Genervt von WerbeHohlsprech und Pseudo-Innovationen? Melden Sie sich: [email protected] – oder folgen Sie dem Autor auf Twitter unter @MRohwetter 22 WIRTSCHAFT WENN DIE FALSCHEN GEWINNEN 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 MACHER UND MÄRKTE George Soros gegen die Deutsche Bank In der Finanzwelt ist der US-Investor eine lebende Legende Airline-Chef Müller heuert am Golf an Hat genug von Malaysia Airlines: Manager Christoph Müller Der deutsche Chef der schwer angeschlagenen Fluggesellschaft Malaysia Airlines, Christoph Müller, wechselt offenbar zum Wettbewerber Emirates. Der 54-jährige Rheinländer soll bei der Fluglinie aus Dubai »Chief Transformation Officer« werden, sich also um Digitalisierung kümmern. Müller hatte vor wenigen Wochen überraschend angekündigt, den Chefposten bei Malaysia Airlines zu räumen (ZEIT Nr. 19/16). Nach den zwei Katastrophen mit einem verschwundenen und einem abgeschossenen Passagierjet sowie einem Beinahebankrott sollte Müller die angeschlagene Fluglinie sanieren. Doch nach 14 Monaten im Amt erklärte er seinen Rückzug – und bescherte dem Unternehmen so eine neue Krise. Seine Kündigung begründete Müller damals mit persönlichen Gründen. Warum ihn diese nicht daran hindern, für Emirates zu arbeiten, wollte er am Dienstag am Telefon nicht erläutern. CHE Atmen kann tödlich sein 742 Menschen pro Stunde sterben an verdreckter Luft In Kürze werden sie wieder um die Welt gehen: die Bilder vom Smog in Peking, Delhi oder anderen Metropolen. Luftverschmutzung ist nicht nur hässlich und deprimierend, sondern auch gefährlicher als gedacht. Laut einer neuen Studie der Internationalen Energieagentur (IEA) sterben jährlich 6,5 Millionen Menschen an verseuchter Luft, macht im Durchschnitt 742 Tote pro Stunde. Besonders gefährlich seien die Verbrennung von Holz und Dung zum Kochen in privaten Haushalten sowie die Abgase von Kohlekraftwerken und Fahrzeugen, sagte IEA-Chef Fatih Birol. Schon mit relativ geringen Investitionen und besserer Energieeffizienz ließen sich mehr als drei Millionen Menschenleben retten. CHE M+M Henri de Castries auf den Treppen des Élysée-Palastes »Der Teufel klopft an die Tür« Axa-Chef Henri de Castries über die Folgen des Brexits und die Rolle der Wirtschaft in Europa DIE ZEIT: Sie und Ihr Vorgänger haben aus Axa einen europäischen Weltkonzern gemacht. Doch was ist Ihr Erfolg heute wert, wenn er von den Völkern Europas abgelehnt wird? Henri de Castries: Die Völker lehnen nicht die Arbeit der Unternehmen ab, die sich globalisiert haben. Sie lehnen unglücklicherweise die Idee eines Europas ab, obwohl dieses Europa ihnen seit 60 Jahren viel Wohlstand und Frieden bringt. Das gilt gerade für Großbritannien und macht die Entscheidung der Briten umso paradoxer. ZEIT: Haben nicht auch Konzernchefs wie Sie versagt, das europäische Allgemeinwohl zu erklären? De Castries: Das ist nicht unsere erste Aufgabe. Kein namhafter europäischer Unternehmenschef ist gegen Europa. Einige von uns haben die Brüsseler Bürokratie kritisiert, aber wir sind nie so weit gegangen, das europäische Projekt abzulehnen. ZEIT: Die rechtsextreme französische Parteiführerin Marine Le Pen hat zum Brexit gesagt: »Die Demokratie ist immer stärker als die Märkte.« Das zeugt von einem Ansehensverlust der Wirtschaft. De Castries: Le Pen verkörpert den klassischen Populismus, die Ablehnung allen Wandels und die Angst vor der Zukunft. Sie in Frankreich, Trump in den USA und Pegida in Deutschland: Diese Bewegungen gründen auf der Angst vieler Mitbürger vor einer Welt, die sich ändert und in der die meisten unserer etablierten Politiker unfähig sind, Hoffnung zu vermitteln und eine klare Linie aufzuzeigen. Diese Abwesenheit einer Pädagogik der Globalisierung trägt zur Angst unserer Mitbürger bei. ZEIT: Konzernchefs wie Sie sind heutzutage mächtiger als Politiker, oder? De Castries: Die Politiker haben durchaus viel Macht. Sie schreiben die Gesetze und strukturieren damit unsere Gesellschaften. ZEIT: Was haben sie falsch strukturiert? De Castries: Unsere Mittelklasse fürchtet um den Sozialvertrag, der seit 100 Jahren viele westlichen Gesellschaften prägt. Unser System allgemeiner demokratischer Wahlen konnte funktionieren, weil die Mehrheit am Fortschritt teilnahm. Diese Fortschrittsmaschine funktioniert schon seit 30 Jahren nicht mehr richtig, weil das Wachstum in der Welt gerechter verteilt ist und die neuen Technologien unsere Arbeitsverhältnisse von Grund auf verändern. Das bewirkt Brüche, Arbeitslosigkeit und wiederum Angst. ZEIT: Sie haben Ihren Konzern vor allem in China ausgebaut. Hätte man den Franzosen sagen müssen, welche Einbußen es zu Hause bewirkt, wenn man den Wohlstand mit den Chinesen teilt? De Castries: Man hat der Mittelklasse vor allem die Vorteile der Globalisierung nicht richtig erklärt. Schauen Sie sich Deutschland an: Ihr Land ist einer der wichtigsten Handelspartner Chinas. Und dort liegt eine große Chance für Europa. ZEIT: Profitiert Frankreich von der Globalisierung weniger als Deutschland? De Castries: Auch Frankreich profitiert. Dafür stehen unsere zahlreichen, gesunden Großunternehmen wie Axa. Unser Hauptvorteil aber ist die Demografie, die wachsende Bevölkerung. In den vielen Kindern drückt sich ein Glaube an die Zukunft aus. Deutschlands Vorteil sind die Strukturreformen: der flexiblere Arbeitsmarkt, der breite Mittelstand, eine vernünftige Steuerpolitik und kontrollierte Staatsfinanzen. ZEIT: Weshalb die Deutschen sagen: Macht erst mal eure Reformen! Reicht das noch als Antwort auf den Brexit? De Castries: Natürlich müssen wir unsere Reformen jetzt dringend durchsetzen. Die Briten haben eine historische Entscheidung getroffen. Großbritannien ist kein Feind Europas, aber nicht mehr Teil Europas. Bürger und Märkte wollen nun wissen, was das bedeutet. Doch 27 EU-Länder dürfen nicht Geisel der internen Planungen der britischen Regierungspartei sein. ZEIT: Ist nicht die viel größere Gefahr, dass sich Paris und Berlin über den Fahrplan uneins sind? De Castries: Sicher ist das eine Gefahr. Deutschland und Frankreich müssen sich, bevor sie Verhandlungen mit London beginnen, über das Ziel verständigen. ZEIT: Wie sollte das lauten? De Castries: Draußen ist draußen. Alles Wohlwollen muss von großer Entschiedenheit begleitet werden. Wer draußen ist, kann nicht mehr die Vorteile derer besitzen, die drinnen sind. Ein Beispiel: Die britischen Finanzhäuser können nicht mehr die gleichen Rechte besitzen wie die in der Euro-Zone. ZEIT: Das liegt im Eigeninteresse Ihrer Firma. De Castries: Nicht nur. Großbritannien wird im Dienstleistungsbereich viel verlieren. Und was die Finanzdienstleistungen betrifft, wo London große Wettbewerbsvorteile besaß, hat sich das Land ins eigene Knie geschossen. Bestimmte Finanzdienstleistungen könnten auf den Kontinent wandern: nach Frankfurt, nach Paris, vorausgesetzt, die französische Regierung senkt die Steuern. ZEIT: Sehen Sie bereits, welche Zelte der AxaKonzern in London abbricht? De Castries: Was den reinen Verkauf von Versicherungen betrifft, ändert sich für uns nicht viel. Aber 302,5 Großbritannien und die EU Handelszahlen 2015, Angaben in Milliarden Euro* Das Gespräch führte Georg Blume 184,3 Export in die EU Import aus der EU *nur Warenhandel, ohne Dienstleistung Jetzt redet die Wirtschaft Fortsetzung von S. 21 eine Gewinnwarnung heraus, die Aktie brach am Freitag um 14 Prozent ein. Zudem macht die Entwertung des britischen Pfunds den Treibstoff teurer. EasyJet-Konzernchefin McCall sprach bislang nebulös von einem »Notfallplan«, um ihr Unternehmen vor dem Brexit zu schützen. Was das wohl bedeutet, hat die Zeitung Daily Telegraph berichtet. Demnach könnte bald eine Tochtergesellschaft in einem EU-Land das Geschäft in Kontinentaleuropa betreiben. Aber auch der Komplettumzug sei eine Option, heißt es in der Branche. Ähnlich wie bei den Banken gibt es auch für die britische Flugindustrie eine Rettungsoption norwegischer Art: den Verbleib im Branchenbinnenmarkt. Schließlich darf auch die Fluglinie Norwegian am Luftverkehr ganz normal teilhaben. »Wir werden alles dafür tun«, sagt ein britischer Branchenlobbyist. »Aber es wird nicht einfach, wenn der Brexit wirklich kommt. Dann muss die britische Regierung im Gegenzug wohl einige Zugeständnisse machen.« Diese wären wie der Zugang zu Europas Bankenmarkt im Ergebnis teuer für die Briten: Sie müssten Geld nach Europa schicken und Menschen aus Europa nach Großbritannien lassen. Der Druck der Wirtschaft, Großbritannien im Regel-Raum der EU zu halten, trifft nicht nur die Politiker in London. Auch die Regierungen der übrigen EU-Staaten, die einen harten Verhandlungskurs gegen die Briten fordern, werden ihn zu spüren bekommen, allen voran die deutsche. Ein Fünftel der in Deutschland gebauten Pkw werden auf der Insel verkauft. Damit ist das Vereinigte Königreich der wichtigste Exportmarkt für ein großer Teil unserer Anlagen-Manager arbeitet bislang in London. Wenn sich morgen das Herz der europäischen Finanzindustrie in Richtung Kontinent bewegt, werden wir dabei sein. ZEIT: Was soll Europa für die Menschen sein? De Castries: Europa, das ist die Bewahrung unserer demokratischen Zivilisation. Dafür brauchen wir zuallererst eine stärkere Sicherheits- und Verteidigungspolitik, nach innen und nach außen. ZEIT: Jetzt reden Sie wie François Hollande. De Castries: ... weil die Bürger an nichts anderes denken und Staatschefs das allmählich begreifen. ZEIT: Wo haben diese Staatschefs bisher versagt? De Castries: Sie haben seit Anfang dieses Jahrhunderts Häuser ohne Dächer gebaut, vieles begonnen und nicht zu Ende geführt. Schengen war eine wunderbare positive Idee: dass sich alle Bürger in Europa frei bewegen können. Aber wir haben die Idee nicht ganz umgesetzt, weil wir unfähig waren, uns über die Sicherheit an unseren Grenzen zu einigen. Es gibt bis heute keine europäische Grenzpolizei. Ebenso wenig gibt es einen gemeinsamen digitalen europäischen Pass. Das ist nicht normal. ZEIT: Die EU-Länder gehen nicht gemeinsam vorwärts. De Castries: Noch zu Beginn des Jahrhunderts ging es Europa nicht schlecht: Es gab ein Währungsprojekt und die Lissabon-Agenda. Doch seither haben einige Regierungen einen faustischen Pakt geschlossen. Sie haben Zeit gekauft, indem sie die nötigen Reformen aufgeschoben haben. Heute aber klopft der Teufel an die Tür. ZEIT: Sind Reformen in Frankreich machbar? De Castries: Weniger Staatsausgaben, mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, eine einheitlichere Steuerpolitik: Das ist nicht unmöglich. ZEIT: Und in Europa? De Castries: Die Rolle der Europäischen Kommission muss sich ändern. Sie wird von den Bürgern nicht akzeptiert, sie erscheint ihnen wie ein Schiff ohne Steuer. 125,0 62,8 51,3 38,0 35,5 15,1 Gesamt Maschinen Chemikalien und Ähnliches ZEIT- GRAFIK/Quelle: Eurostat in Deutschland gefertigte Autos. Gleichzeitig ist das Land ein zentraler Produktionsstandort. BMW etwa betreibt auf der Insel vier Fabriken mit 8000 Beschäftigten. Inklusive der Zulieferbetriebe sorgt der Konzern nach eigenen Angaben für 50 000 Jobs in Großbritannien. Zum Geschäftsmodell gehört es, dass ein großer Teil der dort montierten Fahrzeuge nicht in Großbritannien bleibt. Gut 80 Prozent – im vergangenen Jahr waren es 201 000 Mini und rund 4000 Rolls-Royce – gehen in den Export, die Hälfte davon in andere europäische Länder. Mit dem Brexit steht nun die Geschäftsgrundlage infrage, zumal da unzählige Teile und Motoren zwischen den Ländern und verschiedenen Standorten hin- und hergeliefert werden. Deshalb Lebensmittel, Getränke und Tabak 3,6 7,8 Rohstoffe fordert BMW, »die Bedingungen für den Personen- und Warenverkehr zwischen Großbritannien und den EU-Mitgliedern müssten nun neu verhandelt werden«. Den konkreten Wunsch formuliert der Präsident des Branchen-Lobbyverbandes VDA, Matthias Wissmann: »Nach einem EUAustritt sollte niemand Interesse daran haben, mit Zollschranken zwischen Großbritannien und dem Festland den internationalen Warenverkehr zu verteuern.« Selbst die für Gesundung zuständige Industrie übt Druck auf den britischen Patienten aus. Die britischen Pharmakonzerne GlaxoSmithKline (GSK) und AstraZeneca gehören zu den größten Arzneimittelherstellern der Welt, 73 000 Menschen ar- beiten im Land für die Branche. Einfuhrzölle und Absatzrückgänge auf dem Kontinent bedrohen diese Jobs. GSK-Vorstand Andrew Witty hat die Mitgliedschaft in der EU daher vor dem Votum als »unabdingbar« für eine »erfolgreiche wirtschaftliche Zukunft« bezeichnet. Amerikanische Hersteller, allen voran der Pillenriese Pfizer, haben ihre europäische Zentrale in London eingerichtet, weil Großbritannien Zugang zu allen EU-Staaten garantiert. »Ohne diesen Vorteil werden amerikanische und asiatische Firmen ihre Standortstrategie zweifellos überdenken«, sagt Alan Carr, Analyst bei der New Yorker Investmentbank Needham. Dazu kämen, so hat es die Analystin Karen Taylor von Deloitte berechnet, 150 000 Arbeitsplätze in der Chemie und den Biowissenschaften, die durch den Brexit gefährdet seien. »Zehn Prozent der globalen Forschungs- und Entwicklungsarbeit wird in britischen Labors durchgeführt«, sagt sie. Die EU hat in den vergangenen zehn Jahren mehr als acht Milliarden Euro an Forschungsmitteln beigesteuert. »Außerhalb der EU wird diese herausragende Stellung nicht bestehen können«, sagt Taylor. Während die Politik noch paralysiert ist, führt die Wirtschaft die Bewegung gegen den Nationalpopulismus an. Die Konzerne wollen in europäischer Ordnung statt in britischer Nationalbürokratie leben. Doch der Deal, der dafür nötig wäre, würde teuer für die Briten, ohne dass sie die Regeln weiter mitbestimmen könnten. Das wäre dann geblieben von ihrem Projekt, die Kontrolle zurückzugewinnen. Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/brexit Fotos (Ausschnitte): ddp images; Visum (l.o.); Maruritius (l.u.) Mitten im Brexit-Chaos wettet George Soros gegen die Deutsche Bank. Ein Fonds des 85 Jahre alten Star-Investors machte am Freitag vergangener Woche Aktiengeschäfte, die Gewinne bringen, wenn der Aktienkurs der Bank sinkt. Die Geschäfte betrafen 0,51 Prozent aller Aktien und damit ein Volumen von 90 bis 100 Millionen Euro, je nachdem, zu welchem Preis Soros gehandelt hat. Bereits am Dienstag hatte der Spekulant – der Anfang der neunziger Jahre berühmt geworden war, als er viel Geld gegen das britische Pfund setzte und damit ein Vermögen machte – das Volumen des Deals wieder reduziert. Ob der Milliardär Soros damit Geld verdient hat, lässt sich nur schwer sagen. Am Dienstag kostete eine Aktie der Deutschen Bank bei Handelsschluss rund 12,70 Euro, nur etwas weniger als am Freitag. Lukrativer wäre der Deal sicher gewesen, wenn Soros schon am Donnerstag zugeschlagen hätte – am Tag vor dem Brexit-Votum lag der Kurs noch bei 15,60 Euro. STO 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 WIRTSCHAFT 23 WENN DIE FALSCHEN GEWINNEN Was wird aus der deutschen Konjunktur? D Populist Nigel Farage ist gut gelaunt: Er hat mit einer Wette auf den Brexit 3500 Pfund gewonnen Was hat die Börse falsch gemacht? Warum auf Wettbüros kein Verlass ist B anker sollten öfter mal in Wettbüros gehen. Dann wären sie vom Brexit nicht so kalt erwischt worden. Ein Pensionär, der mit Kollegen in einem Londoner Laden des größten britischen Wettanbieters Ladbrokes über Pferderennen fachsimpelt, hätte ihnen schon vorher sagen können: Wettquoten taugen nicht zur Vorhersage. »Das ist doch nur die Hammelherde«, erklärt der Mann. »Wie man bei uns sagt: Follow the money.« Und dann erklären die Alten weiter: Wenn tausend Personen je ein Pfund auf den Brexit setzen, sind das 1000 Pfund. Wenn gleichzeitig eine einzige Person 1200 Pfund darauf setzt, dass Großbritannien in der EU bleibt, ist das mehr Geld. Und das zählt. Dann ist zwar mehr Geld darauf gewettet worden, dass Großbritannien in der EU bleibt. Aber das eignet sich nicht als Wahlprognose. Und es geht weiter: Wer jetzt eine relativ sichere Wette eingehen möchte, unterliegt mit dem Blick auf die Wettquoten dem Irrtum, dass die Wahrscheinlichkeit des Brexits gering sei. Er setzt ebenfalls auf die EU. Und so verschieben sich die Wettquoten und die vermeintlichen Wahrscheinlichkeiten noch mehr. Ebendas geschah vor dem Referendum. Viele Finanzinvestoren interpretierten die Wettquoten als Prognose – und fielen auf die Nase. So stieg der deutsche Aktienindex (Dax) in den fünf Handelstagen vor dem Referendum um rund 700 Punkte, trotz schwankender Umfrageergebnisse. Als es anders kam, brachen die Kurse ein. »Viele Marktteilnehmer, auch wir, haben sich stark auf die Quoten der Wettanbieter verlassen«, erzählt ein Analyst eines Bankhauses. »Da gibt es einen Herdentrieb: Du siehst das Sentiment der Marktteilnehmer, du siehst die Wettquoten. Und da kommst du nicht auf die Idee, dass es anders laufen könnte.« ANZEIGE VON BETTINA SCHULZ Kann man diesen Markt manipulieren? Der Haudegen im Wettbüro grinst: »Natürlich kann man das. Es ist eine alte Taktik: Man setzt auf die Verlierer, die Hammelherde rennt hinterher, und im letzten Moment wettet man auf den – verschmähten, aber lukrativen – Gewinner und kassiert ab.« Der Ladbrokes-Manager für politische Wetten wiegelt hingegen ab: »Wir haben keine Hinweise darauf, dass der Markt von Großinvestoren manipuliert wurde.« Aber es sei eben so, dass die Befürworter des Verbleibs in der EU vor allem reiche Londoner waren. Wenn sie wetten, dann mit relativ hohen Einsätzen. Gleichwohl haben einige Hedgefonds im Brexit-Tumult richtiggelegen und an den Finanzmärkten ein Vermögen abkassiert – allen voran der britische BrexitBefürworter Crispin Odey, der mehr als 200 Millionen Pfund abgesahnt haben soll. Das muss nicht Betrug sein. Gerade weil sich Wettquoten von Buchmachern nicht für die Vorhersage politischer Ereignisse eignen, hatten viele Hedgefonds – von Natur aus zur Skepsis erzogen – auch eigene Umfragen vornehmen lassen. Die meisten Banker und Manager indes haben sich überhaupt nicht vorstellen können, dass ein Volk eine wirtschaftlich falsche Entscheidung treffen könnte. Jetzt weiß der Markt nicht einmal, welches Preisniveau angebracht ist – weder für Aktien noch für Wechselkurse, noch für Immobilien. Also wird verkauft. »Die Märkte hören mit ihrer Panik auf, wenn die Politiker in Panik geraten«, lautet eine alte Börsenweisheit. Das war in der Finanzkrise so. Erst als die Notenbanker und Politiker begriffen hatten, wie ernst die Lage war, atmeten die Märkte auf. Jetzt ist es wieder so. Erst wenn die Politik begreift, dass diese Krise pragmatisch von allen Seiten gelöst werden muss, beruhigen sich die Märkte. Wetten kann man darauf allerdings nicht. ie Folgen des Brexits erreichten zu Wochenbeginn die portugiesische Atlantikküste. Im malerischen Provinzstädtchen Sintra wollte sich Europas oberster Notenbanker Mario Draghi mit seinen Kollegen Mark Carney aus Großbritannien und Janet Yellen aus den USA treffen, um in entspannter Atmosphäre über die Zukunft der Geldpolitik zu plaudern. Daraus wurde nichts: Draghi musste nach Brüssel, Carney nach London und Yellen nach Washington. Noch bevor alle Stimmen ausgezählt waren, aktivierten die Zentralbanken einen sorgfältig einstudierten Notfallplan. Carney verteilte 250 Milliarden Pfund an die britischen Banken, Draghi ordnete den Ankauf südeuropäischer Staatspapiere an, und Yellen versprach anhaltend niedrige Zinsen. Das Ziel der Operation: die nervösen Weltfinanzmärkte wieder zu beruhigen. Das scheint vorerst gelungen. Die Börsen haben sich zu Wochenbeginn stabilisiert. Doch auch wenn eine neue weltweite Finanzkrise abgewendet werden kann, wird der Brexit nach Einschätzung von Experten den Lauf der Weltwirtschaft beeinträchtigen. Faktisch ändert sich wenig durch das Referendum. Erst wenn die Briten einen Austrittsantrag gestellt haben, werden die Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen zur EU beginnen. Dafür ist ein Zeitraum von zwei Jahren vorgesehen – und mindestens so lange bleiben die bisherigen Bestimmungen voraussichtlich in Kraft. Ganz genau weiß das allerdings niemand, und die Unsicherheit dürfte Unternehmen zögerlich werden lassen. Tatsächlich deuten Branchenumfragen bereits darauf hin, dass zumindest in Großbritannien wichtige Investitionen aufgeschoben werden – und die meisten VON MARK SCHIERITZ Ökonomen gehen davon aus, dass das Land in eine Rezession rutscht. Weil gut sieben Prozent der deutschen Warenexporte auf die Insel gehen, wird das auch den deutschen Unternehmen schaden. Sie spüren den Brexit bereits, weil die Abwertung des Pfunds deutsche Produkte im britischen Königreich teurer macht. Die Deutsche Bank erwartet, dass darunter vor allem die Automobilbranche leiden wird, weil Großbritannien nach den USA für die deutschen Autofirmen der zweitwichtigste Markt ist; mit einem Anteil an den Gesamtexporten von 12,8 Prozent. Gefahr droht noch aus einer anderen Ecke: Viele europäische Banken sind verwundbar, weil sie noch jede Menge Problemkredite in den Bilanzen stehen haben. Auch deshalb haben Börsianer nach dem Referendum massenhaft Bankaktien verkauft. Die italienische Regierung denkt bereits über ein neues Hilfspaket für die heimischen Institute nach – und bringt damit die Bundesregierung gegen sich auf, die darin den Versuch einer unerlaubten Beihilfe sieht. Aus konjunktureller Sicht würde die missliche Lage der Banken zum Problem, wenn diese wegen des Kursverfalls weniger Darlehen vergeben. Solange das nicht passiert – und die Briten und die EU sich so weit aufeinander zubewegen, dass der Handel nicht beeinträchtigt wird –, dürfte das Referendum die deutsche Wirtschaft zwar belasten, aber nicht im Kern erschüttern. Die Investmentbank Goldman Sachs etwa hat ihre Wachstumsprognose für das kommende Jahr nur leicht von 1,5 auf 1,3 Prozent revidiert. Die Bundesregierung hält sogar an ihrer bisherigen Konjunktureinschätzung fest – auch weil Deutschland davon profitieren könnte, dass Unternehmen ihren Sitz von London nach Frankfurt oder Berlin verlagern. Lidl in London: Die deutsche Wirtschaft ist präsent auf der Insel Oh, wie ist das schön: Freunde der britischen Nation am Sonntag auf dem Weg zu Big Ben Was können die Briten in Brüssel aushandeln? Warum sie am kürzeren Hebel sitzen E s dauerte nur einen Tag, dann erfuhren viele Briten, dass sie beim Referendum einer Lüge aufgesessen waren. Mit riesigen Lettern auf der Seite eines roten Doppeldecker-Busses hatten die Brexit-Befürworter die Botschaft verbreitet: Wir überweisen der EU jede Woche 350 Millionen Pfund – lasst uns stattdessen unser Gesundheitssystem finanzieren! Die Zahl war irreführend. Denn nach Abzug eines Rabatts und der Leistungen, die sie umgekehrt von der EU erhalten, zahlen die Briten nur 137 Millionen Pfund pro Woche an Brüssel, also nicht einmal halb so viel. Am Morgen nach der Abstimmung räumte Nigel Farage, Chef der EU-kritischen Ukip-Partei, im Fernsehen ein, die Botschaft auf dem Bus sei ein Fehler gewesen. Es wird ein paar Tage mehr brauchen, bis sich zeigt, dass viele Briten neben einer Lüge auch einem Irrtum erlegen sind. Unabhängig von der korrekten Zahl – ob nun 350 oder 137 Millionen Pfund – erscheint es unwahrscheinlich, dass die Briten den »besseren Deal« von Europa bekommen, den sich viele Brexit-Freunde erhoffen: Zugang zum EU-Binnenmarkt, aber zu besseren Konditionen als bisher. Kommt es wirklich zum Brexit, hat Brüssel in den Verhandlungen über das künftige Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU weit bessere Karten. Zwar wollen beide Seiten, dass der freie Handel zwischen ihnen möglichst frei bleibt. Aber mehr zu verlieren haben die Briten: Rund die Hälfte ihrer Exporte geht in die EU. Für sie wäre es desaströs, den ungehinderten Zugang zu einem der größten Märkte der Welt zu verlieren. Umgekehrt ist ihre Insel für die übrige EU deutlich weniger wichtig, auf sie entfallen nur sieben Prozent der Exporte aus den übrigen EU-Ländern. Unter Einigungsdruck stehen daher in erster Linie die Vertreter Brexitanniens. VON KOLJA RUDZIO Ihre ungünstige Verhandlungsposition verschärft sich für sie noch, sobald sie nach Artikel 50 des EU-Vertrags formell den Austrittswunsch erklären. Denn dann läuft die Zeit gegen sie. Kommt innerhalb von zwei Jahren keine Einigung zustande, endet die Mitgliedschaft automatisch, und alle EU-Privilegien sind weg. Hinzu kommt, dass es Vorbilder gibt, die nicht im Sinne des Königreichs sein dürften. Verhandlungsexperten sprechen von einem Anker, einem Bezugspunkt, der die Erwartungen entscheidend prägt. Zwei Länder außerhalb der EU, Norwegen und die Schweiz, haben schon einen besonderen Zugang zum Binnenmarkt. Im Gegenzug mussten sie jedoch faktisch alles akzeptieren, was die Brexit-Fans gern vermeiden würden: Freiheit für EU-Bürger, sich in ihren Ländern niederzulassen, tonnenweise EU-Vorschriften – Norwegen hat mehr als 10 000 Rechtsakte der Union übernommen – und finanzielle Beiträge. Die Summen, die sie im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft zahlen, ähneln denen normaler EU-Mitglieder. Es dürfte sehr schwer werden für die Briten, einen besseren Deal zu erreichen, weil die EU dann vor dem Problem stünde: Was sollen wir Oslo oder Bern sagen? So werden die Briten wohl auch in Zukunft jede Woche Geld nach Brüssel überweisen. Allerdings ist es wenig sinnvoll, nur auf diese Kosten zu schauen. Der wirtschaftliche Nutzen des Binnenmarktes dürfte weit größer sein. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung kam zu dem Ergebnis: Neue EU-Handelsschranken könnten das Bruttoinlandsprodukt des Vereinigten Königreichs langfristig um zwei bis vierzehn Prozent verringern – je nach Szenario. Im Höchstfall gingen den Briten demnach 250 Milliarden Pfund verloren. Das wäre, selbst auf zehn Jahre verteilt, eine halbe Milliarde pro Woche. Very expensive. Fotos (Ausschnitte): Sebastian Böttcher für DZ; action press (l.); AFP (r.) Warum jetzt zählt, was die Politiker tun 24 WIRTSCHAFT 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 »Vielleicht mögen mich Pferde lieber« Er ist einer der erfolgreichsten und eigensinnigsten Chefredakteure der vergangenen Jahrzehnte. Mit 70 Jahren baut sich Stefan Aust nun seine eigene »Welt« Foto (Ausschnitt): Dominik Butzmann für DIE ZEIT Stefan Aust zu treffen heißt, einem Mann zu begegnen, der sich zumindest äußerlich kaum verändert hat, nur die Mähne ist weg: runde Brille, ein Button-downHemd, Marke Brooks Brothers, Farbe Hellblau, dazu Jeans. Aust empfängt in seinem Büro, er ist dieser Tage Chefredakteur der »Welt« beim Berliner Springer-Verlag. Wenn er am Schreibtisch sitzt, schaut er auf ebenjene Straße, auf der er 1968 mit der außerparlamentarischen Opposition gegen Springer demonstrierte. Damals war Aust Redakteur beim linken Kultmagazin »Konkret« und dort Kollege der späteren Terroristin Ulrike Meinhof, Jahre später baute er Spiegel TV auf und war Chefredakteur des »Spiegels« – bis ihn die Belegschaft rauswarf. Auch war er mal Berater der ZEIT. Am Tag des Interviews ist Aust gut gelaunt. Der Grund sind ein paar Blätter in seiner Hand, auf seinem Schreibtisch liegt der dazugehörige Stapel, drei Zentimeter hoch. Sein neues Buch. DIE ZEIT: Herr Aust, worüber haben Sie ge- schrieben? Stefan Aust: Es ist ein Buch über Konrad Heiden, einen deutschen Journalisten, der 1935 die allererste Biografie über Adolf Hitler veröffentlicht hat. Eine Originalausgabe habe ich zum 60. Geburtstag geschenkt bekommen und vergessen, aber irgendwann entdeckte ich sie wieder – und habe die Nacht durch nicht mehr aufgehört zu lesen. Wer ist das eigentlich?, habe ich mich gefragt. Und aus dieser Frage ist das Buch entstanden. Einen Film wird es wohl auch geben. ZEIT: Warum sind Sie von Heiden so fasziniert? Aust: Weil er die furchtbare Entwicklung vorausgesehen hat, die totale Diktatur, die Ermordung der Juden, selbst auf welche Weise dieses geschehen würde. Wenn man seine Beobachtungen liest, fragt man sich: Warum haben andere das nicht auch gesehen? Heiden beobachtete den Aufstieg Hitlers in den zwanziger Jahren aus nächster Nähe, hat ihn auch gelegentlich im kleinen Kreis beobachten können und registrierte, die »beseelten Gesichter des Publikums«, wie er schrieb. Aber er selbst hielt immer eine kritische und neugierige Distanz. ZEIT: Konrad Heiden kennt heute niemand mehr. Aust: Obwohl sich wahrscheinlich alle großen Hitler-Biografen bei ihm bedient haben. Heiden konnte übrigens während des Krieges noch nach Amerika fliehen. ZEIT: Eine Woche vor Ihrem Geburtstag müssen Sie häufig Bilanz ziehen, weil Journalisten von Ihnen wissen wollen: Wie waren die vergangenen Jahre? Also, wie waren sie? Aust: Auch nicht viel anders als die Zeit vorher, nur dass ich vielleicht mehr schreibe. Irgendjemand hat neulich gesagt, dass ich – seit ich bei der Welt bin – mehr geschrieben hätte als in 13 Jahren beim Spiegel. Das ist noch untertrieben. Ich habe allein in diesem Jahr mehr geschrieben als in 13 Jahren beim Spiegel. Wahrscheinlich brauchte ich so lange, um zu lernen, wie das geht. ZEIT: Wie fühlt es sich an, mehr zu schreiben? Aust: Sehr gut. So ähnlich wie früher bei Spiegel TV, da habe ich ja die Moderationen und eine ganze Menge Manuskripte für die Magazinbeiträge geschrieben, jahrelang, das übt. Manchmal habe ich später Texte mit »Guten Abend meine Damen und Herren ...« begonnen, dann fiel der erste Satz leichter. Nachher habe ich die Anrede wieder gelöscht. ZEIT: Was hat Sie daran gereizt, mit Ende 60 die Welt zu leiten? Aust: Ich war ja an dem Fernsehsender N24 beteiligt, den wir vor drei Jahren an Springer verkauft haben. Mathias Döpfner fragte mich damals, ob ich als Herausgeber von WeltN24 dabeibleiben wolle. Das hat mich schon sehr interessiert, weil ich immer der Ansicht war, dass Print, Online und Fernsehen zusammengehören. ZEIT: Schön, so viel Selbstvertrauen. Wann genau hatten Sie die Vision? Aust: Vor fast 20 Jahren, bei Spiegel TV und dem Spiegel. Das Internet gab es schon, spielte aber journalistisch kaum eine Rolle. Mir war klar, dass sich Journalismus in Zukunft vor allem elektronisch abspielen würde. Ich habe hart dafür gekämpft, neben Spiegel Online auch in einen Fernsehsender zu investieren. Damals entstand XXP. Aber dann hat der Verlag den Sender verkauft. ZEIT: Es ging um einen zweistelligen Millionenbetrag, von dem ein großer Teil an die Gesellschafter ausgeschüttet worden ist. Haben Sie sich damals Ihren ersten Porsche gekauft? Aust: Das habe ja nicht ich bekommen. Es ist zum Teil in der Firma geblieben, zum großen Teil aber an die Gesellschafter, die Mitarbeiter KG sowie Gruner + Jahr und die Augstein-Erben ausgeschüttet worden. Und im Übrigen: Meinen ersten Porsche habe ich schon etwa 20 Jahre vorher gekauft. Unter anderem hat sich ja der Baader-Meinhof-Komplex gut verkauft, war zwei Jahre lang auf der Bestsellerliste. Leider nie auf Platz eins, da stand damals Günter Wallraff mit dem Buch Ganz unten. Ich habe insgesamt ungefähr 200 000 Hardcover verkauft und später eine ganze Menge Taschenbücher. ZEIT: Wenn man sich das ausrechnet: mindestens zehn Prozent brutto von jedem verkauften Exemplar, da kommen wir auf eine schöne Summe ... Aust: Ja, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass ich an dem Buch drei Jahre lang geschrieben habe, plus die zehn Jahre, in denen ich zu dem Thema recherchiert habe. Viele Kollegen hielten mich damals für verrückt, das will doch kein Mensch mehr lesen, sagten sie. ZEIT: Sie sind nicht nur Journalist, sondern auch Pferdezüchter. Was wäre denn besser: Wenn Ihr Stefan Aust Buch auf Platz eins der Bestsellerliste landet oder eines Ihrer Pferde den ... Aust: ... Großen Preis von Aachen gewinnt! Das wäre das Tollste überhaupt. Aber da muss man erst mal hinkommen. ZEIT: Ihnen wird nachgesagt, dass Sie Pferde lieber mögen als Menschen ... Aust: Vielleicht ist es so, dass die Pferde mich lieber mögen. Aber umgekehrt gibt es auf jeden Fall Pferde und Menschen, die ich furchtbar finde. Aust ist ein Arbeitstier. Menschen, die ihn kennen, sagen, dass er nur beim »Spiegel« wirklich glücklich war. Dass er der Zeit dort immer noch sehr verbunden zu sein scheint, hört man an seinem Handyklingelton. Es ist die Titelmelodie von Spiegel TV. Die habe sonst keiner, sagt Aust. ZEIT: Schauen Sie heute noch immer wöchentlich auf den Spiegel mit der Frage: Genau die Woche getroffen, oder nicht? Aust: Nicht wirklich. Ich weiß ja, wie schwer das ist. Ich wusste ja als Chefredakteur des Spiegels auch nie, was funktioniert. In 51 Prozent der Fälle funktionierte das wohl, sonst wäre die Auflage nicht über 13 Jahre einigermaßen stabil geblieben. Aus dem Nebenzimmer holt Aust einen Zettel. Drei Kurven sind darauf zu sehen: Sie zeigen, wie sich »Spiegel«, »stern« und »Focus« im Abo und am Kiosk verkauft haben. 1990 ist der »stern« die Nummer eins, sinkt danach aber wie auch der »Spiegel«. Von 1994 an, dem Jahr, in dem Aust Chefredakteur wird, bleibt der »Spiegel« bis etwa 2007 stabil, während die Auflagen von »stern« und »Focus« sinken. Dann wurde Aust rausgeworfen – und es ging mit der Auflage des »Spiegels« abwärts. Aust entfährt ein triumphales »Ha!«. ZEIT: Sind Titelzeilen eigentlich noch wichtig? Aus den letzten vier Wochen: Die Mission, Bitte geht nicht, Geht’s noch?, Paris ... Aust: Ich glaube, ich hätte keine dieser Zeilen gemacht. Wenn ich getitelt habe, habe ich das nie in der Erwartung getan, ob sich das jeweilige Angebot verkauft. Ich habe mich zumeist danach gerichtet, Der Mensch Stefan Aust wurde am 1. Juli 1946 geboren, der Vater war Landwirt. Kurz hegte Aust den Plan, Soziologie zu studieren, besuchte aber nur ein paar Vorlesungen. Dem Landleben ist Aust bis heute verbunden geblieben: Wenn es geht, fährt er an den Wochenenden nach Niedersachsen. Dort hat er einen Hof und züchtet Pferde. Der Journalist Mit 20 Jahren begann Aust, bei der linksorientierten Zeitschrift »Konkret« und dem Hamburger Männermagazin »St. Pauli-Nachrichten« zu arbeiten. Beim NDR war er für das Magazin »Panorama« tätig. 1988 gründete er Spiegel TV, sechs Jahre später wurde er dann Chefredakteur des »Spiegels«. 2008 verlor er diese Position. Seit 2014 ist er Herausgeber von WeltN24, seit 2016 kommissarisch auch Chefredakteur der Gruppe. Der Buchautor 1985 erschien sein Buch »Der Baader-Meinhof-Komplex«, das bis heute neu aufgelegt wird. 2008 entstand daraus ein Film mit Moritz Bleibtreu und Martina Gedeck in den Hauptrollen. Weitere Bücher waren: »Mauss: Ein deutscher Agent«, »11. September: Geschichte eines Terrorangriffs« oder »Deutschland, Deutschland: Expedition durch die Wendezeit«. Im Herbst erscheint sein neues Werk, es handelt vom ersten HitlerBiografen Konrad Heiden. was mich selbst interessiert. Einen anderen Maßstab haben Sie nicht. Und wenn Sie zu oft danebenliegen, sollte sich der Verlag schnellstens von Ihnen trennen. Sie können kein Magazin, keine Zeitschrift, keine Zeitung machen für eine Zielgruppe, der Sie selbst nicht angehören. ZEIT: Sie haben den Spiegel im Abo, Sie gehören zur Zielgruppe, also können Sie sagen, was passieren müsste, dass es dem Magazin wieder besser geht. Aust: Ich glaube, ich wüsste schon, was ich anders machen würde. Aber das ist alles schwierig genug. Es gibt Zehntausende von Menschen, die überall auf der Welt darüber nachdenken, wie man Journalismus finanzieren kann. Wir werden sehen, ob das neue Bezahlmodell beim Spiegel funktioniert, ich hoffe das für die Kollegen. ZEIT: Was würden Sie tun? Aust: Da halte ich mich zurück. ZEIT: Manche Ihrer Bekannten sagen, Aust werde erst Ruhe geben, wenn er zum Spiegel zurückkehrt. Aust: Quatsch. Das ist vorbei. Hinterm Pflug ist geackert. Jetzt kann ich bei der Welt das machen, was ich immer wollte, also Fernsehen, Zeitung und Online miteinander verweben. Die Welt hat drei Dimensionen. ZEIT: Gibt es eigentlich große Fehler, die Sie aus Ihrer damaligen Zeit bereuen? Titel, Personalentscheidungen, so etwas? Aust: Nein. Aber viele kleine. ZEIT: Nun sind Sie Chefredakteur und Herausgeber von WeltN24. Wer hat sich über die Jahre mehr verändert. Die Welt oder Sie? Aust: Ich habe mich kaum verändert, glaube ich wenigstens. Um dazu Bertolt Brecht zu zitieren: »Sie haben sich gar nicht verändert – Oh!, sagte Herr K. und erbleichte.« ZEIT: Sie waren in Ihren Anfängen Redakteur bei der ultralinken Zeitschrift Konkret. Wie geht das zusammen? Aust: Ich bin ja auch nicht zu Konkret gegangen, weil ich damals so links war. Als der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer starb, sagte Ulrike Meinhof, damals noch Kolumnistin bei Konkret, zu mir: »Jetzt ist dein Vorbild gestorben.« Das war boshaft. So reaktionär war ich nicht. Aber es zeigt, für wie links sie mich damals hielt. Es war die Zeit der au- ßerparlamentarischen Opposition, und wie Konkret war ich gegen den Vietnamkrieg. Ich hatte viel Sympathie für die protestierenden Studenten. ZEIT: Haben Sie mal gekifft? Aust: Als ich 1969 ein halbes Jahr in den USA war, ein paar Mal. War nicht mein Ding. Aber danach habe ich angefangen, Zigaretten zu rauchen, woran man sehen kann, dass ein Joint zu stärkeren Drogen führt. ZEIT: Was genau haben Sie mit der Welt vor? Aust: Ich möchte ein besonderes journalistisches Angebot machen. Das Wichtigste ist und bleibt die journalistische Qualität und: Online weiter zu versuchen, mit den Geschichten und den Abos Geld zu verdienen. Das ist schwer, aber ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Journalismus hat sich im Grunde noch nie nur durch den zahlenden Leser finanziert. Ulrike Meinhof hat das, als sie noch Journalistin war und keine Terroristin, mal auf den Punkt gebracht: Zeitschriften sind Unternehmungen, die Anzeigenraum produzieren als Ware, die durch redaktionellen Inhalt absetzbar wird. Das klingt hart, aber da ist etwas dran. ZEIT: Gilt aber nicht mehr, weil das Anzeigengeschäft Jahr für Jahr schrumpft. Aust: Deshalb müssen die Leser künftig den Journalismus zu einem großen Teil finanzieren. Es ist eine echte Revolution, die sich da gerade vollzieht. Wir haben bei der Welt im Digitalen über 75 000 zahlende Abonnenten. Das ist schon eine ganze Menge. ZEIT: Wird die Welt künftig zu einem Drittel Bewegtbild sein? Aust: Kommt darauf an, wie Sie ein Drittel zählen: Klickzahlen? Verweildauer? Ich glaube, dass das Potenzial in der Verbindung zwischen Text und Bewegtbild noch absolut nicht ausgeschöpft ist. Diejenigen, die diese Verbindung beherrschen, die daraus ein Produkt machen, werden erfolgreich sein. Wir haben bei WeltN24 alle Elemente, die man dafür braucht und sind da schon ziemlich weit vorn. ZEIT: In den vergangenen Monaten überwiegt aber der Eindruck, dass Ihr Spätwerk das eines Sparkommissars ist. Bei WeltN24 bauen Sie bis zu 50 von 400 Stellen ab. Aust: Warum sollte das, was in allen Medienunternehmen passiert, teilweise in noch größerem Umfang, warum sollte das hier nicht passieren? ZEIT: War die Welt personell genauso üppig besetzt wie der Spiegel? Aust: Bevor ich bei der Welt angefangen habe, gab es auch schon Sparrunden. Wenn im Printbereich überall Auflagen sinken, dann muss man gelegentlich ganz genau hinsehen und anpassen, bevor man unter Druck gerät. ZEIT: Sie sagen also: Die Welt beugt sich dem ökonomischen Diktat? Aust: Wir wollen, dass Journalismus ein funktionierendes Geschäftsmodell bleibt. Die Welt ist seit Langem digital ausgerichtet. Und das ist gut so. Aber wahr ist auch: Das Internet hat keine natürlichen Grenzen wie etwa bei der Seitenzahl einer Zeitung. Das ist im Prinzip ja sehr schön. Aber gelegentlich muss man auch fragen: Machen wir möglicherweise zu viel? Man muss sich auch die Strukturen anschauen, die Ressorts anschauen und prüfen, welche Veränderungen sinnvoll sind. Kein Haus bleibt verschont, so etwas gelegentlich zu machen. ZEIT: Manche sehen darin einen kulturellen Rückschritt, ein Ende von »Online first«. Aust: Im Gegenteil. Weil wir in den vergangenen Jahren so viele Erfahrungen gesammelt haben, wissen wir besser als früher, was unsere Leser gerade im digitalen Bereich interessiert. Und das wollen wir jetzt effizienter, also mit einem Spezialteam, das die Inhalte digital aufbereitet, produzieren. Die recherchierenden Kollegen sollen entlastet werden. Noch mal: Es geht um Fokussierung, um Qualität! Klar ist aber auch: Unsere gesamte Redaktion ist und bleibt eine Online-Redaktion! ZEIT: Springer verdient massiv mit Rubrikenportalen wie beispielsweise Immonet, das heißt der finanzielle Untergrund ist da, um nicht das tun zu müssen, was Sie gerade tun. Aust: Mathias Döpfner hat mal gesagt, dass Journalismus nicht quersubventioniert werden sollte. Davon bin auch ich überzeugt. Die einzelnen Bestandteile des Konzerns müssen sich im Prinzip selbst tragen. ZEIT: Viele Medien investieren derzeit in eigene Webvideo-Teams. Sie haben dieses Team aufgelöst. Sind eigene Web-Bewegtbild-Formate ein Irrweg? Aust: Bewegtbild im Fernsehen sieht ein Stück anders aus als Bewegtbild im Netz. Aber wenn Sie einen Fernsehsender mit vielen Nachrichtensendungen haben, verfügen Sie über die bestmögliche Grundlage. Da macht es wenig Sinn, einen weiteren eigenen Online-TV-Apparat aufzubauen. Die Zukunft liegt in der Integration: gleiche Dinge unterschiedlich aufzubereiten. Zeit: Sie sagen, die Elemente seien da, um Ihre Vision zu verwirklichen. Wann werden wir diese Vision sehen? Aust: Sie werden nie ein finales Produkt sehen. Bei der Welt wird immer daran gearbeitet, noch besser zu werden. Gerade entwickeln wir eine neue Version von welt.de, die sehr viel schneller lädt. Es wird wohl die schnellste Nachrichten-Plattform im Internet in Deutschland sein. Das Gespräch führten Jana Gioia Baurmann und Götz Hamann Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/thema/stefan-aust 26 WIRTSCHAFT 30. J U N I 2016 GRÜNER LEBEN D I E Z E I T No 2 8 Strom wie Heu Foto: Jenny Vaughan/AFP/Getty Images; kl. Fotos: AFP/Getty Images Äthiopien will zum Industriestaat werden – nur mit erneuerbaren Energien. Es könnte der Welt zum Vorbild avancieren. Oder sich selbst ruinieren VON CLAUS HECKING Zwischen Viehzucht und Hightech – Bauer im Windpark Ashegoda A ls die Sonne hinter den Bergen verschwindet und die Moskitos einfallen, riecht es in der Savanne plötzlich nach frischem Beton. Scharen von Männern in neongelben Westen laufen auf die halb fertige Staumauer. Spätschicht am »Großen Damm der Äthiopischen Wiedergeburt«, Afrikas kolossalstem, umstrittenstem, waghalsigstem Bauprojekt. Hier am Blauen Nil, in Äthiopiens einsamem Westen, entsteht der mächtigste Staudamm des Kontinents. Er soll die 95 Millionen Äthiopier mit Elektrizität versorgen. Und das arme Agrarland in eine moderne Industrienation verwandeln: die erste, die ihren Strom nur aus erneuerbaren Energien gewinnt. Wer sieht, wie in Deutschland Großvorhaben scheitern und wie lange die Energiewende braucht, der kommt aus dem Staunen nicht heraus. Wie will es ausgerechnet Äthiopien schaffen: hier im Nirgendwo, drei Stunden Rüttelpiste entfernt von einer asphaltierten Straße? Förderbänder spucken nassen Beton auf die Dammkrone, er stammt von den computergesteuerten Mischwerken im Tal. Bulldozer verteilen die graue Masse, Dampfwalzen pressen und glätten sie. Dutzende Arbeiter wuseln im grellen Scheinwerferlicht hin und her zwischen den tonnenschweren Fahrzeugen, klauben Steine aus dem Beton, ehe er sich verfestigt. Zwei-, dreimal müssen die Maschinen hart bremsen, um die Menschen nicht zu überANZEIGE rollen. Und mitten im Chaos steht Semegnew Bekele, das Smartphone am Ohr, und telefoniert, telefoniert, telefoniert. Ingenieur Semegnew, wie ihn hier alle nennen, ist der Verantwortliche für Äthiopiens Wiedergeburt. Nicht weniger als ein neues Zeitalter des Wohlstandes und der Industrialisierung soll GERD (Great Ethiopian Renaissance Dam) dem Entwicklungsland bescheren. So verkündet es das autoritäre Regime, das dieses Prestigeprojekt beschlossen hat und nun Milliarden von Dollar für den Bau fast ohne ausländische Hilfe auftreiben muss. So verbreiten es die staatlich kontrollierten Medien. So erhoffen es Millionen propagandabeschallter Bürger ohne Stromanschluss. Richten soll es Ingenieur Semegnew, Mitte 50, untersetzt, grau melierter Bart, Lesebrille auf der Nasenspitze. Zwei Staudämme habe er schon für seine Nation erbaut, erzählt er, als er den Jeep mit einer Hand durch den Staub zurück zu seinem Containerbüro steuert. Aber GERD habe eine andere Dimension. »Dieses Projekt«, sagt Ingenieur Semegnew pathetisch, »ist ein modernes Weltwunder.« Dabei hat der Betonklotz noch nicht eine einzige Kilowattstunde Elektrizität erzeugt. Monumental ist schon jetzt, was die rund 10 000 Leute hier in Äthiopiens malariaverseuchtem wilden Westen erschaffen. Eine fast 150 Meter hohe, 1780 Meter lange Betonmauer zieht sich quer über einen Talausgang. Bald wird sie dem Blauen Nil den Weg in den Sudan versperren, den wichtigsten Quellstrom des Nils auf gut 240 Kilometer Länge aufstauen, Tal um Tal fluten. Dreimal so groß wie der Bodensee soll der künstliche See werden. Und wenn das Wasser dann durch die Turbinen des Kraftwerks bergab schießt, soll es bis zu dreimal so viel Strom erzeugen wie Ägyptens berühmter Assuan-Staudamm, der größte in Afrika. »Wir werden mit diesem Damm die Armut ausrotten«, verkündet Ingenieur Semegnew. Doch wenn das pharaonische Projekt schiefgeht, kann es das Land auch ruinieren. GERD ist das Herzstück einer kühnen Wette auf massenhaft Regen. Ganz Äthiopien will die Regierung binnen zehn Jahren elektrifizieren, in die Moderne katapultieren – und das ausschließlich mit Grünstrom. Wasser- und Geothermiekraftwerke, Windräder und Solarmodule sollen nicht nur den gesamten Strombedarf von künftig 100 Millionen Bürgern und Tausenden Fabriken stillen. Sie sollen dazu auch eine Reihe von Nachbarstaaten mit überschüssiger Elektrizität versorgen, die leere Staatskasse mit Devisenmilliarden wieder auffüllen – und Äthiopien zum Vorbild machen für Entwicklungsländer der ganzen Welt. Ob Indien, Nigeria, Bangladesch: Überall wollen und müssen Regierungen ihr Land elektrifizieren. Aber woher soll der Strom für Hunderte Millionen Menschen kommen? Aus Kohlekraftwerken, Atommeilern oder aus regenerativen Energiequellen? An dieser Frage hängt die Zukunft unseres Planeten. Afrika zählt heute etwa 1,2 Milliarden Menschen, die Hälfte von ihnen hat Strom. 4,4 Milliarden Afrikaner wird es zur Jahrhundertwende geben, prognostizieren die UN, und alle werden Strom fordern. Äthiopien, dem die UN fast 250 Millionen Bürger vorhersagen, will vormachen, dass es geht: Industrialisierung ohne fossile Brennstoffe. Ausgerechnet Äthiopien, das berüchtigte Hungerland. Kinder mit Blähbäuchen: zu apathisch, um die Insekten zu verscheuchen, die sich auf ihnen niederlassen. Mütter, denen die Säuglinge in den Armen sterben. Diese Bilder haben viele von uns noch in den Köpfen. Sie stammen aus den 1980er Jahren, der Zeit des Bürgerkriegs. Auch heute sind mehr als 18 Millionen Menschen nach einer extremen Dürre angewiesen auf Hilfspakete von ausländischen Organisationen und der Regierung. Zugleich prosperiert Äthiopiens Wirtschaft. Und wie. Überall wird gehämmert und gebaut – Gewächshäuser und Fabriken, Wohnsilos und Bürogebäude, Bahntrassen und vierspurige Highways, auf denen dann auch mal Ochsengespanne gegen die Fahrtrichtung zockeln. In der Hauptstadt Addis Abeba hat kürzlich die erste Metro Schwarzafrikas den Betrieb gestartet: finanziert, konstruiert und oft auch noch gesteuert von Chinesen. Äthiopien ist Afrikas Wachstumsstar. Mehr als verdreifacht hat sich die Wirtschaftsleistung seit 2004, macht im Schnitt elf Prozent plus pro Jahr. Der Anteil der extrem armen Menschen mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag ist von 55 Prozent auf unter 30 Prozent gefallen. Bis 2025 soll das Land nach dem Plan des Regimes eine sogenannte Volkswirtschaft mit mittlerem Einkommen werden. Um diesen Welt- bank-Status zu erreichen, müsste sich das Pro-KopfEinkommen noch einmal fast verdoppeln. Bekleidungskonzerne wie H&M, Kik oder Tchibo lassen in Äthiopien schneidern und nähen. Schuh- und Lebensmittelhersteller entdecken den preiswerten Produktionsstandort. Internationale Investoren setzen Zementwerke und Zuckerfabriken in die Savanne. Die staatliche Ethiopian Airlines ist heute eine der führenden, profitabelsten Fluglinien des Kontinents. Und die Farmer exportieren etwa eine Milliarde Rosen jährlich in die Welt. Viele landen in deutschen Vasen. Doch die Blumen müssen in die Kühlkammer, wenn sie geschnitten sind und auf den Abtransport warten. Nähmaschinen, Webstühle, Flughäfen, Zuckerraffinerien oder Zementmixer – alles steht still ohne Elektrizität. Und eine zuverlässige Stromversorgung hat nicht einmal die Hauptstadt. In Addis Abeba ziehen sich Kabel kreuz und quer über die Flure des Energieministeriums, blanke Drahtenden hängen aus den Wänden. Von draußen wummert es hinein ins Gebäude: Der Dieselgenerator ist angesprungen. Stromausfall im Regierungsviertel, schon wieder. »Diese Blackouts schädigen unsere Entwicklung, sie schrecken Investoren ab, hier Fabriken zu eröffnen«, sagt Motuma Mekassa, der Energieminister. »Wir wollen vom Agrarland zum Industriestaat werden. Aber ohne Elektrizität gibt es keinen Fortschritt, keine moderne Gesellschaft, nirgends auf der Erde.« 2012 besaß laut Weltbank nur jeder vierte Haushalt einen Stromanschluss. Aber D I E Z E I T No 2 8 AFRIK A tes Me SUDAN er JEMEN STAUDAMM GERD Blauer Nil lle y den ÄTHIOPIEN IA ft SO M AL Ri von A ADAMA Addis Abeba GEBABA Golf Va sitzung mit dem Präsidenten sinnierten Kairos Politiker sogar schon einmal über Militärschläge gegen GERD. Um den Stausee einmal zu füllen, müsste Äthiopien den gesamten Blauen Nil etwa ein ganzes Jahr lang anstauen. Dann aber säßen flussabwärts der nördliche Sudan und Ägypten fast auf dem Trockenen. Streckte Äthiopien das Aufstauen über drei Jahre, müssten die anderen Nilanrainer dann mit etwa einem Viertel weniger Wasser auskommen. Mittlerweile haben die Ägypter erkannt: Drohgebärden werden den Damm nicht stoppen. Auf Vermittlung des Sudans hin verhandeln sie wieder mit den Äthiopiern. Aber schon im Herbst könnte der Streit eskalieren. Dann will Ingenieur Semegnew den Blauen Nil aufstauen und die ersten Turbinen in Betrieb nehmen. Das Volk will endlich Strom haben. Um den Bau von GERD zu stemmen, hat das Regime die letzten Reserven mobilisiert. Drei Jahre hintereinander hat es sämtlichen Staatsbediensteten nachdrücklich nahegelegt, je ein Monatsgehalt als »freiwilligen« Kredit bereitzustellen. Wenn äthiopische Banken private Darlehen vergeben, müssen sie 27 Prozent der Summe der Regierung für den Dammbau pumpen. Neuerdings veranstaltet der Staat sogar SMSLotterien, um Geld aufzutreiben. Es tut not. 4,8 Milliarden Dollar sollte das Projekt anfangs kosten – das entspricht zehn Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung; Insidern zufolge reicht das längst nicht. Viele Finanziers bangen nun, ob sie ihren Einsatz je wiedersehen. Denn bislang mangelt es dem geplanten Wasserkraftwerk am Wichtigsten: Wasser. In diesen Wochen erinnert der Blaue Nil eher an einen größeren Gebirgsbach, so schmal, so flach ist er. Bauarbeiter stehen auf ausgetrockneten Stellen des Flussbetts und halten ihre Angeln ins brühwarme Wasser. Nur die bis zu 15 Meter hohen Uferwälle lassen erahnen, wie mächtig der Strom sein kann. 2015 sind jedoch beide Regenzeiten in weiten Teilen Äthiopiens nahezu ausgefallen, und dieses Jahr war die Kleine Regenzeit im Frühling abermals schwach. Bauern mussten ihr Vieh notschlachten, Nomaden trieben ihre Kamele aus der Halbwüste auf die Städte zu: in der Hoffnung, dort Grünes zu finden. Und Äthiopiens kleinere, fertiggestellte Staudämme fielen als Stromlieferanten immer wieder aus, so niedrig waren die Pegel. Die Folge: noch mehr Blackouts. »Der Strom kommt und geht jede Stunde«, klagt Vasanthar Kumar, Betriebsleiter von Ethiopian Steel, »bei jedem Ausfall werden Rohstoffe beschädigt, die gerade in der Fertigungslinie sind.« Zwei Werke hat der Hersteller von Metalldächern bereits geschlossen, eins läuft noch mit verringerter Kapazität. Die ständigen Stromausfälle seien das größte Problem der Industrie in Äthiopien, sagt der Inder Kumar. »Ohne zuverlässige Versorgung können Fabriken nicht arbeiten.« Ro schon in fünf Jahren sollen 90 Prozent einen Zugang zum Netz haben, verspricht Mekassa, ein dynamischer Endfünfziger mit Goldrandbrille. Seine Regierung muss liefern. Wachstum und Wohlstand sind die Legitimation für das Machtmonopol der regierenden Einheitspartei »Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker«. Allerdings mangelt es an Devisen, fossile Brennstoffimporte sind teuer. Daher setzt das Regime alles daran, selbst im großen Stil Strom zu erzeugen. Und für saubere Energieträger ist das Land wie geschaffen. Mächtige Gebirge mit Dutzenden Drei- und Viertausendern fangen den Regen ein. Das starke Gefälle der Flüsse macht Äthiopien zum idealen Standort für Wasserkraftwerke. Diese liefern schon jetzt mehr als 90 Prozent des Stroms. Die Sonneneinstrahlung ist im Schnitt mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. In den Senken des Rift Valley, das sich Hunderte Kilometer von Norden nach Süden zieht, wird die Erde oft schon in geringer Tiefe kochend heiß – ideal für Energiegewinnung aus Geothermie. Und vielerorts weht zu Lande so viel Wind so regelmäßig wie in hiesigen Breiten allenfalls auf offener See. Äthiopien könnte es als erster großer Staat schaffen, sich fast ohne fossile Brennstoffe von einer rückständigen zu einer modernen Gesellschaft zu entwickeln. Alle wohlhabenden Nationen sind bei der Energieversorgung denselben Weg gegangen: erst Holz, Torf und Dung, dann Kohle und Erdöl, nun beginnt der Schwenk zu den Erneuerbaren. Die Äthiopier könnten die mittlere Phase mit den hohen CO₂-Emissionen überspringen. Ihr Modell wäre die perfekte Blaupause für andere arme Staaten. Eine Chance zur Rettung des Klimas. »Wenn es uns gelingt, unsere natürlichen Ressourcen zu nutzen, werden wir das Kraftwerk Ostafrikas«, schwärmt Minister Mekassa. »Wir wollen die Anführer der sich entwickelnden Nationen werden und der Welt beweisen, dass sich Entwicklung und Klimaschutz vereinen lassen.« Doch dafür brauche Äthiopien jetzt dringend das Know-how und Kapital der Industriestaaten. Denn: »GERD frisst unsere Devisenreserven auf.« Internationale Geldgeber meiden das Megaprojekt, selbst die sonst überall im Land präsenten Chinesen. Wer will schon verwickelt sein in einen internationalen Konflikt zwischen den Nilanrainern? Vor allem im Wüstenland Ägypten stromabwärts ist der Zorn groß über den Damm. »Ägypten ist ein Geschenk des Nils«, erkannte einst der antike Historiker Herodot. Ohne das Süßwasser und den fruchtbaren Nilschlamm hätte es die Hochkultur der Pharaonen nie gegeben. Nun bangen die Ägypter um beides, denn gut 70 Prozent des Nilwassers und das Gros der fruchtbaren Sedimente stammen aus Äthiopiens Bergen. Bei einer Krisen- WIRTSCHAFT 27 GRÜNER LEBEN Nil 30. J U N I 2 0 1 6 KENIA ZEIT- GRAFIK 400 km Afrikas größter Staudamm GERD soll Äthiopien zum Industrieland machen. Unten: Frauen lesen mithilfe einer Solarlampe Vor einigen Tagen hat in weiten Teilen des Landes der Regen eingesetzt. Im Juni beginnen normalerweise die starken Monsunregen. Sie sollten die Turbinen ans Laufen bringen. Sofern der Klimawandel und das Wetterphänomen El Niño nicht wieder alles durcheinanderbringen. Klimaforscher warnen, die globale Erwärmung werde zu extremen Schwankungen des Monsuns führen. Werden die Regenfälle noch erratischer, ist es Glückssache, ob Äthiopien den Damm je im geplanten Umfang nutzen und wirklich seine Stromversorgung sichern kann. »GERD ist ein überdimensioniertes Projekt, eine gigantische Wette der Regierung auf den Monsun«, sagt ein Energieexperte, der aus Angst vor Repressionen anonym bleiben will. »Kommt der Regen wieder wie früher, kann Äthiopien Milliarden am Stromexport verdienen. Kommt er nicht, kann der Staat bankrottgehen.« Auch der Energieminister räumt ein: Das jetzige System mit rund 90 Prozent Strom aus Staudämmen ist wetteranfällig. Denn sind die Pegelstände zu niedrig, müssen Turbinen stillgelegt werden. »In Dürreperioden ist es gefährlich, ausschließlich von Wasserkraft abzuhängen«, sagt Mekassa. Dafür scheine in diesen Trockenphasen meist umso mehr Sonne oder wehe mehr Wind. »Wir müssen also alle erneuerbaren Energieträger nutzen.« Bloß wie? Die Regierung hat ihre gesamten Ressourcen für GERD verbraten. Sie sucht verzweifelt nach ausländischen Investoren. Adama, eine gute Autostunde südöstlich der Hauptstadt. Ein Bauer treibt seinen Ochsenpflug zwischen den weißen Masten hin und her. Hoch über seinem Kopf ernten 34 rot-weiße Propeller gerade jede Menge Windenergie. Rasend drehen sich die Turbinenblätter, Tag und Nacht. Hier, wo das Hochland zum ostafrikanischen Grabensystem abfällt, weht acht Monate im Jahr ein stetiger Nordostpassat die Berge hoch. »Wir haben solche brillanten Bedingungen an vielen Standorten im Land«, sagt Stephan Willms, Gründer des Frankfurter Projektentwicklers Africa Enablers. Und doch sind bislang erst drei Windparks in Betrieb. Alle drei haben internationale Geldgeber. Willms, 45, bereitet seit sechseinhalb Jahren einen schlüsselfertigen Windpark vor. Dieser wäre der größte in Afrika südlich der Sahara. Aber die Bauarbeiten haben noch immer nicht begonnen: weil unklar ist, wer bezahlt. »Äthiopien versucht, die Infrastruktur für eine nachhaltige Energiegewinnung der Zukunft aufzubauen«, sagt Willms. »Aber das Land wird das alleine nicht schaffen, wenn es der Westen jetzt im Stich lässt.« Oft sind es gerade nicht die Megabauten, sondern die kleinen, dezentralen Projekte, die den Menschen wirklich helfen. Wie die 20 Solarmodule vor der Krankenstation des Dorfs Gebaba, einer Ansammlung von Stroh- und Lehmhütten, vier Fahrstunden südlich von Addis Abeba. Hier tragen Frauen in bunten Gewändern Wasserkrüge auf dem Kopf, traben Ziegen über die rote Staubpiste, ist die nächste Stromleitung 20 Kilometer weit weg. Umso wertvoller ist die kleine Solaranlage. Etwa fünf Kilowattstunden Elektrizität produziert sie an einem normalen Tag; eine vierköpfige deutsche Durchschnittsfamilie verbraucht gut doppelt so viel. Aber für das Dorf leistet das Mini-Kraftwerk mit seinen zehn Speicherbatterien unschätzbare Dienste. »Wir können endlich die Impfstoffe kühlen«, sagt Gadissa Sahle, der einzige Angestellte der Krankenstation. Lebensrettend in dieser Region, in der Typhus, Polio und Gelbfieber herrschen. Ehe die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) 2013 mit ihrem Programm Energising Development die Solaranlage aufstellen ließ, wurden die empfindlichen Seren unter Eispaketen gelagert, so erzählt der Projektleiter Rainer Hakala, ständig gingen dabei Impfstoffe kaputt. »Und wenn eine Frau nachts ihr Baby bekam, musste der Krankenpfleger die Taschenlampe in den Mund nehmen, um die Hände frei zu haben«, sagt Hakala. Jetzt haben sie in Gebaba einen funktionierenden Kühlschrank und Licht rund um die Uhr. »Wir wollen gar nicht ans Stromnetz«, sagt Gadissa Sahle. »Die Solaranlage ist viel zuverlässiger.« Beyra Dedgabe, die Nachbarin der Krankenstation, hätte auch gerne so ein Modul. Dann müsste sie nicht mehr in ihrer Hütte kochen: auf der offenen Feuerstelle, wo sie Dung verbrennt, Stroh oder was sie sonst so findet. Die Reste des Frühstücksfeuers qualmen noch in der Mitte des dunklen, runden Raums. Links schlafen die Kühe, rechts das Ehepaar und die acht Kinder. Beyra Dedgabe, die sich selbst auf Anfang 30 schätzt, hustet und keucht wie eine langjährige Kettenraucherin. Ihr Baby, das sie auf dem Rücken trägt, hat ein eiterverklebtes Auge. Das komme vom ständigen Rauch, sagt die Mutter. Mehr als 1,6 Millionen Menschen pro Jahr, unter ihnen Hunderttausende Kinder, sterben laut der Weltgesundheitsorganisation an der Luftverschmutzung durch offene Herdfeuer. Ein bisschen Sonnenstrom und eine Kochplatte würden den Dedgabes reichen. Aber sie können sich ja nicht mal eine Solartaschenlampe leisten. Und so müssen sie darauf warten, dass die Regierung Gebaba ans Netz anschließt. »Ohne Strom gibt es keine Entwicklung«, sagt Energieminister Motuma Mekassa. »Ich hoffe, dass uns die entwickelten Staaten helfen, unsere natürlichen Ressourcen zu nutzen, damit wir nicht unsere Kohle verbrennen müssen.« Mehrere Hunderte Millionen Tonnen Steinkohle lagern in den Bergen; bislang hat sie das Regime nicht angerührt. Aber wenn es nicht anders geht, werden die Äthiopier den Bodenschatz wohl erschließen, ein indischer Investor hat bereits Interesse bekundet. Und die Kohle doch verheizen. So wie es alle reichen Staaten vorgemacht haben. 28 WIRTSCHAFT START A STOP WOFÜR IST DAS DA? Start-Stopp-System D ie Autozulieferer reagierten schnell auf die Ölkrise im Jahr 1973. Um Kraftstoff zu sparen, schaltete ihre Erfindung den Motor bei einem Halt einfach ab und beim Tritt aufs Gaspedal wieder an. Diese praktische Idee setzte sich damals nicht durch, weil die Autofahrer fürchteten, die Anlasser hielten so etwas nicht aus. Die Befürchtungen waren grundlos, denn die Anlasser hielten die Belastung aus, und die Autos sparten im Stadtverkehr bis zu 15 Prozent Sprit. Kein Wunder also, dass heute fast alle Autohersteller ausgereifte Start-Stopp-Systeme anbieten, selbst für Automatikautos. Kaum hält der Wagen, gibt der (warm gefahrene) Motor Ruhe. Werden Kupplung oder Gaspedal getreten, springt er nahezu geräuschlos sofort wieder an. DIETHE R RODATZ DIE ZAHL 2 Mio. Golf GTI wurden seit 1976 weltweit verkauft. Die stärkste Version hat heute 310 PS unter der Haube Quelle: VW 30. J U N I 2016 F rieden ist teuer. Um die 15 Milliarden Dollar wird Volkswagen wohl aufwenden müssen, um die wichtigsten juristischen Streitigkeiten rund um die Diesel-Affäre in den USA beizulegen. Ein mit Behörden und privaten Klägern abgestimmter Vergleichsvorschlag liegt seit Dienstag beim Bezirksgericht in San Francisco. Maximal zehn Milliarden Dollar kostet demnach die Rücknahme oder Reparatur der manipulierten Fahrzeuge und die direkte Entschädigung der Autobesitzer. 4,7 Milliarden Dollar gehen an Programme zum Schutz der Umwelt, gegen 600 Millionen Dollar werden Verbraucherschutzklagen von US-Bundesstaaten zurückgezogen. Ist das Gericht einverstanden, könnte der Vorschlag von Oktober an gelten. Damit wären zwar nicht alle Verfahren in den USA beendet, aber der Autokonzern hätte ein Problem weniger. Zugleich wäre der größte Teil des Geldes weg, das er für die Folgen der Affäre zurückgelegt hatte: 16,2 Milliarden Euro, für alle Streitigkeiten weltweit. Betroffene in Deutschland können über solche Summen nur staunen. Ihnen bringen die Neuigkeiten aus den USA nichts. Volkswagen verspricht nur, dass sie die Reparatur ihres Autos nichts kostet. Auch die Entlastung des Vorstands auf der jüngsten Hauptversammlung ist für die juristischen Aufräumarbeiten hierzulande irrelevant. Keines der Ereignisse beeinflusst die laufenden Schadensersatzklagen von Aktionären oder die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den früheren Konzernchef Martin Winterkorn und ein anderes Vorstandsmitglied, die vergangene Woche bekannt wurden. Die verbliebenen juristischen Probleme hierzulande kreisen größtenteils um eine andere Frage: Wurde der Kapitalmarkt manipuliert? Diese Frage zu beantworten ist die bedeutendste offene Baustelle in der Affäre, entscheidend für die Ex-Manager sowie für den Autokonzern in seinem Heimatmarkt. Das Wertpapierhandelsgesetz sieht bei Marktmanipulationen nicht nur Schadensersatz vor, sondern auch Geld- oder Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren. Am 22. September 2015 hatte Volkswagen eine Ad-hoc-Mitteilung zur Affäre veröffentlicht. »Es bestehen allerdings zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass diese Pflicht zu einer Mitteilung über die zu erwartenden erheblichen finanziellen Verluste des Konzerns bereits zu einem früheren Zeitpunkt bestanden haben könnte«, teilte die Staatsanwaltschaft Braunschweig nun mit. Soll heißen: Winterkorn und der andere ExVorstand könnten Informationen bewusst zurückgehalten haben, die für den Aktienkurs relevant gewesen wären. Das wäre dann eine Marktmanipulation. Doch auch wenn der Aktienkurs nach Bekanntwerden der Diesel-Tricksereien um etwa 40 Prozent abgestürzt ist: Der Sachverhalt ist alles andere als trivial. Nur eine Frage noch In den USA zahlt Volkswagen Milliarden, hierzulande ist die Diesel-Affäre aber noch lange nicht vorbei. Muss Ex-Chef Martin Winterkorn am Ende büßen? VON MARCUS ROHWETTER UND ARNE STORN Gegen Martin Winterkorn ermittelt die Staatsanwaltschaft Winterkorns Anwälte lehnten ein Gespräch ab oder reagierten nicht auf eine Anfrage. Volkswagen teilt nur mit, man habe seine »kapitalmarktrechtlichen Publizitätspflichten im Zusammenhang mit der Diesel-Thematik ordnungsgemäß erfüllt«. Die Fälle Winterkorn und Volkswagen sind zwar getrennt, haben aber eine inhaltliche Schnittmenge. So ermöglichen die Zivilverfahren einige Rückschlüsse zu den strafrechtlichen Ermittlungen. Zugleich deuten sie darauf hin, dass ein möglicher und frühzeitiger Ausweg von Volkswagen und seinen Managern nicht genutzt – oder nicht erkannt wurde. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft fußen auf eigenen Erkenntnissen und Vorarbeiten der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Diese hatte Anhaltspunkte für Gesetzesverstöße erkannt, Anzeige erstattet und der Staatsanwaltschaft in den vergangenen Wochen Unter- lagen übermittelt. So etwas passiert öfter: 2015 schloss die BaFin 214 Untersuchungen wegen Marktmanipulationen ab, von denen 160 an Staatsanwaltschaften weitergegeben wurden. Viele solcher Fälle werden später eingestellt. Verdächtigen müsste nachgewiesen werden, dass sie persönlich vorsätzlich und schuldhaft gehandelt haben – was in komplexen Konzernen schwierig ist. Fehlverhalten von Mitarbeitern darf man ihnen in der Regel nicht zurechnen. Das Gesetz verlangt, dass kursrelevante Informationen »unverzüglich« veröffentlicht werden. Diese Informationen müssen konkret sein und Umstände betreffen, die bereits eingetreten sind oder »mit hinreichender Wahrscheinlichkeit« eintreten werden. Gerade das ist knifflig und bei der Diesel-Affäre entscheidend: Denn um so eine Prognose abgeben zu können, dürfen Manager einen Sachverhalt zunächst untersuchen lassen. Nur trödeln dürfen sie nicht. Foto [M]: Getty Images AUTO D I E Z E I T No 2 8 In einem Zivilprozess argumentiert Volkswagen nun so: Dass US-Behörden seit Mai 2014 ermittelt haben oder man selbst am 3. September 2015 sogar Manipulationen eingestanden hat, seien für sich genommen keine kursrelevanten Informationen. Kurz: Wo keine Pflicht zur Ad-hoc-Meldung bestand, konnte diese auch nicht verletzt werden. Mit dem Argument müssen sich nun wohl auch die Staatsanwälte im Falle Winterkorns auseinandersetzen. Anwälte des Konzerns erläutern gegenüber der 5. Zivilkammer des Landgerichts Braunschweig: Man habe gehofft, sich mit den US-Behörden zu einigen und mit einer üblichen Rückrufaktion sowie einer moderaten Millionenstrafe davonzukommen. Dies hätten vergleichbare Fälle anderer Unternehmen nahegelegt. Eine so niedrige Strafe hätte bei Volkswagen, einem Konzern, der 2014 rund 203 Milliarden Euro Umsatz und 13 Milliarden Euro operativen Gewinn gemacht hat, kaum den Aktienkurs beeinflusst. Erst nachdem US-Behörden am 18. September unerwartet an die Öffentlichkeit gegangen seien, hätten Medien plötzlich über einen Schaden von bis zu 18 Milliarden Dollar spekuliert. Das habe die Aktie abstürzen lassen. Offen lassen die Anwälte, warum Volkswagen erst diese Meldung brauchte, um intern zu ermitteln, dass es – wie am 22. September dann gemeldet – weltweit um elf Millionen Autos ging und eine Rückstellung in Milliardenhöhe nötig war. Für eine Ad-hoc-Pflicht ist aber nicht nur der mögliche Schaden relevant. Bei langen Verhandlungen oder behördlichen Untersuchungen können schon Zwischenschritte ausreichen, um eine Veröffentlichungspflicht auszulösen. Im Einzelfall mag das schwer zu beurteilen sein – für Manager in Entscheidungsnot gibt es aber einen kurios anmutenden Ausweg: Sie können die Veröffentlichung selbst aufschieben. »Wer ein berechtigtes Interesse hat, darf sich zeitweise von der Ad-hocPflicht befreien und diese gewissermaßen zurückstellen«, erklärt Wirtschaftsstrafrechtler André Szesny von der Kanzlei Heuking. »Das muss er allerdings der BaFin gegenüber mitteilen, die diese Entscheidung überprüft. Es ist denkbar, dass laufende Untersuchungen, deren Erfolg durch eine Veröffentlichung gefährdet würde, einen solchen Befreiungstatbestand darstellen.« Die Zahl der Selbstbefreiungen lag 2015 bei 324. Ob eine von Volkswagen dabei ist, ist nicht bekannt – aber wenig wahrscheinlich. Die BaFin schweigt. Ihre Strafanzeige deutet aber darauf hin, dass der Vorstand in ihren Augen schon vor dem 22. September erkannt hatte, dass er die Öffentlichkeit informieren müsste, dies aber bewusst unterließ. Hätte das Management seine Pflicht erkannt, sich aber mit guten Gründen selbst davon befreit, hätte die BaFin wohl von einer Anzeige abgesehen. www.zeit.de/audio D I E Z E I T No 2 8 Gerechtigkeit kommt nicht von allein Verscherbelt die Regierung unsere Autobahnen? W Manuela Schwesig, SPD und einem angeblichen »Regulierungswahn«, den Rudzio beschwört? Bei zwei Prozent? Bei sieben? Bei zwanzig? Kolja Rudzio führt im Wesentlichen zwei Argumente für seinen Vorwurf des Regulierungswahns an. Das Gesetz bedeute zum einen »viel Bürokratie« und »umfangreiche Berichte«. Der Bürokratievorwurf ist eine Ausrede: Für den Auskunftsanspruch genügt ein Blatt mit sechs Fragen. Ist das zu viel, um dafür zu sorgen, dass Frauen nicht bloß zufällig erfahren, dass sie weniger bekommen? Das zweite Argument: Äpfel würden mit Birnen verglichen, Kantinenfachkräfte mit Fachinformatikern. Auch das stimmt nicht. Erprobte Prüfverfahren gibt es bereits. Sie sind in der Praxis bewährt, etwa bei der Berliner Messe oder der Hamburger Hafen und Logistik AG. Sie vergleichen Beschäftigte, die messbar gleichwertige Arbeiten verrichten. Und sie begradigen Lohnstrukturen, die laut dem Gehaltscoach Martin Wehrle »schief sind wie der Turm von Pisa«. Nicht nur zwischen Frauen und Männern übrigens. Verbindliche Prüfverfahren bringen große Unternehmen – und nur um die geht es – dazu, sich mit ihren Lohnstrukturen auseinanderzusetzen. Große Unternehmen haben die IT-Infrastruktur, um das ohne unzumutbaren Aufwand zu schaffen – ansonsten wird es umso dringlicher Zeit, dass sie sich über ihre Lohnstrukturen klar werden. Was die übrigen 14 Prozent Lohnlücke angeht, hat Kolja Rudzio recht: Unterschiedliche Ursachen müssen von unterschiedlichen Seiten angegangen werden. Das ist für die Politik nichts Neues: Schon der Mindestlohn hat zu leichten Verbesserungen geführt. Es muss leichter werden, Beruf und Familie zu vereinbaren. Dazu schlage ich eine bezahlte Familienarbeitszeit vor. Wenn Mütter und Väter gemeinsam Zeit für die Familie haben, werden es nicht mehr so oft die Frauen sein, die im Beruf zurückstecken. Ein Rückkehrrecht von Teilzeit auf die frühere Stundenzahl muss kommen – es steht im Koalitionsvertrag. Der Ausbau der Kinderbetreuung geht voran. Wir brauchen auch einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Schulkinder. Und schließlich müssen Berufe, in denen überwiegend Frauen arbeiten, aufgewertet werden. Wer mit dem Hinweis auf die Vielfalt der Ursachen für die Lohnlücke ein Gesetz ablehnt, muss zumindest bereit sein, Initiativen zur Beseitigung dieser weiteren Ursachen zu ergreifen. Nicht überall, wo man sich Gerechtigkeit wünscht, würden neue Vorschriften und Gesetze helfen, schreibt Rudzio. Das stimmt. Aber überall, wo man sich Gerechtigkeit wünscht und gleichzeitig fordert, ein Gesetz möge »noch lange geprüft und nie zertifiziert« werden, bleibt Ungerechtigkeit. Die Gleichberechtigung von Frauen ist immer nur durch Gesetze vorangebracht worden, wenn der politische Mut und Wille vorhanden waren. Frauen wissen das – und fortschrittliche Männer sollten das unterstützen. Wenig, aber genug STANDPUNKT Die vorsichtige Erhöhung des Mindestlohns ist richtig D er Mindestlohn bleibe ein Mangellohn, so haben Politiker der Linkspartei seine geplante Erhöhung kommentiert. Sie haben recht damit. Hoch ist er auch dann nicht, wenn der Mindestlohn bald von 8,50 Euro pro Stunde auf 8,84 Euro steigt. Eine Familie ernähren kann man davon jedenfalls nicht. Trotzdem ist die vorsichtige Steigerung, die die Mindestlohn-Kommission jetzt vorschlägt, richtig. Den Empfängern ist nicht geholfen, wenn man die Lohngrenze rasant nach oben treibt, wie es einige Links-Politiker und Gewerkschafter fordern, die schon nach 10 oder 12 Euro rufen. Wer seinen Job verliert, weil ein Arbeitgeber den Lohn nicht mehr bezahlen kann, hat nichts vom Mindestlohn. Viele glauben, diese Warnung sei überholt – schließlich seien seit VON KOLJA RUDZIO Einführung der Lohnschranke Jobs entstanden und nicht verloren gegangen. Doch so einfach ist es nicht. Der Mindestlohn wurde zu einer Zeit eingeführt, als die deutsche Wirtschaft gleich mehrfach gedopt war: durch ultraniedrige Zinsen, durch ultraniedrige Ölpreise und einen sehr niedrigen Euro-Wechselkurs. Die gute Lage am Arbeitsmarkt hat auch damit zu tun. Außerdem hatten Arbeitgeber bei der Einführung des Mindestlohns viele Möglichkeiten, den Kostensprung ohne Entlassungen abzufangen: Da wurde aus Weihnachtsgeld Monatslohn, da wurden Pausen gestrichen, und es wurde Arbeit verdichtet. Das alles lässt sich aber nicht beliebig wiederholen. Ebenso wenig wie die Wirtschaft immer rund läuft. Deshalb bleibt der Mindestlohn ein heikles Instrument. Die Pläne der Koalition sind undurchsichtig. Das könnte auch eine Strategie sein VON FELIX ROHRBECK Noch gehört diese Autobahnkreuzung bei Duisburg allein dem Staat E ntgegen einer weit verbreiteten Legende hat Adolf Hitler die Autobahnen nicht erfunden. Die erste vierspurige, schnurgerade, kreuzungsfreie Straße ließ ein späterer Bundeskanzler errichten: Konrad Adenauer, damals noch Oberbürgermeister von Köln. Er eröffnete die knapp 20 Kilometer lange Strecke nach Bonn im August 1932 – und setzte sich damit gegen Kritiker durch, die wie Reichsverkehrsminister Theodor von Guérard damals der Meinung waren, Deutschland sei zu arm für solche »Luxusstraßen«. Aus den 20 Kilometern sind bis heute 12 949 Kilometer geworden, Deutschland hat eines der dichtesten Autobahnnetze der Welt. Experten schätzen den Wert auf bis zu 200 Milliarden Euro, das ist mehr, als jeder Dax-Konzern an der Börse kostet. Anders als Guérard einst befürchtet hatte, war der Staat nicht zu arm, um Autobahnen zu bauen und zu betreiben. Seine Bürger können mit Pkw und Bus bis heute gebührenfrei auf ihnen fahren – mit dem asphaltierten deutschen Luxus könnte es nun aber bald vorbei sein. Die Bundesregierung plant, die Autobahnen in eine eigene Gesellschaft auszugliedern, eine Art Autobahn AG. Dafür will sie sogar die Verfassung ändern. Ein Entwurf, der dazu kursiert, sieht vor, dass Versicherungen, Pensionsfonds und Banken bis zu 49 Prozent der Anteile an dieser Gesellschaft übernehmen könnten. Das würde eine echte Privatisierung bedeuten. Völlig unklar ist aber, aus welchem der drei beteiligten Ministerien der Entwurf stammt. Die ZEIT hat im Wirtschafts-, Finanz- und Verkehrsministerium nachgefragt. Alle drei haben nur ausweichend geantwortet, betonen aber, dass die Autobahngesellschaft vollständig im Besitz des Bundes bleiben soll. Die Echtheit des öffentlich gewordenen Entwurfs aber dementieren sie auch nicht. Ja, was denn nun? Selbst gestandene Verkehrspolitiker sind ratlos. Und vielleicht liegt genau darin die Strategie der Bundesregierung. Eigentlich würde man ja erwarten, dass es einen Aufschrei auslöst, wenn der Staat mit dem Gedanken spielt, einen beträchtlichen Teil seiner Infrastruktur zu verscherbeln und dafür sogar Hand an das ANALYSE FORUM Familienministerin Manuela Schwesig antwortet auf Kolja Rudzios Kritik am »Regulierungswahn« bei den Gehältern von Frauen arum soll es in Deutschland nicht möglich und richtig sein, für Transparenz bei den Löhnen zu sorgen? Warum sollen Frauen und Männer nicht erfahren, ob sie fair bezahlt werden? ZEIT-Redakteur Kolja Rudzio räumt in seinem Artikel vom 23. Juni ein, dass die Bruttostundenlöhne von Frauen um 21,6 Prozent niedriger sind als die der Männer. Unbestritten ist auch, dass diese Lohnlücke verschiedene Ursachen hat: Frauen arbeiten in schlechter bezahlten Berufen, sie gehen in Elternzeit, sie arbeiten öfter in Teilzeit und weniger in Führungspositionen. Tatsache ist auch: Sieben Prozentpunkte sind nach den Daten des Statistischen Bundesamts nicht zu erklären, da ist die Benachteiligung also direkt. Sieben Prozent entsprechen einem Drittel der gesamten Lohnlücke – oder 2700 Euro, die bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 41 000 Euro jeder Frau jedes Jahr fehlen gegenüber einem Mann, der gleichwertige Arbeit macht. Das hat Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, berechnet. Sieben Prozent, stabil über viele Jahre, sind eine hartnäckige Ungerechtigkeit und ein Grund zu handeln. Wo liegt die Grenze zwischen der grundgesetzlichen Aufgabe des Staates, die Gleichberechtigung durchzusetzen und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken WIRTSCHAFT 29 ANALYSE UND MEINUNG Grundgesetz legt. Doch außerhalb von Fachzirkeln werden die Pläne kaum diskutiert. Das hat auch mit der Geheimniskrämerei der Bundesregierung zu tun. Obwohl die Verfassung noch in dieser Legislaturperiode geändert werden soll, beantwortet sie die Anfragen von Abgeordneten und Journalisten nur wortkarg. Ihren Beteuerungen, die Autobahnen blieben im alleinigen Besitz des Staates, glaubt nicht jeder. »Ein Verkauf wäre extrem unpopulär, also versichert die Bundesregierung das Gegenteil. Die Frage ist nur, ob sich das dann auch in der Verfassungsänderung widerspiegelt oder ob man dort bewusst so schwammig formuliert, dass eine Veräußerung von Anteilen eben doch möglich ist«, sagt Anton Hofreiter, der Fraktionsvorsitzende der Grünen. Die Alternative zum Verkauf von Anteilen der Gesellschaft wäre eine versteckte Privatisierung. Die Autobahn-Gesellschaft bliebe zwar zu hundert Prozent beim Bund, würde aber eigene Anleihen ausgeben und an Versicherungen und Ban- Ob echte oder versteckte Privatisierung – mit der kostenlosen Raserei wäre es wohl bald vorbei ken verkaufen. Diese würden der Gesellschaft also eine Art Kredit geben – vorausgesetzt natürlich, sie erhielten im Gegenzug eine attraktive Rendite. Egal, ob echte oder versteckte Privatisierung: Die Verlockung für den Staat ist groß. Er könnte mit dem Geld der Privaten die bröckelnden Straßen und Brücken sanieren, ohne dass die schwarze Null im Haushalt gefährdet wäre. Mit dem Luxus der kostenlosen Raserei wäre es dann wohl aber auch über kurz oder lang vorbei. Schließlich werden Unternehmen sich nur beteiligen, wenn sie damit auch Geld verdienen. Finanzminister Wolfgang Schäuble sagte kürzlich, die Autobahngesellschaft müsse ein Schritt sein, »um die Nutzung öffentlicher Infrastruktur, besonders der Autobahnen, allmählich stärker nutzerorientiert zu finanzieren«. Im Klartext bedeutet das: eine Pkw-Maut für alle. Um etwas Schwung in die Debatte zu bringen, haben die Grünen beim Verfassungsrechtler Christoph Möllers von der Humboldt-Universität zu Berlin ein Gutachten in Auftrag gegeben. In dem noch unveröffentlichten Dokument, das der ZEIT vorliegt, werden drei grundsätzliche Zweifel an den Plänen der Bundesregierung formuliert. Erstens bestehe die Gefahr eines Schattenhaushalts. Es sei »nicht klar«, schreibt Möllers, »warum man die Investitionsfähigkeit des Staates erst durch Verfassungsrecht im Namen der Budgetstabilität begrenzen will, um diese Regelung dann mittels einer anderen Grundgesetzreform zu umgehen«. Durch eine Autobahngesellschaft entstünde eine Art separater Haushalt. Und die Zinsen, die man den Privaten bieten müsste, wären höher, als wenn der Staat sich direkt bei ihnen verschuldete. Für die Steuerzahler ein schlechtes Geschäft. Zweitens würden die Unternehmen sich wohl nur die Rosinen herauspicken. »Es läuft darauf hinaus«, schreibt Möllers, »dass Private, die mit einem legitimen Profitinteresse in eine solche Kooperation einsteigen werden, nur für solche Straßen zuständig werden, die wegen ihres hohen Auslastungsgrades profitabel« seien. In dem öffentlich gewordenen Entwurf der Bundesregierung ist tatsächlich nur von Autobahnen die Rede, nicht aber von den weniger befahrenen Bundesstraßen. Das macht aus verwaltungstechnischer Sicht wenig Sinn. Autobahnen und Bundesstraßen gehören dem Bund, werden aber bislang von den Ländern verwaltet. Wollte man dieses ineffiziente Kuddelmuddel beseitigen, müsste man beide in die neue Gesellschaft ausgliedern. Sonst setzt man sich dem Verdacht aus, nur die kommerziell besonders verwertbaren Teile für die Privaten herauszulösen. Drittens, schreibt Möllers, würden die Rechte der Abgeordneten beschnitten. Durch ein Auslagern der Autobahnen in eine GmbH oder AG ergäben sich »bei der parlamentarischen Kontrolle beträchtliche Probleme«. Als Beispiel führt er die Deutsche Bahn an: Dort könne man sehen, über wie wenig Auskunftsmöglichkeiten der Bundestag heute noch verfüge. www.zeit.de/audio Fotos (Ausschnitte): Kniel Synnatzschke/Plainpicture; Steffen Roth/Agentur Focus (l.) 30. J U N I 2 0 1 6 30. J U N I 2016 WAS BEWEGT BARBARA HENDRICKS? D I E Z E I T No 2 8 Fotos (Ausschnitte): Ute Grabowsky/photothek; Plainpicture (u.) 30 WIRTSCHAFT Barbara Hendricks im Kraftwerk Kalkar, heute ein Vergnügungspark Barbara wer? Die Bundesumweltministerin ist leise. Das ist sympathisch. Nur stellt sich die Frage, wie viel sie auf diese Art politisch verändern kann F ukushima, Japan, im Mai. Vor fünf Jahren sind hier nach einem Tsunami die Kernreaktoren explodiert, haben die Gegend verstrahlt und in Deutschland das endgültige Aus der Atomkraft besiegelt. Bis heute dürfen nur handverlesene Besucher in das Sperrgebiet. Barbara Hendricks darf. An einem sonnigen Morgen sitzt die deutsche Umweltministerin in Jeans und Jackett im Sonderbus der Betreiberfirma Tepco und schaut aus dem Fenster. Über die Hände musste sie weiße Baumwollhandschuhe ziehen, über die Schuhe Plastikhüllen. In der Brusttasche ihrer Schutzweste trägt sie ein Messgerät. Das soll bei zu hoher Strahlung piepsen. Die Fahrt führt vorbei an verfallenden Häusern, verwilderten Reisfeldern und Polizeisperren. Dann biegt der Bus am Ende eines steilen Abhangs um eine Kurve, und plötzlich sind sie zu sehen, die Reaktoren. Im ersten klafft noch das Loch der Explosion, zerfetzte Stahlträger ragen in den Himmel. Draußen laden Arbeiter Werkzeug von einem Laster. Sie tragen trotz der heißen Mittagssonne feste Schutzanzüge, Bleigürtel und Atemmasken. Noch mindestens 40 Jahre, so erzählt ein Tepco-Mitarbeiter der Ministerin, müsse hier aufgeräumt werden. Sie schweigt. Später legt sie, begleitet vom Bürgermeister eines verlassenen Dorfes, einen Kranz nieder, spricht ein paar vorbereitete Beileidsworte und schaut dann über die Ebene, in der Tausende von Plastiksäcken mit verstrahlter Erde lagern. Als sie aber gefragt wird, ob das alles ihr Herz berühre, sagt sie trocken: »So habe ich es mir nicht vorgestellt.« Und: »Es ist aufgeräumter als in Tschernobyl.« Und: »Wir haben uns in Deutschland für einen anderen Weg entschieden.« »Man muss nicht immer trommeln, um etwas zu erreichen« Solche Sätze machen keine Schlagzeilen. Barbara Hendricks passiert das häufiger. Die Ministerin tritt zwar oft auf, aber darüber berichtet wird wenig. Längst hat sie den Ruf, blass zu sein, sie gilt als graue Maus im Kabinett. Eine, die jenseits des politischen Berlins kaum jemand kennt, weil sie ihre Botschaften nicht klar formuliert, Kameras und Mikrofonen wenig bietet. Und daraus schließen dann wiederum viele: Die Hendricks, die bewegt in der Politik nichts. Am Abend, beim Bier in der Bar eines japanischen Hotels, lacht Barbara Hendricks, als sie das hört. Mit niederrheinischem Singsang in der Stimme sagt sie: »Man muss nicht immer trommeln, um etwas zu erreichen.« Sie ist jetzt so locker wie den ganzen Tag über nicht. Ihr Blick, der bei öffentlichen Terminen oft suchend umherschweift und ein Gefühl permanenter Unsicherheit transportiert, ist jetzt geradeheraus: »Unterschätzen Sie nicht die Arbeit hinter den Kulissen. Ein stiller Kompromiss bringt oft viel mehr als eine laute Inszenierung. Oder ein harter Satz.« Das alles klingt, als stecke hinter Hendricks’ öffentlicher Verhuschtheit eine Strategie. Sie ist nun kaum zu stoppen, als sie die Themen aufzählt, bei denen sie so etwas in Gang gesetzt habe: Der Hochwasserschutz an den fünf großen deutschen Flüssen werde künftig länderübergreifend organisiert. Endlich suche eine parteiübergreifende Kommission nach Kriterien für ein Atomendlager, auch die Lagerung der Castoren sei friedlich geregelt. In Brüssel habe sie durchgesetzt, dass es die EUNaturschutz-Richtlinien weiterhin gibt und dass Deutschland den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen verbieten kann. Besonders stolz sagt sie, dass sie als SPD-Ministerin vom CDU-Finanzminister Schäuble mal eben »500 Millionen Euro extra für die Baupolitik bekommen« habe. All das sind tatsächlich echte und zugleich stille Erfolge. Und sie werden die Ministerin nicht berühmt machen: weil sie Probleme verhindern, von denen im besten Fall keiner etwas mitbekommt – wie beim Hochwasserschutz. Weil sie Streit befrieden – wie sich an diesem Montag zeigt, als die Endlagerkommission zu gemeinsamen Empfehlungen kommt, und zwar über Parteigrenzen hinweg. Und doch, je länger die Liste wird, desto offener stellt sich eine Frage: Reicht das? In ruhigen Zeiten mag Politik so funktionieren. Heute aber geht es bei Hendricks’ Job um nicht weniger als die Zukunft des Landes, wenn nicht gar der Welt. Um den Klimawandel. Die rasante Zerstörung der Artenvielfalt. Den ökologischen Umbau der Wirtschaft und der Städte, manche sagen sogar, um die Transformation der Gesellschaft. Das alles wird nur zu schaffen sein, wenn die zuständige Ministerin weit jenseits ihrer offiziellen Zuständigkeiten und Haushaltslinien agiert. Wenn sie den Wirtschaftsminister, die Energiekonzerne und die Gewerkschaften, den Verkehrsminister und die Autoindustrie, den Landwirtschaftsminister und die Bauern antreibt – damit das Land weniger CO₂ produziert und weniger Ressourcen verbraucht. Und wenn sie die Bürger daran erinnert: Leute, wir haben ein Problem, das wirklich alle angeht. Bloß, hinter den Kulissen geht das nicht. Hendricks weiß das wohl, spätestens seit vergangenem Dezember. Damals verbrachte sie Tage und Nächte auf der Klimakonferenz in Paris, ließ sich mitreißen von Tony de Brum, dem Außenminister der Marshallinseln, wo man schon spürt, wie der Meeresspiegel steigt. Voller Enthusiasmus kämpfte sie dafür, dass sich die Regierungen verpflichten, den Anstieg der Durchschnittstemperatur auf 1,5 Grad zu begrenzen und den CO₂Ausstoß ihrer Länder entsprechend drastisch zu reduzieren. Am Ende des Gipfels zeigte die Tagesschau das Bild einer bewegten älteren Frau mit müdem Gesicht und Freudentränen in den Augen: Barbara Hendricks. Paris war ein Erfolg und in diesem Moment auch der ihre. »Wir haben heute alle zusammen Geschichte geschrieben«, sagte sie, und dass »Paris nicht das Ende, sondern der Anfang eines langen Weges« sei. Das alles machte Schlagzeilen, und für einen Moment redete das Land so viel über Umweltpolitik wie lange nicht. Kurz hofften Umweltschützer, dass dieses Erlebnis die Frau nachhaltig verändern würde. Dass der Enthusiasmus sie weitertragen, sie sich von nun an auch zu Hause emotionaler und damit hörbarer für eine ehrgeizige Klimapolitik einsetzen würde, beispielsweise für eine schnelle Schließung der Braunkohlegruben in der Lausitz und am Niederrhein. Das wäre ähnlich mutig wie einst der Atomausstieg. Doch schon am Montag nach Paris duckt sie sich wieder weg. In der Bundespressekonferenz verfällt sie in ihren typisch sozialdemokratischen Sprech, und auch danach redet sie von »sozialverträglichem Strukturwandel«. Davon, dass man die Menschen nicht verschrecken dürfe. So, als ob noch viel Zeit wäre, so, als ob es die Dringlichkeit von Paris nicht gegeben hätte. Ihre Vertrauten entschuldigen das auch mit der Koalitionsarithmetik, damit, dass sie sich mit harten öffentlichen Forderungen nach schnellerem Klimaschutz gegen den Wirtschaftsminister stellen würde. Und das gehe nun mal nicht, denn der sei ja zugleich Chef ihrer Partei. Das stimmt, und doch gibt es noch eine zweite, traurigere und zugleich persönlichere Erklärung: Genügsamkeit. Über Jahrzehnte war das Hendrickssche Karriererezept die Unauffälligkeit. Bevor sie Ministerin wurde, war sie Pressesprecherin im nordrhein-westfälischen Finanzministerium, Schatzmeisterin der SPD und Staatssekretärin gleich unter drei SPDFinanzministern – ohne dabei jemals über den kleinen Kreis der Experten hinaus bekannt zu werden. Sie machte sich unentbehrlich durch Kompetenz, schaffte Probleme weg und eckte nicht an, auch nicht durch starke eigene Ideen. Sie war das Modell Arbeitsbiene. Auf die leise Weise immer weiter aufzusteigen kam ihr wohl auch VON PETR A PINZLER Die Baustellen der Ministerin Umweltschutz Bis 2050 will die Bundesregierung die Emissionen von Treibhausgasen im Vergleich zum Jahr 1990 um 80 bis 95 Prozent senken. Die Umweltministerin darf die Strategie dafür erarbeiten: den »Klimaschutzplan 2050«. Sie muss sich dabei gegen die Minister für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft durchsetzen. Wie viel Überzeugungskraft sie wirklich hat, wird sich vielleicht noch vor der Sommerpause herausstellen. Bau- und Wohnungspolitik Weil die Energiepolitik im Wirtschaftsministerium gebündelt wurde, bekam die Umweltministerin diese Politikbereiche dazu, quasi als Entschädigung. Hendricks hat unter anderem ein »Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen« initiiert. Reaktorsicherheit Der Betrieb von Atomkraftwerken, die Lagerung radioaktiver Abfälle (siehe Foto): Hendricks ist für umstrittene Themen zuständig. Sie hat erreicht, dass Experten und Politiker Kriterien für die Suche nach einem Endlager gefunden haben. privat entgegen. Denn die 64-Jährige hat ihre politische Karriere am Niederrhein noch in einer Zeit begonnen, in der zu viel Charisma gefährlich viel Interesse an ihrer Person hätte wecken können. Seit Jahren schon lebt sie mit einer Frau in einer eingetragenen Partnerschaft. Sie sagt heute, dass ihr das nie geschadet habe. Aber vorsichtig war sie schon. Und vielleicht funktionierte Karriere ja für eine Frau ihrer Generation in ihrer Partei kaum anders. Jedenfalls hat keine andere neben den »Jungs«, all den sozialdemokratischen Alphatieren, so lange durchgehalten, es so weit nach oben geschafft, und das sogar gegen den eigenen Parteichef. Sigmar Gabriel wollte Hendricks nicht als Ministerin. Sie ist es geworden, weil sie gleich drei Quoten erfüllte: SPD, NRW, Frau. Ihr bleiben noch knapp zwei Jahre, um sich selbst und alle anderen zu überraschen Eigentlich könnte so eine Geschichte frei machen von Rücksichtnahme, zumal Hendricks am Ende ihrer Amtszeit das Pensionsalter erreicht haben wird. Ihr bleiben also nur noch knapp zwei Jahre, um sich selbst und alle anderen zu überraschen. Nur würde das Brüche nötig machen – nicht zuletzt mit den eigenen Gewohnheiten. Berlin im Juni. Zum 30-jährigen Jubiläum des Umweltministeriums sind alle ehemaligen Chefs, viele Promis und Fernsehteams gekommen. Die Ex-Minister, darunter die Kanzlerin, schneiden eine Torte an. Dann singt ein Chor, es folgen Reden. Das wäre nun die Chance für Hendricks: um öffentlich Verbündete zu suchen für ihren »Klimaschutzplan 2050«, in dem ein paar ganz gute Ideen stehen, wie der CO₂-Ausstoß des Landes gesenkt werden könnte – und der gerade in anderen Ministerien kleingehäckselt wird. Oder um ganz andere, ganz neue und mutige Ideen zu lancieren. Zuerst sind die Vorgänger dran. Der Ex-Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) breitet mal eben, charmant wie immer, seine Vision der ökologischen Kreislaufwirtschaft von morgen aus. Er erntet tosenden Applaus. Jürgen Trittin (Grüne) verteilt elegant kleine Spitzen gegen die steuerliche Förderung von Diesel und andere Ökosünden der Regierung. Und Sigmar Gabriel (SPD) klagt: Die Umweltpolitik kümmere sich zu wenig um die Artenvielfalt. Er schaut die Ministerin nicht an, sondern ihren Staatssekretär Jochen Flasbarth. Und sagt: »Macht mal mehr, Jochen!« Zum Schluss redet Hendricks. Die Gäste in den hinteren Reihen beginnen mit ihren Handys zu spielen. 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 WISSEN In ewiger Dunkelheit: Schriftsteller Clemens J. Setz besucht junge Grottenolme Seite 33 31 Tatort Krankenhaus Ein Pfleger tötet Patienten. Wie lassen sich solche Fälle verhindern? Das Krankenhaus ist ein Ort der Hoffnung. Gewiss, auch dort machen Menschen Fehler. Trotzdem gehen die meisten Patienten voller Vertrauen in die Klinik. Nun aber ist Ungeheuerliches geschehen: Der Krankenpfleger Niels H. brachte in Delmenhorst und Oldenburg reihenweise Patienten um. Inzwischen ist von weit mehr als 30 Opfern die Rede, eine Sonderkommission ermittelt noch immer, obwohl Niels H. schon verurteilt wurde. Viele Menschen fragen sich: Haben hier alle Eine Million Menschen arbeiten in deutschen Krankenhäusern. Sind jetzt alle verdächtig? Warum gibt es etwas und nicht nichts? Thomas Ruff: »Stars« Der Nachthimmel hat ihn schon als Kind begeistert, festhalten konnte Thomas Ruff ihn damals mit seinem Equipment nicht. Später stieß er auf Negative aus dem Archiv der Europäischen Südsternwarte in Chile. Daraus schuf der Fotokünstler großformatige Bilder von Sternen und Galaxien, die beeindruckende Muster bilden Fotos: [M] Thomas Ruff »Stern 16h 30m/-50°« 1989/ VG Bild-Kunst, Bonn 2016; Capital Pict./Intertopics/ ddp (o.); F1online (r.) Eigentlich dürften wir gar nicht existieren. Materie und Antimaterie hätten sich nach dem Urknall gegenseitig auslöschen müssen. Dennoch gibt es die Welt – und in ihr suchen Physiker heute fieberhaft nach der verlorenen Antimaterie VON CHRISTOPHER SCHR ADER W enn es um das Fallenstellen geht, sind Physiker einfallsreicher als alle Trapper und Wilderer. Sie müssen schließlich viel exotischere Geschöpfe als Hase oder Fuchs fangen. Wesen, die niemand sieht und die sich hartnäckig jedem Versuch entziehen, sie festzuhalten: Reisende aus den Tiefen des Alls zum Beispiel. Oder jene rätselhaften Objekte der Antimaterie, die das Gegenteil all dessen sind, was diese Welt ausmacht, sozusagen die physikalische Entsprechung des Faustschen »Geists, der stets verneint«. Überließe man solch Antimaterie sich selbst, würde sie bei der Begegnung mit gewöhnlicher Materie umgehend in einem Blitz reiner Energie vernichtet. Dennoch schaffen es Physiker, Antiteilchenmaterie nicht nur zu fangen, sondern sogar fünfzehn Minuten lang zu arretieren – nach den Maßstäben der atomaren Welt eine Ewigkeit. Wozu das gut sein soll? Um endlich eine Antwort zu finden auf die große philosophische Frage (die gern Gottfried Wilhelm Leibniz zugeschrieben wird): »Warum gibt es etwas und nicht nichts?« Dieses Grundproblem treibt nicht nur Philosophen, sondern auch Physiker um. Bisher kann die Naturwissenschaft nicht schlüssig erklären, warum es überhaupt Planeten, Atome, Zeitungen oder Leser gibt, die alle aus Materie bestehen. »In der Natur ist etwas geschehen, weswegen wir überhaupt miteinander reden können«, sagt der Physiker Walter Oelert, der lange am Forschungszentrum Jülich gearbeitet hat. »Aber wir wissen nicht, was es ist.« Sein Kollege Stefan Schael von der RWTH Aachen bestätigt: »Nach unserem Verständnis der Physik müsste unser Universum nur noch aus Licht bestehen. Materie – und damit uns Menschen – dürfte es eigentlich gar nicht mehr geben.« Schiefgelaufen sein im Sinne der bisherigen physikalischen Theorie muss alles schon in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall. Damals, vor 13,8 Milliarden Jahren, entstand nach derzeitigen Vorstellungen das Universum in einem gewaltigen Energieblitz quasi aus dem Nichts heraus. Nach den Erhaltungssätzen der Physik muss das Ganze allerdings elektrisch und energetisch vollkommen neutral abgelaufen sein. Das heißt: Was auch immer dabei entstand, am Ende sollte es sich in der Gesamtsumme weiterhin zu null summieren. Kontrollmechanismen versagt? Und wer überwacht eigentlich die Arbeit des Klinikpersonals? Der reflexhafte Ruf nach neuen Gesetzen führt nicht weiter. Denn so grauenhaft der Fall dieses Pflegers auch ist, er bleibt die Ausnahme. Niels H. ist nur einer von mehr als einer Million Menschen, die in den knapp 2000 deutschen Krankenhäusern arbeiten – in der Regel gewissenhaft und zuverlässig. Es wäre absurd, diese Menschen nun pauschal zu verdächtigen. Auch durchgängige Kontrollen im klinischen Alltagsbetrieb helfen nicht weiter. Schließlich werden jährlich etwa 19 Millionen Patienten in Deutschland stationär versorgt, etwa 400 000 Menschen sterben in den Kliniken. Wollte man unter diesen Bedingungen, bei oft dünner Personaldecke, nun künftig jede einzelne aufgezogene Spritze kontrollieren, käme der Betrieb zum Erliegen – auch das würde Patientenleben gefährden. Im Falle von Niels H. hätte schon ein wenig mehr Konsequenz geholfen. Schließlich weiß man in Kliniken, wie viele Todesfälle in einem Zeitraum auf einer Station normal sind. Und es fällt auf, wenn immer wieder ein bestimmter Mitarbeiter im Zusammenhang mit Todesfällen steht. In Delmenhorst und Oldenburg aber wollten die Verantwortlichen dem Verdacht nicht nachgehen. Denn der Druck, den Betrieb nicht zu stören, ist schon aus finanziellen Gründen enorm. Lieber wurde der verdächtige Pfleger mit besten Zeugnissen an andere Häuser weggelobt. Wenn aber interne Kontrollmechanismen versagen, braucht es Stichproben und mehr externe Kontrollen. Schon lange beklagen Pathologen, dass es an Kliniken zu wenig Obduktionen gibt. Das soll sich vom nächsten Jahr an ändern. Allerdings müssen die Ärzte dann auch die Todesbescheinigungen richtig ausfüllen. Zu häufig kreuzen sie als Todesart »natürlich« an, selbst wenn es »unklar« heißen müsste. Denn dann muss die Staatsanwaltschaft ermitteln. Gern wüsste man, wie viele Patienten pro Jahr in einer Klinik sterben. Dann könnte man auch extreme Abweichungen erkennen. Bisher aber gibt es keine Stelle, an der solche Daten zusammenlaufen und zeitnah ausgewertet werden. Zwar haben sich einige Krankenhäuser zur Initiative Qualitätsmedizin zusammengeschlossen und legen freiwillig die Zahl ihrer Sterbefälle offen. Doch das sind bisher nur 230 Kliniken. Nun müssen nur noch die restlichen 1700 Krankenhäuser umdenken. HARRO ALBRECHT HALBWISSEN Mehr Rouge, bitte! Wie das gehen soll? Indem zu jedem materiellen Partikel zugleich dessen Gegenstück, ein entsprechendes Antimaterie-Partikel, entsteht. Wenn sich etwa mit jedem negativ geladenen Elektron zugleich ein positiv geladenes »Positron« bildet, bleibt die elektrische Ladung insgesamt unverändert gleich null. Dabei ist beiden Teilchen ihre Existenz gewissermaßen nur kurz geliehen: Finden die Partner wieder zusammen, lösen sie sich gemeinsam in ein Nichts auf. So jedenfalls beschreibt die Quantentheorie die Genese des Universums aus dem Vakuum: Die physikalischen Objekte entstanden jeweils paarweise in Form von Teilchen und Antiteilchen gemeinsam aus dem Nichts und vergingen nach kurzer Zeit wieder ins Nichts. Eine elegante Theorie, die das Problem der Schöpfung quantenphysiFortsetzung auf S. 32 Sprechen Genetiker vom »Phänotyp«, dürfen wir Laien »Erscheinungsbild« sagen. Phaíno ist Griechisch für: Ich erscheine. Wie genau, das bestimmen Erbanlagen und Umweltfaktoren. So weit, so biologisch. Doch wehe, es wird sozialpsychologisch! Über einen »erweiterten Phänotyp« spekulieren Forscher der Universität Stirling im Journal Perception. Nicht um Psychogenetik geht es, sondern um Kosmetik. Die Psychologen fanden heraus, dass geschminkte Frauen anders wahrgenommen werden als ungeschminkte. Männer finden sie attraktiver, Frauen entwickeln Eifersucht. Kurzum: Make-up verhilft auch jener zu Status, der die nötigen Erbanlagen fehlen. Echt jetzt? Diese Erkenntnis wird die Erscheinungsverbesserungsbranche nicht ungenutzt lassen. Sicher beschert sie uns bald neue Kosmetika (»dermatologisch getestet«) mit teuren Versprechen: »Phenotype extension«, wissenschaftlich belegt. ST X 32 WISSEN 30. J U N I 2016 Warum gibt es etwas … Fortsetzung von S. 31 kalisch löst. Sie hat nur einen Schönheitsfehler: Sie kann nicht ganz stimmen. Denn wäre die Schöpfung wirklich exakt symmetrisch gewesen, müsste ja beim Urknall genauso viel Materie wie Antimaterie entstanden sein – die sich am Ende wieder gegenseitig hätten vernichten müssen. Doch das uns bekannte Universum ist voller Materie. Fragt sich: Wo ist die Antimaterie abgeblieben? Dieses Rätsel treibt die Grundlagenforscher um. »Die Hälfte des Universums ist weg, und unser Standardmodell gibt uns keinen ausreichenden Hinweis, warum das passiert ist«, sagt Jeffrey Hangst von der Universität Aarhus. Wenn nicht alles falsch ist, was bisher in der Physik als richtig galt, bleiben nur zwei generelle Möglichkeiten: Entweder gibt es (bisher unbekannte) Unterschiede zwischen regulärer und Antimaterie, die das Überleben der Materie erklären. Oder aber beide Sorten haben sich durch einen unbekannten Mechanismus nach dem Urknall entmischt und koexistieren nun in weit voneinander entfernten Bereichen des Universums. Die eine Lösung würde die heutige Physik genauso umwerfen wie die andere. Foto: Paramount/A.P.L. Allstar Picture Library Wenn die Antimaterie existiert, muss es dann nicht auch Antischwerkraft geben? Aus diesem Grunde widmen sich heute mehrere Forschergruppen rund um die Welt der Antimaterie. Ihre Experimente lassen sich dabei grob in drei Kategorien unterteilen: • Die einen versuchen, auf künstlichem Wege Antiteilchen zu erzeugen. Längst Routine geworden ist die Herstellung von Antiwasserstoff, des Gegenstücks zum einfachsten chemischen Element Wasserstoff, das aus einem Proton und einem Elektron besteht. Auch Helium, das zweite Element im Periodensystem, gibt es inzwischen in Antigestalt. In einem Experiment in Brookhaven östlich von New York City wurden vor vier Jahren 18 Kerne von Antihelium-4 nachgewiesen, die jeweils zwei Antiprotonen und zwei Antineutronen enthielten. Das ist bislang Rekord. Je größer die Antiteilchen werden, umso schwieriger ist ihre Herstellung: Mit jedem weiteren Kernbaustein der Geisteratome sinkt die Wahrscheinlichkeit ihrer Erzeugung um den Faktor 1000. Das nächste Element Anti-Lithium-6 bildet sich demnach eine Million Mal seltener als Antihelium-4. Dafür sind vermutlich selbst die heutigen Riesenbeschleuniger zu klein. • Andere Forscher blicken in die Tiefen des Alls. Dort könnte sich die nach dem Urknall übrig gebliebene Antimaterie zu Antigalaxien zusammengefunden haben. Solche Gegenwelten ließen sich zwar allein anhand ihres Aussehens nicht von gewöhnlichen Materie-Strukturen wie der Milchstraße unterscheiden. Wenn beide allerdings in Kontakt kämen, müsste eine charakteristische Vernichtungsstrahlung entstehen. Hinweise darauf gibt es bisher nicht. Immerhin aber hat ein Messgerät auf der Raumstation ISS in kosmischer Strahlung sowohl Positronen (also Antielektronen) als auch Antiprotonen mit unerwarteten Eigenschaften gefunden. • Und dann gibt es noch Physiker, die nach möglichen Unterschieden zwischen Materie und Antimaterie suchen. Allerdings enden ihre Versuche bisher stets mit einem Gleichheitszeichen. Als jüngstes Experiment wurde kürzlich die exakte Messung der elektrischen Ladung von Antiwasserstoff veröffentlicht. Ergebnis: Keine Differenz zum normalen Wasserstoffatom nachweisbar. ANZEIGE Bombe aus Antimaterie Wie jeder Science-Fiction-Fan weiß, lassen sich aus Antimaterie gewaltige Mengen an Energie gewinnen. In den Star Trek-Filmen etwa saust das Raumschiff Enterprise (oben) mit Überlichtgeschwindigkeit durch die Galaxie, weil sein Warp-Antrieb von einem fiktiven Antimaterie-Reaktor gespeist wird. Und in Dan Browns Bestseller Illuminati wiederum droht ein obskurer Orden, den Vatikan mit einer Antimaterie-Bombe in die Luft zu sprengen. Sind das alles nur wilde Fantasien? Nicht ganz. Tatsache ist, dass die Physiker heute zu jeder Sorte von Elementarteilchen ein passendes Antiteilchen kennen. Wenn beide aufeinandertreffen, vernichten sie einander, und es bleibt energetische Strahlung übrig. Gemäß Einsteins berühmter Formel E = mc² verwandelt sich dabei die komplette Masse beider Teilchen in pure Energie. Und die kann locker die Wucht einer Nuklearexplosion übertreffen. Mit einem Viertelgramm Antimaterie ließe sich etwa die Sprengkraft einer Hiroshima-Bombe erzielen. So weit die Theorie. In der Praxis wird allerdings pro Jahr weltweit nur rund ein Milliardstelgramm Antimaterie erzeugt. Um das bedrohliche Viertelgramm zu produzieren, müssten alle einschlägigen Forscher zusammen 250 Millionen Jahre lang arbeiten – auf absehbare Zeit wird es wohl nichts mit dem antimateriellen Rumms. Auch das Antiatom ist elektrisch neutral, mögliche Abweichungen davon liegen (wenn überhaupt) unterhalb von eins zu einer Milliarde. Ein anderes Experiment zeigt, dass das Antiproton exakt dasselbe Zahlenverhältnis von Ladung und Masse aufweist wie das normale Proton. Auch die starke Kraft, die Atomkerne zusammenhält, funktioniert bei Antiprotonen ebenso wie bei Protonen. Lediglich in einigen exotischen Zerfallsprozessen bei hohen Energien unterscheiden sich Materie und Antimaterie. Diese Differenzen treten allerdings erst in der 20. Stelle nach dem Komma zutage und kommen daher kaum als Ursache dafür infrage, dass Materie im Universum dominiert – und die Antimaterie so gut wie unauffindbar ist. Wie Modellrechnungen und Messungen der Hintergrundstrahlung im Kosmos zeigen, liegt die Diskrepanz zwischen Materie und Antimaterie nämlich bei etwa eins zu einer Milliarde. Das heißt: Nach dem Urknall wurden von je einer Milliarde Teilchen und Antiteilchen alle vernichtet – bis auf ein einziges Materiepartikel, das nach dem großen Massaker übrig blieb. Niemand weiß genau, worauf diese winzige Asymmetrie der Natur zurückzuführen ist. Klar ist nur: Wir verdanken ihr unsere Existenz. »Eigentlich ist unsere Theorie von den Elementarteilchen unglaublich erfolgreich«, sagt Stefan Schael. »Aber wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass es viele grundlegende Fragen gibt, die über den Rahmen dieser Theorie hinausgehen.« Man könnte auch sagen: Die Theorie sieht nicht vor, dass es irgendwann einmal Menschen gibt, die sich über das Rätsel ihrer eigenen Existenz das Hirn zermartern. Genau dies tun Physiker. Schon Ende des 19. Jahrhunderts spekulierte der deutsche Forscher Arthur Schuster: »Wenn es negative Elektrizität gibt, warum dann nicht auch negatives Gold, so gelb und wertvoll wie unseres?« Eine solche Antimaterie, vermutete Schuster, besäße auch Antischwerkraft. »Zu uns heruntergebracht, stiege es in den Himmel auf mit einer Beschleunigung von 981« – er meinte damit eine umgekehrte Erdbeschleunigung, in Zentimeter pro Sekunde zum Quadrat gemessen. An eine solche negative Gravitation glauben heute nur wenige Physiker, völlig vom Tisch ist sie aber nicht. Konkreter wurde es 1928, als der Brite Paul Dirac eine Formel für das Verhalten von Elektronen suchte und dazu die Relativitätstheorie Einsteins mit der soeben entdeckten Quantenmechanik verknüpfte. Seltsamerweise erhielt er dabei zwei Lösungen – eine für normale Elementarpartikel und eine für solche mit negativer Energie. Überzeugt von der Ästhetik seiner Gleichung, beharrte Dirac darauf, dass es für die negative Lösung auch eine physikalische Entsprechung geben müsse – ein Antiteilchen. Tatsächlich wurde vier Jahre später ein solches Gegenstück zum Elektron gefunden und Positron getauft. Danach wiesen Physiker auch zu den anderen Elementarteilchen das jeweilige Antipartikel nach, angefangen 1955 mit dem Antiproton. Zum großen Medienrummel geriet 40 Jahre später dann die Erzeugung der ersten Antiatome. Am Europäischen Forschungszentrum Cern bei Genf hatten Physiker Antiprotonen auf enorme Geschwindigkeiten beschleunigt und dann auf Atome des Edelgases Xenon treffen lassen. »Brachial« sei diese Methode gewesen, erinnert sich der Jülicher Physiker Walter Oelert, der damals das Experiment leitete. Aber es war erfolgreich: Nach der Kollision fand sich in den Trümmern hin und wieder ein Positron, das sich für einen Moment an das weiterrasende Antiproton band und so ein Antiwasserstoffatom erzeugte. In drei Wochen ge- schah das insgesamt nur elfmal – aber es reichte, um Anfang 1996 einen weltweiten AntimaterieHype auszulösen. E.T., wir kommen! titelte die Schweizer Boulevardzeitung Blick, der Spiegel berichtete, dass selbst der Papst nach dem Zusammenhang von Materie und Antimaterie, Himmel und Hölle, Christ und Antichrist gefragt habe. Dabei existierten die Antiatome damals im Cern gerade einmal 40 Millisekunden lang. Walter Oelert legt Wert auf die Feststellung, dass diese ultrakurze Lebenszeit nur der Versuchsapparatur geschuldet gewesen sei. Hätte man die Antiatome sich selbst überlassen, »hätten sie auch länger überlebt«, sagt Oelert. »Sie trafen aber nach dieser Zeit das Messgerät.« Deshalb konnte sein Team das exotische Material auf dem kurzen Flug damals nicht genauer untersuchen. Das allerdings hat sich seither geändert. Denn die Cern-Führung, die damals die Antiprotonen-Produktion eigentlich schon hatte einstellen wollen, war von dem weltweiten Interesse sichtlich beeindruckt und reagierte darauf. Nach Oelerts Fund modifizierte sie eine Anlage, die die Antipartikel stark abbremst, damit man ihre Eigenschaften und die der Antiwasserstoffatome vermessen kann. Die Apparatur ist bis heute einzigartig und wird zurzeit unter Oelerts Mitarbeit sogar erweitert. Aus aller Welt schicken Forschungsorganisationen und Universitäten ihre Leute nach Genf. Fünf Arbeitsgruppen teilen sich die Anlage, eine dieser Gruppen ist die Alpha-Kollaboration mit ihrem Sprecher Jeffrey Hangst. Sie hält den Rekord für das Einsperren von Antiatomen. Schon 2011 gelang es den Physikern, auf einen Schlag 300 Antiatome in einer »Falle« zu halten, die aus einem ausgeklügelten Ensemble von Magneten besteht. Sie verhindern, dass Antiwasserstoff irgendeinen Teil der Apparatur berührt, die ja aus regulärer Materie besteht und die Teilchen prompt zerstören würde. 1000 Sekunden lang verwahren die Forscher die exotischen Partikel im Schwebezustand. »Wir könnten die Zeit vermutlich verbessern, aber das bringt uns physikalisch nichts mehr«, sagt der Däne. »Wir untersuchen schließlich, was wir tun müssen, um die Antiatome aus der Falle zu bugsieren.« Schon der Austausch von Wattebäuschen mit einer Antiwelt gliche einem Atomschlag Sobald elektrische Impulse einzelne Antiteilchen so genau anregen, dass sie aus dem Magnetfeld katapultiert werden, registrieren die Physiker die unvermeidliche Vernichtungsreaktion; aus der Stärke des Störimpulses kann man dann Rückschlüsse auf die Eigenschaften der Antiatome ziehen. Auf diese Weise hat das Hangst-Team zum Beispiel nachgewiesen, dass die Antiwasserstoffatome elektrisch neutral sind. Als Nächstes wollen die Alpha-Physiker das Strahlungsspektrum der Antiatome vermessen. Dazu schießen sie Laserblitze in ihre Falle und beobachten die charakteristische Strahlung, die Atome absorbieren oder aussenden. Das Experiment läuft gerade an, über erste Ergebnisse will Hangst noch nichts verraten. Irgendwann wollen die Forscher ihre Atomfalle auch senkrecht stellen, um zu beobachten, ob Antiwasserstoff der gleichen Schwerkraft unterliegt wie sein reguläres Ebenbild oder ob eventuell tatsächlich eine Art »Antigravitation« regiert, über die seinerzeit Arthur Schuster spekuliert hatte. Jeffrey Hangst selbst hält das zwar für eher unwahrscheinlich. Dennoch geht er als Naturwissenschaftler unvoreingenommen an die Sache heran: »Wir dürfen nichts als gegeben annehmen, sondern müssen alles überprüfen.« D I E Z E I T No 2 8 Ähnlich sieht es auch Stefan Schael. »Eigentlich suchen wir alle nach einer Sensation, aber wo sie liegt, wissen wir erst, wenn wir sie gefunden haben«, sagt der Physiker aus Aachen. Angesichts der Gleichheitszeichen, die seine Kollegen am Cern produzieren, blickt Schael in eine andere Richtung. Zwar laufen die Daten seines Experiments auch auf dem Gelände des Cern auf, aber sie stammen aus dem Weltall, vom Alpha-Magnetischen Spektroskop (AMS). Das knapp sieben Tonnen schwere Messgerät, das etwa zwei Milliarden Dollar gekostet hat, wurde 2011 von der Nasa in den Orbit gebracht und auf der erdabgewandten Seite der Raumstation ISS installiert. Das AMS registriert pro Sekunde etwa 500 Einschläge kosmischer Strahlen – insgesamt gut 83 Milliarden, seit es in Betrieb ging. Dabei handelt es sich um Partikel, die aus den Tiefen des Alls herbeigeflogen sind. Die meisten der Fernreisenden gehören zur regulären Materie: Elektronen und Protonen sowie die Kerne leichter Elemente von Helium bis Sauerstoff. Aber ein kleiner Anteil sind auch Antimaterie-Partikel, Positronen und Antiprotonen. Bei beiden Teilchensorten ist dieser Anteil deutlich höher als erwartet. »Kein Teilchenspektrum des AMS passt derzeit zum astrophysikalischen Standardmodell, während bei den Cern-Messungen alles passt«, sagt Schael. Das gibt Anlass zur Zuversicht, denn es bestärkt den Physiker darin, nach den Besonderheiten der Antimaterie eher im Weltall zu suchen. Immerhin ist denkbar, dass in sehr großer Entfernung Bereiche des Universums existieren, in denen sich Antimaterie zu Antigalaxien organisiert hat. Dort, so ist anzunehmen, explodieren immer wieder ausgebrannte Sterne. Eine solche Anti-Supernova könnte zum Beispiel Antikohlenstoffkerne aussenden. »Wenn wir auch nur ein solches Partikel sicher nachweisen, stellt das unser bisheriges Weltbild auf den Kopf«, sagt Schael. Noch ist es nicht so weit. Schon das Auffangen von Antihelium aus den Tiefen des Alls gilt als unwahrscheinlich. Dennoch regt bereits die mögliche Existenz solcher Antiwelten die Fantasie von Physikern und Science-Fiction-Fans enorm an. Sollte die Menschheit zum Beispiel einst Kontakt zu einer fernen Zivilisation bekommen, müsste sie vor einem echten Treffen erst ein physikalisches Fachsymposium mit ihr abhalten. »Wir können Materie und Antimaterie sicher voneinander unterscheiden«, sagt Schael. »Wir müssten die Aliens also fragen: ›Wie zerfallen bei euch bestimmte Teilchen?‹« Denn an diesem exotischen Zerfallsprozess lässt sich erkennen, mit welcher Sorte von Materie man es zu tun hat. Im schlimmsten Fall müsste man sich vor physischem Kontakt hüten. Schon der Austausch von Wattebäuschen gliche sonst einem Atomschlag. Zwar glaubt kaum ein Physiker an die Existenz intelligenter Lebewesen in einer AntimaterieRegion des Kosmos, aber per se ausschließen will selbst das niemand. »Die Galaxien hätten sich aber komplett anders entwickelt als die unsere«, ist Walter Oelert überzeugt. Zweifel an der Einzigartigkeit seiner Existenz plagen den Physiker jedenfalls nicht. »Einen Anti-Walter-Oelert gäbe es dort auf keinen Fall.« 30. J U N I 2 0 1 6 WISSEN 33 D I E Z E I T No 2 8 Hundert Jahre Leben Der Grottenolm jagt in völliger Dunkelheit, braucht jahrelang keine Nahrung und wird älter als die meisten Menschen. In einer slowenischen Höhle wurde der Lurch erstmals bei der Geburt gefilmt VON CLEMENS J. SETZ A Fotos: Dragan Arrigler/Höhle von Postojna; Capital Pict/intertopics (l.); P. Matsas/Opale/Leemage/laif (u.) m 1. Juni dieses Jahres schlüpfte in einem Aquarium, untergebracht in alten Toilettenräumen in der Tropfsteinhöhle von Postojna, Slowenien, beobachtet von einer Infrarotkamera, ein winziges Tier aus einem Ei. Dieses Tier war ein Grottenolm. Selbstverständlich machte ich mich sofort, nachdem ich die Meldung auf Twitter las, reisefertig und nahm den nächsten Zug nach Postojna. Auf einem Schwarz-Weiß-Video, das gleich nach dem Schlüpfen auf YouTube geladen wurde, sieht man einen winzigen Olm, der sich, während seine Geschwister neben ihm noch reglos warten, innerhalb weniger Sekunden von seiner Eiblase freistrampelt, dann rasch einige Runden schwimmt und schließlich zur Ruhe kommt, frei, bereit, neu auf der Welt. Kaum jemals soll dieses Ereignis von Menschen beobachtet worden sein. Über den ersten Lebensabschnitt der Grottenolme (Proteus anguinus) ist uns nichts bekannt. Ihre Kindheit verbringen sie an einem unbekannten Ort in den Höhlen. Sie sind überdies nicht die fortpflanzungsfreudigsten Wesen, können bis zu zehn Jahre damit warten, wenn es sein muss. Und sie tun es an dunklen, für Menschen kaum zugänglichen Orten. Sie sind überhaupt Meister im Verzicht. Einst, so wird erzählt, vergaß ein Wissenschaftler an der Universität von Ljubljana, einen Olm in in einem Topf ohne Nahrung – zehn Jahre lang. Als man ihn fand, hielt man ihn zuerst für ein Präparat, aber dann wurde klar, dass er noch Bizarres Leben aus einer lichtlosen Welt: In den Aquarien der Tropfsteinhöhle von Postojna in Slowenien können Touristen Grottenolme beobachten lebte. Olme sind außerdem blind. Als Jungtiere haben sie noch Augen, aber diese verheilen nach kurzer Zeit, eine dünne Haut überwächst sie. Augen sind nur eine Kinderkrankheit des Olms. Auf Slowenisch nennt man ihn človeška ribica. Menschenfischlein. In Postojna ist man bei Weitem nicht der einzige Olmnerd. Hunderttausende Besucher kommen im Jahr dorthin, nicht wenige davon wegen der geheimnisvollen und verehrungswürdigen Höhlenlurche. Unser Führer durch die Höhle, der Biologe Sašo Weldt, einer der Olmexperten vor Ort, zeigte uns, nachdem wir mit einem Zug mehrere Kilometer weit in den Berg gefahren waren, einige bemerkenswert geformte Tropfsteine, die hier schon seit Millionen von Jahren vor sich hin wachsen. Alle möglichen Bilder erkennt das menschliche Gehirn in den Steinen: Es gibt einen Hahn, einen Hai und sogar einen riesigen schlafenden Drachen, der vielleicht einen Anteil an der traditionellen Identifikation der Olme mit Jungdrachen in der slowenischen Folklore hatte. Es gibt einen Stein, der stellenweise vollkommen schwarz ist von den Berührungen früherer Besucher. Einige wenige hätten sogar hineingebissen, erklärte Sašo Weldt. Menschen hinterlassen seit Jahrhunderten ihre Spuren in der Höhle, die früheste in eine der Höhlenwände eingeritzte Unterschrift stammt von 1213. Ähnlich wie beim Sternenhimmel sind je nach Epoche und Kultur die vom Gehirn erkannten Muster und Bilder verschiedene. Es gibt in der Höhle ein »Manneken Pis«, benannt nach der Brüsseler Sehenswürdigkeit. Auf alten Gemälden, von denen man im Postojnamuseum einige Reproduktionen findet, sieht man die fantastischen Deutungen der vielgestaltigen Formen, die auf die Vorstellungskraft der Künstler einwirkten. Früher sah man an einer Stelle sogar den »Stock im Eisen«, ein Bild, das allerdings nur Österreichern geläufig sein dürfte. Das österreichische Kaiserpaar besuchte übrigens 1857 die Postojnahöhle. Damals war die Öffnung noch ein kleines Loch am Boden, durch das man sich robbend zwängen musste. Und wie sich die Interpretation der Steinformen durch die Zeiten verändert, so verändert sich auch die der Grottenolme 1689 wurden sie vom Wissenschaftler Johann Valvasor, der einem Hinweis eines Bauern nachging, der kleine Lindwürmer gesehen haben wollte, zum ersten Mal beschrieben. Nach Überschwemmungen fand man die Babydrachen oft in Karstquellen und fing sie ein. Im 18. Jahrhundert fielen Olme immer wieder verblüfften Ö S T E R R E IC H SLOWENIEN POSTOJNA I TA L I E N Ljubljana K ROAT I E N Adriatisches Meer ZEITGRAFIK 50 km Biologen in die Hände, die lange Beschreibungen hinterließen. Im 19. dagegen wurden sie als Kuriosität und Souvenir verkauft. Auf dem Fischmarkt von Triest bot man sie als Delikatesse an, in manchen Gasthäusern konnte man sie auch gebraten bestellen. Der große Universalgelehrte Charles Babbage, dessen »analytische Maschine« der Vorläufer des modernen Computers ist, kaufte 1828 sechs Olme und hielt sie über Monate in einem Behälter. Jede Nacht besuchte er sie, wie er in seinen Aufzeichnungen mit verhaltenem Stolz vermerkt, mit einer Kerze und erschreckte dadurch die lichtscheuen Wesen. Noch 1960 wurden fünf Olme dem japanischen Kaiser Hirohito vom jugoslawischen Diktator Tito als Staatsgeschenk überreicht. Heute ist der Grottenolm ein Kuscheltier. Er zieht verliebte Menschenmassen an, liegt als Stoffsouvenir in Läden bereit. In der Höhle selbst sieht man eine kuriose Fotografie eines der Männer, die für den Weltruhm von Postojna und den Olmen verantwortlich sind: Ivan Andrej Perko, Höhlendirektor zwischen den Weltkriegen, der schnauzbärtig, mit feinem schwarzem Anzug, Handschuhen und Bowler Hut unter Tropfsteinen steht. Ein an Monty Python erinnerndes Bild. Und ich stand davor, mit Sakko und Mütze, das iPhone in der Hand. Von der Decke tropfte es. In jedem Tropfen befinden sich Höhlenkrebse, eine Hauptnahrungsquelle der Menschenfischlein. Gegen Ende der Tour kamen wir endlich an die Stelle, wo man lebende Grottenolme in Aquarien besichtigen kann. Daneben steht seit Kurzem ein schmuckloser Bildschirm, der mit dem für Besucher nicht direkt einsehbaren Aquarium verbunden ist, wo die Drachenbabys in ihren Eiern warten. Ein andächtiger Moment. Ich stand vor dem Bildschirm und verfolgte lange die schwarz-weiße Liveübertragung aus der unbekannten Zone. Die kleinen Olme bewegten sich nicht. Ich zählte insgesamt drei Tat- zelwürmchen in Eiblasen, machte hastig einige Fotos, so wie man sich vor einem Bildstock rasch bekreuzigt, und ging weiter zu einem der Aquarien der erwachsenen Tiere. Ein Olm, der von der schonenden LED-Lampe des Höhlenführers erfasst wurde, ringelte sich in Sicherheit. Nicht hastig, nicht in Panik, eher in Zeitlupe, aber es war eindeutig eine Art Flucht. Sašo Weldt erklärte, dass Olme das Magnetfeld der Erde erfühlen können. Nach dieser Bemerkung kam mir die Welt dreidimensionaler vor als sonst, und die Olme vor mir erschienen wie fahl leuchtende Sensoren für all meine unvorhersehbaren Bewegungen durch den Raum. So passiv, wie sie immer dargestellt würden, seien sie gar nicht, erklärte Sašo Weldt. Und blind auch nicht, sie sehen mit dem ganzen Körper, mit ihrer extrem lichtempfindlichen Haut und ihrem Magnetsinn. Trifft ein Sonnenstrahl die Schwanzspitze eines Olms, wird dieser davonschwimmen. Die Anwesenheit von Haseln (einer kleinen Karpfenfischart), welche es zu Überschwemmungszeiten gelegentlich in die von Olmen bevölkerten Becken verschlägt, spüren die Olme sofort und vermeiden deren Raubwege mit fast telepathischer Sicherheit. Ob die Olme gefährdet seien? Nun ja, erklärte Sašo Weldt, das könne man nicht sagen, da es unmöglich sei, sie zu zählen. »Sie sehen alle gleich aus.« Nicht mal ihr Geschlecht lasse sich bestimmen, äußerlich nicht, und selbst die genetische Analyse sei nicht eindeutig, da häufig Mischformen aufträten, etwa Männchen, die Eier trügen. Man könne sie auch nicht mit einer Markierung versehen, da sie das umbringen würde. Ihre Haut sei zu empfindlich. Man könne sie, sagte Weldt, tätowieren, aber das sei Quälerei. Einen Olm habe man übrigens vor rund 50 Jahren in München drei Monate lang einer 40 Watt starken Glühbirne ausgesetzt. Der Olm sei vollkommen schwarz geworden. Das bedeute, das Hautpigment, das die Grottenolmvorfahren einst vor den Strahlen der Sonne schützte, bevor das Tier die Höhle als neuen Lebensraum auserkor, sei noch vorhanden. Außerdem habe der Olm seine Lichtscheu verloren. Langlebigkeit und Genügsamkeit der Olme sind noch immer nicht vollständig entschlüsselt, bis heute versuchen Wissenschaftler, die Geheimnisse der Olme zu erforschen. Sie werden niemals erwachsen, sind fortpflanzungsfähige Larven, die keine Metamorphose durchmachen, und werden doch älter als die meisten Menschen. Ihr bemerkenswerter Stoffwechsel und die antioxidativen Prozesse in ihren Körpern erklären ihr hohes Alter nicht. Der Olm bleibt rätselhaft – und versammelt die seltsamsten Szenen um sich. Der für zehn Jahre in einem Behälter vergessene Olm in seiner astronautenhaften Einsamkeit. Das 1857 durch die enge Höhlenöffnung robbende österreichische Kaiserpaar. Der japanische Kaiser Hirohito, der sein Olmgeschenk erhält. Charles Babbage, dem nach und nach die nicht artgerecht gehaltenen Olme im Topf wegstarben. Und nun der zwangsgebräunte Olm in München. Postojna und der Grottenolm sind Konzentrationspunkte, Hohlspiegel, in denen die eigenartigen Interaktionen des Menschen mit dem Planeten überdeutlich sichtbar werden. Vielleicht ziehen sie deshalb die Dichter an. Heinrich Detering beschreibt den Grottenolm in einem Gedicht aus seinem Band Wundertiere so: »keine Augen kein Gehör keine Empfindung / nur manchmal das Gefühl dieses konstant acht Grad / warmen leicht mineralischen Wassers im Schlund // es muss eine Art Leben sein das sie führen«. ANZEIGE Auch Jan Wagner schreibt in seinen preisgekrönten Regentonnenvariationen über den Grottenolm, »der keine feinde / außer der sonne hat«. Nun ja. Da sind zum einen die hungrigen Haseln, die von Zeit zu Zeit lästig werden. Und dann die Menschen, die ihn auf Marktplätzen anbieten, ihn braten oder in Behältern vergessen. Außerdem schreibt Wagner, der Olm sei »kaum schwerer als ein brief / und leichter als ein schluck wasser«. Ich weiß nicht, wie schwer ein Olm ist. Sašo Weldt weiß es, er hatte schon oft einen in der Hand. Sie seien sehr leicht zu fangen, sagte er. Sie bewegten sich ja kaum. In diesem Augenblick begann ein Mann aus einer koreanischen Reisegruppe neben uns zu singen. Wir befanden uns im »Konzertsaal« der Höhle, wo gelegentlich Musik aufgeführt wird. Der Koreaner besaß eine schöne, ausgebildete Singstimme, und das Echo seiner Darbietung gregorianischen Gesangs erblühte prächtig rund um uns. Eine der heiligen Erzählungen der Weltliteratur, Herman Melvilles Bartleby der Schreiber, handelt von einem Kanzleischreiber, der sich mehr und mehr zurückzieht und auf jedes Interaktionsangebot der Umwelt mit der Zauberformel »I would prefer not to« reagiert. Am Ende tut er fast gar nichts mehr. Es ist schwer, nicht an Bartleby zu denken, wenn man sich Grottenolmen gegenübersieht. Sie hören uns, nehmen jede Verwerfung wahr, die unsere Körper im Magnetfeld erzeugen, und bleiben davon, solange wir ihnen nicht mit Lichtquellen auf die Nerven gehen, relativ unbeeindruckt. Wo Olme sind, da ist, nach menschlichen Maßstäben, beinahe nichts und doch mehr, als wir zu begreifen imstande sind. Dünnhäutig und perfekt auf das karge Leben in den Höhlen abgestimmt, reagieren sie äußerst empfindlich auf Verschmutzungen und Temperaturanstiege – jene beiden Dinge, welche der Mensch auf Erden am besten zu erzeugen versteht. Sie sind farblose, unterirdische Empfänger all der überabzählbaren Störsignale, die wir pausenlos aussenden. Aber wir wissen nichts über ihre Interpretation dieser Signale. Es gibt sie nur hier, im Dinarischen Karst, einem mythischen Gebiet alter Höhlensysteme, in denen, wie Jan Wagner (völlig korrekt) bemerkt, »verschwinden kann, wer spät in der nacht zum rauchen hinausgeht«. Am Höhlenausgang warteten bereits einige aufgeregte Leute auf Sašo Weldt. Ein Notfall, er müsse sofort mitkommen. Dieser Notfall war, wie sich herausstellte, die Geburt eines weiteren Babydrachen gewesen. Offenbar war wenige Augenblicke nach unserer Andacht vor dem Bildschirm einer geschlüpft. Gern stelle ich es mir so vor, dass der majestätische Gesang des Koreaners auf das unvorstellbar feine Gehör des kleinen Olms traf und ihn dadurch aus seinem Ei lockte. Auf jeden Fall muss beides etwa zur gleichen Zeit geschehen sein. Glücklicherweise hatte ich mit meinem iPhone – einem an Absurdität jedem Bowler, jedem kaiserlichen Reisegewand ebenbürtigen Instrument – in der Höhle eine Audioaufnahme des anmutigen Olmbegrüßungsgesangs gemacht. Ich höre ihn mir nun, da ich wieder zu Hause durch die Straßen meines Bezirks laufe, immer wieder an. Das Wort, das der Gesang ausdrückt, ist nicht schwer herauszuhören: Dobrodošli. Willkommen. www.zeit.de/audio Clemens J. Setz, Schriftsteller und Olmfan, lebt in Graz und gewann zahlreiche Literaturpreise. 2015 erschien sein 1000-Seiten-Werk »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre«. 36 WISSEN FRAGEN DER WOCHE 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Stimmt’s? Hilft ein nasser Lappen im Nacken gegen Nasenbluten? Fragt ANDRÉ RITONNALE aus Hamburg N asenbluten kann auf unterschiedliche Weise entstehen. Manchmal ist eine Verletzung der Nasenschleimhaut die Ursache, oft kommt die sogenannte Epistaxis aber aus heiterem Himmel, ohne erkennbaren Anlass. Wie bekommt man die Blutung am schnellsten wieder gestoppt? Der schlechteste Ratschlag: den Kopf in den Nacken legen. Das Blut kann dann zwar nicht herausfließen. Das heißt aber nicht, dass es zu fließen aufhört – es sucht sich nur einen anderen Weg, nämlich den durch den Rachen. Das kann sehr unangenehm sein und insbesondere bei kleinen Kindern zu Brechreiz führen – man muss dann nicht nur die Blutflecken aufwischen. Ein weiteres Hausmittel ist der nasse Lappen im Nacken, alternativ auch ein Kältepack aus dem Eisfach. Auf manche Menschen mag das beruhigend wirken, andere – wie der Fragesteller dieser Woche – finden das eher unangenehm. Aber hilft es? Die Theorie hinter der Lappentherapie: Kälte an der Haut führt dazu, dass sich die Blutgefäße an der Oberfläche zusammenziehen. Und dann, so die Vorstellung, fließt weniger Blut in den Kopf, und aus der Nase fließt weniger heraus. Nun ist das weiche Nasengewebe, der Ort der Blutung, recht weit vom Hals entfernt. Kann der nasse Lappen also eine so weitreichende Wirkung haben? Im Jahr 2003 wollten Mediziner der Universität Marburg es genauer wissen. Sie untersuchten den Kälteeffekt an 56 Probanden. Allerdings waren sie nicht so herzlos, bei ihnen absichtlich ein Nasenbluten herbeizuführen. Stattdessen kühlten sie deren Halsbereich und schauten dann nach, ob sich der Blutfluss im sogenannten Locus Kiesselbachi vorne in der Nase, veränderte. Ihr Ergebnis, veröffentlicht in der Zeitschrift Clinical Otolaryngology and Allied Sciences: »Nach der Anwendung von Eis im Halsbereich konnte kein statistisch signifikanter Effekt auf die Blutgefäße der Nasenschleimhaut festgestellt werden.« Der Lappen im Nacken hat also allenfalls Placebowirkung, im schlechtesten Fall fügt er dem Opfer des Nasenblutens noch weitere Pein zu. Was hilft dann wirklich? Ärzte raten dazu, den Kopf nach vorn zu beugen und die Nase leicht mit den Fingern zuzudrücken. Letztlich muss man darauf warten, dass die Blutung von selbst aufhört. CHRISTOPH DRÖSSER »Schimmert’s grün, wird’s heftig« Bei Unwettern flüchten die meisten Menschen ins Trockene. Andere fahren geradewegs in die Gewitter hinein. Ein Gespräch mit dem Sturmjäger Jonas Piontek über die Faszination von Tornados und anderen Naturgewalten www.zeit.de/audio Mehr Wissen Darf man von »Mann« und »Frau« noch reden? Ein Gespräch über die ewige Geschlechterfrage. Das neue ZEIT Wissen: Am Kiosk oder unter www.zeitabo.de ANZEIGE Illustration: Mrzyk & Moriceau für DIE ZEIT; Foto: Andreas Reeg Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, oder [email protected]. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts DIE ZEIT: Das Phänomen der storm chaser, der »Sturmjäger«, kannte man bisher vor allem aus den USA. Aber Sie machen hierzulande Jagd auf Gewitter. Wie muss man sich das vorstellen? Jonas Piontek: Am letzten Wochenende hieß das vor allem: wenig Schlaf. Wir sind mit unserer Gruppe von Mittelhessen bis nach Belgien gefahren, als klar war, dass dort einige starke Gewitter herunterkommen. Und immer wenn wir uns gerade hinlegen wollten, ging ein neues Unwetter los. Da haben wir dann lieber auf den Schlaf als auf die Gewitter verzichtet. ZEIT: Für die meisten Menschen klingt das nach einem bizarren Hobby. Wie kommt man darauf? Piontek: Gewitter sind einfach ein unglaubliches Naturschauspiel. Sie faszinieren mich, seit in meiner Kindheit ein Tornado durchs Nachbardorf gezogen ist. Ich war damals so beeindruckt von der Kraft der Natur, dass ich das öfter sehen wollte. Ich habe mich dann einer Gruppe von Sturmjägern hier in Hessen angeschlossen und begonnen, Gewitter zu fotografieren. Seit ein paar Jahren posten wir unsere Bilder bei Facebook. ZEIT: Wie viele Gleichgesinnte haben Sie mittlerweile in Deutschland? Piontek: Im Vergleich zu anderen Hobbys sind es vielleicht nicht besonders viele. Ich schätze, in Deutschland gibt es ein paar Hundert Gewitterjäger. Aber nur wenige sind wirklich so gezielt und viel unterwegs wie wir. Das sind vielleicht so 30 bis 50 Eingefleischte. ZEIT: Und wie oft sind Sie unterwegs? Piontek: Etwa 30 bis 40 Tage im Jahr. Wir fahren allerdings nicht für jedes kleine Unwetter raus, es muss schon etwas Besonderes sein. Dafür nehmen wir dann aber auch mal längere Strecken in Kauf – wie am Wochenende. Seit 2012 sind wir bestimmt 50 000 Kilometer gefahren. ZEIT: Woher wissen Sie, wo Sie ein gutes Gewitter finden? Piontek: Wir benutzen vor allem Wetterkarten und Apps. Im Internet findet man Satellitenund Radarbilder, Blitzortungen und andere Messwerte. Mit etwas Übung kann man dann gut abschätzen, wohin die Gewitter ziehen, wie wie es über uns aussah. Wir sind aufs Feld raus, groß sie werden und wie sie aussehen. Superzel- und plötzlich schlug 40 Meter neben uns ein len bilden zum Beispiel öfter funnel clouds ... Blitz ein. Wir haben uns dann schnell ins Auto ZEIT: Superzellen, funnel clouds – das müssen Sie gerettet. Kurz darauf kam noch ein Blitz runter, der hätte uns treffen können. erklären. Piontek: Superzellen sind besonders große Ge- ZEIT: Obwohl Sie noch nicht einmal im Gewitwitter. Auf Wetterkarten erkennt man sie daran, ter standen? dass sie oft in eine andere Richtung ziehen als Piontek: Genau, wir haben es aus einiger andere Gewitterformationen. Typischerweise ro- Entfernung beobachtet und nur Blitze in den tieren Windströme im Inneren der Wolken, Wolken gesehen. Es ist eher unwahrscheinlich, manchmal kann man das auch von außen sehen. dass dann Blitze in den Boden einschlagen. Aber Wenn Trichter an der Wolkenformation zu es kann natürlich passieren, wie wir dann ja am Boden gehen, ohne ihn zu berühren, nennt man eigenen Leib erfahren haben. Verletzt hat sich das funnel clouds. Aus solchen Gebilden können von uns aber noch niemand. auch Tornados entstehen: Bei denen reicht der ZEIT: Klingt trotzdem ziemlich riskant. Wie verWindwirbel bis auf den Boden. suchen Sie, sich zu schützen? ZEIT: Solche Tornados bekommt Piontek: Der beste Schutz sind die man aber selten zu Gesicht, oder? Wetterdaten. Mit deren Hilfe können wir in etwa abschätzen, wie groß die Piontek: Vor ein paar Wochen habe Gewitter sind und in welche Richich einen in Hessen beobachtet. Tortung sie ziehen. Am Ende bleiben das nados sind eher schwer vorherzusehen aber immer nur Wahrscheinlichkeitsund kommen oft dann, wenn man sie prognosen. Manchmal überlegt sich gar nicht erwartet. Ich war gerade auf das Wetter spontan eben doch etwas dem Weg nach Hause und hab mich spontan entschieden, dem Gewitter Jonas Piontek, 20, anderes. In der Regel erkennt man doch noch hinterherzufahren. Da hat- fotografiert Stürme. aber zumindest, in welche Gewitter te ich echt Glück. Bilder zeigt er unter man besser nicht hineinfahren sollte. ZEIT: Die meisten Menschen ergreiZEIT: Worauf achten Sie konkret? gewitterjagd.net fen eher die Flucht vor einem WirbelPiontek: Es gibt ein paar grundsätzsturm. Haben Sie keine Angst, dass liche Merkmale: Wenn die GewitterIhnen etwas passiert? formation grünlich oder bläulich schimmert, ist Piontek: Wir passen schon auf, dass wir nicht das meist ein Zeichen für ein besonders heftiges direkt in starke Gewitter hineinfahren. Wir ver- Gewitter. Da sollte man sich besser ins Haus suchen, sie eher aus der Ferne zu beobachten. flüchten. Auch manche Superzellen sollte man Damit nichts passiert, sind wir meist auch mit sich lieber aus der Ferne ansehen. Andere Zeichen mehreren Leuten unterwegs. Allein kann man sind Starkregen und heftiger Wind. Wenn sich schlecht alles im Auge behalten, gerade wenn ein Gewitter schnell verstärkt, bilden sich sogeman nebenbei noch das Gewitter fotografiert. nannte wall clouds: Durch Aufwinde und FeuchLetztes Wochenende gab es aber tatsächlich eine tigkeit entsteht eine Art Wolkenwand. Das ist dann auch ein deutliches Zeichen, auf Abstand etwas brenzlige Situation ... zu bleiben ... ZEIT: Was war los? Piontek: Wir standen bei Rodgau in Hessen, um ZEIT: Dann halten selbst Sie sich fern? ein Gewitter zu fotografieren, das etwa 15 Kilo- Piontek: Ja, wir würden uns nicht freiwillig in so meter südlich von uns lag. Weil es mitten in der heftige Gewitter stellen. Wir fotografieren sie Nacht war, konnten wir nicht genau erkennen, lieber mit Abstand. ZEIT: Geht es eigentlich nur um tolle Fotos – oder noch um etwas anderes? Piontek: Die Fotos sind schon echt wichtig. Wir sammeln aber auch Daten und melden starke Gewitter an Skywarn. Das ist ein Verein, der Unwettermeldungen sammelt und sie unter anderem an den Deutschen Wetterdienst oder die Unwetterzentrale weitersendet. Die Daten helfen dabei, Unwetter zuverlässiger vorherzusagen. ZEIT: Kann sich da jeder melden, der ein Gewitter beobachtet? Piontek: Im Prinzip schon, man muss nur vorher einen kleinen Test machen und einige Grundlagen lernen. Nicht jedes Gewitter ist interessant. ZEIT: Ein paar Blitze reichen nicht? Piontek: Genau. Damit wir es melden, muss es zum Beispiel mehr als 60-mal pro Minute blitzen, oder die Windgeschwindigkeit muss mehr als 80 Kilometer pro Stunde erreichen. Auch Tornados und funnel clouds melden wir bei Skywarn. Starkregen und besonders große Hagelkörner sind zwei weitere Kriterien. ZEIT: Suchen Sie speziell nach gefährlichen Gewittern? Piontek: Eigentlich haben wir es auf die besonders fotogenen Gewitter abgesehen. Doch oft überschneidet sich das. ZEIT: Welches Gewitter war denn in der letzten Zeit besonders fotogen? Piontek: Ende Mai habe ich eine Superzelle bei Würzburg fotografiert, das war schon beeindruckend. Das Gewitter war später für die heftigen Überschwemmungen dort in der Gegend verantwortlich und hat noch ziemlich lange gewütet. ZEIT: Wünschen Sie sich nie schönes Wetter? Piontek: Ich freue mich zwar, wenn es gewittert, langsam könnte das Wetter aber selbst meiner Meinung nach wieder besser werden. Die ständige Gewitterjagd ist schon etwas anstrengend ... ZEIT: Sie müssten ja nicht jedes Mal rausfahren! Piontek: Eigentlich nicht, aber ich schlafe lieber eine Woche nicht, als ein gutes Gewitter zu verpassen, und bis jetzt hat sich das immer gelohnt. Das Gespräch führte Lara Malberger 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 Fotos: Ada Summer/Getty Images; Christoph Hetzmannseder/Getty Images (u.); ZEIT-Grafik (r.) Wer’s glaubt, isst selig Eine Flut von Büchern verspricht, wir könnten mithilfe bestimmter Diäten gezielt Organe stärken VON CHRISTIAN HEINRICH D en Schlüssel zu »lebenslang strahlender Gesundheit« und »umfassendem Wohlbefinden« wollen sie gefunden haben. Dabei haben Ann Crile und Jane Esselstyn nicht etwa eine neue Wunderarznei entwickelt – sondern Kochrezepte gesammelt. In ihrem Buch Essen was das Herz begehrt präsentieren die amerikanischen Lehrerinnen 125 Speisen, die nicht nur lecker und vegan sein sollen, sondern auch: »lebensrettend«. Donnerwetter. Das verspricht viel. »Eine ganze Menge zu viel«, ärgert sich der Gesundheitspsychologe Toni Faltermaier von der Universität Flensburg. Für immer gesund dank Grünkohl oder Zitrus-Gazpacho? Für Wissenschaftler wie Faltermaier ist das Quatsch. Dennoch liegt die Idee im Trend. In jüngster Zeit ist eine Flut an Büchern erschienen, die versprechen, dass sich mit einem bestimmten Speiseplan der Körper optimieren lasse. Die einen propagieren »die Anti-Stress-Ernährung«, andere »Rezepte für ein gutes Bauchgefühl und ein starkes Immunsystem«. Sogar das Bindegewebe lässt sich angeblich mit dem richtigen Essen stärken, verspricht der Ratgeber Richtig essen für die Faszien. Es geht in diesen Büchern nicht einfach um eine ausgewogene Kost oder einzelne »Superfoods«, die angeblich viele Vitamine enthalten. Die Autoren behaupten vielmehr, dass sich mit der von ihnen empfohlenen Ernährungsweise ganz gezielt der Zustand bestimmter Organe und Organsysteme verbessern lasse. Die Vorstellung ist natürlich toll: mit gegrillten Ananas das Herz in Schuss halten, mit Ingwer und Knoblauch die Zellen gegen Stress wappnen – doch ist das wirklich so einfach? Schon rein praktisch ist es schwierig, das zu untersuchen. Um testen zu können, welche Ernährung vor dem Auftreten gewisser Leiden schützt, müssten Forscher Gesunde über lange Zeit beobachten. »Es gibt solche Studien, aber sie sind aufwendig und teilweise problematisch. Wenn man für eine Studie die Ernährungsweise am Anfang erfasst, weiß man nicht, ob die Menschen in den 10, 15 Jahren danach genauso essen«, sagt Johann Ockenga, Ernährungsmediziner am Klinikum Bremen-Mitte. »Und wenn tatsächlich herauskommt, dass nach 15 Jahren Menschen, die kein rotes Fleisch essen, seltener an Darmkrebs erkranken, dann hat man einen Zusammenhang, aber noch keine ursächliche Erklärung.« Auch weil bei der Entstehung komplexer Leiden wie Krebs oder Arteriosklerose mehrere Faktoren zusammenwirken. Als Erklärung reichen die Essgewohnheiten nicht aus. »Bei vielen Krankheiten spielt Bewegungsmangel eine Rolle, die Gene, der Stress oder die nächtliche Schlafdauer – die ganze Lebensweise«, sagt Faltermaier. Die Gesundheit eines Organsystems auf eine bestimmte Ernährungsformel zu reduzieren, werde dieser Komplexität nicht gerecht. Die Wirkung einzelner Lebensmittel auf die Physis sei zudem schwierig zu untersuchen, sagt Tilman Grune, wissenschaftlicher Vorstand des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke. »Die Ernährung stellt ein Gesamtkonzept für den Körper und seine Gesundheit dar.« Einiges ist zumindest recht gut belegt: dass Omega-3-Fettsäuren die Cholesterinkonzentration im Blut und damit den Blutdruck senken – allerdings gilt dies für die in der Nahrung enthaltenen, nicht für jene in Nahrungsergänzungsmitteln. Und es gibt Hinweise ANZEIGE WISSEN 37 ZEIT DOCTOR ALLES, WAS DER GESUNDHEIT HILFT darauf, dass man mit bestimmten Lebensmitteln die Darmflora beeinflussen kann: Laut einer im Mai im Magazin Science veröffentlichten Studie führt Buttermilch zu einem breiteren Spektrum der Darmflora, Vollmilch hingegen scheint die Mikrobenvielfalt im Verdauungskanal zu reduzieren. Doch die Ratgeber begnügen sich meist nicht damit, von »Hinweisen« zu sprechen. Oft werden kühne Behauptungen aufgestellt, die gar nicht oder nur schlecht untermauert sind. Irgendeine Studie, die den Hauch von Wissenschaft verbreitet, auch wenn sie entsprechenden Kriterien nicht standhält, lässt sich für fast jede These finden. Einige Autoren sparen sich den Blick auf die Studienlage auch ganz und stützen sich einfach auf eine bereits bekannte und etablierte Ernährungsphilosophie, die sie dann – um überhaupt eine Rechtfertigung für ein neues Buch zu haben – um eigene Ideen ergänzen. Etwa so haben es Uschi Eichinger und Kyra Hoffmann gemacht. Ihr Buch Die Anti-Stress-Ernährung basiert zu einem großen Teil auf der sogenannten LOGI-Methode. »LOGI« steht für »Low Glycemic and Insulinemic Diet«. Die Idee dahinter: den Blutzucker- und Insulinspiegel möglichst konstant zu halten, um die Zellen wenig Stress auszusetzen. Den Hauptbestandteil dieser Diät bilden stärkearmes Gemüse wie Blumenkohl und Pilze sowie zuckerarmes Obst. Ob das funktioniert und ob der postulierte Stress überhaupt schädlich für die Zellen ist, ist nicht bewiesen. Dennoch gibt es inzwischen zahllose Bücher, die die Methode anpreisen. Das Buch von den Autorinnen Eichinger und Hoffmann geht noch einen Schritt weiter und identifiziert verschiedene »Stresstypen«: Wer in belastenden Situationen mehr esse als sonst, aber gut schlafe, zähle zum »Adrenalinmangel-Typ« und solle darauf achten, ausreichend Tyrosin zu verzehren, die Vorstufe von Adrenalin. Besonders wichtig seien etwa Milchprodukte, Fleisch, Fisch und Hülsenfrüchte. Menschen mit niedrigem Blutdruck und trockener Haut hingegen gehörten zum »Thyroxinmangel-Typ« und sollten genügend Selen zu sich nehmen, das für die Schilddrüse wichtig sei. So einleuchtend das vordergründig klingen mag – einen wissenschaftlichen Nachweis können die Autorinnen dafür nicht anführen. Bisher ist nicht einmal klar, ob Stress überhaupt in irgendeiner Form zu Mangelerscheinungen beiträgt, geschweige denn, ob er sich besser bewältigen lässt, wenn der Körper bestens mit allem versorgt ist. Nun schadet es gewiss nicht, darauf zu achten, dass man ausreichend Vitamine, Nährstoffe und Mineralien zu sich nimmt. Doch manche Ernährungslehren bergen auch Gefahren. So kann eine radikale Low-Carb-Diät das Risiko für Herz-Kreislauf-Leiden steigern. »Jede Art von Diät birgt das Risiko, sich fehlzuernähren«, sagt der Ernährungsmediziner Ockenga. Selbst eine auf den ersten Blick harmlose Low-Fat-Diät berge das Risiko, dass man nicht genug fettlösliche Vitamine aufnehme. Die beste Methode, um seine Organe – und zwar alle – gesund zu halten, sieht Ockenga in der »mediterranen Ernährungsweise«, die unter anderem viel Obst und Gemüse vorsieht sowie wenig Fleisch. Wer nach diesem Grundsatz isst, hat Studien zufolge ein geringeres Risiko, an Herz-Kreislauf-Problemen und Krebs zu erkranken. Und muss nicht einen einzigen Ratgeber dafür lesen. www.zeit.de/audio DIABETES, MS, KREBS Hilft Essen heilen? Bei einigen Leiden spielt die Ernährung eine wichtige Rolle 1. Bluthochdruck Die Faktoren, die zu Bluthochdruck führen, sind ebenso vielfältig wie die Möglichkeiten, ihn zu senken. Sich bewegen, den Stress reduzieren oder abnehmen – diese Dinge helfen genauso wie eine vernünftige Ernährung. Die Umstellung auf salzarme Kost senkt nachweislich hohen Blutdruck, zumindest ein Stück weit, das zeigen etliche Untersuchungen. Darüber hinaus sollte man nicht zu viel tierisches Fett und Fleisch zu sich nehmen und übermäßigen Alkoholkonsum vermeiden. Männer sollten täglich nicht mehr als 24 Gramm Alkohol zu sich nehmen, was etwa einem halben Liter Bier entspricht. Bei Frauen liegt die Obergrenze bei 12 Gramm Alkohol, das sind etwa 0,1 Liter Wein. 2. Diabetes Bei der Behandlung von Diabetes ist die Ernährung nicht bloß ein Faktor unter vielen, sie spielt eine entscheidende Rolle. Denn die Kohlenhydratzufuhr – auch mit Blick auf die Intensität körperlicher Bewegung – sollte jeder Diabetiker kennen, um die medikamentöse Therapie immer entsprechend anzupassen. Die medizinischen Leitlinien zur Ernährung bei Diabetes empfehlen, etwa 45 bis 60 Prozent der benötigten Energiemenge in Form von Kohlenhydraten zu sich zu nehmen. Eiweiße sollten 10 bis 20 Prozent ausmachen, Fette nicht mehr als 35 Prozent. 3. Multiple Sklerose Die Nervenkrankheit Multiple Sklerose ist bislang nicht heilbar. Eine bestimmte Ernährungsform könnte jedoch das Fortschreiten der Krankheit deutlich verlangsamen, vermuten Wissenschaftler um Friedemann Paul von der Berliner Charité. Dabei geht es um die sogenannte ketogene Kost, die reich an Fetten und arm an Kohlenhydraten ist. Die mögliche positive Wirkung bei Multipler Sklerose erklärt man sich mit dem Vermindern von freien Radikalen im Gehirn. Diese entstehen vermehrt bei der Verwertung von Kohlenhydraten. Kann man mit Ananas sein Herz stärken? So einfach ist es leider nicht Nahrhaftes Lesefutter Wer verstehen will, wie Krankheiten entstehen und was das mit Ernährung zu tun hat, dem sei dieses Standardwerk empfohlen: Ernst Kofrányi/Willi Wirths: Einführung in die Ernährungslehre, Umschau Buchverlag, 528 Seiten. Unter Studenten der Ernährungswissenschaften beliebt ist ein umfassendes Kompendium, das Lehrbuch und Nachschlagewerk in einem ist: Ibrahim Elmadfa/Claus Leitzmann: Ernährung des Menschen, UTB, 788 Seiten. Beide Bücher sind dick und anstrengend zu lesen, aber sie haben vielen Ratgebern eines voraus: Sie geben dem Leser die Möglichkeit, sich vom Stand der Ernährungsforschung ein eigenes Bild zu machen. 4. Krebs Der Biologe Johannes Coy verspricht wahre Wunder. In seinem Buch Die neue AntiKrebs-Ernährung: Wie Sie das Krebs-Gen stoppen empfiehlt er eine öl- und proteinreiche Diät mit möglichst geringem Kohlenhydratanteil. Dies löse bei Krebszellen einen erhöhten Zuckerverbrauch aus und mache sie angreifbar. Auf diese Weise ließe sich die Wirkung von Chemo- oder Strahlentherapien verstärken, so lautet die Theorie. Sie ist in Fachkreisen höchst umstritten und konnte sich in der Krebsmedizin aus Mangel an aussagekräftigen Studien bislang kaum etablieren. Der Krebsinformationsdienst warnt vor den Belastungen für die Patienten durch entsprechende Ernährungskonzepte und fasst den aktuellen Wissensstand so zusammen: »Eine ›Krebsdiät‹ gibt es nicht.« 38 WISSEN GRAFIK: NATO 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 28 ZUM RAUSTRENNEN Blockbildung o N 368 Vor 25 Jahren löste sich der Warschauer Pakt offiziell auf. Die militärischen Kräfte verschoben sich, noch immer aber stehen sich zwei hochgerüstete Armeen gegenüber Legende Nato-Länder Soldaten Grenze zwischen Ländern der Nato und des Warschauer Paktes Panzer FINNLAND 766 055 Die Themen der letzten Grafiken: Kampfflugzeuge Russland und das mit ihm verbündete Weißrussland NORWEGEN 367 26 500 52 K ANADA Private Raumfahrt 15 398 3500 ESTLAND 6 104 366 SCHWEDEN 13 000 95 000 181 426 Exotische Jagdtrophäen 4 LETTLAND 3547 LITAUEN Kaliningrad (zu Russland) DÄNEMARK 25 000 USA 15 000 RUSSLAND 65 000 9 Typologie der Bärte 57 GROSSBRITANNIEN 365 74 1665 WEISSRUSSLAND 181 POLEN 120 000 150 000 50 000 IRLAND 407 DEUTSCHLAND 1009 177 127 164 UKR AINE NIEDERLANDE 461 TSCHECHIEN 408 BELGIEN 35 000 879 21 100 123 SLOWAKEI 114 MOLDA WIEN 13 500 22 47 171 676 LUXEMBURG 1 400 000 RUMÄNIEN UNGARN ÖSTER REICH LIECHTENSTEIN 32 20 000 30 SLOWENIEN 205 000 FR ANKREICH 75 000 SCHWEIZ 7500 84 BOSNIEN SERBIEN U. HERZE GOWINA 423 28 ITALIEN 875 125 KROATIEN 21 500 72 8848 BULGARIEN 410500 35 000 160 KOSOVO MAZE MONTENEGRO 14 550 DONIEN 68 1282 MONACO 68 22 ALBANIEN 320 000 TÜRKEI 410 500 ANDORR A 180 000 125 000 586 SPANIEN 3778 1556 327 40 000 785 133 601 540 110 GRIECHENLAND 1007 PORTUGAL 13 444 Gegenübergestellt Potenzial mit Sprengkraft Aufgeblasener Etat Veränderte militärische Balance: Die Nato hat seit 1989 Verbündete gewonnen, Russland welche verloren Aufrüstung der USA, Russland zog nach: Heute haben die beiden Länder wieder fast gleich viele Atomsprengköpfe Noch immer werden Milliarden in die Rüstung gesteckt. Hier die Länder mit den größten Militäretats für 2016 (in Dollar pro Einwohner) 2016 1989 Nato Russland und Weißrussland Nato Warschauer Pakt 40 159 2000 USA 1808 UdSSR Russland Truppenstärke 1500 31 255 1344 26 734 2 744 000 3 503 777 831 055 23 317 1000 858 795 Panzer Kampfflugzeuge 2 500 4700 4500 8400 1 0 8245 9955 20 819 3781 1945 1949 1967 1986 1992 Dänemark 17 063 Norwegen 18 952 100 300 USA 43 500 Großbritannien 550 13 708 Italien 3 197 000 2015 Wichtige Ereignisse der Nato seit 1991 »Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen Nato und der Russischen Föderation« wird unterzeichnet Nato-Kampfeinsatz im Jugoslawienkrieg 1993 1994 1997 Erste gemeinsame Militäreinsätze mit ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten in Jugoslawien 1999 Bündnisfall nach den Anschlägen in New York vom 11. September nach Artikel 5 2001 Nato-Einsatz im Kosovokrieg. Beitritt von Polen, Ungarn und Tschechien 2002 Nato erhält das Kommando über die Isaf-Einsätze in Afghanistan (erster Einsatz außerhalb des nordatlantischen Gebiets) 2003 Gründung des Nato-RusslandRats und der Nato-ResponseForce, einer schnellen KrisenEingreiftruppe 2004 Bündnisfall in der Türkei nach Raketenangriffen aus Syrien. Die Nato verlegt PatriotRaketen an die Grenze Albanien und Kroatien werden Nato-Mitglieder 2009 Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen werden Nato-Mitglieder 2011 2012 Internationaler NatoMilitäreinsatz in Libyen 2014 Ukraine-Konflikt um die Krim, Nato beendet militärische Zusammenarbeit mit Russland Illustration: Matthias Holz Recherche: Sven Stillich Quellen: www.globalfirepower.com, www.nato.int, wikipedia.de, Bulletin of the Atomic Scientists 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 FEUILLETON Kampfgesänge für die Generation YouTube: Auch Dschihadisten haben eine Popkultur Seite 50 39 Große Bilder, subtiles Gewusel Marcel Beyer ist der neue Büchnerpreisträger Marcel Beyer erhält den Büchnerpreis. Das ist gut so; jedenfalls ist es kein Drama. Die Auszeichnung hat vielleicht nicht das ehern Unabweisbare wie letztes Jahr bei Rainald Goetz, diesem idiosynkratischen Klassiker seiner selbst. Sie wird aber auch keine Feinde auf den Plan rufen wie 2013 im Falle der exzentrischen Sibylle Lewitscharoff oder 2012 bei Felicitas Hoppe, deren Werk manchen zu fragil für die Marmorlast des Preises erschien. Gleichwohl verrät die Entscheidung nicht die erschöpfte Lustlosigkeit, die von der Jury in den vergangenen Jahren auch schon bewiesen wurde (Beispiele verbietet der Takt). Marcel Beyer ist ein wirklicher Der Lyriker und Romancier Marcel Beyer, geboren 1965 Das Schlafzimmer Dichter mit einer poetischen Gabe, die sich in seiner Lyrik zeigt, aber auch in der allegorischen Grundgestalt seiner Romane. Beyer hat den Sinn für das große schlagende Bild im Hintergrund, vor dem sich das subtile Gewusel seiner Prosa entfalten kann. Zweimal hat er Wissenschaftler in dem undurchsichtigen Netz ihrer Nazi-Verstrickung gezeigt – Flughunde (1995), Kaltenburg (2008) – und dabei zugleich viel über die Hilflosigkeit unseres zeitgenössischen Stocherns in der Vergangenheit gesagt. Immer bleiben ein paar Spinnenfäden an unseren Sonden kleben, immer zerreißt aber auch das Bild, das wir uns machen wollten. Seit Gert Hofmann, der für einen Büchnerpreis leider zu früh starb, hat sich kein Schriftsteller derart raffiniert des Fortwucherns der Geschichte angenommen. Man muss Marcel Beyer gelesen haben, wenn man den Anspruch hat, literarisch à jour zu sein. Mehr kann man von einem Büchnerpreisträger nicht verlangen. JENS JESSEN als gefährlicher Ort Was leidenschaftliche Liebesnacht und was Vergewaltigung war, definiert die Frau künftig am Tag danach: Noch vor der Sommerpause soll eine unnötige und verhängnisvolle Verschärfung des Sexualstrafrechts durchgepeitscht werden VON SABINE RÜCKERT Fotos: Millennium Images/Look-foto; Arno Burgi/dpa, Steffi Loos/dapd (r.); Propagandavideo IS (o.) A m 20. April 2016 verurteilte das Amtsgericht München den früheren Präsidenten der dortigen Musikhochschule, Siegfried Mauser, wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung. »Was da gerade passiert, ist der totale Untergang meiner Existenz«, hatte der Angeklagte noch kurz vor dem Schuldspruch geklagt. Eine Verurteilung wäre »akademisch, institutionell, wissenschaftlich, musikalisch die totale Vernichtung für mich«. Es nützte ihm nichts. Unmittelbar nach dem Urteil verlor der 62-jährige Pianist obendrein seine aktuelle Stelle als Chef des Mozarteums in Salzburg. Er ist ruiniert. Seine Verurteilung erfolgte allein aufgrund der Angaben einer 57-jährigen Professorin der Musikhochschule. Diese hatte Mauser angezeigt, sie vor sieben Jahren, im April 2009, bei einem Gesprächstermin in seinem Büro sexuell genötigt zu haben. Gleich zur Begrüßung habe er sie überraschend gegen die Tür gedrängt und ihr seine Zunge in den Mund geschoben. Trotzdem fand das Gespräch dann statt. In einem zweiten Überrumpelungsversuch habe er später ihre Hand an seine Hose über dem erigierten Penis gelegt und versucht, ihr unter den Rock zu greifen. Sie habe ihn verbal und durch Gegenwehr abgehalten, sagte die Frau aus, Mauser habe sich daraufhin wieder in seinen Sessel begeben. Beendet wurde die Situation durch das Eintreten eines Dritten, der aber keine Übergriffe bemerkte. Obwohl es keine Tatzeugen gibt, die Frau weder aus dem Raum geflohen war noch um Hilfe gerufen hatte, ja die Unterredung nicht einmal abgebrochen und mit der Anzeige volle sechs Jahre gewartet hatte, wurde Mauser verurteilt. Der Pianist ist erledigt – durch die Anwendung geltender Gesetze. Ein Recht, das die Frauen schützt, möchte man meinen. Doch vielen reicht das nicht. Durch den Druck aus Frauenverbänden, Frauenberatungsstellen, Frauennotrufen, dem Juristinnenbund, von Terre des Femmes und dem Deutschen Frauenrat liegen derzeit gleich mehrere überstürzt verfasste Vorschläge diverser Parlamentarier auf dem Tisch, die das Sexualstrafrecht – mit dessen Entrümpelung und Modernisierung ohnehin eine Kommission im Auftrag des Bundesjustizministeriums beschäftigt ist – zugunsten von Frauen weiter verschärfen wollen. Ihre Verfasser warten die Arbeit der Kommission nicht ab, sondern fordern, bestehende »Schutzlücken« im Strafrecht rasch zu schließen, ja einen »Paradigmenwechsel« herbeizuführen. Die Abstimmung im Bundestag soll am 7. Juli sein. Im Zentrum des Interesses steht der Paragraf 177 Strafgesetzbuch, der sexuelle Nötigung und Vergewaltigung unter Strafe stellt: Bislang musste ein Täter Gewalt angewandt, sein Opfer bedroht oder dessen schutzlose Lage ausgenutzt haben, um sich nach diesem Paragrafen strafbar zu machen. Das geht den Reformern nicht weit genug. Sie beklagen, dass Fälle straflos bleiben, in denen »das Opfer mit Worten widerspricht, vom Täter überrascht wird, aus Angst erstarrt ist und sich nicht wehrt, körperlichen Widerstand als aussichtslos erachtet oder befürchtet, sich dadurch weitere gravierende Verletzungen zuzuziehen«. So steht es beispielsweise im Eckpunktepapier zur Reform des Sexualstrafrechts – mit dem Grundsatz »Nein heißt Nein« vom 16. Juni 2016, das elf Bundestagsabgeordnete von CDU/CSU und SPD verantworten. Die Autoren schlagen vor, künftig »alle nicht einvernehmlichen« sexuellen Handlungen als »sexuelle Übergriffe« unter Strafe zu stellen, auch wenn der Täter nicht Gewalt anwendet und das Opfer keinen Widerstand leistet. Maßstab sei allein der »entgegenstehende Wille« des Opfers, wenn er verbal (»Nein«) oder konkludent (Weinen, Abwehrgesten) geäußert werde. Woran erkennt man den Widerwillen am Sex? Auch die Bündnisgrüne Katja Keul will den Vergewaltigungsparagrafen so umformuliert wissen, dass es »weder auf eine Nötigungshandlung des Täters noch auf den Widerstand des Opfers ankommt«. Im Bundestag sagte sie: »Ob das Opfer diesen (entgegenstehenden) Willen verbal äußert oder durch Gesten, Mimik, Körperhaltung, Tränen oder von mir aus schriftlich, ist dabei nicht entscheidend.« Die geltenden Voraussetzungen für Nötigung und Vergewaltigung haben bislang – auch wenn sie von Gerichten ohnehin schon sehr weit ausgelegt werden – zumindest einen gewissen objektivierbaren Anteil, der sich beweisen lässt: Was Gewalt ist, wissen Täter und Opfer. Sie lässt sich außerdem durch Hämatome und zerrissene Kleidung, aber auch durch ein herrschendes Klima der Angst (etwa in einer Beziehung oder Familie) nachweisen. Was eine Drohung ist, wissen die Tatbeteiligten auch. Eine schutzlose Lage (Täter und Opfer befinden sich in einer einsamen Gegend, oder das Opfer ist abhängig vom Täter) erkennt ebenfalls ein jeder. Übrigens verlangt auch das geltende Recht keineswegs immer ein »Nein« vom Opfer und keineswegs immer Gegenwehr. Es reicht, wenn die Richter der Nebenklägerin ihre Geschichte für das Revisionsgericht nachvollziehbar glauben – wie im Fall des Pianisten Mauser. Das aber wird von den Reformern ausgeblendet. Wie also soll der erkennbare (Wider-)Wille nachgewiesen werden, wenn es nicht einmal ein »Nein« braucht und er sich allenfalls in »Mimik« und »Körperhaltung« – durchaus interpretationsoffene Kategorien – manifestiert? Oder andersherum und realitätsnäher: Wie soll ein Angeklagter beweisen, dass er den entgegenstehenden Willen nicht erkannt hat, wo er doch laut Opferzeugin erkennbar gewesen ist? Dies zu klären soll den Staatsanwälten künftig vorbehalten bleiben. Der angestrebte »Paradigmenwechsel« besteht offensichtlich darin, bei Nötigung und Vergewaltigung die Wahrheitsfindung unüberprüfbar aus der Objektivität heraus und in die persönliche Deutungshoheit der Anzeigeerstatterin zu legen. Was leidenschaftliche Liebesnacht und was Vergewaltigung war, definiert die Frau am Tag danach. Die Folge: Bei den Sexualpartnern zieht das Misstrauen ein. Und die Sexualität an sich – also ein sonst schönes und erwünschtes Verhalten – wird durch derartige Kampagnen ins Zwielicht und in die Nähe des Verbrechens gerückt. Das Intime gerät in Verdacht, das Schlafzimmer wird zum gefährlichen Ort. Eine solche Verrechtlichung des Intimlebens ist beunruhigend. Dieser geschützte Raum, in dem eine Beziehung ausgehandelt und Verhalten erprobt werden kann, wird der Kontrolle durch das Gesetz überantwortet. Und kurios: Einerseits wehrt man sich gegen die Totalüberwachung durch NSA und Google, andererseits misst man die eigene Intimsphäre mit dem Millimeterpapier des Strafrechts aus. In einer idealen Welt, in der alle bloß die besten Absichten haben und stets die Wahrheit sagen, mögen derartige Gesetze geeignete Instrumente zur Wahrheitsfindung sein – in unserer Welt, in der die Menschen mitunter von Gefühlen wie Rache, Hass und Verwirrung erfasst werden, erscheint es absurd. Es bürdet den ohnehin überlasteten Gerichten hochgradig risikobehaftete Beweisführungen auf und bindet erhebliche Kapazitäten der Justiz. In den allermeisten Fällen wird eine Straftat trotzdem nicht bewiesen werden können, denn immer noch gelten vor Gericht gewisse Mindestanforderungen an die Erkennbarkeit des »entgegenstehenden Willens«. Schlimmstenfalls werden Unschuldige verurteilt. Dass eine Frau auch von anderen als hehren Motiven durchdrungen sein könnte, davor verschließen all jene die Augen, die fordern, jeder Frau, die eine Vergewaltigung anzeigt, müsse immer und unter allen Umständen geglaubt werden – und das sind nicht wenige. Als hätte es die prominenten Fälle des unschuldig verurteilten Lehrers Horst Arnold (seine Falschbeschuldigerin wurde 2013 zu einer Freiheitsstrafe von fünfein- halb Jahren verurteilt) oder des Fernsehmoderators Jörg Kachelmann nie gegeben. Als gäbe es unter weiblichen Menschen keine Wichtigtuer oder psychisch Defekten. Zu welch grotesken Blüten solcher Glaube führt, zeigte sich schon 2008 im sächsischen Mittweida, wo die 18-jährige Rebecca K. der Polizei ein in ihre Hüfte geschnittenes blutverkrustetes Hakenkreuz vorwies und behauptete, eine Rotte Neonazis, vor der sie ein Kind habe bewahren wollen, hätte ihr das angetan. Umfängliche polizeiliche und gerichtsmedizinische Ermittlungen setzten ein und ergaben: Das Mädchen musste die Geschichte erfunden und sich die Wunde selbst zugefügt haben. Trotzdem entschloss sich das Berliner Bündnis für Demokratie und Toleranz, eine politische Initiative gegen rechte Gewalt, Rebecca K. den Ehrenpreis für Zivilcourage zu verleihen – unbeeindruckt von der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Chemnitz gegen die Frau wegen »Vortäuschung einer Straftat« ermittelte. Frau K.s Laudatorin, die ehemalige Parlamentarische Staatssekretärin Cornelie SonntagWolgast (SPD), sagte, es gehe allein um das »Lob der Zivilcourage«. Kurze Zeit später wurde die Preisträgerin verurteilt. Die Familienministerin im »TeamGinaLisa« Jetzt steht das Partygirl Gina-Lisa Lohfink, die im Juni 2012 von zwei Männern vergewaltigt worden sein will, im Zentrum der politischen Anteilnahme. Die Staatsanwaltschaft Berlin hält Lohfinks Vergewaltigungsaussage für erlogen, deshalb läuft vor dem Amtsgericht Berlin ein Prozess. Lohfink wird »falsche Verdächtigung« vorgeworfen. Und tatsächlich weisen die Angaben der Frau erhebliche Widersprüche auf (ZEIT Nr. 27/16). Unter dem Hashtag #TeamGinaLisa haben sich dennoch zahllose Feministinnen mit Lohfink solidarisiert. Am vergangenen Montag erschien diese im Tross der Fernsehteams vor dem Amtsgericht Berlin. Die Straße musste gesperrt werden, denn eine Gruppe aufgebrachter Demonstrantinnen war aufgetaucht und skandierte: »Nein heißt nein, du bist nicht allein!« Der Prozess wurde zur Bühne für die Beschuldigte. Selbst die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig hatte sich dem »Team GinaLisa« angeschlossen und den Link zu einem Onlineartikel Schwesig schaltet sich in Fall Gina-Lisa Lohfink ein getwittert. Darin wird sie mit den Worten zitiert: »Wir brauchen die Verschärfung des Sexualstrafrechts. Nein heißt nein muss gelten. Ein Hör auf ist deutlich.« Warum macht ein Kabinettsmitglied so etwas? Wir wissen es nicht. Doch Politiker, die sich hervortun wollen, Fortsetzung auf S. 40 Doppelbackpfeife Bud Spencer war der knuffige Prügelbär der Babyboomer Sein Vorbild war der Schauspieler Spencer Tracy, Budweiser sein Lieblingsbier. Zwingend also der Künstlername: Bud Spencer. Zwingend auch die Bewegungsfolgen, mit denen er sich in die Erinnerungen der Babyboomer geprügelt hat. Die exakt synchronisierte Doppelbackpfeife und der von oben Carlo Pedersoli alias Bud Spencer * 31. Oktober 1929 † 27. Juni 2016 ausgeführte K.-o.-Faustschlag auf den Kopf waren seine Erfindungen. Doch Carlo Pedersoli, so der bürgerliche Name des 1929 in Neapel geborenen Schauspieler-Autodidakten, hat auch zum Menschheitsnutzen Gedachtes patentieren lassen, darunter einen Spazierstock mit ausklappbarem Stuhl und Tisch. Außerdem war Pedersoli achtmaliger Landesmeister im Schwimmen. Wofür soll man ihn in Ehren halten? Die letzten Jahre hat Pedersoli die Werke von Immanuel Kant studiert, die er in einer CDROM-Edition in seinem Büro verwahrte. Sein Philosophieren blieb aber verborgen, so wie er die reflektierende Rede auch auf der Leinwand stets dem minder muskulösen Dauerpartner Terence Hill überließ. Bud Spencer war eine Ikone der Vita activa, der Meister praktischer Problemlösungen. Dass es stets Kapitalisten, Ausbeuter und bigotte Kirchenmänner waren, die er im Film verdrosch, machte ihn zu Fidel Castros Lieblingshelden. In Deutschland, wo er so beliebt war wie nirgends, stand die politische Lesart seiner Filme hinter der Lust an ihrer puren Körperlichkeit zurück. Weil hier aber nie Blut floss, ging Bud Spencer als im Grunde knuffiger Prügelbär durch, der Vätern und Söhnen an schlappen Fernsehnachmittagen ein regressives Vergnügen spendierte. Bud Spencer versprach eine Welt ohne Frauen, Erklärungsnöte und Deodorant. Am Montag ist Pedersoli im Alter von 86 Jahren in Rom gestorben. RONALD DÜ KE R 40 FEUILLETON TITELTHEMA: WENN DIE FALSCHEN GEWINNEN 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Das Schlafzimmer als ... Fortsetzung von S. 39 nehmen immer gern prominente Kriminalfälle zum Anlass. Und so dürfte die Sache Lohfink der Familienministerin gerade recht gekommen sein. Jedenfalls fiel sie – obwohl die Opfereigenschaft des Partygirls mehr als nur fragwürdig ist – der Justiz in den Rücken und versuchte, durch Äußerungen von höchster Stelle das Verfahren zugunsten von Lohfink zu beeinflussen. Dabei verraten Schwesigs Statements, dass sie kaum etwas von der Sache wusste. Politiker, die ihr Profil (oder das ihrer schwächelnden Partei) stärken wollen, machen sich immer wieder für die Verschärfung des Sexualstrafrechts stark. Egal, ob die Vorschläge sinnvoll oder praktikabel sind – sie eignen sich zur volksnahen Präsentation. Schon Gerhard Schröder hatte das erkannt, als er 2001 – seine Umfragewerte befanden sich im Sinkflug – in der Bild am Sonntag publikumswirksam forderte: »Kinderschänder wegschließen – und zwar für immer«. Das Postulat war zwar unvereinbar mit dem Gesetz und lag (wie der Rechtsanwalt Schröder sehr genau wusste) völlig neben der Realität, sicherte ihm aber den Beifall der Massen. Der frühere Kanzler blieb mit dieser Entgleisung nicht allein. Viele Politiker folgten seinem Beispiel und tun es bis heute. Die Zahl der Sexualdelikte sinkt in Deutschland kontinuierlich, trotzdem führt das Zusammenspiel populistischer Politiker und aufgeregter Journalisten dazu, dass das Sexualstrafrecht in den vergangenen 20 Jahren wieder und wieder modifiziert wurde – immer zuungunsten des Beschuldigten. Die pausenlos vorangetriebene Verschärfung der Sicherungsverwahrung (vor allem für Sexualtäter) führte 2009 sogar dazu, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eingriff und die deutschen Regelungen zur Sicherungsverwahrung kippte. Deutschland musste von Europa auf den Weg des humanen Strafrechts zurückgezwungen werden. Auch jetzt soll die mit großer Leidenschaft vorangepeitschte Verschärfungsreform wieder bloß ein »erster Schritt« sein. Drehen die Staatsanwälte den Spieß aber einmal um und verfolgen Menschen, die sich mutmaßlich zu Unrecht als Verbrechensopfer darstellen, müssen sie dafür sehr gute Gründe haben. 2015 fanden bei über sechs Millionen registrierten Straftaten bloß 519 Ermittlungen wegen »Vortäuschens einer Straftat« statt, und die »falsche Verdächtigung« machte gerade 0,3 Prozent der polizeilichen Ermittlungsfälle aus. Nicht einmal gegen jene Frau, die Jörg Kachelmann 2010 beschuldigte, gingen die Ermittler nach dessen Freispruch vor. Dabei hatte sie vor Gericht nachweislich mehrmals gelogen und sogar belastende Indizien selbst gebastelt. Dahinter steckt die Sorge der Behörden, potenzielle Anzeigeerstatter(innen) abzuschrecken. In Kampagnen wird das Volk aufgerufen, der Polizei möglichst viele Straftaten zu melden. Da überlegen es sich die Strafverfolger sehr gut, ob sie Anzeigeerstatter später selbst in Bedrängnis bringen wollen. Nun geht die öffentliche Empörung auf jene Richterin nieder, die den Strafbefehl gegen GinaLisa Lohfink erlassen hat, und auf jene Berliner Staatsanwältin, die Lohfink zur Rechenschaft ziehen will. Lohfink hat nicht das Patriarchat gegen sich, sondern zwei nüchterne Juristinnen, die nicht zulassen wollen, dass der Verhandlungssaal zum Tollhaus wird. Bundesjustizminister Heiko Maas hat ein mahnendes Wort zum Schutz dieser beiden dem Gesetz verpflichteten Frauen vermieden, lieber stellte er – der den »Nein heißt nein«-Reformen zunächst sehr zurückhaltend gegenübergestanden hatte – sich jetzt dahin, wo alle stehen, die nicht in die Kritik geraten wollen: »Die Verschärfung des Sexualstrafrechts darf nicht länger blockiert werden.« »Nein heißt nein« – ein Schlagwort, das die Frauen schützen soll und doch vielleicht demnächst besonders rigorosen Männern entgegenkommen könnte. In Berlin zeigte der Imam Kerim Ucar eine Lehrerin der Platanus-Schule an, weil diese ihn dazu zwingen wollte, ihr die Hand zu reichen. Der Imam war zu einem Elterngespräch über seinen Sohn in der Schule erschienen, dort weigerte sich der strenggläubige Muslim, der weiblichen Lehrkraft die Hand zu geben. Viermal soll die Lehrerin den Mann vergeblich aufgefordert haben, ihre Hand zu nehmen, dann brach sie das Gespräch ab. Der Imam soll sich in seiner Anzeige auf »Beleidigung« und »Verletzung der Religionswürde« berufen haben. Nach der neuen Sexualstrafrechtsreform käme womöglich eine Anzeige wegen des Straftatbestandes der »Nötigung« infrage, wenn der Imam – und auf seine subjektive Sicht als Opfer kommt es künftig an – sich von der Lehrerin sexuell belästigt fühlt: Immerhin wollte sie, die er aufgrund ihres Geschlechtes nicht anfassen mochte, seine Berührung erzwingen. Eine Illustration für die Absurdität der »Nein heißt nein«-Reform. Auch andere Fallkonstellationen sind denkbar, in denen das »Nein heißt nein« den Frauen keine Vorteile bringen, sondern Probleme bereiten könnte. Der Vorsitzende des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, Rolf Raum, stellte kürzlich in einer Tagung Überlegungen an, was strafrechtlich auf eine zärtlichkeitsbedürftige Frau zukommen könnte, die ihren Mann durch sexuelle Avancen etwa beharrlich beim Fußballgucken stört. Fasse sie ihm dabei zum Beispiel gegen seinen erkennbaren Willen – und sein »Nein« überhörend – in den Schritt, könnte dies (nach Paragraf 177 Abs. 1: Sexueller Übergriff ) künftig zu einer empfindlichen Strafe führen. Ist der Brexit denn Nein. Die Briten pfeifen zu Recht auf den Finanzinternationalismus ihrer Eliten VON WOLFGANG STREECK M an wird abwarten müssen, ob die deutschen »Europäer« aus dem Ausgang des britischen Referendums etwas lernen werden. Viel Hoffnung besteht nicht. In ersten Reaktionen wurde dem Land von William Shakespeare und Adam Smith, von Newton und Hobbes, Händel und Marx bescheinigt, dass es eigentlich nie wirklich zu Europa gehört habe – offenbar aber wir. Dabei liegt für jeden außerhalb des Bannkreises des deutschen Nebels auf der Hand, dass ähnliche Abstimmungen in einer ganzen Reihe von Ländern ähnlich ausgegangen wären: Dänemark, Niederlande, Österreich, Ungarn, Italien, nicht zuletzt Frankreich. Die Europäische Union, so wie wir sie kennen, als institutioneller Rahmen einer »europäischen Integration«, wie die Deutschen sie sich vorgestellt haben, erlebt ihre Götterdämmerung, und wer es nicht glauben will, läuft Gefahr, von ihren einstürzenden Neubauten begraben zu werden. Wird die deutsche politische Klasse verstehen, dass sie den Zusammenbruch ihres Brüsseler Wolkenkuckucksheims wirkungsmächtig beschleunigt hat? Die britische Öffentlichkeit hat mit erstauntem Gruseln verfolgt, wie die Regierung Merkel/Gabriel ihr »Europa« dazu eingesetzt hat, Griechenland abzuwirtschaften und zu demütigen, zur Rettung der deutschen und französischen Banken, deklariert als Rettung Griechenlands und der »europäischen Idee«. Sie hat das Spektakel des deutschen flüchtlingspolitischen Alleingangs mehr oder weniger genau verfolgt: die Öffnung der Grenzen zur Schließung der deutschen demografischen Lücke, ausgegeben in Abwesenheit eines Einwanderungsgesetzes als von »Europa« zu übernehmende humanitäre Pflicht »ohne Obergrenzen«, dafür mit festen Kontingenten für alle Mitgliedsstaaten, begleitet von moralischer Verurteilung aller, deren Arbeitsmarkt und Demografie dergleichen nicht hergeben, mit anschließender Wende um 180 Grad, einschließlich EU-Beitrittsperspektive für den Halbdiktator Erdoğan und gerichtlicher Verfolgung eines Kleinkabarettisten im Auftrag »der Kanzlerin«, der im halbstaatlichen Fernsehen geschmacklose Gedichte über diesen verbreitet hatte. Man hätte wissen können, dass es in Großbritannien populäre Instinkte gibt, wonach man einem Club, in dem so etwas möglich ist, besser nicht angehören sollte. So hat denn auch die »Remain«-Partei ihre Position ausschließlich wirtschaftlich begründet und nicht mit Liebe zu irgendeiner »europäischen Idee«. Das britische Denken neigt bekanntlich zur Empirie; »Ideen« beurteilt es danach, wie sie sich im wirklichen Leben bewähren. Dass das »Leave«-Lager trotz nachhaltig angedrohter ökonomischer Nachteile gewann, ist bemerkenswert in einer Welt, in der angeblich nur noch der wirtschaftliche Vorteil zählt, gerade unter Angelsachsen. Wer sich nicht auf diese Weise einfangen ließ, gilt nun ausgerech- net in deutscher Lesart als irrational, wenn nicht denkunfähig. Vielleicht war man es aber nur leid, von einem deutsch geführten Kontinent moralisch belehrt zu werden, etwa wegen der Schließung des Kanaltunnels für illegale Einwanderung? Anders als Deutsche müssen Briten nicht unbedingt geliebt werden; es reicht ihnen, wenn jeder ihre Sprache lernen muss. So konnten sich andere Emotionen und Affekte durchsetzen als die Angst vor einem europäischen Liebesentzug – Emotionen und Affekte, die auch außerhalb Großbritanniens verbreitet, dort aber bis vor Kurzem latent geblieben sind. Freigesetzt werden sie durch die Idolatrie der sogenannten Globalisierung durch »Eliten«, die die »Offenheit« ihrer Gesellschaften für die anstrengenden Schwankungen des Weltmarkts zum gleichermaßen moralischen wie wirtschaftlichen Wertmaßstab erheben. Die kulturelle Geringschätzung der ortsfesten Anhänger lokaler Traditionen durch eine sich kosmopolitisch gebende Ober- und Mittelschicht, die ihr Land und seine Leute nach ihrer »Wettbewerbsfähigkeit« beurteilt, ist in den europäischen Gesellschaften weit verbreitet: Sie ist Teil der ökonomistischen Umwertung aller Werte im Zuge des neoliberal beschleunigten kapitalistischen Fortschritts. W er sich dem widersetzen will, dem steht, infolge des Übergangs des Zeitgeists in das gegnerische Lager, das den Unterschied zwischen solidarischem und Finanzinternationalismus vergessen hat, oft keine andere Sprache zur Verfügung als die der Nation und ihrer guten alten Zeiten. Gebrandmarkt als »Populisten«, die der neuen »Komplexität der Welt« intellektuell nicht gewachsen sind, und semantisch ausgebürgert als »Anti-Europäer« verstecken sie sich in ihren gallischen beziehungsweise walisischen Dörfern – bis eine Wahl oder ein Referendum sie hervorholt, gerne auch ermutigt, in Ermangelung anderer Ermutigungen, von Demagogen oft finsterer Art, und anschließend wortgewaltig als gefährliche Hinterwäldler verurteilt von den Schulzs und Junckers, oder gar als »Pack« von ihren vormaligen Repräsentanten, den Gabriels. Beim Brexit waren sie trotzdem erstmals in einem Land der Europäischen Union mehrheitsfähig, und das könnten sie bald auch woanders sein, und nicht nur einmal. Irgendwann werden dann auch die Vorletzten erkennen, dass die Europäische Union als Zukunftsmodell schon lange Vergangenheit ist (die Letzten, die Betreiber der Brüsseler und Frankfurter Zentralisierungsmaschine, werden es nicht erkennen; das wird dann aber auch nicht mehr nötig sein). Großstaaterei erscheint heute als ein unmodern gewordenes Modernisierungsprojekt, seit sie sich als unfähig erwiesen hat, den Prozess der Weltöffnung so zu moderieren, dass er den unterschiedlichen lokalen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnissen auf einem so diversen Kontinent wie Europa gerecht wird. Das Ende der »sozialen Dimension« der EU in den 1990er Jahren war auch das Ende der EU als Schutzinstanz ihrer Bevölkerungen gegenüber neoliberaler Umstrukturierung und Umerziehung. Inzwischen ist die EU als prospektiver Groß- und Superstaat den neokapitalistischen Fortschrittsbeschleunigern und der deutschen Exportindustrie in die Hände gefallen – mithilfe von nationalen Eliten, denen es egal ist, ob aus Disraelis one nation wieder two nations werden, solange dabei ihr Spielfeld entsprechend ihren Ambitionen größer wird. Vor allem im Mittelmeerraum wirkt die EU, in Gestalt der Währungsunion, als Entmündigungs- und Rationalisierungsmaschine, als Instrument marktwirtschaftlich-ordoliberaler Gleichmacherei, oder versucht es, zurzeit immerhin mit abnehmendem Erfolg. Größe und Vielfalt, und ihr Verhältnis zueinander, sind in Zeiten der Globalisierung die wichtigsten Variablen jeder politischen Architektur, gerade in Europa. Den Schotten – vielleicht Vorreiter einen neuen Modernität, wie sie es schon einmal waren, zu Zeiten der schottischen Moralphilosophen? – war Großbritannien schon lange vor der Brexit-Abstimmung zu groß, weil es ihnen die Freiheit verweigerte, sich auf eigene Rechnung in der globalen Welt einzurichten oder auch nicht. Deshalb sollten diejenigen, die die EU lassen wollen, wie sie ist, sich angesichts schottischer Beitrittsabsichten keine Illusionen machen: Kleine Länder, die gerade einem großen Land ihre Autonomie abgerungen haben – siehe die baltischen Staaten! – wollen sie nicht sofort wieder an der Garderobe eines noch größeren Landes abgeben. Auch Wales, Katalonien, Korsika, das Baskenland werden, wenn sie einmal unabhängig werden sollten, der EU vor allem zur Ausübung und zum Schutz ihrer Autonomie beitreten wollen. Nachdem die EU als Großstaat im Wartestand gescheitert ist, weil sie das Interesse der kleinen Leute an politischer Kontrolle des kapitalistischen Fortschritts nicht einlösen konnte, gehört die Zukunft möglicherweise kleinen, wendigen, zu selbstverantwortlichem Handeln und frei ausgehandelter Kooperation fähigen, nischensuchenden und -füllenden politischen Einheiten. Einen Vorgeschmack könnten die kleinen europäischen Nationalstaaten von heute geben, ob in der EU oder nicht, Dänemark, Schweden, Norwegen, die Schweiz und die Niederlande, Länder, in denen kollektive Güter, kollektive Identitäten und kollektiv gebildeter Wille konkreter, greifbarer und erstreitbarer sind als in einem europäischen Superstaat. Vielleicht war der – von Berlin sofort ausgebremste – Versuch des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Rüttgers, mit seinem Bundesland dem BeneluxVertrag beizutreten, doch nicht so absurd, wie viele damals geglaubt haben? Gibt es einen realistischen Weg zu einem Europa der variablen Geometrie, der selbstbestimmten und flexibel anpassbaren Kooperation zwischen kleinen staatlichen Einheiten, ohne Schulz und Juncker als Paten? Die mit London jetzt auszuhandelnden Ablösungsverträge könn- ten zur Konstruktion einer »EU light« genutzt werden, einer zweiten, atmenden EU unterhalb der Vollmitgliedschaft im Brüsseler ever closer union-Apparat, als Plattform gleichberechtigter lateraler Zusammenarbeit über zwischenstaatliche Verträge und Konventionen, nach einem zur Abwechslung einmal ernst genommenen, der Verwässerung durch die Brüsseler Funktionäre entzogenen Subsidiaritätsprinzip, »autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich« (Fritz Scharpf) zugleich: ohne Europäisches Parlament, das keines ist, ohne Europäischen Gerichtshof als freischöpfender und unkorrigierbarer Verfassungsgesetzgeber, ohne undurchsichtige Gipfelbeschlüsse, ohne öffentliche und geheime Politikauflagen der Europäischen Zentralbank. E in solcher Rahmen könnte auch für viele derzeitige Vollmitglieder attraktiv sein und sollte deshalb als Auffanglager einer geordneten Auswanderung aus der alten, gescheiterten EU allen offenstehen, nicht nur den Briten. »Brüssel« fürchtet das wie der Teufel das Weihwasser – weshalb seine Repräsentanten folgerichtig darauf drängen, den britischen Austritt so schnell wie möglich abzuwickeln, damit zum Nachdenken über eine zweite, zeitgemäße europäische Integration, am besten einschließlich eines flexibel erneuerten Währungssystems, keine Zeit bleibt. Wird die EU, wird die deutsche Führungsmacht die in der britischen Entscheidung liegenden Chancen für eine Umgründung Europas erkennen und nutzen? Die Brüsseler Funktionäre und ihre Anhänger in den Nationalstaaten, nicht zuletzt in der integrationskonformistischen deutschen Öffentlichkeit, wollen ein Exempel statuieren: London abstrafen, wo immer es geht, und damit den Dänen, Niederländern, Ungarn und so weiter zeigen, was eine Harke ist, sodass sie gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen. So soll verhindert werden, dass der britische Austritt die unterdrückte Debatte über die finalité der europäischen Integration – darüber, was eigentlich an deren Ende stehen soll – endlich doch noch zum Ausbruch kommen lässt. Ein Superstaat für alle, ein einheitliches politisch-ökonomisches Regime von Hammerfest bis Agrigent, in dem nach Bekunden stolzer Integrationseuropäer schon jetzt achtzig Prozent der geltenden Gesetze in Brüssel gemacht werden und die Nationalstaaten mit der marktkonformen Pflege ihres kulturellen Erbes zufrieden sein müssen? Wenn diese überfällige Frage nicht so beantwortet wird, wie die neuen Verhältnisse es verlangen, und das ist zu befürchten, wird die Verrottung des zunehmend desintegrierten Europas weitergehen. Die Neubauten sind ins Rutschen geraten, und wenn nicht bald mit ihrer kontrollierten Sprengung begonnen wird, werden sie Europa erschlagen. Wolfgang Streeck ist Soziologe und Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln FEUILLETON 41 D I E Z E I T No 2 8 Fotos (Ausschnitte): Sebastian Boettcher für DIE ZEIT (l.); Chris Ratcliffe/Bloomberg/Getty Images 30. J U N I 2 0 1 6 Der neue Bonapartismus Der Wunsch nach Plebisziten muss nicht demokratisch sein VON ADAM SOBOCZYNSKI wirklich so schlimm? Ja. Die Briten haben die Kontrolle über ihr Land jetzt erst recht verloren VON CHRISTOPH MÖLLERS E uroskeptiker aller Art sehen sich durch den Brexit bestätigt. Ihre Gründe dafür sind freilich nicht nur vielfältig, sondern oft auch widersprüchlich: Für linke wie den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras kommt in der Abstimmung die Niederlage einer auf Austerität und Marktliberalismus getrimmten ungerechten sozialen Ordnung zum Ausdruck. Diese Deutung wirkt allerdings eher paternalistisch, bedenkt man die regulierungsfeindlichen Argumente der Brexit-Befürworter und den harten Sparkurs der frisch wiedergewählten konservativen Mehrheit in Großbritannien. Viele in der Linken möchten trotzdem nicht glauben, dass es demokratische Mehrheiten für eine Sparpolitik gibt, die soziale Ungleichheit befördert. Sie behandeln die Wähler lieber als besinnungslose Opfer falscher Politik. Für rechte Nationalisten ist es schlüssiger, sich über den Brexit zu freuen, aber deswegen auch nicht notwendig stimmig. Denn zu den Ironien des aufkommenden Rechtsnationalismus gehört, dass er sich entgegen Herders Behauptung, die Nation sei ein Individuum, so sorgfältig europäisch koordiniert. Alle Nationen sollen gleichermaßen gegen Europa sein. So frohlockte Nigel Farage nach der Abstimmung, dass dies der Anfang vom Ende der Europäischen Union sei. Warum aber interessiert ihn deren Schicksal noch, nachdem die Briten sie verlassen haben? Die Äußerung zeigt, dass es den rechten EUGegnern im Kern um anderes geht als die EU, nämlich um eine bestimmte Art autoritärer minderheitenfeindlicher Politik, die in ganz Europa verwirklicht werden soll. Die Rechte ist in einem dunklen Sinne zutiefst europäisch. Es gäbe sie auch ohne die EU, die ihr nur Anlass zu politischer Destruktion gibt. Soweit die Europäische Union von politisch konträren Lagern kritisiert wird, ist dies gute und schlechte Nachricht zugleich. Die gute lautet, dass die EU sich hierin als die zentristische Organisation erweist, als die sie von ihren Anhängern gesehen wird. Sie bedient ein legitimes Bedürfnis nach Kompromissen. Die schlechte Nachricht lautet, dass die EU genau deshalb in ganz Europa schnell so zwischen den Lagern zerrieben werden könnte, wie es nun in Großbritannien passiert ist. Denn das Ergebnis von letzter Woche ist weniger den ohnehin europaskeptischen Konservativen zuzurechnen als vielmehr einer lahmen LabourPartei unter dem vom linken Flügel geliebten Daueroppositionellen Jeremy Corbyn. Die europäische Linke wird sich recht bald entscheiden müssen, ob sie die Europäische Union als Agenten des Neoliberalismus verwirft oder ob sie die europäische Regulierungsleistung vom Umweltschutz bis zur Antidiskriminierung ernst nimmt. Dies ist im Moment auch eine zentrale sozialwissenschaftliche Debatte, die traditionell von Linken dominiert wird und von der ungewöhnlich viel abhängen könnte. Denn wenn sich die europäische Linke zu größeren Teilen gegen die EU entscheidet, dürfte dies zu deren mög- lichem Ende beitragen, ohne dass für das eigene politische Projekt viel gewonnen wäre. Eine dritte Lesart europäischer Abstimmung kam traditionell aus der EU-Technokratie, so noch bei den Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden 2005: Es sei dabei, so hörte man damals öfter, gar nicht um die EU, sondern um die jeweilige innenpolitische Befindlichkeit gegangen. Man mag es als Fortschritt nehmen, dass das heute niemand mehr auszusprechen wagt. Allen drei Deutungen unterliegt freilich ein gemeinsamer Denkfehler: Sie unterstellen, dass, wenn sich die Briten von der EU trennen wollen, darin mehr zum Ausdruck kommen muss, als dass EU und Großbritannien aus der legitimen Sicht der Briten nicht zueinanderpassten. Etwa auch, dass entweder die EU politisch gescheitert sei oder die Briten ein falsches politisches Bewusstsein hätten. In der Abstimmung über den Brexit zeigt sich natürlich die dramatisch abnehmende Anziehungskraft der EU. Aber anders als auch viele EU-Freunde annehmen, ist die Ablehnung der Briten eben nicht nur Ausdruck ihrer starken politischen Identität. Die Engländer sind (darin am ehesten den Ukrainern und den Türken vergleichbar) eine Nation an der europäischen Peripherie, die sich nicht darüber einig werden kann, ob sie zu Europa gehört oder nicht. Sie sind, anders als die Schotten, regional unbehaust. Eine Stärke ist das kaum, denn zu einer Kontinentalregion zu gehören wird mehr und mehr zur Bedingung der Möglichkeit außenpolitischer Selbstbestimmung, selbst wenn es Kosten für die innenpolitische Selbstbestimmung hat. Ohne regionales Dach wird man als Mittelmacht schnell zum Gegenstand der Machtpolitik wirklicher Großmächte. Oder wie es die Publizistin und Althistorikerin Mary Beard, einen Slogan der Brexiteers aufgreifend, so schön formulierte: »Es geht nicht darum, Kontrolle zurückzugewinnen, sondern darum, was Kontrolle in einer verfugten Welt noch bedeutet.« W ie sehr diese Frage in der britischen Debatte verdrängt wurde, wird offenbar werden, sollten die Briten, wie Boris Johnson nunmehr leichthin behauptet, einen Status anstreben, der dem Norwegens oder der Schweiz vergleichbar ist. Beides sind Länder, die wesentliche Teile der EU-Regulierung übernehmen, ohne darüber mitbestimmen zu können. Das Projekt der Wiedergewinnung von Souveränität wäre so auf den Kopf gestellt. Das ändert nichts daran, dass das britische Volk gesprochen hat und es vermessen wäre, die Verbindlichkeit der Entscheidung infrage zu stellen. Doch muss man das, was man respektiert, deswegen noch nicht für vorbildlich halten. Schwerlich dient die Abstimmung als Modell für demokratische Verfahren. Zu viele Dinge erscheinen anfechtbar. Neben dem bemerkenswerten Gewicht nachweislich falscher Behauptungen ist es auch der spätfeudale Stil, in dem alte Oberschichtenfreunde ihre persönlichen Konkurren- zen in der nationalen Politik ausleben können. Kann man das wirklich für funktionaler halten als das deutsche Parteiensystem? Vor allem aber irritiert an der Abstimmung der Umstand, dass sich eine so weitreichende Entscheidung mit einfacher Mehrheit treffen ließ. Einfache Mehrheitsentscheidungen beziehen ihre Legitimität daraus, dass sie durch einfache Mehrheiten wieder geändert werden können. Dies ist hier nicht möglich. Trotzdem erkennt man die echten EU-Gegner nun daran, dass sie auf Eile dringen, um das politische Momentum zu nutzen, während eine Figur wie Boris Johnson, die keine eigene politische Überzeugung gegen die EU antrieb, sich erst sortieren muss. Eine informierte demokratische Entscheidung über den Wert der EU könnte auch für Skeptiker erst möglich werden, wenn man beobachten könnte, was nun in und mit Großbritannien geschieht. Unmittelbar nach der Abstimmung scheinen die Briten jedenfalls deutlich weniger beneidenswert zu sein als zuvor. Sie gar zur neuen Avantgarde souveräner Demokratien zu stilisieren, die neben Kanada und Australien steht, erscheint eher abwegig und lässt sich durch das Studium von Atlanten und Geschichtsbüchern einfach widerlegen. Bedeutet dies, so wird nun gefragt, dass die EU so weitermachen kann wie bisher? Nun, auf eine falsche Frage gibt es keine richtige Antwort. Die EU hat sich in den letzten Jahren immens verändert. Sie hat nie so weitergemacht »wie bisher«. Dabei wird niemand behaupten, sie habe die Krisen der letzten Jahre gut bewältigt. Die Bankenregulierung ist schwächer als in den USA, die Schuldenkrise bleibt ungelöst, und für die Migration gibt es kein europäisches Regime. Aber diese Fehler werden durch den Brexit eben auch nicht zwingend größer. Vor allem bleibt es unbefriedigend, wenn sich Kritiker über das Scheitern der EU einig werden, doch gerade nicht darüber, wie eine EU aussehen sollte, die nicht scheitert. Solange die einen eine regulierte Bankenwelt, die anderen den Schutz ihrer heimischen Geldinstitute, die einen den gesamteuropäischen Finanzausgleich, die anderen mitgliedstaatliche Budgetverantwortung, die einen ein humanitäres gesamteuropäisches Flüchtlingsregime, die anderen keine Zuwanderung wollen – so lange ist es witzlos, von einem Problem »der EU« zu sprechen, wo es nur darum geht, die eigenen sachpolitischen Präferenzen, egal ob mit oder ohne EU, durchsetzen zu wollen. Deswegen sollte man sich nicht täuschen lassen, wenn nun Politiker fordern, dass die EU sich ändern müsse – und zwar am besten so, wie sie es jeweils immer schon wollten. Gerade weil die EU aus demokratischen Staaten besteht, wird es keine Änderung geben, solange darüber kein Konsens besteht. Dass dieser fehlt, liegt an den Mitgliedstaaten und ihren Wählerinnen und Wählern: an den Briten, die ihren Finanzplatz vor der Bankenregulierung schützen wollen, oder an den Deutschen, denen ihre moralischen Überzeugungen in der Migrationsfrage wichtiger waren als europäische Einigkeit. Die viel beklagten abgekoppelten Eliten der EU haben dagegen entweder so massiv an politischem Einfluss verloren, dass sie in den Krisen nur noch als privilegierte Zuschauer fungieren, wie die Europäische Kommission, oder sie verdanken ihre mächtige Rolle direkt den Mitgliedstaaten selbst. So ist die Europäische Zentralbank eben das Produkt eines schlechten institutionellen Kompromisses zwischen Deutschland und Frankreich. I n der gleichen Logik konnten es die Briten nach der Osterweiterung der EU gar nicht erwarten, Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten aufzunehmen. Auf erlaubte Übergangsfristen verzichteten sie freiwillig. Dass gerade dieser Migrationsschub – die Flüchtlinge des Jahres 2015 kamen so gut wie gar nicht in Großbritannien an – in der letzten Woche das Hauptmotiv für den Austritt lieferte, ist typisch für die politische Willensschwäche auch vieler anderer Mitgliedstaaten. Es gehört zur demokratischen Selbstbestimmung wie der tägliche Griff zur Scotch-Flasche zur persönlichen Freiheit. Dass die Mitgliedstaaten sich in so vielen wichtigen Fragen nicht einig werden können, ist nicht Schuld der EU, es ist die EU. Darum sollte man schließlich auch denen nicht glauben, die Wert darauf legen, die EU abzulehnen, aber »Europa« zu mögen. Die EU bleibt die unvollkommene politische Form Europas. Dass man mit ihr nicht zufrieden sein kann, ist eines. Etwas anderes ist es, von der Frage des »wie« nahtlos zu der des »ob« überzugehen. Was bringt es, Probleme unbedingt alleine lösen zu wollen, die man alleine gar nicht lösen kann? Christoph Möllers ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin Z u den großen Missverständnissen, die derzeit über den Brexit kursieren, gehört die Behauptung, im Vereinigten Königreich habe sich mit der Volksbefragung etwas ausgesucht Demokratisches abgespielt. Zwar wird der Austritt mit Pathos beklagt, aber das Verfahren selbst, das zu ihm führte, gilt als ehrwürdig, und man verweist mit großer Genugtuung darauf, dass sich jetzt Millionen für ein neuerliches Brexit-Referendum starkmachen – ebenso wie darauf, dass Schottland eine erneute Volksbefragung zur Unabhängigkeit vorbereitet, um der EU erhalten zu bleiben. Es irritiert nicht einmal, dass besonders vehement die sogenannten Populisten, die Autoritären und Verehrer Putins, der AfD oder des Front National, Volksentscheide als das Allheilmittel gegen die repräsentative Demokratie einfordern. Es scheint eben ganz aus dem Bewusstsein gerückt, dass der Wunsch nach Plebisziten keineswegs immer Ausdruck einer demokratischen Gesinnung ist. Häufig genug verhielt es sich genau umgekehrt: Volksbefragungen wurden in der Weimarer Republik von radikalen Kräften gezielt gegen die Demokratie in Stellung gebracht. Volksabstimmungen, woran niemand gern erinnert, prägten auch das »Dritte Reich«. Das Volk durfte sich, vor allem in außenpolitischen Fragen wie dem Austritt aus dem Völkerbund, durchaus eingebunden fühlen. Nach den Kriterien unseres vulgären Demokratieverständnisses könnte man den NS-Staat als Musterstaat der Volksherrschaft ansehen. Die Gegner der Demokratie waren immer gegen den Parlamentarismus, aber nie zwingend gegen Plebiszite. Sie waren gegen Gewaltenteilung, aber im Einklang mit der Mehrheit des Volkes wollten sie sehr wohl regieren. David Cameron hat eine Volksbefragung initiiert, um seine Macht gegen die Euroskeptiker in seinen Reihen auszubauen. Man könnte diesen Vorgang als misslungenen Versuch begreifen, mit bonapartistischen Mitteln oppositionelle Kräfte auszuschalten. Mit der im 19. Jahrhundert populären Strategie, über den Machthaber oder die Außenpolitik beständig Referenden abzuhalten, wurde der Grundstein zum Antiparlamentarismus noch unserer Tage gelegt. Wie wunderbar demokratisch waren doch die Briten, als sie die europäischen Institutionen torpedieren durften! Wie frei, da sie die Arbeit von notorisch unter Filzverdacht stehenden EU-Politikern beschädigen konnten (und nebenbei das Europäische Parlament)! Man erfreut sich insgeheim am Schlag gegen Brüssel wie einst am Niedergang Weimars. Hier die Demokratie, dort die maroden und volksfernen Institutionen mit ihren Verwaltungen. Ganz offenbar muss umständlich daran erinnert werden, dass plebiszitäre Elemente immer demokratische Verfassungsorgane wie etwa das Parlament konterkarieren, dass aber erst der auf zahlreiche Kompromisse setzende Meinungsbildungsprozess durch miteinander konkurrierende Institutionen und erst die Gewaltenteilung dafür sorgen, dass Minderheitspositionen sorgsam gegen Mehrheitswünsche austariert werden. Plebiszite hingegen sind per se kompromissfeindlich: Man ist für ein bestimmtes Anliegen oder eben dagegen. Für den Brexit oder gegen den Brexit. Nicht die Populisten haben diese Wahl gewonnen, das Verfahren selbst war populistisch. Die Erniedrigten sind die jüngeren, proeuropäischen Wähler, die mit einer repräsentativen Demokratie in Zukunft weitaus besser geschützt wären als mit Referenden, in denen die Übermacht der Alten unheilvoll triumphiert. 42 FEUILLETON Nachruf 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Der flüsternde König Foto: Regina Schmeken/SZ Photo/laif Er hatte die Statur eines Herrschers, doch seine Figuren waren Männer ohne Schutz und ohne Reich. Er selbst mag daran gezweifelt haben, aber Götz George war ein großer Schauspieler VON PETER KÜMMEL Götz George (23. Juli 1938 bis 19. Juni 2016) ANZEIGE V ielleicht ist dies schon der Moment, in dem sich die Karriere Götz Georges entschied: 1972, er begegnet Rainer Werner Fassbinder in einem Berliner Spielsalon. Die beiden hatten noch nie zusammengearbeitet, aber ein gemeinsames Projekt lag in der Luft. Fassbinder flippert. George stellt sich neben ihn und spricht ihn auf das Drehbuch an, das Fassbinder ihm geschickt hat. Daran müsse, sagt George, noch einiges geändert werden. Fassbinder antwortet nicht; er spielt weiter, als wäre er taub und blind wie Tommy, das geniale Flipper-Kind aus Pete Townshends Rockoper. George wartet eine Weile und sagt: »Wenn Sie mir nicht antworten, drehen Sie Ihren Scheiß alleine.« Aus. George sah Fassbinder nie wieder. Die Szene ist nachzulesen in Torsten Körners Götz-George-Biografie Mit dem Leben gespielt. War damals schon klar, dass George unser größter Star werden würde, weltberühmt, aber eben nur in Deutschland? Raumbeherrschend, aber vor allem auf dem TV-Schirm? Der junge, das Prädikat »Weltgeltung« eher ruppig streifende deutsche Film und George kamen nicht zueinander, was vielleicht, doch davon später, an Georges Familienhintergrund lag. Populär wurde er in deutschen Heimatfilmen (Wenn der weiße Flieder wieder blüht) und im Karl-May-Kino (Der Schatz im Silbersee) – und durchs Fernsehen. Wenn er Theater spielte, dann, abseits der Regietheaterhöhlen, als Zugpferd von Tourneetheaterproduktionen. Dass er ein großer Schauspieler war, begriff man spätestens, als man ihn als den Massenmörder Haarmann in Romuald Karmakars Der Totmacher (1995) sah. George erfand eine Figur, die recht behaglich im eigenen Überdruck lebte. Dieser Haarmann war das Inbild vitaler Verschlagenheit, vergnügt damit beschäftigt, noch im letzten Verhör Verbündete für eine sonnige Zukunft zu finden; ein Mann, darum bemüht, das eigne Triebleben zu verschleiern und gleichzeitig zu erklären. George war ein sehr körperlicher, zugleich aber ein skeptischer Spieler. Sein Leib war der eines Königs, eines Löwen, aber seine Stimme sandte andere Signale aus: Sie klang überhitzt und unfest, als hielte sie nicht mehr lang, sie war auf grandiose Weise falsch ausgesteuert. Der Text wurde in einem Keuchen, Bellen beiseite gesprochen. Ja, noch das Lauteste wurde diskret beiseite gebrüllt. Schwerer Armdrücker- und Kohlenschaufler-Atem war zu hören, wenn er flüsterte. Mühelos war dieses Spiel nie. Oft hatte man das Gefühl, Götz George sei ein unter Druck stehendes Großventil. Viele Rollen waren zu klein für ihn, jedes Hemd zu eng, eingekreist und umstellt wirkte er – in ernsten Rollen von Tätern und Opfern, in komischen Rollen von liebenden Damen und Genre-Trotteln. Aber man wusste ja, es würde eine nächste Rolle geben, und in der würde er es schaffen, der Enge zu entkommen, allerdings nur in eine übernächste Enge. Immerzu lockerte er sich den Kragen. Man sehe ihn in Helmut Dietls Komödien Schtonk! und Rossini, schon fängt man an, für ihn fremdzuschwitzen. Das Bedrängte war ihm auch privat anzumerken. Der Mann und seine Prominenz fielen klaffend auseinander. George war ein Star, der nur in der Rolle sein Publikum ertrug. Er wollte gesehen werden, aber er wollte nicht dabei sein, wenn es passierte. Er war omnipräsent als Figur, aber unauffindbar als Mensch. Er lieferte seinen Körper der Kamera aus, aber er entzog ihr demonstrativ seinen »wahren« Charakter. Dabei war sein Leben danach ausgerichtet, zu beeindrucken, Aufmerksamkeit zu erregen, anwesend zu sein. Aber Auftritte ohne Rolle bereiteten ihm Pein. Und als er auf dem Sofa von Wetten, dass..? mit Thomas Gottschalk aneinandergeriet (ernsthafter Künstler gegen Hallodri) und vom Publikum ausgebuht wurde, dachte er, seine Karriere sei vorbei. Offenbar war für den Volksschauspieler George jede öffentliche Szene eine Prüfung, bei der herauszukom- men drohte, dass das Volk ihn außerhalb der Rolle gar nicht mochte. So diente ihm die Rolle als Rüstung, die ihm das Volk vom Leib hielt. In ihrem Schutz mischte er sich unter uns. Sein Duisburger Tatort-Kommissar Horst Schimanski ist eine unsterbliche, in Herzensgüte schwimmende Figur, ein heiliger Rohling, welcher die deutsche Gesellschaft mit seiner Courage und seinem Mitgefühl durchaus verändert haben dürfte. Und doch ahnt man, der Erfolg Schimanskis könnte George auch wehgetan haben: Wird da nicht der Falsche geliebt, ein Mann, den es gar nicht gibt und der seinen Urheber doch überstrahlt? Das war das Lebensthema Götz Georges, die Quelle seiner Arbeitswut und der Kern seines Argwohns: Der Mann musste sich seiner Größe immer neu versichern, weil er ihr im tiefsten Inneren selbst nicht traute. Er musste immer wieder um Anerkennung kämpfen, weil er sie von dem nicht bekam, von dem er sie am dringendsten gebraucht hätte: vom Vater. Götz George war der Sohn zweier berühmter Bühnenkünstler, des Schauspielers und Intendanten Heinrich George und der Schauspielerin Berta Drews. Vom Vater hatte Götz George einiges geerbt: die Statur, den Willen zur Größe, die Begabung. Was der Vater seinem Sohn aber vor allem hinterließ, war die Gewissheit, niemals ein so großer Schauspieler werden zu können wie der Alte. Vor knapp drei Jahren, zu seinem eigenen 75. Geburtstag am 23. Juli 2013, machte Götz George seinem Vater ein großes, spätes Geschenk: Der Sohn spielte den Vater. Man sieht, wie ein Sohn sich ein Bild seines Vaters erschafft – indem er ihn darstellt, für ihn einsteht, in seine Fußstapfen tritt. George hieß der Film, er war Götz Georges Verbeugung vor dem Mann, ohne den er seine Karriere weder hätte machen können noch müssen. George war eine Vater-Sohn-Geschichte mit nur einem Protagonisten. Man könnte von einer Übermalung sprechen: Götz George ersetzte das alte Bild vom Vater durch ein neues, mit dem er leben konnte. Er stand nicht nur für das Bild Modell, er malte es auch selbst. D as Bild, das man bis dahin von Heinrich George hatte, war das eines urgewaltigen, breitschädligen, manischen Schauspielers, der sich mit den Nazis arrangierte, im Durchhaltefilm Kolberg eine entscheidende Rolle spielte, dem »Führer« huldigte, im Sportpalast Goebbels bei der Ausrufung des totalen Kriegs zuhörte und nach dem Ende des Krieges in sowjetischer Lagergefangenschaft 52-jährig starb. Hingegen war das Bild, das Götz George nun in Joachim Langs Film von ihm zeichnete, voller Güte. George zeigte seinen Vater als einen Mann, der Macht, Intrige und Terror nur auf der Bühne darzustellen wusste, im realen Leben aber nichts davon verstand: ein reiner Tor der Schauspielkunst, ein Einfältiger aus Überzeugung. Gegen einen solchen Mann, so ist das zu deuten, waren Faschismus und Lager machtlos: Sie konnten ihn töten, aber nicht brechen. Der alte George, vom jungen George im Spiel gerettet: Heinrich George war in diesem Film kein Mittäter, er war nur ein großer, glücklicher Verdränger, der spielen musste, weil er sonst, seinem rasenden Bewegungs- und Geltungstrieb ausgeliefert, vor die Hunde gegangen wäre. Götz Georges Darstellung des Vaters: ein Großkobold mit kehliger Stimme. Alles Schwere wurde durch ein keckerndes Lachen gebrochen, verkleinert, aufgelöst, sodass es erträglich war (es ist in diesem Vater-Lachen ein ähnlich brüchiger, abwiegelnder Ton, wie Götz George ihn im Totmacher hatte). George war ein Kunstwerk des wehmütigen Blicks. Es war der Blick, mit dem – auf der Handlungsebene – der Vater auf den eigenen Sohn und mit dem – auf der Darstellungsebene – der Heinrich-George-Darsteller Götz George auf sich selbst hinab- und zurückblickt: auf das vom Vater unerkannte Kind, das er einst gewesen war. Es ist der liebende Blick des Vaters, den er sich selbst schenkt, ja nachträgt. Und es ist der liebende Blick des Sohnes, den er dem Vater zurückschickt. Man sieht hier etwas sehr Seltenes: eine Liebesgeschichte mit nur einem Hauptdarsteller. Man spürt in George eine große Sehnsucht des Götz George, die nur in der Kunst erfüllt werden konnte: dass nämlich nichts ungesehen blieb. Dass wenigstens eine entscheidende Großaufnahme die Wahrheit über einen Mann zeigt, wenn es schon im echten Leben keinen gibt, der genau hinsah. Abseits des Films gab es zwischen Sohn und Vater noch eine andere Wahrheit. Als der Sohn achtjährig die Nachricht vom Tod seines Vaters hörte, war er, wie er seinem Biografen Torsten Körner sagte, keineswegs nur traurig: »Ich war sogar erst einmal erleichtert, als es hieß, er kommt nicht mehr zurück, weil ich jetzt keine Schläge mehr fürchten musste.« Von dieser Dimension der Beziehung ist im Film George nichts zu spüren. Götz George macht darin dem Vater das Geschenk eines posthumen Freispruchs. Vielleicht erklärt der frühe Verlust des Vaters auch, dass der Sohn so gern »unfeste« Charaktere darstellte: staunende Kinder, die irgendwann im massigen Körper des erwachsenen Mannes erwachen und damit klarkommen müssen. I n der Tat wirkte der erwachsene Götz George selbst dann, wenn er Väter spielte, eher so, als suchte er im eigenen Kind den Kumpan. Und zu seinen besten TV-Szenen gehören die, in denen er es mit orientierungslosen jungen »Überflüssigen« zu tun hatte, mit heimatloser Jugend. Heimatlose Jugend – das war sein Fall. George war auf dauernde Höchstleistung geeicht, weil er den Habitus des Sohnes aus »großer Familie« nie annehmen konnte. Künstlerruhm lässt sich schwer vererben, er wirkt auf den Abkömmling eher als Fluch, und so kämpfte der Sohn darum, den übermächtigen Vater auf dessen eigenem Feld, der unüberwindbaren Körperlichkeit, zu schlagen. Er schaffte es tatsächlich, den Alten in dieser Hinsicht zu übertreffen: indem er seinen eigenen Körper fast selbstzerstörerisch beherrschte. Er ließ sich nicht doubeln, er schluckte, wenn nötig, zwölf rohe Eier, wenn in einer Tatort-Szene Schimanski seinen Kater bekämpfte, er nahm stets den großen Kino-Anlauf, selbst wenn nur eine Sperrholztür aufzubrechen war. Man weiß, wie wohl sich George in der Nähe der Stuntmen fühlte, jener ewig jungen Burschen, die sich Freiheit ohne Text, durch Action bewahren. Und so wurde Götz George in gewisser Weise zum Stuntman seiner selbst. Während im wahren Leben einem Mann Autorität eher durch das Amt oder durch delegierende Grausamkeit zuwächst, suchte George die Autorität des Augenblicks. Es war die Gefahr, das nicht mehr Gespielte, was ihn trieb. Diese Abgrundsneugier führte ihn zu seinen größten Rollen, dem Totmacher, dem Lagerkommandanten Rudolf Höß in Aus einem deutschen Leben, dem Aufsteiger aus Das Schwein – eine deutsche Karriere, ja, die Neugier blitzt dem Betrachter entgegen in jeder Großaufnahme von Georges Gesicht. Wozu, so heißt die Frage zu diesem Gesichtsausdruck, wäre ich in der Lage, wenn ich ein anderer wäre? Oder vielleicht lautet sie auch: Wozu werde ich in einer Stunde in der Lage sein, wenn die Not es gebietet, dass ich ein anderer werde? Dichten heißt, Gerichtstag zu halten über sich selbst, das hat Henrik Ibsen geschrieben. Götz George stellte sich in den Dienst dieses Satzes, aber offenbar fand er, der berühmte Darsteller flüchtender Männer, in seiner Arbeit einen Weg, immer wieder Revision zu erwirken. In den letzten Jahren seines Lebens brauchte er bei diesen Prozessen kein Publikum mehr, er zog sich zurück, und am Ende vermied er jedes Aufsehen. Er starb am 19. Juni in Hamburg, kurz vor seinem 78. Geburtstag. www.zeit.de/audio E s ist noch nicht lange her, da galten Tiere als lebende Automaten; ähnlich wie man Kinder noch bis ins 18. Jahrhundert hinein als sprechende Automaten betrachtete. Auf den Münzeinwurf folgte die entsprechende Warenausgabe – auf Futter die Zutraulichkeit, auf Schläge die Furcht. Man sah die Tiere einem strikten Reiz-Reaktions-Schema unterworfen, das durch ererbte Instinkte vorgegeben war. Selbst Lern- und Kommunikationsverhalten hielt man nur in den engen Grenzen des genetischen Codes für möglich, und dieser Code galt als eine Art unveränderliche Software, mit der das Gerät beziehungsweise Tier schon im Auslieferungszustand beziehungsweise bei der Geburt ausgestattet sei. Insofern erübrigte sich für den naturwissenschaftlich aufgeklärten Menschen alle Einfühlung – alle Fragen nach Gefühlen, Empfindungen und Schmerzen der Tiere. Diese Fragen galten als Kitsch. Niemand, ein paar romantische Spinner ausgenommen, wäre auf die Idee gekommen, von einem Seelenleben der Tiere zu sprechen, wie es jetzt Peter Wohlleben in seinem gleichnamigen Bestseller ganz selbstverständlich tut. Was hat sich da verändert? Wie kommt es zu dem Massenerfolg eines Buches, das allen Nüchternheits- und Wissenschaftlichkeitsgeboten der Moderne widerspricht? Der Erfolg und übrigens auch das Wagnis des Autors sind bei Weitem erstaunlicher als bei dem Vorgängerbuch, ebenfalls einem Bestseller, das von dem Geheimen Leben der Bäume erzählte. Auch dort rückte Peter Wohlleben Naturwesen in die Reichweite menschlicher Einfühlung, aber das war wenig mehr als ein rhetorischer Trick. Die wissenschaftlich gut gesicherten Erkenntnisse über das Kommunizieren von Bäumen untereinander, über Botenstoffe und Selbstorganisation im Pflanzenkollektiv wurden von ihm nur so erzählt, als handele es sich um Subjekte, die ein Bewusstsein ihres Tuns und Seins haben. Die Vermenschlichung – das, was man abfällig Anthropomorphismus nennt – war lediglich ein Sprachgestus. Die Analogien zum Menschen, der ja auch Botschaften austauscht und sich im Kollektiv organisiert, blieben genau dies: bloße Analogien, zum besseren pädagogischen Verständnis. Und natürlich sollte auch Respekt geweckt werden für die Pflanzen, die mehr sind als ein bloßer Rohstoff, viel mehr sogar. Von einem Seelenleben der Tiere zu sprechen, und sei es nur fragend, geht aber weit darüber hinaus. Das ist kein sprachlicher Anthropomorphismus mehr, sondern eine Hypothese mit Anspruch auf Plausibilität, und zwar schon deswegen, weil sich der Mensch mit dem Tier in einer gemeinsamen Evolutionskette befindet – auch er ist ein Tier. Das aber heißt, dass Verhaltensähnlichkeiten keineswegs Analogien sein müssen, es können auch Verhaltensverwandtschaften sein. Ein Tier, das trauert, muss nicht nur für das menschliche Auge zu trauern scheinen – es könnte tatsächlich trauern. Die Einfühlung, die der Naturwissenschaftspositivismus jahrzehntelang für Kitsch, zumindest für trügerisch gehalten hat, könnte durchaus zu Recht versucht werden. Und mehr noch: Sogar die Einfühlung in die Einfühlung des Tieres wäre begründbar – also auch der früher gerne belächelte Satz »Mein Hund spürt, dass ich traurig bin«. Peter Wohlleben ist kein naiver Schwärmer. Er ist studierter Forstwirt, mit drei Jahrzehnten Praxis und entsprechend praktischer Nüchternheit. Er weiß, dass er sich auf ungesichertes Terrain begibt, wenn er den Abstand zwischen Tier und Mensch – den Abgrund funktionalen Missverstehens – solchermaßen verkleinert. Ein typisches Peter Wohlleben: Das Seelenleben der Tiere. Ludwig Verlag, München 2016; 240 S., 19,99 € ANZEIGE FEUILLETON 43 LITERATUR Missverständnis ist beispielsweise, einem Tier emotionale Zuwendung zu unterstellen, das in Wahrheit nur gefüttert werden will. Aber selbst in diesem Falle ist nicht das Tier der Automat, sondern der Mensch ist in der tierischen Perspektive ein Automat. Und nicht alle Verhaltensweisen lassen sich auf diese Art von Berechnung reduzieren. Wohlleben hat viele Beispiele dafür, wie sich die naive Intuition (die als naiv denunzierte Intuition) durch genaue Beobachtung bestätigt – so lassen sich tatsächlich persönliche Freundschaften zwischen Tieren nachweisen. Er hat aber auch ein gutes theoretisches Argument: Der Abstand verkleinert sich von selbst, wenn man ihn nicht als Abstand von Mensch zu Tier, sondern als Abstand von Tier zu Tier sieht, erst recht von Säugetier zu Säugetier. Er verkleinert sich noch einmal, wenn es sich im Falle der Haustiere um eine jahrtausendelange Züchtung zur Menschennähe handelt. Die klassische Verhaltensforschung hat gerade deshalb immer einen Bogen um die Haustiere gemacht: weil in ihnen der Mensch als Züchter immer schon enthalten ist und daher nicht als objektiver Beobachter auftreten kann. Peter Wohlleben geht sogar einen charakteristischen Schritt darüber hinaus. Nicht nur das Haustier ist an den Menschen herangezüchtet worden, der Mensch selbst hat nach Jahrtausenden ein kulturell vermitteltes, vielleicht sogar inzwischen genetisch ererbtes Vorwissen über diese Tiere. Das leicht und flüssig, gleichzeitig unterhaltsam und vorsichtig geschriebene Buch täuscht ein wenig über die wissenschaftliche und theoretische Beschlagenheit des Autors. Man könnte es leicht unterschätzen, wenn nicht die paar Fußnoten, die er hier und da macht, profunde Kenntnis der einschlägigen Forschungen verrieten. Noch weniger sollte man allerdings, trotz des sanften Tons, seine polemische Energie unterschätzen. Wohlleben liebt es, alle erstaunlichen Beobachtungen über die Fähigkeiten, die Intelligenz und Kommunikationsbegabung von Wildtieren stets mit ein und derselben Pointe zu versehen: dass sich diese Fähigkeiten auch bei Schweinen finden lassen. Kolkraben erkennen ihr Spiegelbild? Das tun Schweine auch. Rabenvögel lernen einen persönlichen Namen? Schweine auch. Hier liegt nämlich das moralische Dilemma – und der wahrscheinliche Grund dafür, warum die Moderne so heftig daran interessiert war, Tieren ein Innenleben abzusprechen. Es war die Voraussetzung dafür, sie der industriellen Massenproduktion und deren Grausamkeiten auszuliefern. Automaten konnte man auch der Automatisierung unterwerfen. Und ebenso wahrscheinlich ist, dass die Exzesse dieser Industrialisierung nun den Blick auf den grundlegenden Fehler lenken, der sie erst hat entstehen lassen. Dieser Fehler war, das Tier als das ganz Andere zu denken. Das ist es aber nicht. Peter Wohllebens Buch enthält die indirekte, darum nicht weniger energische Aufforderung an den Menschen, aus seiner herrischen Überlegenheitsposition herauszutreten und sich wieder in die Schöpfung einzusortieren – als Mitgeschöpf unter Geschöpfen. Die Fähigkeit dazu hat der Mensch, es bedarf gar keines moralischen Appells, sie aufzurufen. Sie besteht in der instinktiven Empathie, die jeder spürt, der sich dem Pulsschlag unter einem Fell, dem Zutraulichkeitswiehern eines Pferdes oder auch nur dem Blickkontakt mit einem Schwein aussetzt, den immer wachen, aufmerksamen, forschenden, schön bewimperten Schweinsäuglein. Das Tier ist eine Person, nicht weniger als der Mensch. »Verkauft man nicht fünf Sperlinge für zwei Groschen? Dennoch ist vor Gott nicht einer von ihnen vergessen.« (Lukas 12,4) In der Gegenwart Carolin Emcke wird mit dem Friedenspreis ausgezeichnet Person Schwein Peter Wohlleben hat ein Buch über »Das Seelenleben der Tiere« geschrieben. Kein Kitsch, sondern das Ergebnis seriöser Forschung und langer Beobachtung VON JENS JESSEN Ferkel sind schnell – und schlau wie kaum ein anderes Jungtier Foto: [M] F1online D I E Z E I T No 2 8 SACHBUCH 30. J U N I 2 0 1 6 Als eine Mutter der Reporterin Carolin Emcke in den Straßen von Bukarest ihr Kind entgegenstreckt, zum Verkauf für zehn Dollar, da schüttelt Emcke wortlos den Kopf, darum bemüht, dass der käufliche Junge dies nicht als Geringschätzung seiner Person auffassen möge. Aber später wird die Reporterin über die erbärmliche Wirklichkeit von Bukarest eine Geschichte schreiben, in der sie das moralische Dilemma zur Sprache bringt, unmöglich ein Kind kaufen zu können und dabei doch zu wissen, dass diesem Kind in der Kanalisation oder in den Bordellen von Bukarest weitaus Schlimmeres widerfahren wird, als von einer Berliner Journalistin gekauft zu werden. Carolin Emcke hat aus der Erfahrung und Artikulation dieses Dilemmas einen ihrer einprägsamsten Texte gemacht. Ausgehend von der offenen Wette, dass Worte nicht gleichgültig sind. Nun wird Carolin Emcke für diese Wette ihres Werks mit dem diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Die Publizistin, die von 2007 bis 2014 auch Autorin der ZEIT war und heute eine wöchentliche Kolumne in der Süddeutschen Zeitung schreibt, steht durch die Entscheidung der Jury in einer Reihe mit den Preisträgern der Vorjahre, dem Chinesen Liao Yiwu, der Weißrussin Swetlana Alexijewitsch und dem deutsch-iranischen Schriftsteller Navid Kermani: politischen Intellektuellen, die ihre Sprachkraft einsetzen, um den Verstummten, den Unterdrückten eine Stimme zu geben und dem Ungehörten, dem Unsagbaren einen Ausdruck. Es mag manchen leichtfallen, darüber zu spotten, dass mit diesem Friedenspreis die pure Moral geehrt werde, überhaupt alles Gute und Wahre, ganz prinzipiell. Aber dieser Spott geht ins Leere. Denn Carolin Emcke hat sich ihren Recherchen, ob im Irak, im Kosovo, in Gaza, unter Lebensgefahr ausgesetzt, und was sie in ihren Geschichten aus den verwüsteten Regionen zurückträgt, ist nicht anklagende Eindeutigkeit, sondern Skepsis, Ungewissheit, Mehrdeutigkeit, Ambivalenz. Wenn die Jury ihre Entscheidung nun damit begründet, Emckes Werk beweise »analytische Empathie«, dann würdigt sie die Erkenntnismethode, sich für Schrecknisse zu öffnen, ohne Begriffe, Argumente, Normen und ihre Dilemmata preiszugeben. In Carolin Emcke wird auch eine Philosophin geehrt, die wie Hannah Arendt der Auffassung ist, stumm sei nur die Gewalt; und die wie ihr akademischer Lehrer Jürgen Habermas denkt, dass Sprache den Menschen aus seiner Wehrlosigkeit politisch befreit. Emckes Texte halten die Frage lebendig, ob es gleichgültig ist, wenn Menschen übertönt werden und verstummen, während andere beredt ihre Macht ausüben. In Demokratien kann es niemandem gleichgültig sein: Wer von einer Entscheidung betroffen ist, soll an ihr auch beteiligt sein und gehört werden, anders als durch Gespräch entsteht Gerechtigkeit nicht. Sonst gedeiht Hass. Gegen den Hass heißt Carolin Emckes Buch, das im Herbst erscheint. Pünktlich zur Preisverleihung. E LI SABETH VON THADDE N 44 FEUILLETON 30. J U N I 2016 LITERATUR DAS GEDICHT (für Edith S.) FRIEDERIKE MAYRÖCKER »rosa Pelargonien am Balkon vom D I E Z E I T No 2 8 Den Wind betrachten VOM STAPEL Eine hingetupfte Entdeckung: Der italienische Autor Antonio Tabucchi war auch ein begnadeter Reiseschriftsteller. Seine Notizen von unterwegs staunen über das Unscheinbare VON PETER HAMM Lesen wir nach, worauf Frauen zählen können! Ganz reizend Türrahmen abgeschnitten ich meine das Morgenwind gebläht gelber Sonnenschirm und hingewürfelt des Städtchen’s Wohnungen Schneise im Berg ........ deine Haare = dein Seidenkleid ach Freudenküste v.Kreta die nickenden Malven, 1 Rückenakt, im Morgengrauen eine Schwalbe flog über F PROSA Winken der Blüten beinahe schalkhaft im dein Bett usw.« Bad Ischl, 3.8.14 Friederike Mayröcker: fleurs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016; 150 S., 22,95 € WIR RATEN ZU Tadellos sitzt der Anzug, wenn geschlagene Politiker auftreten. Es gilt für Matteo Renzi, François Hollande oder David Cameron: In edlem Dunkelblau leuchtet die Niederlage. Das mutet sogleich tröstlich an, denn dieses Blau betäubt alle Wehklage-Impulse: Die Mäntel der Geschichte wehen mal hierhin, mal dorthin – aber die Anzüge bleiben. Kontinuität in der Krise: Kleidung kann das vermitteln. Ein Auftritt im T-Shirt hingegen hätte verheerende Folgen für die politische Spitzenklasse, so wie umgekehrt der Aktienkurs von Apple einbrechen würde, sobald der CEO im Dreiteiler vor den Aktionären aufträte. Der Siegeszug des Anzugs begann im bürgerlichen England des 17. und 18. Jahrhunderts, als die neue Klasse der Händler und Unternehmer sich auch optisch vom Rüschenund-Spitzen-Prunk des Adels abgrenzte – die Uniform der Bourgeoisie entstand wie das T-Shirt aus einem Freiheitsbedürfnis heraus. Das erfahren wir aus Anja Meyerroses Buch Herren im Anzug, das den Triumph der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert an diesem Kleidungsstück illustriert. Modebewusste Franzosen hatten naturgemäß mit der gesellschaftlichen Nivellierungstendenz, die der massenhaften Verbreitung des Anzugs innewohnte, ihre Probleme: Tocqueville staunte 1831, dass in Amerika alle ähnliche Kleidung wie in New York trugen, während man in Paris der französischen Provinz modisch Lichtjahre voraus war. Das lag am Geschäftssinn der Amerikaner, die jene billiger in Manufakturen und nicht mehr vom Schneider produzierten Ready-to-wear-Anzüge erfunden hatten. Diese bahnbrechende Innovation wiederum verdankte sich einmal mehr dem Militär: Für den Krieg gegen England 1812 hatten die Amerikaner erstmals Uniformen so produziert – diese Effizienz ließ sich danach zivil profitabel machen. Die Autorin analysiert die Zusammenhänge von Stil und Ökonomie, aber eben auch von Mentalität: Im Deutschen Kaiserreich schaffte es der bürgerliche Anzug nie an die Macht – die Uniform blieb ganz oben in der gesellschaftlichen Hierarchie. Es war also eine britische Erfindung, die diese deutsche Mode glücklich verbannte. ALE X ANDE R CAMMANN Anja Meyerrose: Herren im Anzug. Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert; Böhlau Verlag, Köln 2016; 359 S., 40,– € Antonio Tabucchi: Reisen und andere Reisen. A. d. Ital. v. Karin Fleischanderl; Hanser Verlag, München 2016; 256 S., 19,90 €, als E-Book 15,99 € wohl seine Reiseskizzen auch philosophische Schlenker nicht scheuen und er selbst sie als »metaphorische Umsegelung meiner selbst« charakterisiert, kommen sie stets ganz leicht daher, wie hingetupft, und wenn sie dem Leser außer Staunen – »Staunen, die beste Eigenschaft des Reisenden« – noch etwas nahelegen, dann die Entdeckung der Leichtigkeit. Und der Langsamkeit. Tabucchi lässt Ländern, Städten, Dingen und Menschen ihr Geheimnis, er will sie nicht bis ins Innerste ergründen. Nicht das Auffällige, sondern das Unscheinbare und das Verborgene zieht ihn an, das sich oft eher an den Peripherien als in den Zentren findet. In Pisa ist es also nicht der Schiefe Turm, sondern ein verwitterter Palazzo, in dem der Dichter Giacomo Leopardi ein Jahr lang lebte und den »Kokon der Depression durchbrach«. In Paris ist es das kleine Delacroix-Museum an der Place de Furstenberg oder der Axolotl im Jardin des Plantes, »den Julio Cortázar so oft besuchte, bis er glaubte, selbst ein Axolotl zu sein«. In Kairo sucht Tabucchi das Lieblingscafé von Nagib Mahfus, in Kyoto das Grab von Tanizaki, dessen Schrift Lob des Schattens zum Geheimnis Japans führt. Orte wie Buenos Aires oder Dublin werden ihm, durch Borges und Joyce, zu »metaphysischen Städten«. Ins Baskenland aber reist er, »um den Wind zu betrachten«. Immer wieder bricht bei Tabucchi die Lust am Kulinarischen durch. So empfiehlt er nach einem Besuch des Escorial mit seinen Bilderschätzen von Tizian, Veronese und Velázquez den Genuss der köstlichen callos (Kutteln) in einem Lokal der Umgebung. Manchmal setzt es auch Seitenhiebe, etwa wenn er an Hannah Arendts Grab in New York räsoniert: »Als junges Mädchen verliebte sie sich leider in Martin Heidegger, den Schwarzwaldphilosophen.« Ganz schlecht kommen bei ihm jene Reisenden weg, die noch nie die Uffizien oder den Prado gesehen haben, aber die Seychellen oder die Komoren kennen, wobei diese Kenntnis nicht weit reichen kann. »Bei der Rückkehr«, so Tabucchi, »steht nichts in ihrem Gesicht. (...) Sie sind lediglich von der Sonne gebräunt. Das hätten sie auch erreicht, wenn sie auf ihrer Terrasse geblieben wären.« (So spricht der sonnenverwöhnte Italiener.) Erwartungsgemäß sind die PortugalPassagen besonders con amore geschrieben, was schon ihr Obertitel Oh Portugal! durch sein Ausrufezeichen ankündigt. Tabucchi lädt uns da zu einem Besuch von Pessoas Lieblingscafés ein oder führt uns in die verborgene Rua de Saudade in Lissabons Altstadt Alfama, auch nimmt er uns mit auf Ausflüge ins Alentejo oder ins nördliche Minho. Apropos saudade: Jahrelang habe ich vergeblich nach einer deutschen Entsprechung dieses Begriffs gesucht, der wie kein anderer das portugiesische Lebensgefühl bezeichnet. Jetzt kann ich feststellen, dass Tabucchi auch im Italienischen kein Äquivalent dafür fand. Also übersetze ich saudade weiterhin mit dem wunderbaren deutschen Wort Unglückseligkeit. E Wissen: Andreas Sentker (verantwortlich), Dr. Harro Albrecht, Dr. Ulrich Bahnsen, Fritz Habekuß, Stefanie Kara, Stefan Schmitt, Ulrich Schnabel, Jan Schweitzer, Martin Spiewak, Burk hard Straßmann, Urs Willmann Junge Leser: Katrin Hörnlein (verantwortlich), Judith Scholter Gründungsverleger 1946–1995: Feuilleton: Iris Radisch/Dr. Adam Soboczynski (verantwortGerd Bucerius † lich), Dr. Thomas Ass heuer, Alexander Cammann, Jens Jessen, Herausgeber: Peter Kümmel, Christine Lemke-Matwey, Ijoma Mangold Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002) (Literatur; verantwortlich), Katja Nico de mus, Nina Pauer, Helmut Schmidt (1918–2015) Dr. Hanno Rauterberg, Marie Schmidt, Dr. Elisabeth von Dr. Josef Joffe Thadden (Politisches Buch), Tobias Timm Kulturreporter: Dr. Susanne Mayer (Sachbuch), Chefredakteur: Dr. Christof Siemes, Moritz von Uslar (Autor) Giovanni di Lorenzo Glauben & Zweifeln: Evelyn Finger (verantwortlich) Stellvertretende Chefredakteure: Z – Zeit zum Entdecken: Anita Blasberg/Dorothée Stöbener Moritz Müller-Wirth (verantwortlich), Malin Schulz (Creative Director); Sabine Rückert Michael Allmaier, Karin Ceballos Betancur, Felix Dachsel, Bernd Ulrich Stefanie Flamm, Johannes Gernert, Alard von Kittlitz, Elke Michel, Merten Worthmann; Chef vom Dienst: Besondere Aufgaben: Jutta Hoffritz Iris Mainka (verantwortlich), Chancen: Manuel J. Hartung (verantwortlich), Anant Agarwala, Dr. Wolfgang Lechner, Mark Spörrle Rudi Novotny, Jeannette Otto, Arnfrid Schenk, Leonie Seifert Chefreporter: Dr. Stefan Willeke Bildungspolitischer Korrespondent: Thomas Kerstan Textchefin: Anna von Münchhausen ZEITmagazin: Christoph Amend (Chefredakteur), Geschäftsführender Redakteur: Patrik Schwarz Matthias Kalle (Stellv. 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Heuser (verantwortlich), Dr. Thomas Groß, Nina Grunen berg, Klaus Harpprecht, MarieGötz Hamann (Koordination Unternehmen), Roman Pletter Luise Hauch-Fleck, Wilfried Herz, Dr. Gunter Hofmann, Gerhard (Koordination Weltwirtschaft), Jana Gioia Baurmann, Jörder, Rüdiger Jungbluth, Dr. Petra Kipphoff, Erwin Koch, Dr. Claus Hecking, Dietmar H. Lamparter, Caterina Lobenstein, Ursula März, Dr. Werner A. Perger, Roberto Saviano, Chris tian Gunhild Lütge, Felix Rohrbeck, Marcus Rohwetter, Dr. Kolja Schmidt- Häuer, Dr. Hans Schuh-Tschan, Jana Simon, Rudzio, Claas Tatje, Christian Tenbrock Dr. Theo Sommer, Jens Tönnesmann, Dr. Volker Ullrich hatten. Hitler-Gegner und SS-Generäle, nahezu alles wurde, so gut es ging, zusammengefügt – in der stillen Hoffnung, das historische Verdienst und die Standhaftigkeit von 1933 würden ohnehin anerkannt. Es kam anders. Zwei Seelen, ach: Die Sozialdemokraten wollten Repräsentanten eines »anderen Deutschland« sein und überboten sich doch an Empathie für die Mitläufer. Über Jahrzehnte wurde daraus ein atemberaubender Slalomlauf, vor allem die Geschichte einer gewaltigen Zurückhaltung gegenüber den Mehrheitsdeutschen, auch den 19 Millionen ehemaligen Soldaten wie Helmut Schmidt. Auf dem Weg über die große Koalition mit Kurt Georg Kiesinger, dem Mitläufer ausgerechnet, mündet diese Strategie zunächst im Machtwechsel 1969, also immerhin in der Kanzlerschaft des Exilanten Willy Brandt und seinem Kniefall in Warschau. Insbesondere Brandt gerät der Autorin in all seinen Ambivalenzen, Verbiegungen, aber doch auch mit seiner Klarheit in entscheidenden Momenten zur Verkörperung des sozialdemokratischen Wegs zwischen dem Lernen aus der Geschichte, dem Lehren und dem Zuhören. Gleichsam als ein »Buch im Buch« erzählt Kristina Meyer die Geschichte der Verfolgten, die sich in einer Arbeitsge- Berater der Art-Direktion: Mirko Borsche Art-Direktion: Malin Schulz (verantwortlich), Haika Hinze (Sonderprojekte), Jan Kny Gestaltung: Klaus-D. Sieling (Koordination), Julika Altmann, Mirko Bosse, Martin Burgdorff, Mechthild Fortmann, Sina Giesecke, Katrin Guddat, Lydia Sperber, Annett Osterwold, Jan-Peter Thiemann, Delia Wilms Infografik: Gisela Breuer, Nora Coenenberg, Anne Gerdes, Jelka Lerche, Matthias Schütte Bildredaktion: Ellen Dietrich (verantwortlich), Nico Baldauf, Melanie Böge, Florian Fritzsche, Navina Reus, Jutta Schein, Vera Tammen, Peter Unterthurner, Edith Wagner Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich), Davina Domanski, Dorothee Schöndorf, Dr. Kerstin Wilhelms Korrektorat: Thomas Worthmann (verantwortlich), Astrid Froese, Volker Hummel, Christoph Kirchner, Anke Latza, Irina Mamula, Ursula Nestler, Antje Poeschmann, Maren Preiß, Karen Schmidt, Matthias Sommer, Oliver Voß Hauptstadtredaktion: Marc Brost/Tina Hildebrandt (verantwortlich), Peter Dausend, Christoph Dieckmann (Autor), Martin Klingst (Politischer Korrespondent), Mariam Lau, Petra Pinzler, Dr. Thomas E. Schmidt (Kulturkorres pondent), Michael Thumann (Außenpolitischer Korrespondent) Reporterin: Elisabeth Niejahr Wirtschaftspolitischer Korrespondent: Mark Schieritz Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin, Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 40 Investigative Recherche/Recht & Unrecht: Stephan Lebert (verantwortlich), Anne Kunze, Daniel Müller, Yassin Musharbash Autoren: Christian Fuchs, Hans Werner Kilz Hamburg-Redaktion: Moritz Müller-Wirth (kommissarisch verantwortl.), Charlotte Parnack, Frank Drieschner, Hanna Grabbe, Daniel Haas, Oliver Hollenstein, Sebastian Kempkens, Kilian Trotier, Marc Widmann Frankfurter Redaktion: Arne Storn, Eschersheimer Landstraße 50, 60322 Frankfurt a. M., Tel.: 069/24 24 49 62, Fax: 069/24 24 49 63, E-Mail: [email protected] Dresdner Redaktion: Stefan Schirmer, Martin Machowecz, Ostra-Allee 18, 01067 Dresden, Tel.: 0351/48 64 24 05, E-Mail: [email protected] Europa-Redaktion: Matthias Krupa, Residence Palace, Rue de la Loi 155, 1040 Brüssel, Tel.: 0032-2/230 30 82, Fax: 0032-2/230 64 98, E-Mail: [email protected] Pariser Redaktion: Blume News Group GmbH, 17, rue Bleue, 75009 Paris, Tel.: 0033-173 71 21 95, E-Mail: [email protected] Audrey Vernon: Geld spielt keine Rolex. Aus dem Französischen von Susanne Reinker; Piper Verlag, München 2016; 96 S., 8,99 € meinschaft (AvS) organisieren und kläglich in den Schatten gedrängt werden. Bis in die Verästelungen hinein – die Verjährungsdebatten, Brandts Blumen für Albert Speer, der ewige Streit um den 20. Juli – wird hier das innere Drama der Republik aufgezeichnet: Die Politik balanciert zwischen verblüffend frühen Normalisierungswünschen und der Anstrengung, sich selbst und unsereins mit dem Unverstehbaren zu konfrontieren, mit Auschwitz. Manchmal, man spürt es zwischen den Zeilen, hätte Kristina Meyer den Sozialdemokraten in diesen 45 Jahren mehr Mut gewünscht, man kann es verstehen. Fair, auch gegenüber Helmut Kohl (und durchaus zutreffend über Ernst Nolte), differenziert, vielfach überraschend, frei von Schablonen, locker und luzide, ist Kristina Meyers Buch eine andere, auf ihre Weise faszinierende Geschichte der Republik geworden. Die Absurdität, dass ausgerechnet die Hitler-Gegner sich so lange rechtfertigen mussten, lässt sich nun historisieren. Reverenz! Kristina Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945–1990. Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; hrsg. von Norbert Frei; Band 18; Wallstein, Göttingen 2015; 549 S., 42,– €, als E-Book 33,99 € Hier lesen Sie im Wechsel die Kolumnen von Alexander Cammann über Hörbücher, von Tobias Gohlis über Kriminal- und von Ursula März über Unterhaltungsliteratur sowie von Franz Schuh über Taschenbücher Der Historikerin Kristina Meyer ist mit ihrem Buch über die SPD eine andere Geschichte der Bundesrepublik gelungen VON GUNTER HOFMANN ndlich wird diese rote Linie, die quer durch die Geschichte der Bundesrepublik verläuft, genau inspiziert: die Sozialdemokraten und ihr Verhältnis zur NS-Vergangenheit. Alles kommt in der Studie der Historikerin Kristina Meyer vorbehaltlos unter die Lupe. Ihr gelingt es, nachvollziehbar zu machen, wie die Bundesrepublik über 45 Jahre hinweg nach sich selbst suchte. Ob die Kollektivschuld-These, das Bild des Widerstands gegen Hitler als »Landesverrat«, Willy Brandts Ostpolitik, die Kontroverse um Bitburg oder der Historikerstreit – nichts war so konstitutiv für unsere Identität wie der Umgang mit dem Zivilisationsbruch seit 1933. Erst Kristina Meyers Konzentration auf die inneren Anpassungen, die Widersprüche, auf die pragmatischen und auch aufklärerischen Beiträge der Partei zum Lernprozess erklärt, weshalb die SPD in der bundesdeutschen Geschichte der Jahre von 1945 bis 1990 eine Schlüsselrolle innehatte. In keiner anderen westdeutschen Partei waren so viele Gegner des Regimes so aktiv, die SPD war damit »alles andere als repräsentativ für die deutsche Nachkriegsgesellschaft«. Sie konnte aber keine Partei der Remigranten und Verfolgten sein, wenn sie an der Macht im Staat teilhaben und um Unterstützung auch jener 7,5 Millionen Wähler werben wollte, die der NSDAP angehört oder sie mitgetragen Was spricht eigentlich dagegen, dass eine Frau ihre sogenannten weiblichen Reize einsetzt, wenn sie etwas erreichen möchte? Rabatt beim Autohändler, Einser-Examen, Pöstchen als Vorstandssprecherin etc. Das Einsetzen weiblicher Reize als Mittel der Vorteilsbeschaffung und der Karrierebeschleunigung gilt als unemanzipiert, eine Frau, die das Mittel anwendet, als unterbelichtet (wenn sie was im Kopf hätte, müsste sie ja nicht mit dem Hintern wackeln) und als unterwürfig (wenn sie Persönlichkeit besäße, müsste sie sich nicht auf ihr erotisches Potenzial reduzieren). Diese Logik hat allerdings einen puritanisch blinden Fleck. Nach dieser Logik werden weibliche Reize vom Rest der Frau gleichsam isoliert. Niemand stört sich daran, dass eine Frau, die beim Chef um ihre Beförderung ringt, die komplette Schokoladenseite ihrer Person präsentiert: Intelligenz, Berufserfahrung, Autorität, soziale Kompetenz, rhetorisches Vermögen, gute Manieren. Wenn nun aber die sogenannten weiblichen Reize nicht zu den präsentationswürdigen Merkmalen der weiblichen Person zählen, wozu zählen sie dann? Wahrscheinlich sollte man die Frage heute sowieso anders stellen: Was spricht dagegen, dass Männer ihre männlichen Reize einsetzen, wenn sie etwas erreichen wollen? War es nicht ein Vergnügen, wie Alexis Tsipras die deutsche Bundeskanzlerin bezirzte, um ihr ein paar Milliarden aus dem Rücken zu leiern? Niemand nahm es dem knackigen Griechen übel. Niemand hielt ihn wegen seiner bengelhaften Charmeoffensive für unemanzipiert oder unterbelichtet. Er wurde bewundert. Und warum? Weil männliche Reize offensichtlich als selbstverständlicher Bestandteil der männlichen Persönlichkeit gelten. Tja, so sieht es aus, das Kleingedruckte der Geschlechterungleichheit. Einen noch schlechteren Ruf als das Einsetzen weiblicher Reize genießt lediglich die weibliche Partnersuche mit scharfem Blick auf den Kontostand potenzieller Kandidaten. Die blitzgescheite französische Komödiantin Audrey Vernon, nach eigener Aussage überzeugte Marxistin, zerlegt das Tabu der Geldheirat nach allen Regeln subversiver Argumentation: Wenn Geld die wichtigste Sache der Welt ist (was sich in Zeiten des globalen Kapitalismus nicht bestreiten lässt), dann gilt das ja wohl auch für die wichtigste Entscheidung des Lebens, oder? Ihre Botschaft an Frauen: Vergesst den romantischen Blödsinn! Studiert die Forbes-Liste! Vernons Buch, das aus einem Bühnenprogramm hervorging, liest sich in drei vergnüglichen Stunden. Man erfährt viel über die Forbes-Liste (weltweit gibt es 1826 Milliardäre, in Deutschland immerhin 103) und empfindet als Wohltat: Es gibt weibliche Marxisten mit unverschämtem Humor. U RSU L A MÄRZ Verfolgt und voller Verständnis POLITISCHES BUCH Mächtig angezogen ernando Pessoa sah im Reisen keinerlei Sinn und ging selbst nie auf Reisen. Im Buch der Unruhe ließ er sein Alter Ego, den Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, erklären: »Nur äußerste Schwäche der Einbildungskraft rechtfertigt, dass man den Ort wechseln muss, um zu fühlen. (...) Existieren ist reisen genug.« Der 2012 gestorbene italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi galt als bester Pessoa-Kenner außerhalb Portugals. Das Elementarerlebnis Pessoa hatte ihn zu einem Wahlportugiesen gemacht, der eine portugiesische Pessoa-Forscherin heiratete, Lusitanistik lehrte und viele seiner Bücher in Portugal spielen ließ, so den (vor allem durch die Verfilmung) berühmt gewordenen, 1994 erschienenen Roman Erklärt Pereira, eine wehmütig witzige Studie des Salazar-Faschismus. Von Pessoas Reise-Skepsis ließ sich Tabucchi indes nicht anstecken, unentwegt war er in der Welt unterwegs, wobei seine Reisen ebenso in weite Fernen führten (unter anderem nach Mexiko, Indien, Australien, Brasilien oder in die USA) wie in die nächste Nähe seines Heimatortes Vecchiano bei Pisa. Gern geriet ihm auch die Lektüre eines Buches zur Reise, wie umgekehrt jede seiner Reisen literarische Assoziationen weckte. Als Reiseschriftsteller sah sich Tabucchi freilich nicht: »Ich habe nie Reisen unternommen, um darüber zu schreiben, das habe ich immer für dumm erachtet. Als würde man sich verlieben wollen, um ein Buch über die Liebe zu schreiben.« Der Sinn der Reise war für ihn die Reise, »wie der Sinn des Lebens das Leben ist«. 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Jungclaussen, Lon don, Tel.: 0044-2073/51 63 23, E-Mail: [email protected]; Reiner Luyken, Achiltibuie by Ullapool, Tel.: 0044-7802/50 04 97, E-Mail: [email protected] ZEIT Online GmbH: Chefredaktion: Jochen Wegner (Chefredakteur), Maria Exner (Stellv. Chef redakteurin), Markus Horeld (Stellv. Chefredakteur), Martin Kotynek (Stellv. Chefredakteur), Christoph Dowe (Geschäftsf. 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In Berlin und in München schaffen zwei Opern Raum für das mündige Publikum VON CHRISTINE LEMKE- MAT WEY Der Niederösterreicher Manfred Deix malte das dumpf-glückliche Kleinbürgertum in seiner nimmermüden, niederträchtigen Pracht VON GEORG SEESSLEN W äre die Oper ein klingendes Welttheater und die luxuriöseste aller Nussschalen für die Sorgen der Gesellschaft, man könnte ein kleines Gedankenspiel wagen: So wie die Bürger Europas gerade nach mehr Demokratie rufen, weil sie sich von ihren Regierungen vernachlässigt, ja betrogen fühlen, so möchte sich das Opernpublikum, das die Musik liebt und mit der Regie in der Regel hadert, wieder mehr zu den Werken, den Partituren selbst in Beziehung setzen. Es will, in digitalen Welten geschult, sein eigener Regisseur sein, sein eigener Dirigent, es will (natürlich im übertragenen Sinn) selber singen, und das bedeutet: Die Zeit der überhöhten Lesarten und handgreiflichen ästhetischen Erziehungsmaßnahmen, so lehrreich und vital sie war, ist unwiderruflich vorbei. Kein Regietheater mehr, kein Hohelied der Werktreue. Und das ist nicht die schlechteste der gegenwärtigen Nachrichten. Die Regisseure jedenfalls reagieren darauf. Zu besichtigen ist diese Entwicklung nun an zwei Werken, die passgenauer zur Weltlage nicht hätten ausgewählt werden können: Die Deutsche Oper Berlin bringt Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail heraus (keine leichte Aufgabe an einem solchen Riesenhaus), und die Bayerische Staatsoper rehabilitiert zur Eröffnung ihrer diesjährigen Opernfestspiele Jacques Fromental Halévys La Juive – überfälligerweise, wie es heißt. Denn die Grand Opéra eines jüdischen Komponisten über ein jüdisches Thema verschwand auch in München mit dem Jahr 1933 nachhaltig vom Spielplan. Fast gruselt es einen, wie willig sich beide Stücke auf unsere Gegenwart einlassen, auf jeden erdenklichen Ismus, und zwar ganz konkret, auf Nationalismus, Populismus und religiösen Fanatismus, auf das Eigene und das Fremde und den Verlust von Identität, auf globalen Terror, sexuelle Ausbeutung und Gewalt. Nicht wir lesen Mozart oder Halévy (den weithin unbekannten Lehrer Charles Gounods, Camille Saint-Saëns’ und Georges Bizets). Sie lesen uns. Und zwar mit Argusaugen und -ohren, falls es Letztere in der Mythologie geben sollte. Gespenstisch. Ist die gesellschaftliche Regression, fragt man sich, so weit fortgeschritten, dass uns der Exotismus eines fiktiven »Mohrenlands« Mitte des 17. Jahrhunderts, in dem die Entführung spielt, plötzlich wenig exotisch vorkommt – und die archaischen Zustände anno 1414 im Umfeld des Konstanzer Konzils, von denen die Jüdin handelt, regelrecht vertraut scheinen? Bis vor Kurzem noch konnte Halévy als Historienschinken-Compositeur abgetan werden und der frühe Mozart als göttliches Spielkind. Glaubt man den aktuellen Premieren in München und in Berlin, geht das jetzt nicht mehr so leicht. Oder haben wir es hier bloß mit der Binsenweisheit zu tun, dass große Kunst immer das Ganze will, und mal lässt sich eben dieses aus ihr herauslesen und mal jenes? »Gott ist in allem« projiziert der spanische Regisseur Calixto Bieito in München auf die Metallmauer, die die ansonsten kahle Bühne des Nationaltheaters beherrscht, mehr pantheistisch-katholische Drohung als humanistisches Versprechen. »Kunst und Musik sind in allem«, möchte man dagegenhalten, ist sich plötzlich aber nicht mehr sicher, ob das so stimmt, ja ob es jemals richtig war. Die beiden Aufführungen jedenfalls raten nicht dazu, es sich in seinem rezeptionsästhetischen Sessel hübsch bequem zu machen. Sie rufen dazu auf, das Gesungene wenn schon nicht seiner Bedeutung nach ernst zu nehmen, dann doch wenigstens auf die eigene Person zu beziehen. Und zwar radikal. Mozarts »Entführung aus dem Serail« propagiert die Autorität des Edelmuts Ein halbes Jahrhundert trennt die Entführung aus dem Serail (1782) und La Juive (1835). Dazwischen liegen mindestens zwei Revolutionen und die sich vor allem mit Mozart Bahn brechende Erkenntnis, dass die Oper mehr zu bieten hat als die formal geregelte Befriedigung repräsentativer Gelüste – nämlich auch Psychologie, Subversivität und eine Sprache für das Unsagbare. Beide Stücke arbeiten sich am Topos der herrscherlichen Milde ab und schließen mit einem sogenannten Gnadenakt. In der Entführung verzichtet der Muslim (und christliche Renegat) Bassa Selim just in dem Moment auf seine erotischen Ansprüche gegenüber der jungen Spanierin Konstanze, die er gefangen hält, als diese zu fliehen versucht. Seine Begründung: Es sei »ein weit größer Vergnügen, eine erlittene Ungerechtigkeit durch Wohltaten zu vergelten, als Laster mit Laster zu tilgen«. Autoritärer kann Edelmut kaum daherkommen. Besäßen Recep Erdoğan oder Wladimir Putin nur ein Quäntchen davon, man schliefe ruhiger in diesen Tagen. In der Jüdin ist die Sache vertrackter, wer dächte bei dieser kruden Fabel nicht an Verdis Trovatore: Zweimal wird der jüdische Gold- schmied Éléazar begnadigt und vom sicheren Tod zurück ins Leben gestellt, zweimal hat er dafür nur Hass und Hohn übrig. Zuletzt rächt er sich an seinem Erzfeind, dem mächtigen Kardinal Brogni, indem er diesem just dann verrät, dass Rachel seine totgeglaubte Tochter ist (und nicht etwa seine, Éléazars, eigene, woran auch das Publikum fast bis zum Schluss glaubt), als diese für ihre Liebe zu einem verheirateten Christen bereits im Fegefeuer schmort. Wäre sie nicht so hirnrissig kompliziert, Oper könnte richtig Spaß machen. Lohnt es sich eigentlich, einen Schmachtfetzen wie diesen zu exhumieren, was seit rund 15 Jahren immer mal wieder versucht wird, ohne durchschlagenden Erfolg? Dramaturgisch gehen Halévy und sein Librettist, der legendäre Eugène Scribe, eher umständlich zu Werke, die Konflikte entspinnen sich in langen Fäden, gestorben wird mit Ansage und über mehrere Akte hinweg. Ausgerechnet im sich zuspitzenden zweiten Teil weist das Ganze Längen auf, der beherzten Münchner Strichfassung zum Trotz, die neben sämtlichen Balletteinlagen vor allem die 79 (!) Partiturseiten lange Ouvertüre tilgt. In Halévys »La Juive« steht kathedralisches Pathos neben Leierkasten-Schrummtata Auch musikalisch vermag die Jüdin – entgegen allen Lobhudeleien seitens Wagners, Liszts, Mahlers oder Pfitzners – nicht letztgültig zu überzeugen: Den Melodien fehlt der geniale Ohrwurmfunke eines Verdi oder Donizetti, der Drive gründet sich hauptsächlich auf das ermüdliche Leierkasten-Schrummtata im Graben, kathedralisches Orgel-Pathos steht staunend neben operettenhafter Behändigkeit, und so reiht sich Arie an Duett an Arie an Ensemble an Arie. La Juive ist zweifellos mehr historische Fundgrube und Inspirationsquelle als selbst ein Werk für die Ewigkeit, was in der Musikgeschichte gar nicht so selten vorkommt. Nichts wäre nun leichter gewesen, als den Glaubenskrieg à la Halévy/Scribe und Mozarts Türkenzauber szenisch plattestmöglich zu aktualisieren. Vom IS-Terror bis Erdoğan, von Putin über Trump und den dräuenden Exitus der EU (Konstanzes Zofe Blonde ist Engländerin!) sind der »Fantasie« sicher keine Grenzen gesetzt. Dass das gleich zweimal nicht passiert, ist löblich, klug. Bei Halévy in München dominieren finstere Tableaus, und außer dass eingangs ein paar süße Kinderlein kurz zwangsgetauft, watergeboardet und sonst wie missbraucht werden und der Chor bisweilen in mystischen Zuckungen verharrt, passiert nicht viel. Als habe sich Bieito, der Abonnenten-Schreck, den Schneid abkaufen lassen, vom Opernfestspieleröffnungsbrimborium, vom Lärm der Musik (die Bertrand de Billy am Pult des Bayerischen Staatsorchesters nicht recht zu zügeln weiß), wovon auch immer. Während sich Aleksandra Kurzaks Rachel zu großen, teils betörenden Momenten aufschwingt, singt Roberto Alagna als Éléazar jedenfalls standhaft im Dauermezzoforte. Sehr eindrücklich: VeraLotte Böcker, die Rachels Rivalin Eudoxie mit sirenenhaften Koloraturen kurzerhand zur Blutsschwester Lucias di Lammermoor ernennt. Oper as usual. Ganz ähnlich verhält es sich an der Deutschen Oper Berlin eine Woche zuvor. Zwar ist hier deutlich mehr los, die Männer düsen in einem Testosteron-Geschoss auf vier Rädern umher (oben Manta, unten Bulldozer), Konstanze und Blondchen werden per fliegender Untertasse entführt, Bassa Selim ist nicht nur weiblich, sondern obendrein Lesbe und eine virtuose Crystal-MethKöchin, und die »Haremsmäuse« zeigen sich kollektiv splitterfasernackt, wie einer PlayboyKampagne für die Durchschnittsfrau entsprungen. Von einem Skandal-Theatermacher wie dem Argentinier Rodrigo García allerdings, Jahrgang 1964, der künstlerisch in Paris-Saint-Denis sozialisiert wurde und auf der Bühne lebende Hummer zu exekutieren pflegt oder die blutenden Wunden Christi mit Geldscheinen versorgt, hätte man mehr erwartet als derart halbherzige Bebilderungen. Mehr als ein bisschen projiziertes Gerammel im Zeitraffer, wo es doch hier und jetzt um ganz andere Dinge gehen müsste als um die Zurschaustellung des blanken Nichts. Vielleicht ist aber genau das die Provokation (die gedankliche Blässe der Münchner BieitoInszenierung würde diese These stützen): Uns schaut hier das nach allen Regeln der Kunst ausgelaugte und ausgesaugte, nackt gemachte, bloßgestellte Werk an. Klassiker des Repertoires wie Mozarts Entführung aus dem Serail oder Randständiges wie Halévys La Juive mögen von ihren Titeln her noch Hallräume erzeugen und Reflexe wecken – in der Realisierung haben sie nichts anderes zu bieten als eine überlebensgroße, exemplarische Leere. Diese zu füllen und als alte neue Heimat zu begreifen könnte in Zukunft die Aufgabe eines mündigen, wissenden, liebenden Publikums sein. Nicht als Gnadenakt der Oper gegenüber, die schon so oft totgesagt wurde, dass sie längst nicht mehr existieren dürfte, sondern als Arbeit. Des Herzens wie des politischen Gewissens. E in Künstler kann aus Liebe und aus Hass, aus Entsetzen oder Begehren schöpfen. Meistens ist es eine sehr eigene Mischung aus beidem, insbesondere bei Vertretern der Hochkomik. Denn um etwas von Grund auf zu entblößen, muss man es mit einem Teil seines Herzens schmerzhaft verachten und mit einem anderen Teil innig lieben. Zum Beispiel die »Deixfigur«, die ganz direkt und radikal ein Menschenbild ist. Lachende, gierige, wollüstigdumme Fleischgebirge aus einem Land, nennen wir es Niederösterreich, das Aufklärung und Moderne nur gestreift hat und dessen die Welt bevölkernde Geschöpfe dennoch die technischen und sozialen Segnungen der Jetztzeit mit vollen Herzen und Bäuchen genießen. Figuren aus der Hölle des Kleinbürgertums, hässlich, wie man so sagt, korrupt und niederträchtig. Aber auch selig, vollkommen glücklich in ihrer Beschränktheit und Anmaßung. Ohne Scham und ohne die geringste Reue über verpfuschte Leben und lustvoll zerstörte Körper. Man weiß nie so recht, ob man diese Wesen eher fürchten oder doch beneiden soll. Die meisten komischen Zeichner attackieren ihre Objekte in einem kräftigen oder verhuschenden Strich, nehmen Kontur und Silhouette zum Anlass für Übertreibungen und Genauigkeiten. Bei Manfred Deix dagegen sind Flächen, Wölbungen, Farben das Wichtigste. Er ist, und jetzt, nachdem er am vergangenen Samstag gestorben ist, muss man leider sagen: er war, einer der wenigen hochkomischen Maler. In einer Deixfigur im Wasser ist nicht nur der von gastrischen und sexuellen Ausschweifungen und von reiner, dumpfer Blödheit gefärbte Gesichtsausdruck komisch, sondern auch das Muster einer Badehose; es ist nicht nur der gezierte Gestus einer Dame im Bikini, der von medialen Vorbildern stammt, sondern auch die Konstruktion der Textilie, die sich den Körpermassen unterwirft. Ja mehr noch, selbst die Postkartenlandschaft, sogar der Himmel wurden komisch, wenn Deixens Pinsel sie berührte. Das eminent Malerische in seinem Werk bedeutet nicht, dass Deix nicht auch ein genialer Zeichner war. Mit wie wenigen Strichen holt er aus einem (auch realen) Menschen alles das heraus, was an ihm »nicht ANZEIGE stimmt«! Dass uns dazu freilich immer nur das Wort »hässlich« einfällt, belegt nur, wie sehr wir in einer Welt der falschen Ideale leben. Natürlich liebte Deix das Groteske, das Unharmonische, das Verräterische, und natürlich kennt er, im Gegensatz zu den Hochkomikern, die ihr eigenes Milieu beschreiben, keinen Hauch von Gnade. Deixfiguren sind schließlich auch zu jeder lachenden Gemeinheit bereit. Aber zugleich taucht dieser Gastwirtssohn eines Kriegsversehrten auch tief hinein in ein Körpertheater, dem zum Manfred Deix (1949 bis 2016) mit Deixfigur Fellinesken nur der Schleier des Märchenhaften und jede kulturelle Geborgenheit fehlen. Die Deixfigur maßt sich alles an, aber sie ist nirgendwo wirklich zu Hause. Was der Kleinbürger da seinem und dem Körper des Mitmenschen antut, geschieht zwar aus der Konstruktion dumpfer Zusammengehörigkeit (Deix-Gestalten leben immer in Rudeln und Rotten), aber auch aus Fremdheit heraus. Vorstadt und Natur, Ritual und Ornament, Geschichte und Mythos, alles wird böse und gemein, wenn es von den Deixfiguren in Beschlag genommen wird. Den entfesselten und entformten Ulrich Seidlschen Bewohnern niederösterreichischer Keller und Garageneinfahrten, die unversehens in grelles Sonnenlicht und pastöse Farbschichten geraten sind und sich dort in ihrer ganzen niederträchtigen Pracht zeigen. Aber Deixens Aquarellierung der Kleinbürgerwelt restauriert zugleich, was die Form zerstört. Die wuchernde Brunftigkeit, die politische und soziale Gewalttätigkeit der Deixfiguren und die ungreifbare, fließende Zartheit von Farben und Flächen gehen eine tückische Allianz ein. In diesen Bildern flackert Romantik noch einmal auf, grüßt ihre finstersten Wiedergänger und wird dann manchmal buchstäblich zersetzt und zerhackt. Andernorts wird Deix durchaus heftig. Seine Körper entblößen sich nicht nur, sie hinterlassen auch Spuren, beschmutzen einander und ihre Welt mit den Zeichen der Notdurft und der Geilheit. Es ist der Schatten des Marquis de Sade, der dann in die Kleinbürgerwelt hineinreicht und den Körper mit Gewalt wieder in reine Natur und reine Kultur teilt. Nur dass die sadomasochistischen Rituale eben nicht aus heroischen Opfergesten und metaphysischer Revolte entstehen, sondern aus dem Triebüberschuss einer wahrhaft entfesselten Klasse der Unbedeutenden und der vulgär Entformten. Ein ewiger Karneval ist ausgebrochen wie eine Krankheit. Und wieder anderswo verlässt die dumpfe Blödheit den Raum der Selbstgenügsamkeit, wird politisch, verlangt nach Macht, erzeugt Gewalt. Die Körperlichkeit der Deixfigur ist durchaus zweischneidig. Wie die gierigen Hände der Nächsten greifen schon Kirche, Parteibuch und Faschismus nach diesem mythischen Niederösterreicher, der übrigens als Kind so wenig Unschuld ausstrahlt wie als Greis Bewusstsein. Das wirklich Politische, das »Engagement«, das ist bei Deix allenfalls Dreingabe, manchmal nur Vorwand. Der Sinn dieser Arbeit liegt ja tiefer; es geht darum, das Wesen einer Art von Menschen zu ergründen, die einerseits aus einer dieser modernen Höllen kommt, die aus Gründen der Überfüllung ihre Insassen zurück auf die Erde schickt und der man auf der anderen Seite jeden Tag begegnet, manchmal sogar, wenn man an einem Spiegel vorbeigeht. Vom normalen Menschen unterscheidet sich die DeixGestalt eigentlich nur, indem sie auf alle Maskerade von Scham, Schuld und Kontrolle verzichtet. Man kann einfach »Wahrheit« dazu sagen. Seinem eigenen Körper hat Manfred Deix auch eine Menge zugemutet. Zu viel. Jetzt ist er gestorben, vielleicht auch daran, dass er in Wahrheit nie seinen Frieden mit der Körperlichkeit des Menschenlebens machen konnte. Die Liebe und der Hass sind dann auch hier nicht zusammengekommen. Foto: Peter Rigaud/laif 30. J U N I 2 0 1 6 46 FEUILLETON 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Federleichte Mörderin Im Kampfkunst-Film »The Assassin« befreit sich der Regisseur Hou Hsiao-Hsien von den Bildern des Metzelns Foto: Wildbunch U m es gleich zu sagen: Wer etwas über die Meisterschaft und Schönheit des Bildermachens erfahren will, sollte sich diesen Film anschauen. Wer erleben will, wie ein Bild historische Zeit enthalten und zugleich reinste Gegenwart atmen kann, muss The Assassin von Hou Hsiao-Hsien sehen. Einmalig ist die Raffinesse, mit der der taiwanesische Großmeister Farbe und Bewegung feiert, mit uralten kulturellen Codierungen und kunsthistorischen Verweisen spielt – und all dies zugleich in einem Akt der filmischen Malerei überhöht. Einmalig auch, wie Hou den Martial-ArtsFilm im historischen Gewand – chinesisch: wuxiá –, an dem sich schon seine Kollegen Ang Lee (Crouching Tiger, Hidden Dragon), Zhang Yimou (Hero) und Wong Kar-Wai (Ashes of Time) versuchten, in ein eigenes Genre überführt: den Hou-Hsiao-Hsien-Film. Dass der siebzigjährige Taiwanese von Martin Scorsese, Jim Jarmusch und Quentin Tarantino als Vorbild verehrt wird, liegt an seinem besonderen Gebrauch der Totalen. Ob er von seiner Kindheit unter der japanischen Besatzung erzählt, von höfischen Gesellschaften oder von Kleinganoven, die die Zeit totschlagen – bei Hou Hsiao-Hsien zieht in diese alles überblickende Einstellung das Leben ein, oft in die Tiefe des Raumes gestaffelt, festgehalten von einer Kamera, die sich nie in den Vordergrund spielt und umso aufmerksamer beobachtet. Sein neuer Film The Assassin spielt im China des 9. Jahrhunderts und erzählt von einer Auftragsmörderin, die für den kaiserlichen Hof Aufständische und Abtrünnige tötet. Im Alter von zehn Jahren wurde Nie Yin-Niang von ihrer Familie Shu Qi als elegante Auftragskillerin Nie Yin-Niang weggegeben und von einer taoistischen Nonne und Verwandten der Kaiserfamilie ausgebildet – im Handwerk des leisen, schnellen Tötens. Die junge Frau ist Instrument einer untergehenden Macht, Soldatin einer Dynastie, deren Zenit überschritten ist. Schon wenn sie zum ersten Mal auftritt, ist sie von einer Aura der Einsamkeit umgeben, der Melancholie des verlassenen Kindes. Ihr erster Mord geschieht so schnell, dass die Kamera ihm kaum folgen kann. Wie aus dem Nichts taucht Nie Yin-Niang aus einem Wald auf, lässt ihr Messer in die Kehle des Opfers fahren und ist schon wieder verschwunden, bevor der Mann vom Pferd fällt. Hat man hier tatsächlich einen Gewaltakt gesehen? Oder einfach nur den Schwung eines schwarzen Gewandes vor lichtem Waldgrün? Hou Hsiao-Hsiens Kämpferin ist wie der Pinsel eines Kalligrafen, der in einer einzigen fließenden Bewegung über die Leinwand fährt, zugleich Bestandteil und Malerin des durch ihren Angriff entstehenden Bildes. Schon der zweite Auftrag zeigt, dass The Assassin die Grundlagen des Martial-Arts-Films selbst infrage stellt, die Selbstverständlichkeit des Tötens und Getötetwerdens, den Wechsel von Gewalt und Gegengewalt. Nie Yin-Niang ist außerstande, einen VON K ATJA NICODEMUS korrupten General umzubringen, weil dieser seinen schlafenden kleinen Sohn im Arm hält. »Töte erst das, was dem Opfer am liebsten ist, und dann das Opfer selbst«, sagt die Auftraggeberin. Die Nonne wird ihre Schülerin auf die Probe stellen, sie nun erst recht dem Widerstreit von Gefühl und Loyalität aussetzen. Nie Yin-Niang soll den abtrünnigen Militärgouverneur der Provinz Weibu umbringen, ihren Cousin, dem sie einst als Frau versprochen war. Wie ein Geist bewegt sich die Kriegerin durch die Räume des Gouverneurspalastes. Diese Welt aus Kerzenschein, erleuchteten Vorhängen, lackierten Möbeln und goldbestickten Gewändern offenbart sich als Hort der Niedertracht und Verkommenheit. Hier werden Generäle verbannt und lebendig begraben, schwangere Konkubinen von eifersüchtigen Gattinnen mit tödlichem Zauber belegt, Intrigen geschmiedet. Nie ist in diesem Film von inneren Vorgängen oder Befindlichkeiten die Rede. Aber man ahnt, dass sich die immer wieder einsam durch das Bild gehende, manchmal nur vom tiefen Schwarz der Nacht umgebene Kämpferin angesichts dieses Treibens auch ihrem eigenen Todeshandwerk entfremdet. Nebenbei zeichnet Hou Hsiao-Hsien das Porträt einer jahrtausendealten Kultur, ihrer Gegenstände und Riten. Teekannen, Dosen, Zierobjekte, Schriftrollen umgeben die Figuren. Was mag die Schale mit den Granatäpfeln symbolisieren, die auf dem Tisch steht, während Nie Yin-Niangs Mutter die Geschichte ihrer ausgesetzten Tochter erzählt? Oder die große, zarte Landschaftszeichnung im Hintergrund des Gouverneurspaares? Beiläufig wird auch die sichtbare Unsichtbarkeit der Domestiken ins Bild gesetzt. In The Assassin servieren sie lautlos den Tee im Bildvordergrund oder stehen noch im hintersten Winkel der Raumfluchten als Silhouette hinter einem Vorhang. Sie füllen Badewannen mit heißem Wasser und Blüten, entfernen mit großen Wedeln Staub, bringen der Gouverneursgattin den Schmuck, räumen nach dem Wutanfall ihres Gatten die Scherben weg. Indessen hat Nie Yin-Niang ihren Auftrag immer noch nicht erfüllt. Ganz langsam verschiebt der Film seinen Fokus vom Konflikt zwischen Gefühl und Loyalität hin zu einer Ahnung von Freiheit, die sich nur in der Natur findet, fern dem hierarchischen Palastleben. Allein die Weite der Landschaft scheint das Zuhause der Heldin zu sein, ihre spirituelle Heimat. Verblühende Wiesen, dichte Wälder und grün bewachsene Berge wirken wie vielschichtig aufgebaute Tableaus, die Raum lassen für ihre Melancholie. Nebel lichten sich langsam über einem See im Morgengrauen, im Hintergrund schwarze Baumgerippe wie hingetuscht. Die Zeit scheint sich in der Tiefe des Bildes zu verlieren. Einmal fährt die Kamera inmitten eines Kampfes einen Schilfgürtel entlang. In der Ferne sieht man noch die Köpfe der Kämpfer, hört das leiser werdende Geräusch aufeinanderprallender Klingen. Warum, scheint die Kamera zu sagen, soll ich die Metzelei zeigen, wenn ich mich in der Natur verlieren kann? So wie sich seine Killerin ihrem tödlichen Auftrag verweigert, löst sich Hou Hsiao-Hsien ganz langsam von seiner Geschichte. Irgendwann vereint sich die Kamera einfach mit der Landschaft, zeigt Nie Yin-Niang nur mehr als Strich, der sich in der Ferne durch die Totale bewegt. Am Ende ist der Film so frei wie seine Heldin. www.zeit.de/audio 48 FEUILLETON 30. J U N I 2016 KUNSTMARKT D I E Z E I T No 2 8 TRAUMSTÜCK Höhenrausch E. L. Kirchners »Blaue Artisten« bei Christie’s VON LISA ZE ITZ »Sie rücken nichts raus« Münchner Museen verkauften nach dem Krieg Raubkunst, die sie eigentlich an die Opfer zurückgeben sollten. Deren Nachkommen müssen heute um ihre Rechte kämpfen Profitierte sie vom Kunstraub? Henriette von Schirach (links) mit ihrem Mann Baldur (Mitte) beim Besuch einer Ausstellung 1942 in Wien Fotos: Archiv Heinrich Hoffmann/Bayerische Staatsbibliothek/bpk; Kraus Family/Commission for Looted Art in Europe (2, u.); Christie’s Images Ltd. 2016 (r.) E s ist die Geschichte eines moralischen Bankrotts: 75 Jahre nach der Beschlagnahmung durch die Gestapo hat John Graykowski, ein Rechtsanwalt aus Washington, ein Gemälde aus der Sammlung seines jüdischen Urgroßvaters Gottlieb Kraus in Deutschland ausfindig gemacht – und bekommt es nicht zurück. Sein Vorfahr war bis zum sogenannten Anschluss Österreichs ein wohlhabender Mann gewesen. Er lebte als tschechischer Konsul in Wien. Seine bedeutende Kunstsammlung musste er auf dem Weg ins Exil zurücklassen. In den Jahren 1941 und 1942 teilten die Nazis sich die Beute auf. Einige Gemälde gelangten in die Albertina in Wien, andere ins Joanneum in Graz. Nachdem sich Hans Posse, Hitlers Chefeinkäufer für das in Linz geplante Führermuseum, bedient hatte, durfte auch Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann zugreifen. Einige Bilder der Sammlung Kraus tauchten nach dem Krieg im sogenannten Central Collecting Point in München auf, in dem die US-Amerikaner die von den Nazis geraubte Kunst zusammentrugen und den rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben versuchten. Die Werke, deren Eigentümer sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht ermitteln ließen, gingen dann an die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Das Museum sollte nun nach den Eigentümern suchen. Eine Aufgabe, die es anscheinend viele Jahrzehnte nicht sehr ernst nahm. Ein Gespräch mit John Graykowski, der sich als Erbe betrogen fühlt, und mit Anne Webber, die mit der Commission for Looted Art in Europe (CLAE) dabei half, das vermisste Bild wiederzufinden. DIE ZEIT: Hat Ihre Familie, Herr Graykowski, nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, die geraubte Kunst wiederzubekommen? John Graykowski: Meine Großtante versuchte bereits in den fünfziger und sechziger Jahren, aus Deutschland und Österreich Kunst zurückzuerhalten, wurde aber von den Behörden in fast allen Fällen abgewiesen. Erst im Jahr 2004 meldete sich die Israelitische Kultusgemeinde aus Wien bei uns und zeigte uns alte Fotografien von 13 Bildern meines Großvaters, die dem Führermuseum in Linz angeboten worden waren. Plötzlich waren diese Gemälde, die wir nur aus Geschichten kannten, von denen wir nie Abbildungen gesehen hat- ten, Realität. Aber es war noch ein langer Prozess, bis wir etwas davon zurückbekamen. In diesem Spiel sind alle Karten in den Händen derjenigen, die unsere Bilder besitzen, sie verfügen über alle wichtigen Informationen. Und sie rücken nichts freiwillig raus. Man kann den menschlichen Instinkt der Habgier anscheinend nicht abschalten. Die Museen verhalten sich wie Kinder im Sandkasten, die brüllen: Das ist meins! Unsere Familie musste erst peinlich genau beweisen, dass diese Bilder wirklich meinem Urgroßvater gehört hatten, bis uns schließlich sechs Bilder von österreichischen Museen restituiert wurden. ZEIT: Die stellen aber nur einen Bruchteil der ursprünglichen Sammlung dar? Graykowski: Wir hatten damals keine Ahnung, wie viele und welche Kunstwerke genau zur Sammlung gehörten, es gab keine Inventarlisten. Deshalb baten wir Anne Webber und die CLAE um Hilfe. In kürzester Zeit identifizierten sie 166 Werke. ZEIT: Wie muss man sich die Arbeit Ihrer Organisation vorstellen, Frau Webber? Anne Webber: Wir sind eine Non-Profit-Organisation, die international Restitutionsverfahren aushandelt und dokumentiert. Unsere Arbeit wird durch Spenden finanziert. Zu unserem Team gehören Historiker und Provenienzforscher, wir vertreten Familien aus aller Welt. Wir versuchen dabei stets, einvernehmliche Lösungen herbeizuführen. Es gab vor unserer Gründung im Jahr 1999 in Europa keine Organisation, die Familien bei der Suche nach Raubkunst half. ZEIT: Ist das nicht spätestens seit der sogenannten Washingtoner Erklärung von 1998 die Aufgabe der deutschen Museen und des deutschen Staats? Graykowski: Mit uns nahm kein Museum Kontakt auf. Die staatlichen Institutionen unternehmen von sich aus nichts, das ist sehr verstörend. Und dann hat Anne Webber auch noch herausgefunden, dass die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen unsere Kunst nach dem Krieg zu Spottpreisen an ehemalige Nazis oder deren Familien verkauften. ZEIT: Wie erfuhren Sie davon? Webber: Nachdem wir durch eingehende Recherchen den Weg von zwei Kunstwerken in die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen hatten nachverfolgen können, fragten wir dort nach deren Verbleib. Wir bekamen die kurze Antwort, dass diese Gemälde 1961 und 1962 an Henriette Hoffmann-von Schirach verkauft worden seien. Wir konnten es zunächst nicht fassen: die Tochter des Fotografen Heinrich Hoffmann, die als Sekretärin für Hitler gearbeitet hatte, später bis 1950 mit Baldur von Schirach verheiratet gewesen war, dem Reichsjugendführer und späteren Reichsstatthalter in Wien. Sie und andere Mitglieder von Familien wie Hoffmann oder Göring hatten nach dem Krieg Dutzende erfolgreiche Rückgabeanträge an das Museum gestellt, wie wir herausfanden. Das Gemälde Holländisches Platzbild, eine Kopie nach Jan van der Heyden, hatte das Museum 1962 für den Schleuderpreis von 300 Mark an Hoffmann-von Schirach verkauft. Der Xantener Dombauverein will das Bild dann schon ein Jahr später für 16 100 Mark beim Anne Webber gehört zu den Gründern der Commission for Looted Art in Europe John Graykowski aus Washington sucht das Erbe seines Urgroßvaters Kölner Auktionshaus Lempertz gekauft haben. Eine Preissteigerung um mehr als das 50-Fache in kürzester Zeit. ZEIT: Wie reagierte der Xantener Dombauverein auf Ihre Rückerstattungsanfrage im Jahr 2011? Webber: Zunächst einfach gar nicht. Man behauptete dort, unser gut hundertseitiger, detailliert belegter Antrag sei nicht angekommen. Bis wir die Empfangsbestätigungen der Deutschen und britischen Post vorlegten. Wir mussten den Antrag schließlich noch einmal schicken, doch das half auch wenig. Der Dombauverein behauptet, dass er als nichtstaatliche Organisation nach dem Washingtoner Abkommen nicht zu einer Restitution verpflichtet sei. Das hätten wir von einer katholischen Kirche, die in Xanten besonders auf ihre nazikritische Haltung im Zweiten Weltkrieg stolz ist, wirklich nicht erwartet. Graykowski: Ich war schockiert, denn ich bin selbst Katholik. Dieser Dombauverein hat in den vergangenen sechs Jahren nicht ein Zeichen des Mitempfindens an uns ausgesendet. Stattdessen wird dort erstaunlich viel Energie in die Ablehnung der Rückgabe investiert. Und das bei einem Gemälde, das zwar für meine Familie von großem ideellem Wert ist, nicht aber für den Kunstmarkt. ZEIT: Wie viel ist das Platzbild denn wert? Webber: Vielleicht 20 000 Euro, es handelt sich um eine alte Kopie. Das ist kein wertvolles Kunstwerk, darum geht es der Familie nicht. ZEIT: Helfen Ihnen denn jetzt wenigstens die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen bei Ihrer weiteren Suche? Webber: Nein. Die dort für Provenienzforschung zuständige Mitarbeiterin Andrea Bambi schrieb uns schon 2012, dass sie in dieser Sache nicht weiter recherchieren werde, weil sich die Kunstwerke seit 1962 nicht mehr im Eigentum der Staatsgemäldesammlungen befänden. ZEIT: Was muss sich ändern in Deutschland? Graykowski: Es müssen genaue Verfahrensregeln für Restitutionsverfahren eingeführt werden, und es muss viel mehr Transparenz vonseiten der Museen geben. Es geht hier schließlich nicht um Nuklearwaffen, die Geheimnistuerei muss jetzt ein Ende haben. Obwohl die Staatsgemäldesammlungen verpflichtet sind, Akten, die älter als 30 Jahre sind, ans Hauptstaatsarchiv zu übergeben, halten sie diese immer noch bei sich unter Verschluss. Die Archive müssen für die Familien auf der Suche nach der geraubten Kunst endlich frei zugänglich gemacht werden. Oder will Deutschland, dass dieses ruhmlose Kapitel nie ein Ende findet? Der Xantener Dombauverein reagierte auf eine Anfrage der ZEIT bis Redaktionsschluss nicht. Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen teilten zu einem am 25./26. Juni in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel mit, dass die Geschichte der aus den Central Collecting Points überwiesenen Werke bereits erforscht wird und Archivalien zugänglich seien. Fragen der ZEIT – etwa zu dem niedrigen Preis, den Henriette Hoffmann-von Schirach für das Platzbild zahlte – blieben bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Das Gespräch führte Tobias Timm Schwierige Zeiten in London, auch für Auktionshäuser. Diese Woche ist die zeitgenössische Kunst dran. Noch vor dem Brexit kamen Werke des Impressionismus und der Moderne unter den Hammer, was bei Sotheby’s ganz gut lief, während die Umsatzeinbußen bei Christie’s empfindlicher ausfielen. Die Abendauktion umfasste ohnehin nur 33 Lose, und davon fanden zwölf keinen Abnehmer. Doch auch bei Christie’s gab es Lichtblicke: Dazu gehört Ernst Ludwig Kirchners Pastellzeichnung Blaue Artisten aus dem Jahr 1914. Das 68 mal 51 Zentimeter große Blatt zeigt vier schlanke Gestalten in hautengen blauen Anzügen. Eine junge Frau im Vordergrund ist dem Betrachter zugewandt, während sich die drei Artisten hinter ihr an ein Trapez schmiegen, als ob sie elastisch und flexibel auch die Bildfläche jederzeit mit einem eleganten Schwung verlassen könnten. Die Schnelligkeit von Kirchners Strich wirkt berauschend. Als sei er selbst in Ekstase gewesen, und etwas davon teilt sich uns mit. Fluchtlinien in Gelb-Schwarz ziehen den Blick wie magnetisch nach unten. Höhenangst oder Höhenrausch: Ist denn der Künstler Schwerelos im Zirkuszelt selbst auf das Trapez geklettert, dass er sich jetzt auf einer Ebene mit den Zirkusleuten bewegen kann? Zwar reichte der Zuschlag nicht ganz an die obere Schätzung von einer Million Pfund heran, aber mit 900 000 Pfund ist es trotzdem ein Rekord. Lisa Zeitz ist Chefredakteurin von »Weltkunst« und »Kunst und Auktionen« ZAHL DER WOCHE 30000 ... bis 50 000 Euro soll am 6. Juli im Münchner Auktionshaus Neumeister eine gotische Glasmalerei mit einer alttestamentlichen Szene kosten. Die bunte Bleiverglasung entstand um 1270 in einer Straßburger Werkstatt, wahrscheinlich für die dortige Thomaskirche. Mittelalterliche Fensterbilder dieser Qualität kommen nur noch selten auf den Markt. FEUILLETON 49 D I E Z E I T No 2 8 O b sie nun den Hammer schwingen, damit sich der Nagel schön tief ins Hirn ihres Lieblingsfeindes bohrt. Ob sie zum nächstbesten Stein greifen, zum Schwert oder doch lieber zur Keule, um so lange auf ihren Nächsten einzuschlagen, bis der Schädel aufplatzt und sich roter Glibber daraus ergießt. Ob sie es also auf die schnelle Art tun oder sich für quälend gründliche Folter entscheiden, ist am Ende auch egal. Hauptsache, es blutet. Hauptsache, es geht schön grausam und erschreckend tödlich zu. Denn so hat es das Publikum gern. Es will zu Gott bekehrt sein, und ein ordentlicher Blutrausch kann da durchaus hilfreich sein. Jedenfalls ließen die Künstler nichts unversucht, um ihre Bilder und Plastiken so lebensecht, so leidensnah wie möglich in Szene zu setzen. Wahrscheinlich hätten sie die entsprechende Klangspur gleich mitgeliefert, ein Wimmern, Stöhnen, verzweifeltes Schreien, wenn so etwas damals, im Spanien des 17. Jahrhunderts, schon möglich gewesen wäre. Es waren Künstler mit Mission, eingespannt, um der Kirche zu neuer, drastischer Wirklichkeitsnähe zu verhelfen. Die Kunst wurde selbst zum Nagel, der sich hineinbohrt ins Hirn der Gläubigen, damit der Glaube festsitzt auf immer. Heute stehen die Besucher davor und tun sich ein wenig leid. Die handelsübliche Krimileiche, dagegen ist nichts zu sagen. Aber das hier, fein bemalte Quetschfüße, schwärende Wunden, ein Heiliger, der sich so eng an den gekreuzigten Jesus schmiegt, als wollte er ihm das Blut aus der Seitenwunde saugen, das hatten sie sich doch irgendwie anders vorgestellt. Der Nagel, so scheint’s, bohrt noch immer, nur wo bleibt die Bekehrung? Zumindest dringt eine unerwartete Erkenntnis durch, hier im Museum, in dem all die Zeugnisse einer wuchernden Volksfrömmigkeit jetzt zu sehen sind. Die ebenso große wie großartige Ausstellung, die an diesem Freitag in Berlin beginnt und gleich mehrere Säle der Gemäldegalerie spannungsreich zu füllen weiß, zeigt zum einen das, was üblicherweise gezeigt wird, wenn es um spanische Barockkunst geht: den fiebrigen El Greco, den geheimnisvollen Zurbarán, den kühnen Velázquez, all die wichtigen, zu Recht bewunderten Meisterwerke, aus aller Welt zusammengeliehen. Doch damit mag sich die Schau nicht begnügen. Sie weitet den Blick, entdeckt für Deutschland ganz unvertraute Künstler und erkundet, wie es der Kunst auf unterschiedliche Weise gelang, zu einer neuen Wirklichkeit durchzudringen. Manchmal nehmen uns die Künstler mit in die Kneipen und auf die Straße, malen verlumpte Bettler, versoffene Bauern, hungrige Kinder, eine Welt, in der es keine Ideallandschaften, keine Historiendramen und auch sonst nichts von dem gibt, was in der Kunst eigentlich als bildertauglich gilt. Irgendetwas treibt die Maler an, die Welt auf andere Weise in den Blick zu nehmen, unverstellt, unverpanzert. Selbst der Kriegsgott Mars hat mit einem Mal die Rüstung abgelegt. Der Hofmaler Diego Velázquez, BERLINER CANAPÉS Der Treppenabsatz VON INGEBORG HARMS Nagel im Kopf Was ist eigentlich Wirklichkeit? Berlin feiert das goldene Zeitalter der spanischen Kunst mit Velázquez, El Greco – und sehr viel Blut VON HANNO R AUTERBERG Abb.: Museo Nacional del Prado; Illustration: Jindrich Novotny/2 Agenten für DIE ZEIT (u.) 30. J U N I 2 0 1 6 Der Kriegsgott Mars posiert für Diego Velázquez ausnahmsweise als Aktmodell (um 1638) Berlin gehört zu den Metropolen, in denen das komplexe Netz des öffentlichen Verkehrs zur Leidenschaft werden kann. Wer genug Zeit und ein Smartphone hat, kommt immer von A nach B, ohne mehr als 2 Euro 30 zu zahlen. Allerdings findet der Sport schnell seine Grenzen, wenn man Partysurfing betreibt und einen substanziellen Teil des Abends an den Etappenzielen verbringen will. Es gibt natürlich die große zwischen Ostund Westkreuz aufgespannte S-Bahn-Ader, zwischen der kommerziellen Hochburg des Messekomplexes und dem windigen, von jungen Rucksacktouristen und Halbliterjongleuren wimmelnden Friedrichshainer Gleissalat. Der kleinadrigen Nord-Süd-Achse zog ich ein Taxi vor, um am Prenzlauer Berg mit ein paar Freunden koreanisch zu essen. Eine spanische Kuratorin fand das in Granny-Smith-Soße eingelegte Kimchi »sehr instagramy«. Ihre in London lebende portugiesische Freundin interessierte sich mehr für die Theorie, dass David Cameron mit dem Brexit- Resultat nicht gerechnet hatte, denn er brauchte drei Stunden bis zu seinem Presseauftritt. Ergo musste er seine Rede erst schreiben. Zu einer Wilmersdorfer Party anlässlich des 50. Jahrestags des Besuchs eines Beatles-Konzerts in der Essener Gruga-Halle wollte mich keiner begleiten. Sie spielen Beatles-Platten, erklärte ich dem polyglotten siebenjährigen Sohn der Kuratorin. But beetles are little animals?, sagte der an seinem iPhone hängende Kleine. Er wusste nicht mal, was Platten sind. Sie fuhren mich noch zum Alex. Ich hatte kein iPhone dabei und stieg am Zoo aus, um im Zeitschriftengeschäft in den Stadtplan zu schauen. Die einzige Straße in der X-Rubrik schien nicht weit vom Westkreuz zu liegen. Ich nahm aufs Neue die S-Bahn und landete in einem dreistöckigen Bahnhof, der auf eine vierspurige Straße in einem Niemandsland führte. Es gab eine Busstation, ich stieg in den nächsten Doppeldecker. Der Fahrer dirigierte mich zu einem Taxistand. Er meinte, ich hätte den Maß- der mächtigste Künstler dieser Zeit, hat ihn für eines seiner Werke ausgezogen, hat ihm die Zeichen seiner Macht geraubt. Nur den Helm trägt er noch, unter dem er so müde hervorschaut, als wäre er nur kurz zur Kostümprobe vorbeigekommen. Kein Held, nur ein Heldendarsteller. Velázquez hat ihn mit fahrig-fliehendem Pinsel ins Bild gesetzt, gradezu achtlos in den Details, ganz so, als wollte er auch seiner Kunst alles Zugerüstete, alles wehrhaft Perfekte nehmen. Anders als die in Berlin so prominent gezeigten Holzskulpturen, die täuschend echt auftreten, um das Ungreifbare begreiflich, das Überwirkliche real zu machen, setzt Velázquez auf eine stille Art von Schock: auf Desillusionierung. Für ihn liegt die Wirklichkeit dort, wo die Kostüme, die Masken fallen und etwas aufscheint, das eigentlich nicht zu zeigen ist. Das Siglo de Oro, das goldene Zeitalter der spanischen Kunst, war ja in Wahrheit alles andere als glänzend. Das Imperium zerfiel, das Volk verarmte, und was eben noch wahr und gewiss schien, bekam ungeahnte Risse. So ist es kein Zufall, dass viele Künstler, die jetzt in Berlin zu sehen sind, das Verhältnis von Sein und Schein neu bestimmen. Wenn Velázquez’ wichtigster Schüler, Juan Bautista Martínez del Mazo, seine Familie porträtiert, dann feiert er geradezu die Doppelbödigkeit des eigenen Schaffens, denn im Hintergrund hängen gleich mehrere Gemälde an der Wand, darunter eines, das ihn selbst bei der Arbeit im Atelier zeigt. Er malt ein Bild, und auf dem Bild malt er ein Bild, auf dem er ein Bild malt. Jeder Anspruch auf wahre Wirklichkeit kippt vergnüglich aus dem Rahmen. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil man den Künstlern damals gerne vorwarf, sie betrieben nichts als Augentäuscherei. Allerdings gab es auch gelehrte Philosophen wie Francisco Suárez, die überzeugend darlegen konnten, dass es so etwas wie die eine, unbestreitbare Realität nicht gibt. Es gibt immer nur das, was wir uns darunter vorstellen, so seine Vermutung. Und spätestens damit gewann das Kerngeschäft vieler Künstler, die Imagination, einen unverhofften Reiz. Vor allem den Malern war es wichtig, die Welt nicht einfach nur glaubhaft nachzuahmen. Sie verfolgten ein höheres Erkenntnisinteresse, das sich übrigens mit einem gesteigerten Einkommensinteresse aufs Schönste verband. In Spanien galten die Maler und Bildhauer noch immer als bloße Handwerker. Nun, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, wollten sie endlich wie Dichter behandelt werden, als freie, auch von der Umsatzsteuer befreite Künstler, vom Hofe gefördert und geachtet, gerühmt für ihre inteligencia y teoría. In Berlin, in einem fulminanten Epochenporträt, lässt sich diese Emanzipationsgeschichte bewundern. Hier lässt sich erleben, wie die Kunst zu neuer Kraft gelangte: auf der Straße wie in den Zirkeln der Macht, mal krude, mal voller Raffinesse. Und noch immer so lebendig, dass sie sich festsetzt in den Köpfen und nicht mehr weichen will. Bis zum 30. Oktober (www.el-siglo-de-oro.de) stab des Stadtplans unterschätzt. 10 Euro später die Xantener Straße, eine der notorisch leer gefegten Westberliner Nachbarschaften. Die Tür stand offen; als das Treppenhauslicht versagte, ein Moment der Panik. Tapfer nahm ich die vier Stockwerke bis unters Dach. Love Me Do spielte auf der anderen Seite der Wohnungstür. Die Einladung hatte mich als Rundmail erreicht. Ich kannte die Gastgeber nur flüchtig. Der Treppenabsatz hatte viel von einer Theaterkulisse. Vielleicht regelte ein Bühnentechniker die Musik-Konserve. Mir wurde flau bei dem Gedanken, in diese Wohnung einzutauchen. Ich glaubte nicht mehr an die Existenz der Party. Wie zum Beweis drückte ich die Klingel. Love Me Do spielte weiter, aber niemand machte mir auf. Ich hätte klopfen können. Aber ich drehte auf dem Absatz um. Die Aussicht, in den Berliner Nahverkehr einzutauchen, war zu verlockend. Ich war im zweiten Stock, als die Tür sich auftat und der Lift gerufen wurde. Das Letzte Altern ist der neue Volkssport. Nicht zufällig spricht man von der alternden Gesellschaft. Selbst wo es früher an Zeit und Geld zum Altern gefehlt hat, ist man jetzt ganz vorne mit dabei. Anders als das Golfen, dem man zu Unrecht eine ähnliche Konjunktur vorausgesagt hat – Golf und Altern sind ja eng miteinander verwandt –, könnte sich das reine Altern zu einem bleibenden Trend entwickeln. Altern verlangt zwar ebenfalls viel Geduld, auch der Grünflächenbedarf ist enorm, aber es braucht weder Schläger noch Caddy. Für den Anfang reichen ein paar starkfarbige Klamotten und eine Baseballkappe; in den meisten Haushalten dürfte auch ein SUV schon vorhanden sein, mit dem man Langsamfahr-Rekorde aufstellen kann (sogenannte Gleichmäßigkeitsrennen, bei denen 30 km/h nicht überschritten werden dürfen). Nicht leicht zu lernen ist die Schnappatmung, die in den Empörungswettbewerben verlangt wird. Aber ein teures Pedelec oder einen Rennrollator braucht wirklich nur, wer in extravaganten Teildisziplinen glänzen will. Entscheidend für die Durchsetzung als Breitensport ist die olympische Anerkennung, und da hängt leider alles an der Übertragbarkeit im Fernsehen. Selbst Rekorde im Schnell- und Weitaltern könnten die Aufmerksamkeitsspanne des normalen Zuschauers überfordern. Olympia-Chancen hätten wohl am ehesten die Ungeschicklichkeitswettbewerbe (Brillensuche). Beliebter sind nichtolympische Disziplinen wie Kreuzfahrten, vor allem wiederholte Kreuzfahrten mit demselben Schiff auf derselben Route. Der sogenannte Repeater wird von vielen Reedereien mit silbernen, goldenen und diamantenen Ehrennadeln ausgezeichnet. Da es sich um privatwirtschaftliche Wettbewerbe handelt, sind Dopingkontrollen selten, zumal da viele Mittel auf den Schiffen frei erhältlich sind (Alkohol, Bingo, Kreuzworträtsel). Interessant ist die Begeisterung der Jugend für das Altern. Früher undenkbar, entwickeln heute schon Schüler ehrgeizige Vorstellungen über Ehe, Familie und Renten. Viele träumen von einer goldenen Hochzeit oder haben sich bereits für das harte Training einer lebenslangen Ehe gemeldet. Andere wollen Alterspräsident, Ehrenvorsitzender oder Dorfältester werden. Man kann die kommenden Talente schon an ihren sportlichen Bequemschuhen, vegetarischen Diäten und Kräutertees erkennen, die eine Neigung zu Schnabeltasse und Breinahrung verraten. In diesem Zusammenhang muss auch der Thermomix erwähnt werden. Denn merke: Altern ist ein Gerätesport. FINI S An ein Auto gelehnt, erwartete ich die Fahrstuhlinsassen. Es waren drei Koreaner. Auf meine Frage nach der Gästeschar sagten sie: mostly writers. Plötzlich verstand ich Europa. Europa ist wie Berlin. Ein Terrain, in dem es immer noch besser ist, Nomade zu sein, als Memory-Partys zu besuchen. Europa ist kybernetisch, praktisch, pragmatisch, ein Bewegungskonzept, in dem man auf sich selbst gestellt ist. Man weiß nie, ob der Taxifahrer einen hinauswirft, wie der Zielbahnhof aussieht, ob der Maßstab stimmt, aber man ist Herr der Odyssee, es gibt die Mobilität, das Votum gegen jede Idylle. Es gibt Türen, vor denen man abdrehen kann. Hier lesen Sie im Wechsel die Kolumnen »Berliner Canapés« von Ingeborg Harms, »Jessens Tierleben« von Jens Jessen, »Männer!« von Susanne Mayer sowie »Auf ein Frühstücksei mit ...« von Moritz von Uslar www.zeit.de/audio 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 GLAUBEN & ZWEIFELN 50 »Auf dem Weg zu Gott leben und sterben wir. Entweder ein Leben voller Ehre – oder Opfertod!« »Die schwarzen Flaggen werden Deutschland bald erobern. Denn es wurde vom Propheten so verkündet.« »Unser Blut soll wahrlich ein ums andere Mal vergossen werden.« »Sprengt sie in die Luft!« »Wir werden die Scharia nach Deutschland bringen. Wir werden euch mit allen Waffen hier bezwingen.« »Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad.« »Durch unseren Dschihad lassen wir Felsen zerbröckeln und reißen den Unglauben in Stücke.« »Bekehrt euch zu Allah, reumütig, o ihr Ungläubigen! Sonst kommt ihr ins ewige Feuer.« Der Song »Unser Staat ist siegreich!« aus einem Propagandavideo des Islamischen Staates Der Soundtrack des Dschihad Abb.: Propagandavideo Islamischer Staat, Song: Unser Staat ist siegreich; privat; EPA/TELENEWS/dpa (v.o.n.u.) Islamisten machen mit Kampfhymnen mobil. Ein Gespräch mit dem Verfassungsschützer Behnam Said, der ein gefährliches Pop-Phänomen erforscht hat DIE ZEIT: Herr Said, seit wann gibt es eine islamistische Popkultur namens Anaschid? Behnam Said: Der Begriff Naschid beschrieb ursprünglich eine Rezitation religiöser arabischer Poesie, eine Praxis, die lange Zeit vor allem SufiOrden ausgeübt haben. Erst in den 1970er Jahren fanden Anaschid Eingang ins islamistische Milieu und erfuhren dort einen Wandel zu einer Art Kampfgesang. Heute verbinden wir damit hauptsächlich dschihadistische Hymnen. ZEIT: Manche Anaschid wirken auf westliche Hörer überraschend. Wieso besingen Terroristen ihre Mütter? Said: Gesänge an die Mutter sind eine seit Langem bestehende Subkategorie der Anaschid. »Mutter, bleibe standhaft« ist ein gutes Beispiel dafür, wie deutsche Dschihadisten diese Tradition adaptiert haben. Das Lied richtet sich natürlich in Wahrheit gar nicht an die eigene Mutter. Es geht um eine Rechtfertigung für die Auswanderung ins Kampfgebiet, wobei die »Mutter« eine Art Projektionsfläche bildet. Andere Unterkategorien dschihadistischer Anaschid sind etwa Trauerlieder auf den getöteten Märtyrer oder Lieder über die Gefangenschaft. ZEIT: Warum werden Anaschid a capella, also ohne instrumentelle Begleitung, gesungen? Said: Die historischen Anaschid wurden oft von Handtrommeln begleitet. Aber der zunehmende Einfluss des Salafismus hat dazu geführt, dass sich strengere Regeln durchsetzten. Die salafistischen Gelehrten legten zum Beispiel fest, dass der Inhalt von Anaschid islamisch korrekt und moralisch einwandfrei sein muss, dass die Melodien weder westlicher noch arabischer Popmusik ähneln und keine Instrumente zum Einsatz kommen. Einzig Soundeffekte werden noch eingesetzt, etwa um Taktpausen auszufüllen. ZEIT: Der IS benutzt oft das Geräusch von Explosionen oder Maschinengewehrsalven als Effekt. Said: Genau. Aber wichtiger zum Verständnis ist noch etwas anderes: Für Dschihadisten sind Anaschid gar keine Musik, denn Musik gilt als billiger Zeitvertreib. Anaschid hingegen werden der religiösen Sphäre zugerechnet. ZEIT: Werden die Anaschid als Teil des Gottesdienstes angesehen? Said: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Es finden auch nicht alle salafistischen Prediger Anaschid gut. Im dschihadistischen Gebrauch von Anaschid zeigt sich vielmehr ein Erbe der Muslimbruderschaft, die immer einen pragmatischen Umgang mit Kunst und Kultur pflegte: als Mittel zur Mobilisierung, aber auch als Zerstreuung. ZEIT: In Ihrem Buch »Hymnen des Jihads« haben Sie mehrere Textbeispiele ins Deutsche übertragen. Nehmen wir den sehr bekannten Song biDschihadina, in dem es heißt: »Durch unseren Dschihad lassen wir Felsen zerbröckeln und reißen den Tyrannen und den Unglauben in Stücke.« Das klingt sehr martialisch und militärisch, aber nicht sehr religiös. Said: Ja, und in diesem bellizistischen Sinne sind solche Kampfhymnen auch mit westlichen Soldatenliedern vergleichbar. Da werden Opferbereitschaft, Blutvergießen und Zusammenhalt besungen, und der Kampf wird gerechtfertigt. Anaschid haben allerdings meistens drei Ebenen: Die Tyrannei in den arabischen Staaten wird beklagt; es gibt einen Aufruf zum Widerstand und zur Mobilisierung; und als Lösung wird die Herrschaft mit dem Koran in der Hand besungen. ZEIT: Der IS legt Wert darauf, sich als wahrhaft islamisch darzustellen, unter anderem durch das vermeintlich nahtlose Anknüpfen an den Frühislam und an die Lebzeiten des Propheten Mohammed. Gibt es das in Anaschid auch? Said: Durchaus, und ironischerweise sind es ausgerechnet einige salafistische Gelehrte, die dem IS hier widersprechen, indem sie darauf hinweisen, dass das Phänomen des »islamischen Naschid« in der Frühzeit des Islams unbekannt war. ZEIT: Gibt es denn Textbeispiele aus IS-Anaschid, in denen der IS bewusst versucht, alle Muslime, nicht nur andere Dschihadisten, anzusprechen? Said: Ja, zum Beispiel in einem Lied, das zu einer Art Nationalhymne des IS-Kalifats geworden ist und die Idee eines allumfassenden islamischen Staats besingt. Dieser Topos hat Anziehungskraft weit über das dschihadistische Milieu hinaus. Das ist ein entscheidendes Merkmal des Genres: Anaschid sind näher an den kulturellen Codes der Gesellschaften, in denen Dschihadisten sich bewe- Er sagt, was ist ei den früheren Päpsten wusste man meistens schon vorher, wen sie mit ihrem nächsten Auftritt verärgern würden. Bei Papst Franziskus weiß man es nie. Als Reformer steht er natürlich im Verdacht, grundsätzlich die Konservativen in der katholischen Kirche anzugreifen. Aber so einfach macht er es seinen Gegnern und auch seinen Fans nicht. Am vergangenen Dienstag sagte er zu Benedikt, dem zurückgetretenen Papst, der zuletzt etwas schwach gewesen war: »Die Kirche braucht Sie noch!« Dann gratulierte der Neue dem Alten, der Reformer dem Konservativen sehr herzlich zu seinem 65. Priesterjubiläum. Und wie Bergoglio das tat, wirkte es gar nicht pflichtschuldig, sondern ehrlich. Da runzelten Ratzinger-Fans ebenso wie Bergoglio-Freunde die Stirn, fragten sich rechte wie linke Vatikanisten, was das nun wieder bedeute. Wie viele Chefs haben schon gern den abgedankten Vorgänger im Haus, um nicht zu sagen: Papst Franziskus betont das gute Verhältnis zu seinem Vorgänger Benedikt VON EVELYN FINGER B Singend in den Kampf Fast alle Propagandavideos des »Islamischen Staates« (IS) und anderer dschihadistischer Gruppen sind mit einer bestimmten Art von Musik unterlegt, den sogenannten Anaschid (Singular Naschid). Es sind Kampfgesänge für die Generation YouTube. Die Texte, stets a cappella gesungen, decken ein breites Spektrum an Themen ab. »Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Dschihad«, sangen vor einigen Jahren zwei Bonner Dschihadisten, die sich in Pakistan einer Terrororganisation angeschlossen hatten. Ein besonders populärer Text lautet: »Wir schreiten auf dem Weg Gottes voran. Wir streben danach, das Banner Gottes zu erheben. Unser Blut soll wahrlich ein ums andere Mal vergossen werden.« Manchmal heißt es aber auch nur ganz platt: »Sprengt sie in die Luft!« Der Hamburger Islamwissenschaftler und Verfassungsschutzmitarbeiter Behnam Said veröffentlichte kürzlich ein Buch über die Hassgesänge: Hymnen des Jihads (ErgonVerlag). im Nacken? Wie viele abgedankte Chefs respektieren ihren jüngeren Nachfolger? Benedikt, 89, erwiderte am Dienstag die demonstrative Freundschaftsgeste von Franziskus, 79, mit den Worten: »Ich hoffe, Sie gehen für uns weiter voran!« Und: »Ich danke Ihnen für Ihre Güte, die mich mehr erfreut als die Schönheit der vatikanischen Gärten. Ich fühle mich beschützt!« Das klang blumig und sogar ein bisschen sentimental. Aber es war eine klare Ansage an all jene, die gern einen Keil zwischen den amtierenden Papst und den Emeritus treiben wollen. Die sich wünschen, aus einer Feindschaft der Chefs Nutzen zu ziehen, vor allem Unterstützung gegen den Reformkurs Bergoglios. Jeder in Rom weiß, dass aus der Fraktion der Besitzstandswahrer immer wieder Einzelne bei Joseph Ratzinger – der zurückgezogen innerhalb der vatikanischen Mauern lebt – Trost und Beistand suchen. Jeder weiß es, keiner spricht die Peinlichkeit laut aus. Nur Franziskus. Der sagte gen, als etwa Heavy Metal oder Rockmusik. Man erhofft sich durch den Einsatz dieser Musik eine gewisse gesellschaftliche Resonanz. ZEIT: Manche Anaschid wirken geradezu kitschig. Ist das die typische Dschihad-Romantik? Said: Wie jede Ideologie muss auch der Dschihadismus in konsumierbare Päckchen verpackt werden. Emotionen zu erwecken spielt dabei eine wichtige Rolle. Über Gesang wird ein Gruppenzusammenhalt suggeriert und dann tatsächlich auch hergestellt. Wenn sich jemand aus Deutschland zum Kämpfen auf den Weg nach Syrien macht, dann folgt er oft auch einer Sehnsucht, die die Aufnahmen von singenden Mudschahedin am Lagerfeuer mitausgelöst haben können. ZEIT: Es gibt dschihadistische Anaschid, die in klassischen arabischen Versmaßen gearbeitet sind. Daneben stehen ungelenke deutsche Zeilen des beim IS aktiven Berliner Ex-Rappers Deso Dogg alias Denis Cuspert, die zum Beispiel so gehen: »Euer Ende nähert sich, verkrüppelte Soldaten, Augen gingen verloren, Körper ohne Beine, wir wollen euer Blut.« Da tut sich eine Kluft auf. Said: Literarisch und musikalisch sind solche deutschen Gesänge ohne Zweifel minderwertig. Aber das ist nicht entscheidend. Hier geht es um Authentizität, und da ist die Szene wenig wählerisch. ZEIT: Werden durch Anaschid auch Ideologie und Wissen vermittelt? Said: Ja, sie sollen Ideologie-Transmitter sein. Manche Anaschid-Sammlungen haben Vorworte, aus denen das klar hervorgeht. Der Topos der Gotteskrieger als Avantgarde des Islams ist ein Ideologieversatzstück, das immer wieder besungen wird. ZEIT: Spielen Anaschid eine Rolle bei der Radikalisierung? Said: Beabsichtigt ist das in jedem Fall. Messen kann man es nur schlecht. Aber nehmen wir zum Beispiel Samir Khan, einen mittlerweile getöteten US-Bürger, der Mitglied bei Al-Kaida im Jemen war und für das dschihadistische Onlinemagazin Inspire schrieb. Khan hat in einem Text einmal die Emotionen beschrieben, die das Anhören von Anaschid bei ihm ausgelöst hat. Er beschrieb, wie er in einem Jeep durch die Wüste fuhr, den Wind auf dem Rückflug von Armenien nach Rom: Er höre, dass »einige Leute« in den Vatikan gingen, um sich bei Benedikt über ihn zu beklagen. Doch dieser, weise, schicke sie weg. Die italienische Tageszeitung La Repubblica zitierte Franziskus im Wortlaut: »Er hat die Tür für den neuen Papst geöffnet. Aber es gibt nur einen Papst!« Das musste gesagt werden, weil der deutsche Präfekt des päpstlichen Hauses, Georg Gänswein, zuvor öffentlich über ein doppeltes Papsttum philosophiert hatte, dann revidierte er sich. Das hätte einen Riesenskandal geben können. Oder (aus Sicht der Franziskus-Gegner noch besser) Zwist zwischen den Chefs. Aber da rechneten sie nicht mit dem machtpolitischen Geschick des Barmherzigkeitspapstes. Eine seiner schärfsten Waffen ist seine Offenheit: Er sagt, was ist. Gern unterwegs, im Flugzeug, aber auch im Vatikan. Lächelnd spricht er aus, worüber die anderen schweigen – und entwaffnet sie. in den Haaren, und dabei ein Loblied auf Osama bin Laden hörte. ZEIT: Bitte noch ein Beispiel. Said: Die Mitglieder der sogenannten Frankfurter Zelle, die im Jahr 2000 einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Straßburg und eventuell auch auf eine Synagoge geplant hatten, hörten im Auto stets Anaschid. Andere Terroristen hörten Anaschid beim Zusammenbauen eines Sprengsatzes. Die Songs sind also mindestens eine Begleitmusik der Radikalisierung. Natürlich gibt es radikale Musikstile auch in ganz anderen Bereichen, etwa im Rechtsextremismus. ZEIT: Sie sind Verfassungsschützer. Würden Sie sagen, es ist ein Alarmzeichen, wenn jemand dschihadistische Kampflieder hört? Said: Ja, definitiv. Man kann aus den angehörten Liedern Rückschlüsse auf den Grad der Radikalisierung ziehen, aber auch darauf, ob jemand eher dem IS oder eher Al-Kaida zuneigt. ZEIT: Wäre es sinnvoll, Anaschid zu verbieten? Said: Einige deutsche Anaschid sind durch die Prüfstelle für jugendgefährdende Medien bereits indiziert worden. In Zeiten des Internets sind Verbote allerdings schwer durchzusetzen. ZEIT: Wie produziert der IS eigentlich Anaschid unter den Bedingungen eines Krieges in Syrien oder im Irak? Said: Nicht alle Anaschid, die Gruppen wie alKaida oder der IS einsetzen, wurden auf den Schlachtfeldern produziert. Es gibt auch NaschidDichter und -Sänger andernorts, zum Beispiel auf der Arabischen Halbinsel, deren Hymnen im Tonstudio aufgenommen wurden. Auch im Irak und in Syrien gibt es trotz des Krieges professionelle Möglichkeiten, solche Aufnahmen zu machen. ZEIT: Sind Anaschid eine eigene dschihadistische Subkultur? Said: Ja, und die Subkultur ist mittlerweile vollständig und global ausgeprägt. Sie erlaubt es ihren Anhängern, sich in einer ganz eigenen Welt zu bewegen. Ich glaube, dass diese Kultur wichtiger ist für den Erfolg des Dschihadismus als seine zugrunde liegende Ideologie. Das Gespräch führte Yassin Musharbash Lächelnder Machtpolitiker Bergoglio, kurz vor dem Abflug Illustration: Smetek für DIE ZEIT 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 52 30. J U N I 2016 A N S AG E Warum wir reisen müssen Reisen »Für das gibt es keinen Ersatz. Zu Hause sind andere die Fremden, unterwegs sind wir es selbst« Foto: Birgit Reitz/Prisma [M]; Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag (r.u.) I ch glaube an das Reisen. Zu diesem Satz habe ich mich neulich in einer Diskussion unter Freunden hinreißen lassen. Es ging um die Angst in Zeiten von Terroranschlägen und Reisewarnungen, und ich wollte die vielen Gegengründe, die ich nicht entkräften konnte, wenigstens an ihren Platz verweisen. Dass sich Touristen in manchen Ländern nicht mehr sicher fühlen, kann ich verstehen. Ich weiß auch, dass immer mehr Strände mit Hotels zugebaut werden und Golfplätze in unberührter Natur entstehen. Es gibt gute Gründe, zu Hause zu bleiben, manchmal liegt es schlicht am fehlenden Geld. Trotzdem glaube ich an das Reisen. Wahrscheinlich weil ich damit erwachsen geworden bin. Meine erste Reise habe ich mit achtzehn unternommen. Zusammen mit dem Freund meiner Schwester, die typische Initiation ins eigenständige Unterwegssein: Interrail. Über Paris an die Côte d’Azur, von Nizza nach Rom und weiter zur Küste von Apulien, dann übers Meer nach Korfu. Zusammen mit anderen Rucksacktouristen saßen wir nachts an Deck der Fähre, ich hörte zum ersten Mal Losing my Religion, und nichts wäre glaubwürdiger als die Behauptung, es sei toll gewesen. War es aber nicht. Ich fühlte mich nicht frei, sondern verloren. Größer als meine Neugierde waren Unsicherheit und ein peinliches Gefühl aus der Kindheit: Heimweh, jene Einsamkeit in der Fremde, gegen die der schönste Sonnenuntergang nichts ausrichten kann. Vielleicht hatte es mit meiner Herkunft zu tun. Kindheit und Jugend habe ich in einer hessischen Kleinstadt verbracht, in einem Haus, in dem meine Eltern bis heute wohnen. Ich weiß, wo mein Zuhause ist, und ich liebe es, aber inzwischen lebe ich mit meiner taiwanischen Freundin am Stadtrand von Taipeh. Da die Grammatik keinen Plural erlaubt, spreche ich von meinem zweiten Zuhause. Auch das liebe ich. Zwischen beiden liegen Welten, zehntausend Kilometer, ein langer Weg im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. An meinen ersten Aufbruch nach Asien erinnere ich mich gut. Nach vier Semestern Philosophie-Studium in Berlin und ohne über China mehr zu wissen, als jeder weiß, bewarb ich mich um ein Stipendium in Nanking. Ich wolle mich mit chinesischer Philosophie beschäftigen, behauptete mein Antrag etwas großspurig. Es war ein wagemutiger Schritt, beinahe eine Selbstüberrumpelung. Bisher war ich nie länger als ein paar Wochen aus Deutschland fort gewesen. Als der Brief kam, in dem man mir zum Stipendium gratulierte, war ich geschockt. Aus der vagen Fantasie von Reisen in Asien wurde die Aussicht auf eine einjährige Trennung von meiner damaligen Freundin. Der Abschied fiel mir schwer. Ich hatte keine Ahnung, was mich in China erwarten würde. Die Fremde ist jener Teil der Welt, in dem wir uns nicht auskennen und uns folglich unsicher und angreifbar fühlen. Wir verstehen die Sprache nicht, die Sitten sind uns unvertraut, wir sind auf Hilfe angewiesen, ohne zu wissen, ob jemand es gut mit uns meint. Zu reisen verlangt die Bereitschaft, sich einem Ri- VON STEPHAN THOME siko auszusetzen, und wir tun es, weil Fremdheit zwar bedrohlich, aber gleichzeitig verlockend ist. Nur wer die Angst bezwingt und das Bedürfnis nach vertrauter Umgebung suspendiert, wird den Gewinn genießen, den wir uns vom Reisen erhoffen. In kognitive Verwirrung zu geraten ist Teil der Erfahrung. Trotz zweier Sprachkurse in Deutschland verstand ich in Nanking anfangs kein Wort. Von den tausend Schriftzeichen auf Schildern und Speisekarten konnte ich nur ein paar Dutzend lesen. Auf der Straße starrten Menschen mich an und zeigten mit dem Finger auf mich. Nie zuvor hatte ich eine Hitze erlebt, wie sie im Sommer über dem unteren Jangtse-Tal hängt. Aus Deutschland kannte ich Baustellen, in China wurden ganze Städte umgepflügt. Neben den Baugruben campierten Heerscharen von Arbeitern. Mit einem zwei Jahre alten Stadtplan von bestenfalls historischem Wert erkundete ich die fremde Umgebung. Nach einer Woche begann der Unterricht, und nach einem Semester gab ich ihn auf. Statt im Chor die Sätze zu wiederholen, die der Lehrer uns vorsagte, ging ich auf Reisen. Ich wollte nicht nur die Sprache lernen, sondern China erkunden. Mit Zug und Bus fuhr ich in die abgelegensten Winkel des Landes, an die Grenze zu Myanmar und Vietnam, durch die Berge von Sichuan und hinauf nach Tibet. Es gab Momente, in denen ich an der Sprachbarriere verzweifelte, das Essen nicht vertrug oder das verdreckte Kopfkissen einer Pension in Plastiktüten packen musste, um darauf schlafen zu können. Und es gab andere, in denen ich glücklich auf endlose Reisfelder schaute oder von gastfreundlichen Chinesen zum Tee eingeladen wurde. Fremdheit ist keine Eigenschaft einer Person oder eines Ortes. Sie spiegelt die Empfindung von Distanz zwischen dem eigenen und dem anderen, dem Vertrauten und dem Neuen. Viel später, in einer Doktorarbeit über konfuzianische Philosophie, habe ich zu zeigen versucht, dass unser Selbstverständnis der Herausforderung durch das Fremde bedarf, um seine Selbstverständlichkeit zu verlieren. Was selbstverständlich ist, weil es immer so war, bleibt dem bewussten Hinterfragen entzogen. Es liegt in jenem toten Winkel, in dem auch Vorurteile gedeihen: Urteile über die Welt, bevor wir sie angeschaut haben. Mein Aufenthalt in China hat mir damals eine neue Welt eröffnet und mich an das herangeführt, worin ich bis heute den Sinn des Reisens sehe: die Erfahrung von Fremdheit mitsamt der erfrischenden Verwirrung, die sie auslösen kann; der Versuch, etwas zu verstehen, das sich unserem Verständnis zunächst entzieht; die Entdeckung, dass sich die Distanz verringern lässt und wir dabei etwas über uns selbst lernen. Für mich kam diese Erkenntnis nicht schlagartig, sondern allmählich. Etwas begann sich unterwegs zu verändern. Mein Chinesisch wurde besser, ich redete mit Taxifahrern und Mönchen und erfuhr mehr über das Land, als ich im Unterricht hätte lernen können. Vieles von dem, was ich sah, blieb mir unverständlich, aber vor allem war es spannend. Seitdem bin ich oft durch China und andere Länder Asiens gereist. Vor jedem Aufbruch gibt es einen Widerstand, den ich überwinden muss, dafür bietet jede Reise Erlebnisse, auf die ich für nichts in der Welt verzichten würde. Manchmal sind sie auf den ersten Blick ganz unscheinbar. »Reisen verlangt die Bereitschaft, sich einem Risiko auszusetzen« Nach einem Studienjahr in Japan fuhr ich 2002 mit dem Schiff von Osaka nach Shanghai und von dort weiter nach Westen, am Hochplateau des Himalaya vorbei und durch die riesige TaklamakanWüste bis in den zentralasiatischen Teil Chinas. In der Wüste fuhr der Bus drei Tage lang geradeaus, durch eine verstaubte Landschaft ohne Hinweis auf Leben. Die Sitze waren unbequem, ich hatte Sand in den Ohren und seit mehreren Tagen nicht geduscht. Der Mann neben mir sagte vier oder fünf Stunden lang kein Wort, bis er sich plötzlich zu mir umdrehte und fragte: »Was machst du hier? Es gibt nichts.« Er wollte seine Familie in Kashgar besuchen, ich bin einfach gereist. Durch die weiteste, leerste Landschaft, die ich je gesehen hatte. Dass ich nirgendwo anders sein wollte, konnte ich meinem Sitznachbarn nicht vermitteln. Das Privileg des frei gewählten Fremdseins, das ich genoss, war ihm unbekannt. Wenn ich sage, dass ich trotz allem an das Reisen glaube, meine ich: Es gibt dafür keinen Ersatz. Was ich in Kashgar über das Leben der Uiguren gelernt habe, hätte mir eine Fernsehdokumentation vielleicht präziser vermitteln können, aber die Frage nach dem Wozu des Reisens ist falsch gestellt, wenn sie das Erleben ausblendet. In der Fremde sind wir aufmerksamer, sehen mehr und hören genauer hin. Statt in den vorgegebenen Bahnen des Alltags bewegen wir uns auf unbekanntem Terrain. Tastend, voller Spannung, staunend. Vielleicht wird es heutzutage immer schwieriger, etwas zu erleben. Wo jedes alltägliche Ereignis zum Event hochgejubelt wird, das man nicht verpassen darf, beschleicht uns das schale Gefühl, alles schon mal gesehen und erlebt zu haben. Mindestens waren wir auf Facebook dabei, als Freunde es erlebt haben. Schwankend zwischen Erlebnishunger und Abgeklärtheit, glauben manche, dass sich der Aufwand des Reisens nicht mehr lohne. Wer doch aufbricht, steht sich im entscheidenden Augenblick oft selbst im Weg, buchstäblich: Vor jeder Touristenattraktion in Asien stehen Menschen und knipsen sich selbst. Die kleine Stange, an der man ein Smartphone befestigt, um sich selbst zu fotografieren, heißt auf Chinesisch zipai shenqi und bedeutet so viel wie »genialer Apparat für Selfies«. Ob sein Siegeszug von Genialität zeugt, weiß ich nicht, aber auch ohne Stange erscheint mir das Selfie symptomatisch für unsere heutige Zeit zu sein: Wir drohen das Reisen zu verlernen, weil wir das Erleben verwechseln mit der Inszenierung von Erlebnissen. Statt uns einer fremden Umgebung auszusetzen, setzen wir uns in ihr in Szene. Statt Orte zu entdecken, machen wir sie zur Kulisse unserer Selbstbespiegelung. Aus der erhellenden Verwirrung, in die wir in der Fremde stürzen können, wird die fröhliche Beliebigkeit unseres Lächelns vor wechselnden Hintergründen. Ist das ein Gedanke für Spielverderber? Vielleicht. Ich kann aber nicht an das Reisen glauben, ohne davon überzeugt zu sein, dass es wichtig ist. Ich musste es erst lernen, bevor ich es genießen konnte, und wenn ich heute zurückschaue, sehe ich mehr als eine Abfolge von Etappen: Aus den vielen Wegen, die ich gegangen bin, wurde der eine, den ich gekommen bin. Er besteht aus Erfahrungen und Erlebnissen, die ich nicht missen möchte, auch wenn manche unangenehm waren. Als mir 2010 in Delhi der Pass geklaut wurde, musste ich zur Ausländerpolizei, um ein Ausreisevisum zu beantragen. Eine solche Behörde hatte ich noch nie gesehen. Es gab zwei Schalter, einen für Afghanen, einen für den Rest. Afghanen, angeblich die größte Ausländergruppe in Indien, sah ich nur wenige, dafür zog sich die Schlange für alle anderen durch mehrere Flure. Vor mir stand ein Student aus Mali und sagte, es sei sein vierter Tag. An den ersten dreien war die Öffnungszeit zu Ende, bevor er den Schalter erreicht hatte. Zu den Gedanken, die mir in den nächsten Stunden durch den Kopf gingen, bekenne ich mich ungern. »Das können die mit mir nicht machen, ich bin Deutscher!« Ich wollte das nicht denken, aber ich habe es gedacht. Zum Glück gab es niemanden, dem ich es hätte sagen können. Nach fünf Stunden erreichte ich den Schalter. Die Frau dahinter aß Kartoffelchips aus einer großen Tüte. Zehn Minuten lang würdigte sie mich keines Blickes. Als die Tüte leer war, stöhnte die Frau demonstrativ auf und stempelte den Antrag. Meine Freundin mag die Geschichte. Mit ihrem taiwanischen Pass muss sie auf vielen Flughäfen skeptische Fragen beantworten und beweisen, dass sie nicht vorhat zu bleiben. Für mich war es das erste Mal, dass mir ein Status vorenthalten wurde, den ich mir angewöhnt hatte, normal zu finden. Zu Hause sind andere die Fremden, unterwegs sind wir es selbst. Das kann befreiend oder beklemmend, beglückend oder bedrohlich sein. In jedem Fall ist es lehrreich. Es eröffnet kleine Einsichten und setzt Denkprozesse in Gang, die unser Weltbild erweitern. Oft bewirkt es eine Veränderung, die uns erst bewusst wird, wenn wir zu Hause fragwürdig finden, was vorher selbstverständlich war. Die Rückkehr von meiner ersten China-Reise war so verwirrend wie die Ankunft ein Jahr zuvor. Die Beziehung zu meiner Freundin hielt nicht mehr lange. Freunde konnte ich mit Reiseanekdoten unterhalten, aber was die Erfahrung für mich bedeutete, wusste ich nicht. Inzwischen pendele ich zwischen zwei Erdteilen und Sprachen. Jeder Aufbruch ist zugleich eine Rückkehr. Dabei entsteht eine Übersetzung, die jeder Reisende leisten muss: das Fremde in eigene Begriffe fassen, dem Erlebten einen Sinn geben und ihn mit anderen teilen. Diese Übung erscheint mir unverzichtbar in einer Welt, deren kulturelle Unterschiede immer größere Konflikte verursachen, obwohl sie von der Globalisierung angeblich eingeebnet wurden. Vom chinesischen Schriftsteller Lu Xun stammt die Einsicht, dass Wege erst entstehen, wenn jemand sie geht. Bevor man ihnen folgen kann, müssen sie gebahnt werden, aber beides geschieht gehend, und der Gehende selbst weiß manchmal nicht, ob er das eine oder das andere tut. Vielleicht spielt es auch keine Rolle, solange es Neugierde ist, die uns antreibt. Dann ist das Reisen eine vielleicht mühsame Art der Fortbewegung, die mit Sicherheit ans Ziel führt. Immer wieder. Der endlose Umweg, für den es keine Abkürzung gibt. www.zeit.de/audio Stephan Thome, 43, Schriftsteller, schrieb die Romane »Grenzgang«, »Fliehkräfte« und »Gegenspiel« D I E Z E I T No 2 8 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 SAMY DELUXE SIEHT IN GLÜCKLICHE MÄNNERGESICHTER Silvester 1999 habe ich meinen ersten Trip in die USA gemacht – nach San Francisco, wo die Mutter meiner damaligen Frau lebte. In Hamburg bin ich als Hip-Hop-Fan mit der amerikanischen Kultur aufgewachsen. Schon deshalb fand ich es spannend, sie jetzt mal live zu erleben. Ich habe dort natürlich Hip-Hop-Klamotten gekauft, endlich in den richtigen Übergrößen, und mich beim Burger-Essen über die ganzen Optionen gewundert: Wie soll das Fleisch sein? Welcher Käse? Noch ein Belag extra? Richtig neu war für mich, wie bunt eine Stadt sein kann. Wir wohnten oben am Hügel des Castro-Viertels, mitten in der Regenbogenfahnengegend. Ich fand es cool, als Heterosexueller dieser Kultur zu begegnen, von der ich zu Hause wenig gesehen hatte – als Jugendliche haben wir die homosexuelle Community nur auf den Sex reduziert. Wir haben jeden Morgen in einem Café gefrühstückt, das ein schwules Paar betrieb. Viele Stammgäste haben aus ihrem Urlaub Fotos an die beiden geschickt, und jeden Morgen sah ich so beim Kaffee in lauter glückliche Männergesichter: Riesenberserkertypen mit Bärten und muskulösen Armen, die am Strand lagen oder in den Bergen kletterten. Da habe ich das ganz Normale dieser Beziehungen gesehen – dass es einfach Menschen sind, die sich lieben. Und ich habe kapiert, dass ich mich mal ein bisschen lockerer machen sollte. Das hat uns verändert Unterwegs stoßen wir auf Dinge, die uns die Augen öffnen. Neun Prominente – neun bleibende Erinnerungen Samy Deluxe, 38, Rapper ANTON HOFREITER ERLEBT EINEN SCHOCK IM GEBIRGE So leuchtende Farben wie in der peruanischen Cordillera Blanca habe ich sonst noch nirgendwo gesehen. Die Sonne steht dort viel steiler und lässt alles intensiver strahlen: Du kletterst einen Viertausender hinauf und blickst auf blendend weiße Gletscher vor tiefblauem Tropenhimmel. Und in 4500 Meter Höhe wachsen noch wunderschöne Blumen. In den Neunzigern war ich mehrmals dort. Ich forschte über südamerikanische Pflanzen. Unterwegs im Gebirge plauderte ich mit den Bauern, die ihre kleinen Felder bestellten. Sie erklärten mir: Es regnet in den Tälern Richtung Küstenwüste fast nie, aber wir haben ja die Gletscher, deren Sommerschmelzwasser in unsere Bewässerungsgräben fließt. 2013 war ich wieder in Peru, als Tourist. Und war geschockt: Mit bloßem Auge konnte ich sehen, wie stark die Gletscher zurückgegangen waren. Auch die Bauern sagten mir: Das Wetter ändert sich. Da begreift man, was für eine Verantwortung wir haben. Wir in den reichen Ländern blasen massenhaft CO₂ in die Luft. Und in naher Zukunft verdorren diesen Bauern dann ihre paar Pflanzen. Ich stand da, mit flauem Gefühl im Bauch, und dachte: Wir müssen handeln, sofort. CHRIS DERCON MISST SICH MIT EINER ECHSE Auf dem Archipel Fernando de Noronha ist alles übergroß: die Wellen, die ans Ufer schlagen, die Fische im Wasser, die Reptilien. Einmal bin ich am Strand eingeschlafen, und als ich aufwachte, lag neben mir eine Echse, so lang wie ich! Selbst die Pflanzen sind riesig, ihre Blüten, ihre Blätter, die Inseln wirken überladen mit Chlorophyll. Der Archipel liegt 545 Kilometer vor der Küste Brasiliens. Ein wilder Flecken, entdeckt von Portugiesen, später hat Charles Darwin ihn bereist. Ich war dort 2003. Eigentlich bin ich hingeflogen, um eine Ausstellung über Frans Post vorzubereiten – einen niederländischen Künstler, der als erster Europäer Brasiliens Landschaft gemalt hat. Aber ich verlor mich zwischen den unwirklichen Erscheinungen ringsum. Jeden Tag sah ich Massen von Walen, Delfinen, Chamäleons, rätselhaften Reptilien und Pflanzen, die Insekten verschlangen – und nachts geisterten sie durch meine Träume. Ich hatte damals gerade Michel Leiris gelesen, einen französischen Schriftsteller und Ethnologen. Leiris schreibt: Reise, aber reise nicht zu viel. Auf den Inseln merkte ich, wie recht er hat. Wie aufregend es ist, eine neue Welt zu entdecken. Dass man aber auch Zeit braucht, die Erlebnisse in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. JUDITH HOLOFERNES SCHREIBT SICH IN EINEN RAUSCH Vergangenes Jahr bin ich spontan auf die Färöer-Inseln gefahren, um einen befreundeten Musiker zu besuchen. Im Juni herrschen dort oben im Norden ganz besondere Lichtverhältnisse: Wegen der Mitternachtssonne ist auch nachts alles in ein silbriges Dämmerlicht getaucht. Wenn die Besoffenen frühmorgens aus den Kneipen der Hauptstadt Tórshavn taumelten, war es beinahe schon wieder taghell. Dadurch hatte die Szene was von der Zombieserie The Walking Dead. Ich habe wenig geschlafen. Auch weil es den Färingern schnurz ist, ob sie Vorhänge an den Fenstern haben oder transparente Seidensaris wie mein Gastgeber. Die latente Müdigkeit und das surreale Licht versetzten mich in einen fast meditativen Geisteszustand. Gleichzeitig spürte ich eine wahnsinnige Energie. Das lag an der Natur um mich herum: Es gab sanft rollende Hügel, raue zerklüftete Klippen, und besonders schön fand ich die Felsnadeln, die aus dem Meer herausragen. Dazu erinnerte mich die Landschaft an Mittelerde, weil überall kleine flache Häuser mit Grasdächern aus der Erde wuchsen. Diese gewaltige Umgebung hat mich ungemein inspiriert, wir haben Lieder geschrieben wie in einem Rauschzustand! Fotos: privat KATHARINA WACK ERNAGEL STELLT SICH INTIMEN FRAGEN MAX HOLLEIN LERNT DEN VATER NEU KENNEN Der Altausseer See ist umfangen von hohen Bergen. Es gibt dort nur einen einzigen Ort, Altaussee. Meine Eltern liebten diesen idyllischen Fleck im österreichischen Salzkammergut. Sie mochten auch, dass er Kulturschaffende anzog – auf der Straße begegnete man Klaus Maria Brandauer, Marcel Reich-Ranicki oder dem Regisseur Hans Neuenfels. Wir fuhren jeden Sommer hin. Als Kind war ich davon nicht so begeistert. Es regnete viel, das Wasser war kalt. Es gab keine Segelboote, keine Surfer. Wir unternahmen jedes Jahr dasselbe: eine Elektrobootfahrt, eine Bergtour, eine Wanderung. Damals wäre ich lieber mal nach Italien an den Strand gereist. Erst als ich den See mit meiner Frau besuchte, entdeckte ich seine wirkliche, beruhigende, romantische Schönheit – dass man vom Ort auf nichts als Wasser und Felswände schaut. Und wenn Gewitter aufziehen, reflektieren die Berge den Schall, das hat was Theatralisches. Ich fand es auch nicht mehr zu kühl, sondern dachte: Angenehm, diese Sommerfrische. Solange mein Vater Hans noch lebte, waren wir jedes Jahr mit ihm in Altaussee. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Heute bin ich dankbar für die gemeinsame Zeit dort. Mein Vater hat seinen Beruf als Architekt gelebt und geliebt, zu Hause war er im Kopf sieben Tage die Woche damit beschäftigt. Aber in Altaussee ist er zur Ruhe gekommen – und so konnte ich Familie anders erleben als daheim: Wir waren aufeinander bezogen, ohne große Ablenkung. Im Andenken an meine Eltern haben meine Schwester und ich am See eine Bank aufstellen lassen. Und wir wollen weiter jedes Jahr nach Altaussee reisen. Sandra Maischberger, 49, Journalistin und Moderatorin Katharina Wackernagel, 37, Schauspielerin MARGOT KÄSSMANN WIRD ZU TRÄNEN GERÜHRT SANDRA MAISCHBERGER BEGEGNET DER ANG ST Mit 19 oder 20 flog ich zum ersten Mal nach Thailand. Noch im Flugzeug hielt ich mich für reiseerfahren. Immerhin war ich schon mal mit einem altersschwachen Leihwagen durch die Wüste Colorados gefahren. Dann stieg ich in Bangkok aus, und es haute mich fast um: Ich hatte das Gefühl, ich stehe in einem Dampfbad. Und erst der Verkehr! Man sah vor lauter Autos, Tuk-Tuks, Lastwagen und Mofas nicht, wo eine Fahrbahn aufhörte und die andere anfing. Am meisten bewegt hat mich aber ein Erlebnis in Chiang Rai, Nord-Thailand. Dort übernachtete ich in einer kleinen Hütte, mitten im Urwald. Vor dem Einschlafen fiel mir noch der Lärm auf: Draußen brummte, summte, kreischte es. Dann wachte ich später in der Nacht wieder auf – und musste mal raus. Ich knipste die Taschenlampe an, leuchtete in die Dunkelheit. Und sah nicht einen Fleck, an dem sich nichts bewegt hätte. Ich hatte nur Schlappen an, bei jedem Schritt knirschte es unter den Sohlen. Ich wagte nicht, mich an einem Baum festzuhalten, weil ich ja nicht wusste, was da alles krabbelte. Nie hätte ich gedacht, dass die Natur mich so ängstigen kann. Und zugleich war ich von ihr fasziniert: Diese schiere Lust am Erschaffen zu erleben, das war für mich ein überirdischer Moment. Die Tour hat meine Begeisterung für den Urwald geweckt – und mich furchtloser gemacht. Wieder zu Hause, dachte ich: Unsere Spinnen sehen so harmlos aus. Mein Onkel hat eine Zeit lang in Mali gelebt. Vor vier Jahren habe ich ihn in Bamako besucht, einer riesengroßen, flachen Stadt. Die Menschen dort wohnen in Ziegelsteinhäusern, die aussehen wie Rohbauten ohne Fensterscheiben. Ich dachte beim ersten Anblick, o je, die sind alle noch nicht fertig. Dabei braucht man in Bamako einfach keine Scheiben, weil es das ganze Jahr über heiß ist, man benötigt nur ein Dach über dem Kopf, wenn es regnet. Eingerichtet sind die Wohnungen spartanisch, eine Matratze liegt auf dem Boden, dazu ein paar Sitzkissen. Das eigentliche Leben findet auf der Straße statt: Die Kinder spielen vor der Tür, die Frauen kochen an Feuerstellen, die Männer diskutieren am Straßenrand. Komm, wir machen eine kleine Runde, hat mein Onkel am ersten Abend gesagt. Wir kamen aus dem Grüßen gar nicht mehr raus: Ça va? Ça va bien? Am Samstag hat mein Onkel dann seine Boxen auf die Straße gestellt und Gitarre gespielt, die Nachbarn haben mitgemacht, und viele haben sich mit mir unterhalten: der Taxifahrer von nebenan, der Fotograf, der in seinem Studio fast nur Hochzeitspaare porträtiert, der Arbeiter, der um die Ecke im Steinbruch arbeitet. Wie geht es deiner Mutter?, fragten sie mich, und: Was, noch keine Kinder? Noch nicht verheiratet, um Himmels willen! Und alle waren sie ungemein herzlich. Die Reise hat mir die Augen geöffnet, wie abgeschottet wir in Deutschland wohnen: Wir kennen unsere Nachbarn kaum noch, fragen uns höchstens, wer wieder die Haustür offen gelassen hat, und ziehen uns in die sorgsam ausgewählte Inneneinrichtung zurück. Max Hollein, 46, leitet das Fine Arts Museum in San Francisco Chris Dercon, 58, ist bis 31. August 2016 Emeritierter Direktor der Tate Modern in London. 2017 wird der Belgier Intendant der Volksbühne Berlin Anton Hofreiter, 46, Botaniker und Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion Judith Holofernes, 39, Sängerin 53 WA R U M W I R R E I S E N M Ü S S E N ROBERT STADLOBER TRINKT SICH DURCH Vor zehn Jahren lud ein Musiker aus Transnistrien mich und zwei Freunde in seine Heimat ein. An der Grenze mussten wir erst einmal Schmiergeld zahlen und zwei Dosen Mückenspray obendrauf legen. Als wir dann aber mit unserem kleinen Bus das Dorf erreichten, in dem die Eltern des Musikers wohnten, wurden wir wie der Kaiser auf der Durchreise empfangen. Die Familie hatte ein gigantisches Buffet aufgebaut, es gab eingelegten Fisch, Speck, Käse, Gemüse, die komplette Verwandtschaft begrüßte uns mit selbst gebranntem Schnaps und führte uns in den Weinkeller: Jede Familie dort keltert ihren eigenen Wein, ihn mit dem Gast zu teilen gilt als höchste Ehrbezeugung. Wieder bei Tisch, hielt alle fünf Minuten jemand einen Trinkspruch auf uns, nach zwei Stunden waren wir hackebesoffen. Jetzt gehen wir in die Dorfkneipe, hieß es, und das machten wir auch. Ich kann kaum Russisch, und keiner dort sprach etwas anderes als Russisch. Trotzdem haben wir uns zehn Stunden lang bei Bier und Schnaps über alles Mögliche unterhalten, von Lenins Imperialismus-Thesen bis hin zur US-Außenpolitik. Keine Ahnung, wie das ging, aber es war eine der aufregendsten Nächte, die ich je hatte. Ich fühlte mich zum ersten Mal nicht als Tourist, sondern als Reisender, so wie vor 300 Jahren: als man an einen fremden Ort kam und es beiden Seiten um den neugierigen Austausch miteinander ging. Robert Stadlober, 33, Schauspieler und Musiker Die Ruine des Rana-Plaza-Gebäudes in Dhaka, Bangladesch, habe ich durch Zufall entdeckt: Im Februar reiste ich durch Asien und unterhielt mich in Dhaka mit einer Frau, die ich über die Kirche kennengelernt hatte. Sie sagte: »Sie sollten unbedingt Rana Plaza sehen – die Textilfabrik, die vor drei Jahren eingestürzt ist.« Wir fuhren los, durch lärmenden Verkehr, Rikschas, Mofas, Autos, Laster. Dann kamen wir an einen Platz mit einer Ruine aus Beton in der Mitte: die Überreste der Fabrik. Vor den Trümmern standen zwei junge Frauen und ein älterer Mann, versunken wie in eine Art Gebet. Ein Moment der Stille in dieser tosenden Stadt. Ich wurde selber ganz ruhig und dachte nach: darüber, dass wir mitverantwortlich sind für all die Toten. Weil wir T-Shirts für fünf Euro kaufen und es uns egal ist, wie und wo unsere Hosen genäht werden. Und dass wir Katastrophen wie diese viel zu schnell vergessen. An die Rana Plaza erinnert sich bei uns keiner, weil das Unglück in Banglasdesch geschah – dabei gab es mehr als 1000 Tote und 2500 Verletzte. Dann war es vorbei mit der Stille, viele Leute kamen herbeigelaufen. Alle wollten der Europäerin erzählen, wie sie den Tag des Einsturzes erlebt hatten. Sie freuten sich sehr, dass sich jemand für ihr Schicksal interessierte. Später besuchte ich noch ein Projekt ein paar Häuser weiter. Dort können die 600 Kinder, die bei der Katastrophe ihre Mutter verloren haben, nach der Schule spielen. Sie drängten sich um uns, zwei hielten lange meine Hand. Ein Mädchen stellte sich vor mich hin und sang: We shall overcome. Ich hatte Tränen in den Augen. Gleichzeitig merkte ich, dass es eben schlicht Kinder waren, die scherzten und lachten, Kinder, die eine Zukunft wollen. Der Platz und diese Kinder – sie haben mich mehr beeindruckt als alles, was ich auf dieser Asienreise sonst noch sah. Margot Käßmann, 58, Theologin und Pfarrerin, zurzeit unterwegs als »Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017« 54 30. J U N I 2016 WA R U M W I R R E I S E N M Ü S S E N Allein unter der Sonne Jetzt in die Türkei? Die Deutschen haben ihrem geliebten Urlaubsziel den Rücken gekehrt. Was bedeutet das für die Gastgeber, und wie denken sie jetzt über uns? Ein Besuch in Alanya TEXT: MICHAEL ALLMAIER, FOTOS: CHARLOTTE SCHMITZ Türkische Urlauberin am Kleopatrastrand von Alanya D I E Z E I T No 2 8 30. J U N I 2 0 1 6 55 D I E Z E I T No 2 8 WA R U M W I R R E I S E N M Ü S S E N D er Junge sagt, er sei schon elf. Aber das mag geschwindelt sein; er sagt auch, er heiße Hermès. Er verkauft fast echte Markenkleidung in der Altstadt von Alanya. Wenn jemand vorbeikommt, der nach Tourist aussieht, klappert er eine Melodie mit den Sohlen zweier Sandalen. »Come in, my friend. Special price for you today!« Im Laden ist keine Menschenseele bis auf einen mürrischen jungen Mann; Hermès ist sein Cousin. Zeitvergeudung, das alles hier, sagt er. »Die Bomben in Istanbul versauen mein Geschäft.« Er weiß noch nicht, dass in drei Wochen ein Anschlag den AtatürkFlughafen treffen wird. Aber er hat an diesem Morgen von dem Attentat auf einen Polizeibus gelesen. »Ich weiß nicht, wann ich zuletzt was verkauft habe, heute jedenfalls nicht.« Diesmal soll es klappen, das merkt man ihm an. Er nimmt den Gürtel aus der Hand des Kunden und kokelt ihn mit seinem Feuerzeug an. »Siehst du? Spitzenqualität! Kunstleder würde jetzt brennen.« Eine halbe Stunde später ist er ihn los – und außer sich vor Wut. Was der Kunde zu zahlen bereit war, hat ihn entehrt und ruiniert. Die üblichen Basar-Floskeln, aber ohne das Lächeln, das sie sonst begleitet. »Wenn nicht Ramadan wäre, ich würde dich ...«, der Händler drischt mit seinem Schuhlöffel in die Luft. Zuletzt muss Hermès noch einmal ran. Er hält die Hand auf und bettelt. Erzählt man Alanyanern von diesem Vorfall, schauen sie einen ungläubig an. Nicht wegen der Markenpiraterie oder der Kinderarbeit – beides natürlich verboten. Sondern weil ein Verkäufer einen Touristen derart bedrängt hat. Dabei steht in der Stadt doch schon das Anquatschen von Passanten unter Strafe. Aber in diesem Sommer ist wenig, wie es war. Alanya an der türkischen Riviera, Hochburg der Deutschen – hier passt diese Floskel. Über dem Ort thront eine seldschukische Festung. Sie gibt ihm eine Seele, die den benachbarten Retortenstädten wie Side oder Belek fehlt. Darum kommen pro Jahr um die 150000 Touristen, ein Drittel davon aus Deutschland. Und wegen des Kleopatrastrands, der gleich an die Altstadt angrenzt. Hasan, der Zeitungsverkäufer Wer am Vormittag vom Burgfelsen zu ihm herunterschaut, sieht ein langes Nagelbrett vorm Blau des Mittelmeers. Tausende Sonnenschirme stecken im Sand, fast alle sind geschlossen. Am Abschnitt hinter dem Fischlokal hat Ceyhun einen für sich selber aufgespannt. »Einen Sommer wie den«, sagt er, »habe ich noch nicht erlebt.« Normalerweise geht er von Liege zu Liege und kassiert die bescheidene Miete, 4 Euro am Tag. Heute pirscht er sich an die wenigen Strandspaziergänger ran: »Hallo, wir haben WLAN gratis. Setz dich doch, ich richte es ein.« Sein Kumpel Hasan kommt vorbei. Er ist noch brauner als Ceyhun, was darauf hindeutet, dass sein Geschäft noch schlechter läuft. Hasan verkauft Zeitungen. Mit einem Packen unterm Arm läuft er die drei Kilometer Strand auf und ab, bis alle verkauft sind. Er kann die Volkskrant auf Niederländisch anpreisen und das Aftonbladet auf Schwedisch. Dieses Jahr nützt ihm das wenig. Etwas macht den Ausländern Angst, so sehr, dass viele von ihnen fortbleiben. Was das sei? Hasan klopft auf seinen Stapel: »Die Politik.« »Politik« ist in Alanya das Sammelwort für jene fernen Erschütterungen, die alles hier ins Wanken bringen. In kaum vier Jahrzehnten wuchs die türkische Riviera vom dünn besiedelten Küstenstreifen zur wichtigsten Urlaubsregion im östlichen Mittelmeer. Und obwohl hier gar nichts vorfiel, erlebt sie nun ihre tiefste Krise. Diesen Sommer werden 40 Prozent weniger Gäste als in den Vorjahren erwartet. Die Folgen spürt man jetzt schon. Hunderttausende Saisonarbeiter werden nicht mehr gebraucht. Selbst die Bestatter, heißt es, müssen Personal entlassen, weil Badeunfälle seltener geworden sind. Alanya ist noch übler dran; hier fehlt sogar die Hälfte der Touristen. Das liegt zum einen an den Russen, die gerne wie jedes Jahr kämen. Sie dürfen es bloß nicht mehr. Seit dem Abschuss eines Militärflugzeugs im November boykottiert Russland die Türkei. Und dann eben die Deutschen; die wollen nicht mehr. Viele sorgen sich um ihre Sicherheit. Sie änderten ihre Reisepläne, als im Januar deutsche Urlauber in Istanbul starben, und noch einmal, als Islamisten am Brüsseler Flughafen mordeten. Andere misstrauen dem politischen Kurs des Landes. In Alanya erzählt man sich von einem Deutschen, Stammgast seit dreißig Jahren. Sein Gastgeber wollte ihn zum Dank eine Woche gratis einquartieren. Seine Antwort: »Ich komme gerne, sobald Erdoğan nicht mehr regiert.« Hasan Sipahioğlu empfängt im Garten seines Hotels Gardenia an der Promenade hinter dem Kleopatrastrand. Er war 15 Jahre lang Bürgermeister, zuletzt in Erdoğans AKP. Vor allem aber war er der Mann, der Alanya herausgeputzt hat. Während andere noch das schnelle Geld aus dem Massentourismus abschöpften, ließ er die alte Festung sanieren, Schwimmer haben diesen Sommer freie Bahn Radwege bauen, einen Strand barrierefrei machen, samt schwimmenden Rollstühlen. Er war es auch, der Alanya als »Klein-Deutschland« für Dauergäste bewarb. Ein Fehler? »Nein. Wir sind mit den Deutschen gewachsen, nicht nur wirtschaftlich.« Er zeigt auf den Brotkorb vor ihm: »Früher aßen wir alle das Gleiche, jetzt haben wir so viele Sorten.« Davon essen mag er nicht – noch ist Ramadan. Sipahioğlu glaubt an den Tourismus. Schon als Junge half er seinem Vater im ersten Souvenirladen der Stadt. Er habe viele Krisen erlebt. Auch diese lasse sich meistern. »Hat alles sein Gutes«, sagt er grinsend. »Meine deutschen Gäste fragen vorm Buchen immer: ›Sind denn auch Russen da?‹ Diese Angst kann ich ihnen jetzt nehmen.« Spaziert man vom Gardenia zu den Hotels in zweiter Reihe, wird es beklemmend still. Leere Pools, ungeputzte Fenster, verschlossene Eingangstore. Viele Häuser überspringen die Hauptsaison; vielleicht wird der Herbst ja besser. Andere scheinen ins Koma gefallen zu sein. Im Kleopatra Carina ist am Mittag die Rezeption unbesetzt, ein Junge holt den Koch. Der wühlt in zerknüllten Zetteln herum. Auf einem muss die Preisliste stehen. Ach hier: 16 Euro die Nacht. Das ist kaum ein Drittel der üblichen Rate. »Nur noch ein Zimmer zum Sonderpreis«, behauptet der Koch. Am Schlüsselbrett hinter ihm fehlt nicht ein einziger Schlüssel. »Da war auch Fehlplanung im Spiel«, sagt ein Hotelier, der nicht genannt werden möchte. Er zeigt von der leeren Terrasse vor seinem Haus auf das entlegene Ende des Strandes, wo die Bettenburgen sich bis an den Horizont ziehen. »Die Regierung hat zu viele Neubauten abgenickt. Und weil die Häuser alle gleich sind, konkurrieren sie über den Preis.« Doch die Kunden, die man so gewinne, sei man schnell wieder los. »Die meisten verlassen kaum ihr Resort; denen ist egal, wo sie sind.« Auf die Deutschen lässt er nichts kommen: »Die sind pflegeleicht. Wenn du ihnen gibst, was du versprochen hast, feilschen sie nicht um Extras.« Dass sie ihn jetzt im Stich lassen, hat er kommen sehen. »Machen wir uns nichts vor: Die lesen Bild. Und da sehen sie immerfort diesen Mann.« Er blickt sich um, bevor er den Mann beim Namen nennt. »Kaum jemand hier kritisiert Erdoğan offen; die Leute haben Angst.« Unten am Kleopatrastrand gibt es als deutsche Zeitung tatsächlich nur Bild. Man muss nicht lang darin blättern. Auf Seite zwei prangt ein Foto des türkischen Präsidenten. Der Artikel gibt ihm eine Mitschuld an den Morddrohungen gegen türkischstämmige deutsche Politiker. Armer Hasan, da trägst du aus, was deine Kundschaft verjagt. Zum Glück macht die Mittagsschwüle es schwer, sich in Rage zu lesen. In der Ferne ziehen Ausflugsboote mit Totenköpfen vorbei – eine Erinnerung an die Anfänge Alanyas als antikes Seeräubernest. In der Nähe hüpft eine Frau im Bikini auf die Wellen zu. Sie schreit: »Oioioioioioi!« Nicht aus reiner Lebensfreude, der Sand brennt unter den Füßen. Ein junger Mann in Khaki marschiert durchs Bild. Sein strammer Gang macht den Autoritätsverlust durch Shorts mühelos wett. Er heißt Ali Özgür. Der Tourismusverband bezahlt ihn, damit die Urlauber sich sicher fühlen. Um Terror ging es dabei noch nie, mehr um die alltäglichen Dinge: einheimische Jungs, die Frauen angaffen. Kinder, die allein am Wasser spielen. Verkäufer ohne Lizenz. Vereinzelt Taschendiebe. Durch seine Sonnenbrille mustert Ali die Liegen Reihe um Reihe. Alles ruhig. Eine Mutter bläst ein Schwimmtier auf, während der Liegenvermieter Ceyhun ihr WLAN einrichtet. Ein Mann, der zu geizig war für einen Schirm, schläft in der prallen Sonne. Den sollte man lieber wecken. An Alis Gürtel, hinter dem Sheriffstern, baumelt ein Paar Handschellen. Braucht man die wirklich? »Klar, neulich erst. Da wollte ein Russe sturzbetrunken schwimmen gehen.« Nein, seine Frau sorge sich nicht darum, dass er mal in etwas Ernstes geraten könnte. »Die hat bloß Angst, dass ich mit den Mädchen hier flirte. Manchmal kommt sie kontrollieren.« Eine Norwegerin, er hat sie bei der Arbeit kennengelernt. »Ich komme aus Adıyaman«, sagt Ali, einer Region nahe der syrischen Grenze. »Da möchte man gerade nicht sein. Hier in Alanya ist es herrlich.« Morgen hat er frei. Dann legt er sich selbst an den Strand. Die Brust soll auch noch bräunen. Zum Schichtwechsel steuert er ein Häuschen an, das von außen wie ein Geräteschuppen wirkt. Darin sitzt sein Boss, ein Sicherheitsmann wie aus einem B-Movie: eine Narbe quer über die bärtige Wange, dazu ein Gesichtsausdruck, der Tee gefrieren lässt. Er zeigt auf den Monitor, mit dem er den Strand im Blick hat. »Zehn Kameras allein für diesen Abschnitt!« Was beim aktuellen Buchungsstand heißt: ungefähr eine pro Gast. »22 Aufpasser arbeiten für mich. Wann immer etwas vorfallen sollte, ist einer von ihnen zur Stelle.« Im Vorjahr waren es noch 30, erzählt Ali später. An der Strandbar nebenan reckt Angelika aus Bayern ihren Arm. Keine Bestellung, sie will etwas zeigen: »Siehst du meine Gänsehaut?« Es ist ein Affekt der Rührung. Mustafa, der Barbesitzer, hat gerade einen ausgegeben. Die pensionierte Beamtin trinkt Kaffee mit Freunden, die wie sie mehr oder minder hier leben. Alanya hat um die zehntausend deutsche Bewohner, mehr als Palma de Mallorca. Elke aus Hamburg kommt seit 26 Jahren. »Damals haben sie am Strand noch Bananen angebaut. In der ersten Kneipe hockten wir auf Bierkisten, machten Party bis morgens und frühstückten mit dem Personal.« Manches sei noch so wie damals. »Die Herzlichkeit der Türken ...« – »Die Flexibilität«, ergänzt Angelika: »Die machen mir Kohlrouladen.« Damit sie auch wie zu Hause schmecken, lassen die Köche sich von ihr Maggi aus Deutschland mitbringen. »Hier kannst du gut leben mit deiner kleinen Rente«, sagt Jogi, ein Berliner mit einer Initialhalskette über dem stattlichen Bauch. Natürlich bekommen auch die Halbauswanderer von türkischen Verstimmungen und deutschen Ängsten etwas mit. »Freunde meinten: ›Jetzt Türkei – bis du irre?‹«, erzählt Elke. ANZEIGE Aber alle hier am Tisch haben ihre Seite gewählt. Es ist die, auf der mehr Sonne scheint. Angelika hat ihrem Stammlokal frische Tischtücher gekauft, »man muss den Leuten doch helfen«. Sie lernt seit Jahren fleißig Türkisch und mokiert sich über deutsche Touristen. »Neulich lief eine rauf zur Straße, nur im Höschen!« »Lass mal gut sein«, beschwichtigt Jogi, streng genommen auch nur im Höschen. Diese Leute lieben ihre Türkei. Bloß ist das nicht jene urbane, moderne, auf welche die Türken selbst stolz sind, sondern die einer traulichen Dorfgemeinschaft, wie sie allmählich verschwindet – auch durch den Tourismus. Man muss an Enzensberger denken, an seine Dialektik des Tourismus: »Die Tugend [der Gastfreundschaft], die man beschwören will, wird vernichtet, indem man sie in Anspruch nimmt.« 1958, als er das schrieb, war Alanya ein unbedeutender Asthma-Kurort, und Vater Sipahioğlu verkaufte den ersten Besuchern Souvenirs. Heute reiht sich ein Laden an den anderen. Es gibt alles von Atemtherapie bis zu glutenfreiem Brot. Aber noch immer trifft man auf Menschen wie jenen Busfahrer, der einem das Fahrgeld lächelnd zurück in die Hand legt. Tourismus mag verformen, wenn er kommt. Er vernichtet, wenn er weiterzieht. In den kleinen Läden an der Strandpromenade spürt man die Enttäuschung am stärksten. Mustafa Kanilmaz steht vor Laut, aber leer: Die Clubs in der Neustadt seinem Geschäft – alles für den Badegast vom Zehnagelknipser bis zum SelfieStick. Mit seiner Sonnenbrille auf dem schwarzen Hut strahlt er die Lässigkeit eines erfahrenen Verkäufers aus. Er würde sicher keinem Kunden mit dem Schuhlöffel drohen; aber verstehen kann er die Anspannung bei vielen Kollegen doch. »Die meisten von uns haben Festpreise; das hier ist kein Bazar. Aber die Leute wissen, wie es uns gerade geht, und sie nutzen es aus.« Eine ältere Frau in Rot bleibt stehen, eine britische Exzentrikerin von kolonialem Auftreten. Ein Paar Badeschlappen soll es sein. »Sie sind schmutzig, aber was soll’s? Pack sie ein.« Kanilmaz verlangt sieben Euro dafür, sie bietet vier, sie einigen sich auf fünf. »Du beraubst mich«, meckert die Frau. Vor seinen Augen zählt sie das Wechselgeld, dreht jede einzelne Münze. Kanilmaz lächelt milde. Gekränkt sein ist ein Luxus, den er sich nicht leisten kann. Das Problem, sagt er, seien nicht solche Kunden. »Das Problem sind die, die nicht da sind.« Warum sie diesen Sommer nicht da sind, kann man sie nicht fragen. Darum verpufft Alanyas Enttäuschung in den Weiten der »Politik«. Aber manch einer wundert sich doch, wie man ihn, sein Land, seinen Glauben, im Westen gerade sieht. Kaffeestunde im Hotel Anik. Ananastorte steht auf dem Tisch; die Chefin kommt ins Plaudern: »Was die Türkei erschüttert, ist der Terror der PKK. Aber das wollen die Deutschen nicht wahrhaben. Die denken, der IS kommt an die Strände und schlägt allen die Köpfe ab.« Funda Anik versteht etwas von deutscher Mentalität. Die erste Hälfte ihres Lebens hat sie in Deutschland verbracht; und man würde raten, dass sie es genossen hat. Heute führt die blendend blonde, ansteckend fröhliche Frau gemeinsam mit ihrem Bruder ein kleines Hotel, das sich auf deutsche Kundschaft spezialisiert hat. Die Lobby hängt voller Auszeichnungen, trotzdem bleibt gerade auch hier die Hälfte der Betten leer. Ja, sagt Funda, es war heikel, nur auf den deutschen Markt zu setzen. »Aber den kennen wir nun mal am besten.« Sie sitzt in ihrem Hippie-Garten voller seltener Bäume und kurioser Erinnerungsstücke. »Schmeckt der Kuchen? Selbst gebacken, nach deutschem Rezept.« Funda und ihr Bruder sind mutmaßlich die einzigen Alanyaner, die wissen, wer Jan Böhmermann ist. Das war in der Türkei kein Thema, anders als die Armenien-Resolution, die Deutschland kürzlich mitunterzeichnet hat. »Wir kennen hier auch Satire«, sagt Rechit Anik. Er fand das Schmähgedicht anfangs lustig, »bis zu diesem Wort«, er flüstert: »Ziegenficker«. So etwas gehöre sich einfach nicht, was immer man von Erdoğan halte. »Noch ein Stück Streuselkuchen, Helga?«, ruft Funda zum Nebentisch. Es gibt ihr zu denken, dass nach dem Anschlag in Brüssel besonders viele Kunden stornierten. Denken die, sie führen in die Höhle des Löwen, nur weil die Mörder von damals sich auf den Islam beriefen? »Als muslimisches Land«, sagt sie, »hast du die A-Karte gezogen.« Was wäre, wenn eine Bombe hier an der Riviera explodierte? »Dann«, sagt Funda, »hätten wir Tunesien, dann hätten wir Ägypten.« Sie macht die Geste einer zuschlagenden Tür. Aber das klingt so ernst, das wollte sie gar nicht. Sie sagt, was man den Deutschen gar nicht oft genug sagen kann: »Keine Sorge, alles wird gut.« Blick auf Alanya vom Festungsberg Wird es tatsächlich, wenn der Trend anhält. Die Buchungen für den Herbst ziehen langsam an. Sicher wegen der immensen Rabatte. »Preis bricht Angst«, lautet eine Weisheit des Tourismusforschers Karl Born. Vielleicht aber auch, weil die deutsch-türkische Freundschaft bei allen Hakeleien tiefer geht als die zu den Ägyptern, Tunesiern oder selbst Mallorquinern. Am Abend, als die Sonne sinkt, kommt von der Burg ein Böllerschuss. Er beendet für heute den Ramadan und bringt den leeren Lokalen unten ein paar türkische Gäste. Am Aussichtspunkt unter der Festung spielt Daryan für Urlauber Geige. Er kommt seit sieben Jahren jeden Sommer nach Alanya. Wie alt er sei? »31, aber mein Lächeln macht mich jünger.« Er lächelt wirklich, immerfort, ein rührendes, langsames Lächeln. Es ist auch immer dasselbe Lied, das er auf seiner angestaubten Geige spielt: »Ich hätte mein Herz lieber auf die Steine betten sollen als auf deinen Schoß ...« Ein romantisches Stück für ein romantisches Setting: Dämmerung hinter den Zinnen. Es hört ihn aber nur ein Paar, und das ist mit Selfies zugange. 10 bis 15 Euro, sagt Daryan, nehme er am Tag ein; manchmal auch überhaupt nichts. Er steht unter dem Wachturm mit der Landesflagge wie ein Sinnbild des türkischen Wegs durch die Krise: weitermachen und lächeln. »Einmal«, sagt Daryan, »hat mir einer einfach so 100 Dollar gegeben.« Der Besucher greift in die Tasche und findet nur Kleingeld darin. Daryan lächelt und singt noch einmal von enttäuschten Hoffnungen. 56 30. J U N I 2016 Unser Illustration: Pia Bublies für DIE ZEIT; Fotos: Lucas Wahl für DIE ZEIT N eulich stand ich mit zwei Taschen voll Altglas in meinem Flur, regungslos, minutenlang. Eigentlich hatte ich es eilig, ich musste zur Arbeit, aber ich konnte unmöglich die Wohnung verlassen, denn nebenan wurde gerade die Türe aufgeschlossen. Es ertönte der AufbruchSoundtrack des Durchschnittszerstreuten: Schlüsselklimpern, Schlossschnalzen, Treppenstufengepolter, Stille, wieder lauter werdende Schritte, aha, was vergessen, Türe auf, Rascheln, Türe zu. Mir schnitten die Trageriemen in die Finger. Seit einem Jahr wohne ich mit 16 anderen Klingelschildnamen unter einem Dach, aber aus ihnen Menschen mit Gesichtern und SmallTalk-Themen für eine gemeinsame Treppenhausbegegnung zu machen, hatte ich immer vermieden. Das ist ja auch der Plan, wenn man aus der Enge der Provinz in die Großstadt zieht: endlich mal nicht teilhaben zu müssen. Was sich dann aber als unmöglich herausstellt, denn die anderen sind ja trotzdem andauernd da. Nehmen Pakete an und gehen damit in Freundlichkeitsvorleistung, sind nächtliches Möbelrücken, Bratengeruch, die absurd laut aufgedrehte Fernsehsendung Punkt 12, der kleine Ganzjahresflohmarkt auf dem Fensterbrett im Hochparterre (aktuell liegen dort: eine Gala, zwei Leitz-Ordner, ein Miniaturbilderrahmen, der das Bild einer grimmigen Eule fasst). Mit den Tüten in der Hand dachte ich auf einmal an zu Hause. An Dinslaken, den Bruch, unsere Straße. »Wenn man dich im Bruch nackt auf den Gehweg stellt, bist du fünf Minuten später angezogen und hast fünf Mark in der Tasche«, hat mein Vater immer gesagt und meinte damit: Das ist Nachbarschaft. Wir passen aufeinander auf. Das war damals. Und heute in Hamburg? Vermeide ich jede Flurbegegnung, weiß ich noch nicht mal, wer diese Leute sind, mit denen ich mir ein Dach teile. Ich beschloss, das zu ändern. Samstagnachmittag, ich klingle an der Wohnungstüre von Claus Friede. Herr Friede ist für mich das, was man in der Drogenberatung ein niedrigschwelliges Angebot nennt. Wenn ich mich nach all den Monaten dieser eremitischen Kontaktverweigerung – meine Wohnung, meine Grenze, meine Ruhe – der Gemeinschaft dieses Hauses zumindest nähern will, verspricht er den leichtesten Einstieg, stand Herr Friede immerhin selbst schon einmal unangekündigt vor meiner Türe. Sein Internet machte damals Probleme, er bat um kurzfristige Überbrückungshilfe in Form meines WLAN-Schlüssels. Ich will heute ein bisschen mehr von ihm als eine 17-stellige Zahlenkombination, ich möchte wissen, wo ich hier eigentlich genau lebe und mit wem, und erstaunlicherweise findet Herr Friede das gar nicht merkwürdig, sondern bittet mich herein und geradewegs auf seinen Balkon. Das Angenehme ist: Herr Friede scheint sofort eine klare Idee zu haben, was wir besprechen könnten und in welcher Reihenfolge. Wir starten mit dem Standard, Geschichte des Hauses. Während er mit zwei ausladenden Armbewegungen alle Straßenzüge rechter und linker Hand des Balkons wegradiert (»Überall nur Felder, unsere war lange die einzige Straße der Gegend«) und anschließend die Entwicklungen der Nachbarschaft im Zeitraffer skizziert (»Nebenan hatte eine jüdische Brauereifamilie ihr Lager, die wurden aber in der NS-Zeit zwangsenteignet und sind nach Rio geflohen«), mustere ich ihn. Claus Friede ist hochgewachsen, Mitte 50 und einer dieser Menschen, denen man auf den ersten Blick ansieht, dass sie schlau sind. Es gibt für dieses Gesicht kaum eine Möglichkeit, dumme Sätze zu sagen. Während des Gesprächs lächelt er über lange Strecken überhaupt nicht, tut er es doch, machen seine Augen mit. Zurück in seiner Wohnung, verliere ich kurz die Orientierung. Obwohl sie genau so geschnitten ist wie meine, haben wir die Räume sehr verschieden interpretiert. Was bei mir Wohnzimmer ist, hat Claus Friede als Arbeitszimmer eingerichtet, hell und wissensschwer, Bücher, Blocks, Zeitungsstapel; alles sagt, dass in diesem Raum ernsthaft gearbeitet wird. Auf seinem Schreibtisch stehen drei kleine Acrylständer mit verschiedenen Visitenkartenstapeln, laut ihnen ist Claus Friede Leiter einer Kulturstiftung in Schleswig-Holstein, Chefredakteur eines Internetfeuilletons und Professor in Riga. Überhaupt klingt sein Lebenslauf sehr kosmopolitisch: aufgewachsen in der Schweiz, Schulzeit auf einem Internat in der Eifel, Studium in Chicago und Los Angeles. Sein Sohn Max, 24, lebt gerade noch in Lugano, geht aber bald zum Studieren nach Harvard. Irgendwie erstaunt mich, dass ein Mann wie er in diesem Haus wohnt. Natürlich, Hamburg, Eimsbüttel, Ecke Grindelviertel: tolle Lage, aber wenn einem doch offenbar die ganze Welt offensteht, wieso ausgerechnet diesen Ort wählen? »Ich mag die Straße.« Herr Friede lächelt jetzt, er weiß, wie merkwürdig D I E Z E I T No 2 8 Nachbarn sind Leute, von denen wir m Was geschieht, wenn man einfach mal b Annabelle, vierter Stock, muss ständig ihren Nachnamen erklären Herr Friede aus dem Zweiten hat drei verschiedene Visitenkarten Die Brauns aus dem Souterrain nehmen für alle die Pakete an klein dieser Satz klingt. Er erklärt: »Das Kopfsteinpflaster, die alten Häuser. Wenn Sie morgens aufwachen und aus dem Fenster schauen, könnten Sie genauso gut in Paris sein oder Zürich. Alles wirkt wie aus Raum und Zeit gefallen.« Je mehr er schwärmt, desto mehr schwinge ich mit. So gesehen ja wirklich: tolle Straße. Seit meinem Einzug gibt mir die Wohnungstür von Herrn Friede ein Rätsel auf. Neben dem Messingschild mit seinem Namen steht: »Hier auch Post für Dr. Reichardt«. In meiner Vorstellung ist Doktor Reichardt ein beschäftigter Wissenschaftler, der für seine Forschungen ständig unterwegs ist und seinen alten Freund Claus Friede gebeten hat, die lästigen Briefe für ihn aufzubewahren. Ist das so? »Der Name gehört meiner Frau. Sie lebt nicht mehr in Deutschland, aber manchmal kommt Post für sie.« Herr Friede schaut wieder ernst, aber nicht peinlich berührt. Ich bin es schon. Die Situation ist so merkwürdig wie das Konzept Mehrfamilienhaus überhaupt. Wie intim es da von einem auf den ande- ren Moment werden kann. Völlig absurd eigentlich, welche Kriterien man für die Einzugsentscheidung so akribisch abklopft: Raumaufteilung, Helligkeit, Lage; die Frage, ob Grillen auf dem Balkon okay und von wann an die Staffelmiete gedeckelt ist. Als ich vor einem Jahr das Haus besichtigte, gefielen mir die Ruhe, die Fassade, der Schnitt der Wohnung. Ich wollte sie unbedingt haben, ohne die geringste Ahnung, mit wem ich da unter einem Dach wohnen würde. Irgendwie fragt man bei der Wohnungssuche nicht, wem man in den nächsten Jahren beim Leben zuhört und wen man dazu umgekehrt zwangsläufig einlädt. Nachbarschaftsverhältnisse werden wohl auch deshalb so oft Schauplätze von absurden Streitigkeiten, weil die Menschen diese distanzierte Nähe nicht aushalten. Eine Distanzfrage ist es auch, die ich mir am nächsten Tag stelle. Vier Mal hänge ich das RyanMcGinley-Foto in meinem Esszimmer ab und wieder auf. Ich bin unsicher, ob Annabelle es nicht vielleicht seltsam finden würde, sich unter einer Frau Dunda, erster Stock, kann aus der Entfernung Stifte identifizieren Aktfotografie mit ihrer fremden Nachbarin zu unterhalten. Annabelle lebt seit acht Jahren in der Wohnung über mir, ich habe sie seit meinem Einzug genau zwei Mal gesehen, wir hatten jeweils Päckchen füreinander angenommen. Bei der letzten Übergabe hatte sie mich gefragt, ob mich ihr Husten sehr störe, der sei leider chronisch. Das menschliche Hirn ist leicht zu beeindrucken. Bis zu diesem Tag hatte ich nie etwas wahrgenommen, seither höre ich ihr Husten ständig. Man will die akustischen Rätsel, die einem jedes Haus aufgibt, manchmal ja gar nicht so genau aufschlüsseln. Als ich neulich das junge Ehepaar Maren und Marco Braun traf, das in der Wohnung neben mir lebt und zusammen ein gutes Abbild meiner schizophrenen Gefühle zu Nachbarschaft wiedergibt (er findet engen Kontakt zu den Hausmitbewohnern unnötig, sie würde gerne voller Tatendrang am jährlichen Straßenfest teilnehmen), erzählten sie mir, wie Marco einmal im Halbschlaf durch die Wohnung geirrt sei, weil er Wasser laufen hörte und dachte, er habe vor dem Zubettgehen womöglich einen Hahn nicht richtig zugedreht. Irgendwann kapierte er, dass das Geräusch aus der Wand kam, hinter der meine Dusche steht, in der ich mir gegen halb drei morgens den Rauch der Nacht aus den Haaren wusch. Seit ich das weiß, fühle ich mich unter der Dusche nicht mehr alleine. Jetzt sitzt Annabelle, 42, glänzendes rotes Haar, an meinem Esstisch, erzählt von ihrer Kindheit und dass der Beruf ihres Vaters, Bundeswehroffizier, sie früh zum Umzugsprofi gemacht habe. Ich überlege, wie ich das Gespräch dezent auf ein Thema lenken kann, das mich seit meinem Einzug neugierig macht. Da wir aber ja unter einer Aktfotografie sitzen, ist die höfliche Distanz ohnehin merkwürdig angeknackst, also: »Sag mal, du hast da ja diesen interessanten Nachnamen.« Annabelle lacht und antwortet erst einmal nicht. Vermutlich ist ihr Name dauernd Thema, da muss man es schon zu Selbstunterhaltungszwecken spannend machen. Vor 30. J U N I 2 0 1 6 57 D I E Z E I T No 2 8 Haus möglichst wenig mitbekommen wollen. ei ihnen klingelt? LENA STEEG hat es getan Lena Steeg, dritter Stock, wollte Smalltalk im Treppenhaus immer umgehen Die jungen Brauns hören im Dritten manchmal nachts ein Rauschen durch die Wand Herr Salomon lebt im zweiten Stock zwischen mehr als 3000 Büchern sechs Jahren, beginnt sie nun eine Geschichte, hatte sie eine neue Stelle als Grundschullehrerin angenommen. Vor ihrem ersten Schultag ging sie wie immer zu ihrem Stammbäcker, der ihr dazu riet, besser mal einen Blick auf die Titelseiten der Tageszeitungen zu werfen. Ihr Einstand im neuen Job fiel auf den Erscheinungstag von Deutschland schafft sich ab, und als Annabelle zwei Stunden später mit Kreide ihren Nachnamen, Sarrazin, an die Klassentafel schrieb, begann das große Flüstern. »Erst Wochen später haben sich die Eltern zu fragen getraut, ob es da eine Verbindung gebe.« Kurzes, effektvolles Schweigen. »Thilo Sarrazin ist tatsächlich ein entfernter Vetter meines Vaters. Ich kenne ihn aber nicht persönlich.« Aha. Als Fragezeichengeschichte war die ganze Angelegenheit irgendwie spannender gewesen. Kurz bevor wir uns verabschieden, hat Annabelle dann auch noch eine Frage: »Ich stehe ja immer so früh auf und lasse dann das Radio laufen, um wach zu werden. Hörst du das eigentlich?« Anderntags ist es mal wieder so weit: »Ihre Sendung wurde bei Ihrem Wunschnachbarn hinterlegt.« Meistens müssen die älteren Brauns aus der Einliegerwohnung im Souterrain meine nicht gerade zurückhaltend getätigten Online-Einkäufe entgegennehmen. Das Ehepaar lebt seit 42 Jahren dort, 30 davon ist Karin Braun schon die Hausmeisterin. Den Job teilt sie sich mit ihrem Mann Lothar, der Ur-Hamburger ist – was sein Siegelring mit Stadtwappen und die ebenso designten Rückspiegelüberzüge des Familienkombis bezeugen. Herr Braun ist lustig und zugewandt und erzählt gerne von den 38 000 Fotos, die er im Jahr von Hamburg macht. Bei ihnen Pakete abzuholen ist normal, aber heute steht ein anderer Nachbarbarsname auf dem Postvermerk: Udo Salomon, zweites OG. Von seiner Wohnung kenne ich bisher nur den spaltbreiten Ausschnitt, den man manchmal bei Flurbegegnungen erhascht und der immer so merkwürdig interessant ist, dass man versucht, extra nicht hinzuschauen. Bei der Salomon-Woh- nung aber ist das unmöglich, weil einen dieser Anblick so umhaut: Überall sind Bücher, vom Boden bis zur Decke, die Regale ziehen sich durch den gesamten Flur, durch fast alle Räume. »6500 waren es bei der letzten Zählung, irgendwann vor der Jahrtausendwende«, sagt Herr Salomon, dessen feines, von weißem Haar umrahmtes Gesicht das vielleicht freundlichste ist, das ich je gesehen habe. Die Salomons leben seit 1973 in diesen Räumen, länger, als es mich gibt, sie haben ein eigenes Badezimmer ein- und den Kaminofen ausgebaut, Einrichtungsmodewellen genommen und umschwommen, ihre Tochter Nina großgezogen, die mittlerweile beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg arbeitet (schon wieder so ein Vorzeigelebenslauf), etliche Mieter kommen und gehen sehen. Ich finde das schön und unvorstellbar zugleich. Ich bin Nomade, seit meinem Auszug aus dem Elternhaus vor zehn Jahren bin ich siebenmal umgezogen. Alle paar Monate sortiere ich inzwischen auch anlasslos Dinge aus, Blumenvasen, Kleidung, sogar Möbel, um beim nächsten Umzug weniger mitschleppen zu müssen. Ankommen finde ich als Idee erstrebenswert, Bleiben ängstigt mich. Herr Salomon nickt, im großen Kommen und Gehen der Mitmieter hat er über die Jahrzehnte viele dieser unsteten Biografien verfolgen können: »Zum Beispiel die Dame aus Mecklenburg, die wegen ihrer Beziehung zu einem deutlich jüngeren Mann von ihrer Familie verstoßen worden war und erst wieder aufgenommen wurde, als er eines Tages tot umfiel.« Er erzählt, dass Menschen in diesem Haus geboren wurden, wie Herr Herrmann aus dem Fünften, und gestorben sind, wie die Schwester von Frau Dunda aus dem ersten Stock, die sich in der Silvesternacht 1975 das Leben nahm. »Die Alten«, sagt er, kennen sich und sprechen miteinander, mit den Jüngeren gebe es weniger Kontakt, vermutlich einfach, weil sie selten Zeit für einen kleinen Klönschnack hätten. Ich finde es nett von Herrn Salomon, meinen Hausgemeinschaftsautismus mit Geschäftigkeit zu begründen, bin mir aber nicht sicher, ob ich mich um die Verbindlichkeit nicht einfach gedrückt habe, weil sie automatisch Verantwortung nach sich zieht. Wenn man mit den anderen mehr teilt als nur hastiges Zunicken, dann muss man doch fortan irgendwie zur Verfügung stehen. Muss sich zum Teil eines Ganzen machen, muss sich interessieren. Seine Tochter, erzählt Herr Salomon, sage oft, seine Frau und er sollten nach Offenburg ziehen. Dann könnten sie einander öfter sehen. Herr Salomon aber hängt an Hamburg, er hängt sowieso sehr an bestimmten Orten. Nach seiner Pensionierung als Geschichtslehrer hat er angefangen, Bücher über Städte zu schreiben. Einfach weil sie ihm gefallen. Gerade hat er eines über Idar-Oberstein beendet. Als ich ihn nach seinem Lieblingsautor frage, wendet sich Herr Salomon konzentriert dem Regal zu. »Wir haben die Bücher nach Geburtsdatum des Autors sortiert, Moment, ... Ah, hier! Mein Liebster: Norbert Scheuer, Heimatbücher aus der Eifel.« Selten, sage ich, hat mich eine Antwort derart überrascht. Herr Salomon lacht. »Das ist wirklich ganz wunderbar. Es passiert darin praktisch nichts. Leute stehen in der Gaststube und betrinken sich und sind unglücklich verliebt, und manchmal gehen sie zum Jahrmarkt. Aber die Plätze werden so genau beschrieben, da können Sie hinfahren und die ganze Geschichte ablaufen. Bücher müssen Orte haben.« Was geschieht aber, wenn eine Geschichte an einem Ort einfach angehalten wird? In der Wohnung von Christa Dunda ist es dunkel, die Möbel liegen schwer in den Räumen. Als ich ins Wohnzimmer trete, stellt Frau Dunda den Fernseher lautlos. »Mein Freund«, nennt sie ihn und erzählt, dass sich die Nachbarn im vergangenen Sommer beschwert hätten, weil sie ihn immer so laut aufgedreht habe. »Jetzt benutze ich ein Hörgerät«, sagt sie und legt sich ein Kissen in den Rücken. Im März 1963, da war Frau Dunda 23 Jahre alt, sei sie mit ihrer jüngeren Schwester und ihrer Mutter in die Wohnung gezogen. Sie spult frühe Lebenslaufstationen ab. Sie wirkt nicht so, als würde sie sich selten unterhalten, aber ein Gegenüber, das noch mal ganz von vorne zuhört, wird irgendwann selten. 42 Jahre lang hat Frau Dunda bei Karstadt gearbeitet, Schreibwarenabteilung, ihre liebste Zeit, die Kollegen von damals sind heute noch Freunde. »Lamy«, sagt sie, macht eine Kunstpause, deutet auf meinen Kugelschreiber. Kennerblick. Irgendwann lernte ihre Schwester einen Mann kennen und zog aus, sie bekamen drei Kinder, die Ehe scheiterte, sie kam zurück ins Haus, lebte in der Souterrainwohnung, litt an Depressionen und nahm sich das Leben. Der älteste Sohn kam zu Frau Dunda und ihrer Mutter, auch er starb früh. Die Mutter pflegte Frau Dunda dann 14 Jahre lang. Jetzt ist sie selbst 75, hat drei Bandscheibenoperationen hinter sich, kommt nur noch schwer die Treppen hinauf. Sie erzählt das alles binnen weniger Minuten, einfach so, wie einen Filmtrailer, der die brutalsten, emotionalsten, anrührendsten Szenen eines Menschenlebens in schnellen Schnitten aneinanderreiht. Nur ohne Musik. So ist das also, wenn man alleine alt wird. Frau Dunda lacht ihr kräftiges hanseatisches Lachen. »Der Lack ist ab, nech?« Im Haus verstehe sie sich mit vielen, die jungen Brauns von oben nehmen immer ihren Müll mit runter, am nächsten sei ihr aber die Nachbarin von gegenüber, im vergangenen Jahr hätten sie sogar gemeinsam deren Kinder in London besucht, da habe sie auf einmal prima laufen können. Wenn sie zu Hause ist, schmerzt jeder Schritt. »Wieso sind Sie nie weggegangen von hier, Frau Dunda?« Ein paar Sekunden schaut sie mich ratlos an. »Aber wohin denn?« Ich folge ihr durch den Flur, langsamer als vorher. Ich habe ein schlechtes Gewissen, mich bald schon wieder zu verabschieden, junge Geschäftigkeit hin oder her. Beim Hinausgehen führt Frau Dunda mich noch in die Küche und zeigt mir Fotos von Freunden, Arbeitskollegen und Reisen, sie hängen am Kühlschrank, als Kalender an der Wand, überall sind Bilder. Die Küche ist der hellste Raum der Wohnung. »Ich habe mein Leben gelebt«, sagt sie dann wirklich. Es klingt, als wolle sie mich trösten. Und auf einmal, hier in dieser fremden Küche, wird alles viel ernster und größer und also genau so, wie ich es ursprünglich hatte vermeiden wollen. Ich weiß jetzt Dinge über die Menschen in diesem Haus, und dieses Wissen, viel Kleines und Belangloses, manches aber auch intim und gewichtig, führt zu einer ebenso banalen wie konkreten Gewissheit: Die anderen sind wirklich da. Und ich bin es damit irgendwie auch. Als ich ein paar Tage darauf spätabends noch einmal das Haus verlasse und Frau Dundas Müllsack vor der Türe sehe, ihn mit auf die Straße nehme, was eigentlich ja immer die Brauns erledigen, aber vielleicht sind die gerade im Urlaub, merke ich, dass das nun etwas weniger bedrohlich für mich klingt und, wenn ich ehrlich bin, sogar schön: unser Haus. 30. JUNI 2016 D I E Z E I T No 2 8 59 SCHÖN & GUT 2 STUNDEN I N G ÖT T I N G E N Sternwarte Hier richtete Carl Friedrich Gauß 1833 die erste Telegrafenverbindung der Welt ein. Sie verknüpfte die Sternwarte und das Physikalische Kabinett ein paar Straßen weiter. uni-goettingen.de/ de/sternwarte/91323. html G EST RAND ET I N . . . Göttingen Da wollten Sie nie hin? Jetzt sind Sie nun mal da. ELISABETH VON THADDEN nimmt Sie zwei Stunden lang an die Hand. Sie entdecken: Die Unterwelt G öttingen ist zauberhaft, wie es sich in die Hänge seiner Hainwälder schmiegt! Aber ob zauberhaft oder nicht, in Göttingen landet man mit einer gewissen Unvermeidlichkeit sowieso, weil der ICE nun mal dort hält, Umsteigebahnhof Richtung Thüringen. Also auf zum Gänseliesel, zur Sternwarte von Carl Friedrich Gauß, zum Lichtenberg-Haus! Alles hängt indes davon ab, ob es Ihnen gelingt, das Bahnhofsgelände zu verlassen. Die Stadtplaner wollten nämlich, dass Sie stattdessen auf dem Vorplatz vor Schreck versteinern. Sie können da locker Ihre zwei Stunden stehen und auf den vielspurigen Autoring starren. Besser, Sie gehen nach rechts über den Vorplatz, dort zeigt sich bald eine Ampel, und wenn man den Ring überquert, ist man schon in der Altstadt. Überirdisch! Das leichteste Ziel ist der Gänseliesel-Brunnen am Markt. Weltberühmt, wie manches in Göttingen: eine zierliche Mädchenfigur als Bronzeskulptur, jeder Student in Göttingen seit circa 1900 klettert auf den Brunnenrand, um sie zu küssen. Die Göttinger sagen, sie sei die meistgeküsste Statue der Welt. Zauberhaft! Sie gehen vom Bahnhof aus eine Viertelstunde durch die GoetheAllee, rechter Hand liegt die Universitätsbibliothek, das klingt harmlos, nach altem Print, aber immerhin waren hier die Brüder Grimm Bibliothekare. In diesen Hallen findet sich alles an Quellen, was eine Stadt um 1800 zur wissen- schaftlichen Weltstadt machte. Sie könnten also ruhig andächtig innehalten. Dann geradeaus weiter, die Prinzenstraße hoch. An der Ecke Gotmarstraße biegen Sie ab, nach rechts. Gleich wären Sie bei der Gänseliesel, doch da steht nun plötzlich diese überaus liebenswürdige Dame, weißhaarig, etwa 80. Sie ist zu Besuch, ein Klassentreffen, aber in Sachen Göttingen bestens informiert. Gänseliesel, sagt sie, wie langweilig! Die Keller seien viel interessanter. Kennen Sie nicht? All diese Keller! Das aufgeklärte Göttingen sei seit dem Mittelalter weiträumig unterkellert gewesen. Gleich hier, im barocken Eckhaus, hat Georg Christoph Lichtenberg seine Studenten Gauß und Alexander von Humboldt unterrichtet – aber was ist das gegen den Keller? Im Gewölbe in der W 1 3 2 Auf lösung von Seite 60: Schmetterling ANZEIGE D R IN KS F Ü R J EDE L EB EN S L AG E Der Drink: Pastis de Marseille Die Lage: Lasst mich rein! Tiefe ein uralter Brunnen! Und das sei nicht der einzige frisch ausgegrabene Fund. Die Dame schlägt nun vor, auf einen Kakao zu Cron & Lanz zu gehen, jenem Traditionscafé mit den unvergleichlichen Baumkuchenspitzen. Dort fährt sie, in der Sahne rührend, in Kellerkunde fort. Ich habe alles mitgeschrieben, die Sache kommt mir ideal für zwei Stunden vor, die Schauplätze liegen in einem Radius von kaum 500 Metern im Herzen der Stadt. Der zweite Keller liegt unter der Akademie der Wissenschaften, und darin findet sich im Gewölbe: 200 Jahre alte Südsee-Stuckatur! Indianer-Insulaner, aus purer Begeisterung für den Weltumsegler Georg Forster, dessen Fundstücke im 18. Jahrhundert von London nach Göttingen kamen. enn meine Eltern während des Urlaubs im südfranzösischen Ferienhäuschen die Nachbarn besuchten und Pastis tranken, den Pastis de Marseille von Ricard, dann bekam ich, das Kind, Teisseire-Sirup, Pastis ohne Alkohol. Mein Vater, der im Krieg Frankreich erobert hatte, zwang mich, das gelbe Gebräu ohne Mucks auszutrinken. Ich habe es gehasst. Trotzdem musste ich irgendwann feststellen, dass ich ohne Pastis nie ankommen würde in Frankreich. Der Anislikör ist so etwas wie eine Eintrittskarte für die französische Gesellschaft. Er gehört eigentlich nach Südfrankreich in ein Café, wie es die Impressionisten malten, mit Holztresen, orangefarbenen Wänden und roten Bänken. Genau so ein Café ist das Cercle de l’Avenir im Weinstädtchen Correns nördlich von Marseille. Correns ist so schön, lieblich und behaglich, dass Brad Pitt und Angelina Jolie sich hier ein altes Weingut gekauft haben. Nicht weit von Correns liegt Picasso begraben. Eigentlich will die ganze Welt nach Correns – nur die Leute in Correns wollen die Welt nicht so recht haben. Und genau da hilft Pastis. Man muss den richtigen Zeitpunkt kennen, zum Aperitif vor dem Abendessen, zwischen 18 und 20 Uhr. Man muss ihn richtig mischen, mit nicht zu viel Wasser, bis er leicht milchig aussieht. Ein dritter Keller wird gerade unter der Alten Mensa am Wilhelmsplatz freigelegt, dort findet sich ein ganzes Kloster, sieben Lagen Skelette sind geborgen, offenbar auch die von Frauen und Kindern. Als Nächstes der Keller in der Roten Straße, in dem sich ein jüdisches Tauchbad fand. Ein fünfter Keller unter dem Rathaus zeigt, wie im 14. Jahrhundert Fußbodenheizung funktionierte – neben jedem Ratsherrn im Boden ein verstöpselbares Loch, durch das aus dem Keller darunter heiße Luft aufströmen kann. Fast das Beste: Viele der Keller sind miteinander verbunden ... Hier enden meine Notizen. Ich musste zurück zum Zug. Aber Sie haben ja zwei Stunden Zeit! Am besten, Sie gönnen sich eine Führung. Die alte Dame ist leider auch weitergereist. Dann bedarf es nur noch des Muts, den er einflößt: Leute ansprechen, auch wenn sie dir an der Bar den Rücken zudrehen. Und zwar wiederholt. Denn irgendwann drehen sie sich um, und dann öffnet sich dir die französische Gesellschaft. Plötzlich steht im Cercle de l’Avenir der Weinbauer Jean Paul neben mir, ein 70 Jahre alter Proletarier, und erzählt, dass sein Schwager Maurice, ein dicker Lastwagenfahrer, der gerade zur Tür hereinspaziert, heute den Front National wählt. »Früher hätte man Typen wie ihn nicht in dieses Café gelassen«, höre ich Jean Paul in mein Ohr flüstern. Da kommt Maurice zu uns – sofort bestelle ich ihm einen Pastis. Ohne zu fragen. Und siehe da: Jean Paul und Maurice reden, beziehen mich in ihr Gespräch ein, das auch die Politik nicht auslässt. Ich fühle mich aufgenommen. Wenn ich nun im alten Ferienhaus meiner Eltern in einem kleinen Pyrenäendorf mit Blick aufs Mittelmeer Urlaub mache, trinke ich mit dem inzwischen fast 90-jährigen Monsieur Sicot, einem ehemaligen Algerien-Offizier, der heute lieber Gedichte schreibt, den üblichen Aperitif. Wie damals mein Vater. Pastis schmeckt nach Lakritz, das ich als Kind ebenfalls hasste. Aber das habe ich längst vergessen. Georg Blume Illustration: Monja Gentschow für DIE ZEIT; kl. Foto (u.; [M]): laif Bismarckhäuschen Hier hat der spätere Reichskanzler als Jurastudent gewohnt. Das kleine Museum auf dem Stadtwall zeigt auch seine Kritzeleien an der Tür des Karzers – dort saß er wegen wiederholten Unfugs ein. Tel. 0551/499 80 12 60 30. J U N I 2016 Mark Forster bedankt sich bei seinem Klavierlehrer ich war der faulste Klavierschüler Deutschlands, aber ich hatte mit Dir den besten Klavierlehrer der Welt. Ohne Dich hätte ich als Kind nie angefangen, Imagine von John Lennon zu spielen, hätte nie den Text genauer durchgelesen und kapiert, was für ein cooler Song das ist – der heute wieder so aktuell klingt wie zu der Zeit, als er geschrieben wurde. Ich glaube, Du hast mich das Lied spielen lassen, weil Du wusstest, diese Melodie kriegt selbst der blödeste Schüler hin. Du hast wirklich versucht, aus mir einen besseren Klavierspieler zu machen. Erst über Klassik, dann über Jazz, Du hast mir erzählt, wer dieser Gershwin und was für ein krasser Typ Chopin war. Du wolltest mich damit motivieren. Was Dir nicht geglückt ist. Erst bei Pop und John Lennon habe ich mich ein bisschen angestrengt. Weißt Du, ich hatte keine Lust, Noten auswendig zu lernen, aber das Klimpern am Klavier hat mir gefallen. Ich hatte immer Schiss, bevor ich für meinen wöchentlichen Unterricht zu Dir kam. Eine Stunde ehe ich die Wohnung verließ, habe ich angefangen zu üben. Ich hätte mich aber nie getraut, mit den Stunden aufzuhören. Das war keine Option. Nicht wegen meiner Eltern, sondern Deinetwegen. Ich habe Dich Woche um Woche enttäuscht, aber Deine Worte hatten Gewicht. Du warst ein Jazzpianist aus Rumänien, Du kanntest die Welt, Du konntest von ihr erzählen. Ich hatte das Gefühl, Du wolltest mich ein bisschen erziehen. Disziplin sei manchmal wichtig im Leben, sagtest Du. Eine Deiner Methoden war, mir Bücher zu geben, um meinen Charakter zu formen. Ich erinnere mich an Der Pate, Der Steppenwolf und an Papillon von Henri Charrière. Du hast mir die Aufgabe gestellt, das Buch auf einer DIN-A4-Seite zusammenzufassen. Das war vor YouTube und Wikipedia, ich musste das Ding wirklich lesen – und irgendwann fand ich es richtig gut. Es geht darin um einen zu Unrecht verurteilten Mann, der eine lebenslange Haftstrafe absitzen muss. Im Gefängnis herrschen furchtbare hygienische Zustände, manchmal muss er Kakerlaken essen, um zu überleben. Er versucht ein paar Mal zu fliehen, und als er ein alter Mann ist, schafft er es endlich. Wenn ich heute eine Sache durchziehen muss, flasht es in meinem Kopf. Ich denke an diesen Typen, der nie aufgegeben hat. Dieser Papillon spornt mich an, wieder neu anzufangen, wenn ich mich innerlich verrannt habe. Das habe ich Dir zu verdanken, Homer. Vielen Dank! Dein Mark Mark Forster, 32, ist Sänger und Songwriter. Von ihm stammt der EM-Song »Wir sind groß« MEIN WORTSCHATZ L IEB ES B R IEF L ieber Homer, WAS MEIN L E BE N R E I C H E R M ACHT Mein Mann und ich joggen auf unserer üblichen Strecke. Als ich um die Ecke biegen will, er aber plötzlich weiter geradeaus in Richtung Wald läuft, stoßen wir zusammen. Er bekommt mich an der Hand zu fassen, wir sehen uns verdutzt an. »Alles nur, um deine Hand zu halten«, sagt er. Wir müssen lachen, dann joggen wir weiter. Cathrien Czurda, Wien Erdbeerschorle. Der Geschmack erinnert mich an meinen Opa Ernst, der uns als Kindern vor 40 Jahren den kühlen Drink auf seinem Bauernhof kredenzte. Wolf Warncke, Tarmstedt, Niedersachsen Der Enkel einer Freundin, der auf die Frage »Gibt’s bei euch im Kindergarten auch Ausländer?« antwortet: »Nein, nur Kinder.« Brigitte Wegner, Wuppertal Der U-Bahn-Fahrer, der allen Aussteigenden ein schönes Wochenende wünscht. Christina Michaelsen, München Wenn ich den alten Campingtisch vor das kleine Urlaubshaus meiner Familie im Harz stelle und in vollkommener Ungestörtheit Briefe schreiben kann, während der Wald um mich herum rauscht. Wolfgang Höff ken, Erfurt Neulich auf dem Nachhauseweg stand eine Katze am Straßenrand. Sie sah nach links, nach rechts, wieder nach links und hob artig die Pfote, wie um zu signalisieren, dass sie auf die andere Seite möchte. Ich hatte es eilig, trotzdem ließ ich sie hinüber. Ein entgegenkommendes Auto hielt ebenfalls. Der Fahrer lachte über ihr hoheitsvolles Gebaren, und auch mich lässt der Anblick des majestätisch über die Straße schreitenden Tieres bis heute schmunzeln. M A L EN N ACH ZA HL EN Welches Tier schmeckt mit den Füßen? Regina Zachmann, Salem, Baden-Württemberg Die Lösung finden Sie auf S. 59 ZEITSPRUNG 1966/2016: Die Band Wir waren fünf Schüler, und nachdem die Rolling Stones ihre erste LP veröffentlicht hatten, gründeten auch wir eine Band. Wir nannten uns The Mods und erlangten – im Aachener Nordkreis – einen beachtlichen Bekanntheitsgrad. Dann kamen das Abitur, die Lehre, der Beruf, und wir gingen auseinander. Obwohl keiner von uns weiter als 20 Kilometer vom andern entfernt lebte, hatten wir kaum Kontakt. Inzwischen sind 50 Jahre vergangen, wir sind alle in Rente – und jetzt spielen wir wieder zusammen – unter anderem die Hits unserer Vorbilder von damals. Rolf Kretzschmar, Aachen * Die Redaktion behält sich Auswahl, Kürzung und redaktionelle Bearbeitung Ihrer Beiträge vor. Mit der Einsendung geben Sie Ihr Einverständnis, Ihren Beitrag in der ZEIT, im Internet (www.zeit.de/zeit-der-leser), in der ZEIT-App, in Sozialen Netzwerken oder in einem ZEIT-der-Leser-Sammelwerk zu veröffentlichen. ANZEIGE Illustration: Uli Knörzer für DIE ZEIT; kl. Foto (u. l.): Alexander Heinl/dpa »Du konntest von der Welt erzählen« Mein Freund Micha half mir, die alten, verzogenen Dielen unserer Wohnung abzuschleifen. Hätten wir das nach Vorschrift gemacht, wären wir verzweifelt. Glücklicherweise kannte Micha das göttliche Verb juckeln: Einfach die Schleifmaschine ein wenig verkanten, hier und da ein bisschen mehr aufdrücken – kurz drüberjuckeln, und die Delle im Boden ist kaum noch zu sehen. Frank Schlößer, Rostock WIR D I E Z E I T No 2 8 Ich sitze im Zug, schlage in der ZEIT die Rubrik »Was mein Leben reicher macht« auf und mache ein Foto mit meinem Smartphone. Ein älterer Herr sagt mit leicht entrüstetem Unterton: »Da werden die Dinge gleich abfotografiert!« Ich erkläre, dass ich das Foto einer Freundin schicke, damit wir uns – ein wöchentliches Ritual – gemeinsam an den Geschichten freuen können. Als ich aussteige, schenke ich ihm meine Zeitung, und noch bevor sich die Zugtür öffnet, höre ich, wie er seiner Begleitung aus dieser Spalte vorzulesen beginnt. Fabiola H. Gerpott, Bremen Machen Sie mit! Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher macht, teilen Sie Ihre »Wortschätze« und »Zeitsprünge« mit uns. Beiträge bitte an [email protected] oder an Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserzeit«, 20079 Hamburg 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 BBILDUNG ILDUNG W I S S E N S C H A F T B EBERUF RU F WISSENSCHAFT CHANCEN THEMA Psychiater – wo sie wirken, was sie bewirken Seite 64/65 Sommer der Revolte – Ex-Studentenführer Knut Nevermann über den Juni 1966 Seite 65 61 UNIVERSUM Antiautoritäre Verhältnisse? Ein deutscher Professor in Yale soll Studentinnen belästigt haben Foto: Peter Cederling/Plainpicture (Symbolfoto); Illustration: Stephanie Wunderlich für DZ (u.); kl. Foto: Michael Gottschalk/ddp Was macht ihr mit mir? # Eigentlich sollen Kindergärten die Jüngsten fördern und behüten. Doch in manchen Einrichtungen herrschen schlimme Zustände. Eine Umfrage enthüllt nun das Ausmaß VON ASTRID GEISLER UND K ARSTEN POLKE- MAJEWSKI Für ein unglückliches Kind kann ein Tag in der Kita endlos lang sein S chließlich kündigt Amina Annabi Die Pädagogen bewerten die Lage sogar noch kri(Name geändert). Die Praktikantin tischer, als es die Eltern tun. ZEIT ONLINE hat Dutzende der Fälle nacherträgt es nicht mehr, wie in der kleinen Kita in Berlin-Kreuzberg recherchiert. Sie handeln von nass geweinten Kinmit den Kindern ihrer Gruppe um- dern, belogenen Eltern und überarbeiteten Erziegegangen wird. Über sieben Monate hern. Was in den meisten Geschichten fehlte: hinweg hat sie schlimme Dinge ge- drastische Konsequenzen. Selten werden Mitarbeisehen: wie die Erzieherin einem Mädchen Essen in ter belangt, oft werden nicht einmal die Eltern inden Mund stopft, bis es sich erbricht. Wie sie Kin- formiert, und so gut wie nie erfährt die Öffentlichder aus nichtigen Gründen anschreit, schüttelt und keit etwas von solchen Vorfällen. Kindergärten, Krippen und Tagesstätten gelten auf den Boden stößt. Wie sie einen Jungen zur Strafe in einen Raum sperrt und ihn dort vergisst, als perfekte kleine Welten. In den vergangenen zehn als die Gruppe zu einem Spaziergang aufbricht. Jahren ist die Betreuung der Jüngsten auch zu einem Doch obwohl die Praktikantin die Kitaleitung da- gewaltigen Geschäft herangewachsen. Seit die darüber informiert, was hinter der Tür des Gruppen- malige Familienministerin Ursula von der Leyen raums geschieht, ändert sich nichts. Erst als die 2007 den Ausbau von Kitaplätzen massiv vorantrieb, boomt die Branche. Eltern des vergessenen Jungen Noch 2006 gaben Bund, Ländrohen, die Aufsichtsbehörde Geschichten von der und Kommunen rund 10 zu informieren, gesteht die Milliarden Euro für KinderErzieherin, dass sie sich übernass geweinten Kindern, betreuung aus. 2014 war es fordert gefühlt und die Kinder belogenen Eltern und mit fast 23 Milliarden schon grob angefasst habe. So beüberarbeiteten Erziehern mehr als doppelt so viel. Die richten es die Eltern. Leitung Zahl der Kitaplätze stieg um und Träger der Kita sagen, die eine halbe Million. 6335 neue Taten der Erzieherin seien ihnen zu keinem Zeitpunkt bekannt geworden. Le- Einrichtungen sind in den vergangenen zehn Jahren diglich den Vorfall mit dem Jungen räumen sie ein. entstanden. Rund 170 000 zusätzliche pädagogische Ein bedauerlicher Einzelfall? Leider nicht, Mitarbeiter nahmen die Arbeit auf. Über die Abgründe dieser Boombranche auch wenn viele Kinder jeden Morgen in den Kindergarten gehen und nachmittags glücklich dringt wenig nach außen. Die Behörden reden zurückkommen, weil sie den ganzen Tag liebevoll selten darüber; sie müssen festgelegte Zahlen erumsorgt wurden. Denn in manchen Kinder- reichen – jedem Kind ein Kindergartenplatz. Träbetreuungseinrichtungen ist das nicht so sicher: ger und Leitungen der Kitas äußern sich nicht, In Heilbronn traktiert eine ältere Fachkraft ein weil sie dann zugeben müssten, wie schwer es ihKind so sehr, dass es mit Hämatomen nach Hau- nen fällt, trotz des starken Ausbaus die Qualität se kommt. In Hamburg sperrt eine Mitarbeiterin ihrer Einrichtungen zu halten. Sogar Eltern ein Kind 45 Minuten lang in einen Toiletten- schweigen oft, weil sie auf die Plätze angewiesen raum; ein Kindergartenleiter ohrfeigt einen autis- sind. Ausgerechnet dort, wo es um die Schwächstischen Jungen. Im Eifeldorf Antweiler sollen ten und Wehrlosesten in der Gesellschaft geht, Erzieherinnen die Hände und Füße von Kindern sehen alle weg. »Es gibt Leuchttürme, aber auch mit Klebeband am Stuhl fixiert, ihnen den Mund Katastrophen-Kitas, die sofort geschlossen werden zugeklebt und sie in einer dunkle Abstellkammer müssten. Schon innerhalb einer Einrichtung kann es erhebliche Qualitätsunterschiede geben«, sagt eingesperrt haben. Diese Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt die Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagoaus mehr als 2200 Erfahrungsberichten, die ZEIT gik in München, Fabienne Becker-Stoll, im InterONLINE seit Anfang Mai erreichten. ZEIT view mit der ZEIT (siehe Folgeseite). »In manchen ONLINE hatte seine Leser nach Missständen in Kitas haben sich routinierte Handlungen etaihren Kindertagesstätten gefragt. Rund 2000 El- bliert, die gewaltsam sind und den Mitarbeitern tern und 260 Kindergartenmitarbeiter antworte- dort gar nicht mehr auffallen«, beklagt Jörg Mayten. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ. Aber wald, Geschäftsführer der Deutschen Liga für das sie zeigen: In allen Bundesländern sehen Eltern Kind. »Oft sehen nur Außenstehende, was wirkund Kitamitarbeiter schwere Qualitätsmängel. lich los ist.« Krippen und Kitas in Deutschland erreichen bundesweit nach wie vor keinen »kindgerechten Standard«. Im diese Woche erschienenen Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme der Bertelsmann Stiftung wird erneut deutlich, wie groß die Unterschiede in den einzelnen Bundesländern sind. So ist eine ostdeutsche Erzieherin in der Krippe für 6,1 Kinder zuständig, eine westdeutsche dagegen für 3,6 Kinder. Die Empfehlung liegt bei drei Kindern pro Erzieherin. Die Bundesregierung weiß schon lange, dass kleine Kinder in vielen Kitas nicht besonders gut aufgehoben sind, in einigen sogar furchtbar schlecht. Sie selbst hatte die Nubbek-Studie in Auftrag gegeben, eine Qualitätsanalyse in mehr als 550 Kinderbetreuungseinrichtungen, die das seit 2013 belegt. Die Wissenschaftler bewerteten damals nur sechs Prozent aller Kinderkrippen als »gut« oder »sehr gut«. In fast sieben Prozent der Krippen und 17 Prozent aller altersgemischten Kindergärten schätzten sie die Qualität als unzureichend ein. Die allermeisten Kitas erschienen den Forschern mittelmäßig. Die Autoren der Studie forderten deshalb schon vor drei Jahren eine unabhängige, bundesweite Qualitätskontrolle und genauso massive Investitionen in die Qualität, wie es sie bisher in den flächendeckenden Ausbau der Kitaplätze gab. Geschehen ist wenig. Die Bundesregierung schiebt ergebnislos ein längst versprochenes KitaQualitätsgesetz vor sich her. Die Ministerpräsidenten der Länder haben 2014 sogar einheitliche, strengere Qualitätsregeln einmütig abgelehnt. Mindestens bis zur nächsten Bundestagswahl. »Die Politik schaut weg«, sagt Ilse Wehrmann. Sie war jahrzehntelang Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder. Heute arbeitet sie als Sachverständige für Frühpädagogik und sitzt im Expertenteam des Zukunftsdialogs der Bundeskanzlerin. »Man hat dort das Gefühl, seit der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz erfüllt ist, ist alles paletti – aber nichts ist paletti.« Nötig sei ein KindergartenTÜV, der nicht nur die Breite von Türen und die Quadratmeter des Außengeländes misst, sondern vor allem auf die Prozessqualität achtet, also auf die Art der pädagogischen Arbeit. Wehrmann fordert: »Das muss ein Chefthema in der Bundesregierung werden.« Gesetzliche Werkzeuge, um die Kinder in den Kitas zu schützen und die Qualität zu garantieren, gibt es eigentlich längst. Sie werden aber nicht durchgesetzt. Das 2012 überarbeitete Bundeskinderschutzgesetz bindet beispielsweise die Betriebserlaubnis einer Kindertagesstätte daran, dass die Kita ein eigenes Konzept für den Schutz von Kindern vor Gewalt festgeschrieben hat. Dieses soll nicht nur eine gewaltfreie Umgebung für die Kinder sicherstellen, sondern auch den Schutz der Fachkräfte, da auf diese Weise die Kitas den Handlungsspielraum ihrer Mitarbeiter im Umgang mit den Schutzbefohlenen definieren. Längst gibt es Vorbilder, wie solche Pläne in den Teams entwickelt und im Alltag umgesetzt werden können. Doch auch vier Jahre nach Verkündung des Kinderschutzgesetzes haben sich bei Weitem noch nicht alle Kitas ein Schutzkonzept gegeben. Ihre Aufsichtsbehörden, also die Bundesländer, fordern dies offensichtlich nicht einmal flächendeckend ein. Die positive Ausnahme bildet Hamburg. Der Stadtstaat verlangt seit vergangenem Jahr von jeder Kindertageseinrichtung ein solches Konzept. In Berlin wurden Kitas vor vier Jahren von externen Gutachtern evaluiert. Auf Fehlverhalten zu achten war ein Nebenauftrag des Verfahrens. Die Evaluation durfte jedoch nur unter der Bedingung stattfinden, dass Bewertungen einzelner Kitas nicht veröffentlicht werden. Was auch bedeutet: Eltern, die ihre Kinder in einer Tagesstätte anmelden wollen, wird die Möglichkeit vorenthalten, sich über deren Qualität zu informieren. Vorgeschrieben sind seit 2012 auch klare Meldepflichten: Kitaträger müssen die zuständige Aufsichtsbehörde umgehend über »Ereignisse oder Entwicklungen« informieren, »die geeignet sind, das Wohl der Kinder (...) zu beeinträchtigen«. Merkblätter listen auf, was darunter fällt. Doch wie häufig Kitaträger den Aufsichtsbehörden auf diesem Weg von Missständen in ihren Einrichtungen berichten, weiß niemand. Nur fünf Bundesländer zählen überhaupt, was ihnen aus den Kitas gemeldet wird: Baden-Württemberg, RheinlandPfalz, Thüringen, Brandenburg und das Saarland. Vergleichbar sind diese Daten jedoch nicht. Übrig bleibt ein undurchdringbares Dunkelfeld. Ohnehin gilt das Thema Kitaqualität in Fachkreisen als vorerst erledigt. Im Herbst soll eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe noch einen Zwischenbericht vorlegen. Dann ist die Legislaturperiode auch schon wieder fast vorbei. Zuschriften. Eltern ärgerten sich vor allem über den spürbaren Personalmangel in den Einrichtungen ihrer Kinder – 34 Prozent der Beschwerden handelten davon. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, zeigen aber, wie viel Kritik selbst Kitamitarbeiter üben. 85 Prozent benannten mindestens einen strukturellen Missstand. 24 Prozent der Mitarbeiter äußerten sich kritisch über die mangelhafte Ausbildung der Fachkräfte. Mehr zu den Ergebnissen der Umfrage und den Recherchen von ZEIT ONLINE lesen Sie unter zeit.de/kita-qualitaet www.zeit.de/audio Im Jahr 2009 nannte die ZEIT ihn einen »Weltverändererdenker« – da war der deutsche Philosoph Thomas Pogge gerade nach Yale berufen worden. Seine Ideen über globale Gerechtigkeit, Armut und Macht sind bis in Politik und Wirtschaft vorgedrungen. Nun aber wird der Professor für Philosophie und Internationale Angelegenheiten in mehreren Fällen der sexuellen Belästigung und Nötigung beschuldigt. Die Gerüchte sind nicht neu, neu aber sind Berichte und Stellungnahmen im Internet. Im Fokus stehen die Vorwürfe der ehemaligen Studentin Fernanda Lopez Aguilar. Sie behauptet, Pogge habe sie körperlich bedrängt und ihre Bewunderung für seine Arbeit ausgenutzt. Auch Frauen anderer Institutionen berichten von Belästigungen. Seit vergangener Woche hat der Fall nun eine neue Dimension. In einem offenen Brief beschuldigen 169 Wissenschaftler Pogge eines »Langzeitmusters diskriminatorischen Verhaltens«. Er habe das Vertrauen der Scientific Community verraten. Zu den Erstunterzeichnerinnen gehören Forscherberühmtheiten wie Seyla Benhabib aus Yale sowie die Politologinnen Wendy Brown und Nancy Fraser oder die Philosophin Martha Nussbaum. Ebenfalls unterschrieben hat der Institutsleiter des Philosophie-Departments in Yale, Stephen Darwall. Auch gegen die Universität ist wegen sexueller Diskriminierung eine Bürgerrechtsbeschwerde beim US-Bildungsministerium eingelegt worden. Die Universität soll von den Vorwürfen gegen Pogge seit Langem gewusst haben wie auch von einem weiteren Fall mutmaßlicher sexueller Belästigung an der Columbia University im Jahr 1995. Thomas Pogge selbst bestreitet die aktuellen Vorwürfe in einer von ihm im Internet veröffentlichten sechsseitigen Verteidigungsschrift und schreibt, der »Internetprozess« gegen ihn gleiche einer »Steinigung«. Für den Ton und die Argumentation seiner Verteidigung wird Pogge scharf kritisiert. Die Politologin Melissa S. Williams wirft ihm in einem persönlichen, später auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichten Brief vor, in seinem Schreiben die Glaubwürdigkeit der Anklägerin unterminiert und sich als Opfer dargestellt zu haben, statt seine Machtposition zu reflektieren. Im Gespräch mit der ZEIT reagiert Thomas Pogge auf diese Vorwürfe. »Mein Verteidigungsschreiben hat mir sehr geschadet«, sagt Pogge, »aber ich kann die sexuelle Belästigung nicht zugeben, wenn sie nicht geschehen ist.« Richtig sei, dass er 2010 auf einer Forschungsreise mit Lopez Aguilar in einem Hotelzimmer gewohnt und im Flugzeug auf ihrem Schoß geschlafen habe. »Das hätte ich nicht tun dürfen.« Doch er pflege ein »freundschaftliches, antiautoritäres Verhältnis« zu seinen Studierenden. Über die anderen Fälle sagt er, dass die Frauen vergangene Situationen nun nachträglich »anders interpretieren« würden. Pogge, der sich gerade beruflich in Nepal aufhält, sagt außerdem, er habe derzeit keinen Rechtsbeistand und müsse überlegen, was er jetzt mache: »Ich ziehe eine Klage wegen Diffamierung in Betracht.« Von seiner Universität sei er noch nicht kontaktiert worden. Seyla Benhabib, die als Professorin in Yale Politische Philosophie und Theorie lehrt, sagt auf Anfrage, dass Thomas Pogge sich verantworten müsse. Als Kollegin habe sie den Gerüchten über ihn lange keinen Glauben geschenkt. Das nun öffentlich gemachte Material zeige aber, dass Pogge ein »erschreckend schlechtes Urteilsvermögen und Charakterschwäche in seinem übergriffigen Umgang mit Studentinnen und jungen Kolleginnen« besitze. Moralisch geboten sei es, so Benhabib, dass Pogge »von seinem Posten in Yale zurücktritt, bis der juristische Fall geklärt ist. Die Universität Yale sollte ihn darum bitten, sofern er diesen Schritt nicht freiwillig anbietet. Zur Lehre ist er derzeit nicht in der Lage.« Die Universität Yale hat sich bis zum Redaktionsschluss nicht öffentlich zu dem Fall geäußert. ANNA- LE NA SCHOLZ # Kitas außer Kontrolle Haben Sie Missstände in der Kita Ihres Kindes erlebt?, fragte ZEIT ONLINE seine Leser. Mehr als 2000 haben geantwortet. Die Berichte zeigen systematische Probleme in der Boombranche Kindergarten. Aus allen Regionen Deutschlands erhielt die Redaktion Jetzt am Kiosk: Das neue ZEIT SPEZIAL 132 Seiten über Arbeit, Liebe, Geld und die Rushhour des Lebens, in der alles auf einmal passiert 62 CHANCEN 30. J U N I 2016 KITAS AUSSER KONTROLLE WORK-LOVE-BALANCE D I E Z E I T No 2 8 Wunsch und Wirklichkeit Qualität I: So viele Kinder werden in Krippengruppen von einer Erzieherin betreut Qualität II: So schlecht schneiden Kitas bei Betreuung und Pflege der Kinder ab Personalschlüssel* Karriere oder Beziehung? In der Rushhour des Lebens wird es ernst. RUDI NOVOTNY kriegt das zu spüren Tagespflege (n = 161) 1.3.2012 1.3.2015 4,0 altersgemischte Gruppen (n = 128) 3,7 Krippe (n = 117) Nach einer Empfehlung der Bertelsmann Stiftung sollen auf eine(n) Erzieher(in) drei Kinder kommen 88,3 % 6,1 Professors Praxis Seit ich längere Texte nur noch häppchenweise anbiete, greifen die Studierenden viel lieber zu und nehmen auch was für zu Hause mit Stephan Porombka, 48, ist Professor für Texttheorie an der UdK Berlin. Mehr unter www.zeit.de/porombka 90 % 6,0 5,7 5,1 3,2 3,3 Ich suche. In den Taschen meines Mantels. Im Wäschekorb. Im Geschirrschrank. Der Mensch, der mit mir wohnt, schaut mir zu. Er hat noch nie etwas gesucht. Seine Mäntel hängen mit geleerten Taschen in der Garderobe. Seine Wäsche ist nach Farbe sortiert. Sein Geschirr nach Aussehen und Größe. Der Mensch, der mit mir wohnt, sagt: »Nur in einem aufgeräumten Haus wohnt ein aufgeräumter Geist.« Ich sage: »Panta rhei, alles fließt, so ist das Leben.« Niemand lebte aufgeräumter als Klara von nebenan. Klara trug Zöpfe und spielte das dazu passende Instrument. Querflöte. Ihre Schulnoten konnten sich ebenso sehen lassen wie ihre Freundinnen. Und ihr Hamster war der einzige in der Nachbarschaft, der eines natürlichen Todes starb und nicht, weil sich jemand auf ihn setzte oder ihn als Prinzessin verkleidet in einem Puppenhaus vergaß. Klaras Eltern waren seit ihrer Schulzeit zusammen. Ihr Vater arbeitete als Buchhalter in einem Betrieb, der vor allem mittelständisch war. Klaras Mutter war zu Hause. Die beiden hatten sich über den Bruder der Mutter kennengelernt. Damals spielte Onkel Heinrich mit dem Vater in einer Fußballmannschaft, trank mit ihm Bier und küsste mit ihm Mädchen in der Diskothek. Das mit dem Biertrinken war gleich geblieben. Ansonsten hatte sich bei Klaras Vater viel verändert. Bei Onkel Heinrich weniger. Manchmal kam Klara zu mir rüber und wunderte sich. Darüber, dass ich mir Schokolade aus der Vorratskammer holen durfte, wann immer ich wollte, darüber, dass unsere Verwandten in anderen Ländern lebten, und darüber, dass meine Eltern immer so viel stritten. Klara wunderte sich laut. Ich erklärte leise. Sie riss ihre Augen auf. Und meine Wunden. Dann stand Klara eines Abends vor der Tür. Zu einer Uhrzeit, die nicht in ein aufgeräumtes Leben passt. Mit Haaren, so unaufgeräumt wie die Uhrzeit. »Meine Eltern haben sich gestritten.« – Ich nickte. »Kann passieren«, sagte ich. – »Meine Mutter schläft heute Abend bei einer Freundin«, sagte sie. – Ich nickte. »Kann passieren«, sagte ich. – »Weil sie gesehen hat, wie mein Vater und Onkel Heinrich sich geküsst haben«, sagte Klara. Ich riss meine Augen auf. Und sah Klaras Wunden. Als ich begann, die Welt zu beschreiben, hatte ich einen Chefredakteur, der sie aufräumen wollte. Seine Überzeugungen stammten aus Büchern. Seine Sätze klangen nach Papier. Er sagte: »Weltpolitik wird nur in Washington, D. C., gemacht, im Herzen der einzig verbliebenen Supermacht.« Kurz darauf zog er unsere Korrespondenten aus Russland, Lateinamerika und dem Nahen Osten ab. Dann kam der Georgien-Krieg. Und der Arabische Frühling. Und noch ein paar Sachen. Die Korrespondenten sind wieder da. Der Chefredakteur ist weg. Klara lebt schon seit Langem nicht mehr nebenan. Sondern im Ausland. Das letzte Mal sah ich sie auf einer Hochzeit. Der ihres Vaters mit Onkel Heinrich. Sie spielte Gitarre, mit kurzen Haaren. Nur wer verliert, kann finden. Ich suche weiter. 100 % 5,8** 4,2 4,0 6,9 6,6 6,3 6,3 Hierbei handelt es sich nicht um die durchschnittliche pädagogische Qualität der Kindertagesstätten, sondern um den Teilbereich Betreuung und Pflege. Es geht um Begrüßung und Verabschiedung, Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten, Ruheund Schlafzeiten, Wickeln und Toilette, Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge und Sicherheit (Nubbek-Studie 2013) 78,4 % 70 % 60 % 3,7 3,6 50 % 5,3 4,1 4,0 6,6 5,3 40 % 6,4 3,8 *Median, ohne Leitung, **für 2012 ist keine Berechnung möglich 3,6 30 % 24,8 % 19,8 % 20 % 17,0 % 3,6 80 % 73,3 % 11,7 % 3,6 4,0 3,5 3,0 10 % 3,8 1,9 % 0,0 % 0% Bereich guter bis sehr guter Qualität Bereich mittlerer Qualität Bereich unzureichender Qualität »Sofort abmelden!« Wann schadet die Fremdbetreuung dem Kind? Was zeichnet einen feinfühligen Erzieher aus? Die Kindheitsexpertin Fabienne Becker-Stoll über die Konsequenzen aus der großen Kita-Qualitätsumfrage von ZEIT ONLINE DIE ZEIT: Frau Becker-Stoll, wie gut sind unsere Krippen und Kindergärten? Fabienne Becker-Stoll: Von hervorragend bis grottenschlecht und kindeswohlgefährdend ist da leider alles dabei. Es gibt Leuchttürme, aber auch Katastrophen-Kitas, die sofort geschlossen werden müssten. Schon innerhalb einer Einrichtung kann es erhebliche Qualitätsunterschiede geben: Bei den »Schmetterlingen« herrschen dann Heulen und Zähneklappern, während bei den »Bienchen« die Tage in schönster Fröhlichkeit vergehen. ZEIT: Die von unseren Lesern, aber auch von Kita-Mitarbeitern geschilderten Missstände verwundern Sie nicht? Becker-Stoll: Nein, die Ergebnisse Ihrer OnlineBefragung überraschen mich nicht. Das sind mit Sicherheit keine Einzelfälle. Wir müssen davon ausgehen, dass die Dunkelziffer noch viel höher ist. Die letzte große nationale Studie zur Qualität in Krippen und Kindergärten hat gezeigt, dass über 80 Prozent aller Einrichtungen nur über eine mittelmäßige Qualität verfügen. Unzureichende Qualität, und hier müssen wir schon von einer Kindeswohlgefährdung ausgehen, gibt es in 6,8 Prozent der Krippen und in 17,6 Prozent der altersgemischten Einrichtungen. Dazu muss man wissen, dass der massive Ausbau der Plätze für die unter Dreijährigen an vielen Orten keine neuen Krippengruppen nach sich zog, sondern einfach zusätzliche Kindergartengruppen eröffnet wurden für ein- und zweijährige Kinder. Die wuseln dann zwischen Fünf- und Sechsjährigen umher. In diesen gemischten Betreuungsformen kann den Bedürfnissen der Kleinen meist nicht entsprochen werden, auch weil die Erzieherinnen dafür häufig nicht ausgebildet sind. ZEIT: Wie oft stoßen Sie selbst auf Missstände? Becker-Stoll: Meine Kollegen und ich sind für Forschungszwecke, Fortbildungen und Gespräche oft in den Einrichtungen. Wir begeben uns dann sehr früh am Morgen schon an den Ort, sodass wir sehen, wie die Kinder ankommen und begrüßt werden. Beim Begrüßen, aber auch beim Essen, Wickeln, Verabschieden, überhaupt bei der Interaktion zwischen Erzieherin und Kind entspricht vieles nicht den Bedürfnissen der Kinder. ZEIT: Was kann man beim Begrüßen und Verabschieden falsch machen? Becker-Stoll: Zunächst braucht man überhaupt ein Bewusstsein dafür, dass es sich hier um wichtige Situationen handelt, um mit den Kindern, aber auch den Eltern ins Gespräch zu kommen, eine Beziehung zum Kind aufzubauen. Wir wollten für eine Studie wissen, wie viele individualisierte Gesprächsangebote ein Kind innerhalb einer Woche bekommt, und haben erfasst, wie oft eine Erzieherin das Kind direkt anspricht oder aus einer Alltagssituation ein Gespräch entwickelt. Und obwohl wir Begrüßung und Verabschiedung mitgezählt haben, gab es Kinder, die in der gesamten Woche nicht ein einziges Mal direkt angesprochen wurden. Sie wurden also nicht mal begrüßt oder verabschiedet. ZEIT: Warum ist es so wichtig, solche Situationen mit dem Kind zu erleben? Becker-Stoll: Weil wir wissen, dass es dem Kind gerade dann besonders gut geht, wenn es sich in der fremden Umgebung sicher fühlt. Dafür spielt richtung die teuersten Möbel vom privaten die Interaktion zwischen Kind und Erzieherin Tischler hat. Am Ende kommt es auf das Fachwissen und die emotionale und soziale Kompeeine entscheidende Rolle. ZEIT: Daran kann ich als Vater oder Mutter die tenz jeder Erzieherin an. Wenn die Fachkräfte nicht wissen, was sie tun, hilft es nichts, wenn Qualität einer Einrichtung erkennen? Becker-Stoll: Ja, so ist es. Der Maßstab für die sich besonders viele um die Kinder kümmern. Qualität einer Kita ist allein das Wohlergehen des ZEIT: Wie meinen Sie das? Kindes. Also all das, was ein Kind tagtäglich am Becker-Stoll: Ich denke an eine private Einricheigenen Leib erfährt. Ob die Fachkräfte in der tung, die wir besucht haben; die Eltern müssen Lage sind, feinfühlig auf all seine Bedürfnisse zu dort 1000 Euro pro Monat bezahlen. Es gab viel reagieren. Nur wenn sich ein Kind wohlfühlt, mehr Personal als normalerweise üblich, die Erziekann seine Entwicklung langfristig gefördert wer- her waren zur Hälfte englische Muttersprachler den. Ein Kind, das keinen Trost erfährt, wenn es mit einem hohen Ausbildungsniveau – aber den weint, nicht ab und zu die exklusive Aufmerksam- Kindern ging es überhaupt nicht gut. Es war keit der Erzieherin bekommt, wird nie in der Lage furchtbar: Die Kinder wehrten sich verzweifelt dasein, sich frei zu entfalten und seinem Bedürfnis gegen, sich von ihren Eltern trennen zu müssen. nachzugehen, die Welt zu entdecken. Die Stun- Sie liefen danach weinend umher, ohne dass sich den in der Kita verbringt es dann wie in einem jemand um sie gekümmert hätte, sie wurden anemotionalen Panzer, in Angst und purem Stress. geschrien. Ich habe in sieben Stunden nicht ein Mal gesehen, dass ein Kind ZEIT: Ist es nicht illusionär, von einer Erzieherin angelädass die Eltern die Qualität chelt wurde. der Kita richtig beurteilen? Für Eltern ist es doch schon ZEIT: Warum hatte man Sie schwer, überhaupt einen eingeladen? Kita-Platz zu finden. Becker-Stoll: Die Einrichtung wollte uns ihre naBecker-Stoll: Eltern gewähturwissenschaftliche Bildung ren Einrichtungen und Erpräsentieren. Das Wochenziehern einen unglaublich thema war Wasser. Die Erhohen Vertrauensvorschuss. zieherin stellte einen Topf Sie können ihr Kind nur kochendes Wasser auf den mit einem Gefühl der Si»Über 80 Prozent aller Tisch, um zu zeigen, wie es cherheit in fremde Hände Einrichtungen verfügen verdampft. Den Kindern geben, sonst würde das ja nur über eine wurde gesagt, sie dürften keiner übers Herz bringen. sich nicht bewegen, weil sie Es kann ihnen aber niemittelmäßige Qualität« sich sonst verletzen könnten. mand die Verantwortung Sie saßen weinend um den für ihr Kind abnehmen. DaFabienne Becker-Stoll, Tisch herum, wurden harsch her sollten sie bei der Wahl Direktorin des Staatsinstituts für gepackt, wenn sie aufstehen der Kita sehr sorgfältig sein Frühpädagogik in München wollten. Die Erzieherin aber und sich darum kümmern, absolvierte ihr Wasserproin der Kita hospitieren zu dürfen, einen ganzen Vormittag am besten. Und jekt und erkannte nicht, dass das völlig an den dann müssen sie sofort sehen, dass da ganz viel ge- Bedürfnissen der Kinder vorbeiging und sie unter kuschelt und geschmust und geherzt wird. Wenn diesen Umständen nichts lernten. Kinder weinen, und keiner kümmert sich drum: ZEIT: Als nach den ersten Pisa-Ergebnissen in ganz schlimm! Sofort abmelden. Deutschland der Bildungsnotstand ausgerufen ZEIT: Und wenn man zu spät merkt, die falsche wurde, gerieten auch die Kitas in den Fokus: Dort werde zu viel gekuschelt und zu wenig gelernt. Wahl getroffen zu haben? Becker-Stoll: Dann sollte man die Signale des Deshalb erhielt die Kita ebenfalls einen BildungsKindes unbedingt ernst nehmen. Weint das Kind auftrag. Überall stehen nun Forscherkisten und immer schon, wenn man nur auf die Kita zugeht, Experimentierkoffer. Haben wir bei alldem das dann herrscht Alarmstufe Rot. Und jeder Wech- Wohlergehen der Kinder aus den Augen verloren? sel ist dann ein Wechsel zum Guten. Denn wenn Becker-Stoll: Wir haben immer noch keinen geein Kind unglücklich ist, dann ist es das unend- sellschaftlichen Konsens darüber, was für Kinder lich viele Stunden am Tag. in den ersten Lebensjahren wichtig ist. Damit ZEIT: Eltern haben gelernt, wie wichtig der Be- meine ich die Beziehungen, die sie erfahren, und treuungsschlüssel ist, sie schauen auf die Höhe nicht die Experimente, die sie mit drei oder vier der Toiletten in den Waschräumen, auf die Außen- Jahren machen. Der überzogene Bildungsananlagen und das Angebot an Büchern. Sagt all das spruch führt dazu, dass wir zu wenig über die Art des Aufwachsens reden. Noch immer werden Kindenn nichts aus über die Qualität der Kita? Becker-Stoll: Alles, was es an Rahmenbedingun- der zum Essen und Schlafen gezwungen oder zur gen gibt, ist für die Qualität notwendig, aber Strafe auf einen »heißen Stuhl« gesetzt – es gibt nicht hinreichend. Entscheidend für eine positive Eltern, die das mittragen, weil ihre Kinder »nicht Entwicklung des Kindes ist die konkrete Zuwen- verzärtelt werden« sollen. Es gibt Einrichtungen, dung, die es in der Kita erlebt. Wir Wissenschaft- die noch nicht einmal eine Eingewöhnung anbieler nennen das »Beziehungs- und Interaktions- ten, weil sie Angst haben, das könne die Trennung qualität«. Dabei ist es völlig egal, ob die Kita in von den Eltern noch schwerer machen. einem Problemviertel liegt, ob sie Kinder mit er- ZEIT: Die frühkindliche Bildung soll aber auch höhtem Förderbedarf betreut oder ob die Ein- soziale Ungerechtigkeiten ausgleichen. Becker-Stoll: Aus Studien wissen wir zum Beispiel, dass zweijährige Kinder mit Migrationshintergrund im Hinblick auf ihre sprachliche und sozialemotionale Entwicklung nur vom Besuch einer Kita profitieren, wenn die Qualität sehr gut ist. Gehen diese Kinder in eine mittelmäßige oder gar schlechte Kita, schadet das ihrer Entwicklung. Dann ist es besser für sie, zu Hause zu bleiben. ZEIT: Kinderbetreuung ist zu einem riesigen Geschäftsmodell geworden. Die Zahlen werden gefeiert, die Qualitätsdebatte wird vermieden. Warum? Becker-Stoll: Weil die frühe Bildung in der Verantwortung der Kommunen liegt. Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz vom ersten Geburtstag des Kindes an hat die Kommunen sehr unter Druck gesetzt. Die Länder geben ihnen das Geld in der Hoffnung, dass sie damit eine ordentliche Betreuung auf die Beine stellen. Aber keiner kontrolliert, was wirklich passiert: ob man für das Geld große Tagesmütterstellen schafft, mit Langzeitarbeitslosen als Angestellten, oder eben ordentliche Kitas mit gut ausgebildetem, teurem Personal. ZEIT: Und die Ansprüche der Eltern steigen. Becker-Stoll: Ja. Da ist zum Beispiel der Wunsch nach 24-Stunden-Kitas, wo man sich entscheiden kann, ob man das Kind nach einer Dienstreise nach Paris abends noch abholt oder lieber erst am nächsten Morgen. Mein Eindruck ist, dass manche Eltern gar nicht so genau wissen wollen, wie es ihrem Kind in der Kita geht, Hauptsache, es funktioniert im Takt der eigenen Leistungsanforderungen. ZEIT: Wie kann der Staat in dieser verfahrenen Lage das Beste für die Kinder erreichen? Becker-Stoll: Zunächst müssten wir uns auf Qualitätsstandards einigen und diese dann evaluieren. Berlin hat über 1000 Kitas und überprüft sie alle fünf Jahre. Das könnte auch ein Modell für andere Bundesländer sein. ZEIT: Es gibt also Fortschritte? Becker-Stoll: Es bleibt dabei, dass jedes Bundesland seine eigenen Regeln hat. Wir haben 16 verschiedene Bildungssysteme, die nicht aufeinander abgestimmt sind. Wir haben 80 bis 100 Studiengänge für Kleinkind- und Elementarpädagogen geschaffen, ohne angemessen bezahlte Stellen in den Kitas für diese Studienabgänger zu haben. Wir müssten einen Zeitpunkt nennen, an dem alle Kita-Leitungen Akademiker sein sollten. Danach könnte man die Quote ausweiten auf die Fachkräfte, die in den Gruppen mit den Kindern arbeiten. Aber solange ich von Politikern immer noch höre, »mittelmäßige Kitas sind kein Problem«, habe ich wenig Hoffnung. Die gleichen Leute behaupten in ihren Sonntagsreden, Kinder seien unsere Zukunft. Wenn sie das ernst meinten, wüssten sie, dass die beste Qualität für die Bildung und Betreuung der Kinder gerade gut genug ist – und dass das Geld kostet und richtig teuer wird. Das Gespräch führte Jeannette Otto Foto: Johannes Mairhofer; Quellen: Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme 2016; Bertelsmann-Stiftung (links) Nubbek Studie 2013 (rechts) Ich denke an Klara und sortiere mein Leben 30. J U N I 2 0 1 6 CHANCEN 63 D I E Z E I T No 2 8 Her mit den Milliarden! G erade dachten die Wissenschaftsminister, sie könnten entspannt in die Sommerpause gehen. Doch kaum hat Hamburg dem Kompromiss zur Zukunft der Exzellenzinitiative zugestimmt, meldet sich Thüringens Ressortchef Wolfgang Tiefensee zu Wort: Das Programm zur Förderung der Spitzenforschung sei ja gut und schön, aber jetzt sei es an der Zeit, zum Wesentlichen zu kommen. »Das Wesentliche«: Für die Länder ist das der Hochschulpakt, der zusätzliche Studienplätze finanziert und in den der Bund jedes Jahr rund zwei Milliarden Euro investiert – fünfmal so viel wie in die neuerdings Exzellenzstrategie genannte Forschungsinitiative. Und während Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) jubelt, dass die »ExStra« von jetzt an ein Programm ohne Ende sei, läuft der Hochschulpakt nach 2020 aus: Vor neun Jahren vereinbart, sollte er ein vermeintlich vorübergehendes Hoch bei den Anfängerzahlen abfangen. »Dass der Pakt endet, ist keine Option«, verkündet der SPD-Politiker Tiefensee. Wenn es nicht bald Planungssicherheit gebe, müssten die Hochschulen anfangen, Personal abzubauen. Darum hat er seinen Kollegen Anfang der Woche einen Zehn-Punkte-Plan präsentiert, mit dem er den Bund in die Verhandlungen zwingen möchte. Tiefensees Kernforderung: Von 2020 an soll Berlin das Geld unbefristet überweisen, nach derselben Logik, die bei der »ExStra« greift. Das Zauberwort lautet Grundgesetz-Artikel 91b: Ende 2014 haben Bund und Länder die Verfassung geändert. Seitdem darf der Bund in der Länderdomäne Wissenschaft dauerhaft agieren – und braucht sich nicht mehr auf vorübergehende Initiativen zu beschränken. Wankas Ministerium sagt zu Tiefensees Ideen lediglich, der Pakt sei doch erst verlängert worden. Für das Ministerium kommt der Vorstoß zur Unzeit: Ein Jahr vor der Bundestagswahl will man sich für die Erfolge in der Wissenschaftsfinanzierung feiern und nicht neue Forderungen auf den Tisch bekommen. Außerdem geht es um viel Geld. Auf vier Milliarden Euro jährlich summiert sich Tiefensees Wunschliste. Neben den zwei Milliarden für den Hochschulpakt soll der Bund 600 Millionen für Forschungsprogrammpauschalen (bisher sind es 400 Millionen) an die Länder zahlen, außerdem 1,6 Milliarden für den Hochschulbau. Am schwierigs- Wie man bildungsferne Schüler für ein Studium begeistert VON JAN -MARTIN WIARDA ten zu schlucken dürfte für Wanka die letzte Forderung sein. Denn während keiner ernsthaft erwartet, dass der Bund sich aus der Studienplatzfinanzierung zurückzieht, hat er von 2020 an keinerlei Zuständigkeit mehr für die Uni-Baustellen der Republik. Er will sie auch nicht: Wanka hat eine Diskussion darüber mehrmals abgelehnt. So kämpft der Bund für seinen politischen Gestaltungsspielraum, während die Länder immer mehr planbares Dauergeld wollen. Und Tiefensee taktiert schlau. Indem er argumentiert, nach der Exzellenz sei die Breitenförderung dran, und seine zehn Punkte unter dem Label »Neuer Hochschulpakt« verkauft, kommt die Forderung nach Entlastung der Länderhaushalte plötzlich als Einsatz für mehr Bildungsgerechtigkeit daher. Um das Ganze zusätzlich mit einer Vision zu versehen, hat der Minister mit dem Geschäftsbereich Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft das Buzzword »Digitalisierung« vor die Klammer gezogen: Von den vier Milliarden müssten jedes Jahr 400 Millionen in den »Aufbau digitaler Lehr- und Forschungsplattformen« fließen. Die Arbeitsgruppe der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern zum Grundgesetz-Artikel 91b, die vielen als AlibiVeranstaltung zur Überbrückung bis nach der Bundestagswahl erschien, könnte also doch noch spannend werden. Denn ein Ziel hat der frühere Verkehrsminister Tiefensee, der bislang kaum als Hochschulpolitiker in Erscheinung getreten ist, bereits erreicht: Die Debatte nimmt Fahrt auf. »Den Hochschulpakt zu verstetigen wäre für unser ganzes Wissenschaftssystem von zentraler Bedeutung«, sagt zum Beispiel Bremens SPD-Wissenschaftssenatorin Eva Quante-Brandt. »Das würde die Grundfinanzierung der Hochschulen langfristig sichern und ihnen etwa ermöglichen, mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Dauer einzustellen.« Auch Baden-Württembergs grüne Wissenschaftsministerin Theresia Bauer sagt, eine Verstetigung sei richtig. Über das Wie müsse geredet werden. »Wir brauchen Qualitätskriterien und keine bloße Pro-Kopf-Verteilung.« Tiefensee will, dass der Bund für jeden Studenten in der Regelstudienzeit 1000 Euro zahlen soll. Vergangene Woche haben sich die Staatssekretäre zum ersten Mal zu ihrer 91b-AG getroffen. Bis zum Frühjahr wollen sie ihre Forderungen an den Bund sortieren. Mal sehen, wie viele TiefenseeMilliarden darin stecken werden. W Mit Geld lehrt es sich einfach leichter Fotos [M]: Victor Albrow/Getty Images, Creative Crop/Getty Images Die Bundesländer verlangen für ihre Unis sehr viel Geld vom Bund In 20 Minuten zu mehr Gerechtigkeit ie geht es weiter nach der Schule?« Vor dieser Frage stehen gerade viele Abiturienten. Wollen sie bald in ihrer ersten Juravorlesung sitzen, ein Seminar über die Renaissance besuchen oder lieber eine Lehre als Bankangestellte oder Konditor beginnen? Man sollte denken, eine solche Entscheidung hinge allein davon ab, was jemand gut kann und was einem Spaß macht. Doch das stimmt oft nicht: Denn eine wichtige Rolle bei der Wahl nach dem Abitur spielt, ob die eigenen Eltern ebenfalls studiert haben oder nicht. Forscher nennen das »soziale Ungleichheit bei der Studienabsicht«. Wie diese reduziert werden kann, zeigt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und des Wissenschaftszentrums Berlin, die der ZEIT vorab vorlag. Die Forscher haben im BerlinerStudienberechtigten-Panel (Best Up) über 1500 Jugendliche an 27 Berliner Schulen auf ihrem Weg zum Abitur begleitet. In einigen der Klassen referierten die Wissenschaftler in einem Workshop 20 Minuten lang, wie nützlich ein Studium ist und wie man es finanziert. Ein Jahr lang verfolgten sie, wie diese Informationsoffensive wirkte. Das Ergebnis: Jugendliche, deren Eltern nicht studiert hatten, wollten sich danach zu 76 Prozent an einer Hochschule einschreiben, vergleichbare Jugendliche, die nicht an dem Workshop teilgenommen hatten, nur zu 64 Prozent. Zudem gaben die Workshop-Teilnehmer aus bildungsfernen Familien ihre Studienabsichten im Verlauf des Jahres deutlich seltener auf – die Informationen ermutigten sie also langfristig. Die Forscher fanden auch heraus, dass sich mehr als 60 Prozent aller Abiturienten schlecht über Studienmöglichkeiten informiert fühlen. Besonders Jugendliche aus bildungsfernen Familien bewerteten den Rat ihrer Eltern oft als wenig hilfreich. Zu Recht, da diese Eltern die Kosten eines Studiums regelmäßig überschätzten und seinen Nutzen unterschätzten – und diese Haltung dann an ihre Kinder weitergaben. Damit Abiturienten nicht einfach dem Bildungspfad ihrer Eltern folgen, müssen sie nicht nur wissen, wo sie Infos über ein Studium bekommen, sie müssen mit diesen Informationen konfrontiert werden. Die gute Nachricht: Schon 20 Minuten reichen dafür. J U LIA G U NDLACH 64 CHANCEN 30. J U N I 2016 THEMA: PSYCHIATER D I E Z E I T No 2 8 Reden, bis # es besser wird Als Psychiaterin in einer Klinik hat Johanna Rönfeldt Zeit für ihre Patienten. Die braucht sie auch. Denn zu ihr kommen die härtesten Fälle VON FRIEDERIKE LÜBKE Foto (Ausschnitt): Andreas Zauner für DIE ZEIT A Die Psychiaterin Johanna Rönfeldt in ihrem Arbeitszimmer auf der Krankenstation ANZEIGE ls Erstes an diesem Morgen verschreibt Johanna Rönfeldt ein Antidepressivum. Es ist neun Uhr, in ihrem Büro sitzt eine junge Frau. Mit Kuli zeichnet Johanna Rönfeldt eine Skizze für sie. Drei, vier blaue Striche, die an einen Schaltkreis erinnern und illustrieren sollen, wie im Gehirn Informationen weitergegeben werden. Die Mitte kreist Rönfeldt ein: Hier wird das Medikament ansetzen. Ihre Patientin ist erst Anfang zwanzig, aber schon schwer depressiv. Sie kennt sich aus. Johanna Rönfeldt sagt zu ihr: »Sie wissen, es verändert nicht den Charakter. Sie wissen, es macht nicht abhängig. Aber die Wirkung setzt erst in einigen Wochen ein, die Nebenwirkungen innerhalb von einer halben Stunde.« Dann zählt Rönfeldt all diese Nebenwirkungen auf, von Durchfall bis zur schwindenden Lust auf Sex. Das Gespräch soll nicht nur informieren, es soll auch die Therapie unterstützen, indem es die Patientin dazu bringt, selbst zu entscheiden, was für ein Medikament sie nehmen will – anstatt einfach irgendetwas zu schlucken, was verschrieben wurde. Eine Entscheidung auf Augenhöhe. Für psychisch Kranke sei das besonders wichtig, sagt Rönfeldt. Johanna Rönfeldt ist eine schmale Frau mit klarer Stimme. Seit einem Jahr arbeitet die 34-Jährige als Stationsärztin und Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie auf einer Station für junge Patienten mit Essstörungen und Depressionen in der Asklepios-Klinik Nord in Hamburg-Ochsenzoll. Außer ihr arbeiten noch vier Psychologen und zwei Ernährungswissenschaftler auf der Station. Doch für die medizinische Betreuung ist Rönfeldt allein zuständig. An diesem Tag wird sie ein Mittel gegen erhöhte Schilddrüsenwerte verschreiben, einen Verdacht auf Gehirntumor überprüfen und nach der Ursache für eine Pilzinfektion forschen. Johanna Rönfeldt hat in Hamburg Medizin studiert und anschließend eine fünfjährige Facharztausbildung abgeschlossen. Psychiater behandeln Körper und Geist. Doch obwohl sie auch Medikamente verschreiben dürfen, haben sie als Mediziner einen schweren Stand. »Psychiatrie machen nur die, die selbst einen an der Klatsche haben, oder die, die nichts können«: Diesen Satz hat Johanna Rönfeldt während des Studiums häufig gehört. Eine Frau, die schnell geht und schnell arbeitet und dabei so wirkt, als könnte sie auch ein Segelschiff durch einen Sturm steuern. Natürlich wollte auch sie weder für verrückt noch für unfähig gehalten werden. Doch dann arbeitete sie während ihres praktischen Jahres in der Psychiatrie. »Ich habe gemerkt: Ich kann was tun. Es gibt Leute, die brauchen dich«, sagt sie. Sie war begeistert. Auch wenn sie nun damit leben muss, dass ehemalige Kommilitonen schon mal zu ihr sagen: »Johanna? Scheiße, was machst du denn in der Psychiatrie?« Wenn unter ihrem Bürofenster plötzlich wilder Gesang ausbricht, amüsiert sie das Die Skepsis verwundert nicht, denn es sind die besonders schweren Fälle, die in einer Klinik wie in Ochsenzoll landen: chronisch Kranke, Patienten mit Wahnvorstellungen und Menschen, die nackt durch die Straße gelaufen sind. Schwere Fälle schrecken Rönfeldt nicht ab. Wenn unter ihrem Bürofenster, wo sich der Garten der geschlossenen Psychiatrie befindet, plötzlich wilder Gesang ausbricht, amüsiert sie das eher. Rönfeldt hat mehr Angst vor der Routine. »Das klingt jetzt komisch, aber ich mag auch die psychiatrischen Akutfälle.« Rund 500 Mediziner erhalten jedes Jahr die fachärztliche Anerkennung als Psychiater und Psychotherapeuten. Etwa 13 500 Ärzte gibt es in Deutschland im Bereich Psychiatrie und Nervenheilkunde. Die meisten sind zwischen 50 und 59 Jahre alt. Es sind zu wenige, und sie sind zu alt. Gesucht werden Ärzte derzeit vor allem auf dem Land, und zwar sowohl in Kliniken als auch in Praxen, sagt Iris Hauth, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. »Berlin ist gut versorgt, ebenso wie andere attraktive Großstädte. In den neuen Bundesländern oder in Flächenländern wie Niedersachsen sieht es anders aus.« Dabei steigt der Bedarf. Nicht weil mehr Menschen psychisch krank werden, aber weil die Betroffenen häufiger Hilfe suchen. »Angststörungen und Depressionen sind Volkskrankheiten«, sagt Iris Hauth. Anfang Juni hat ihre Organisation daher eine Nachwuchsinitiative gestartet, um Jüngeren den Beruf nahezubringen. Dazu gehört auch, die Vorteile der TherapeutenArbeit herauszustreichen. Denn als Psychiater mag man vor allem für die medikamentöse Behandlung zuständig sein. Wer aber auch als Psychotherapeut arbeitet, führt häufig Patientengespräche. Damit haben Psychiater das, was sich viele Medizinstudenten vom Arztberuf erhoffen: einen persönlichen Kontakt zu den Patienten. Und da man nicht von OP- oder Untersuchungsterminen abhängt, kann man sogar in der Klinik in Teilzeit arbeiten. Die Ärzte auf der Station nennen den Plan für Essgestörte nur: Das »Knastprogramm« Eine Stunde dauert das Aufnahmegespräch, das Johanna Rönfeldt heute mit einer Patientin führt. Die junge Frau war schon einmal wegen Essstörungen da. Geholfen hat es nichts. Inzwischen wiegt sie nur noch 46 Kilo und möchte »wieder ins Essen reinkommen«. Rönfeldt geht routiniert und zügig mit ihr die Aufnahmefragen durch: »Wie viel haben Sie abgenommen?«, »Wie ist das, wenn Sie sich im Spiegel sehen?«, »Haben Sie Suizidgedanken?«. Dann besprechen die beiden den Wochenplan. Die junge Frau wird das absolvieren, was Rönfeldt und ihre Kolleginnen »Knastprogramm« nennen: Bis sie zwei Kilo zugenommen hat, muss sie sich an strenge Regeln halten. Ihr Essen wird zubereitet und portioniert, sie muss es unter Aufsicht essen und sich anschließend eine Stunde vor die Fensterscheibe der Aufnahme setzen, damit sie nicht heimlich erbricht oder Kalorien verbrennt, indem sie etwa Treppen läuft. Johanna Rönfeldt ist realistisch. »Wenn jemand zum ersten Mal in die Klinik kommt, kann man viel erreichen.« Nach mehreren Klinikaufenthalten sei die Wahrscheinlichkeit geringer. Die essgestörten Patienten können sich jederzeit selbst entlassen. Auch dass sie ihre Medikamente absetzen, kommt häufig vor. Oder sie tricksen beim Essen. Erst heute Morgen hat sich einer der unkontrollierten Esser am Käse bedient. Insgesamt hat Rönfeldt aber trotzdem das Gefühl, etwas zu bewirken. Deshalb arbeitet sie gern hier. Einige Kollegen fänden die Psychiatrie belastender als die Notaufnahme. »In der Psychiatrie kann man sich nicht hinter einem Arztkittel verstecken.« Die Patienten müssen ihr vertrauen, damit sie von Missbrauch oder Ängsten erzählen können. Deshalb spricht sie nicht nur während der offiziellen Gespräche mit ihnen, sondern lässt sich etwa von einem Patienten erklären, was die düsteren Bilder an der Wand seines Patientenzimmers bedeuten, die er dort aufgehängt hat. Die Station hat Platz für 28 Patienten, im Durchschnitt bleiben sie sechs Wochen. Rönfeldts Büro liegt mitten zwischen den Zimmern. Oft steht ihre Tür offen. Sie hört Gesprächsfetzen und Türenklappern. Mittags weht der Essensgeruch herein. Jeden Donnerstag sitzt sie mit der Oberärztin, den Psychologen, den Ernährungswissenschaftlern und den Pflegekräften der Station zusammen in einem Stuhlkreis, spricht über alle Patienten und klärt Fragen wie: Wäscht er sich? Warum hat sie nur ein T-Shirt? Soll man den Katheter ziehen? Was hat die Blutuntersuchung ergeben? Kommt das Schwitzen von den Drogen? 40 Stunden die Woche dauert ihr Dienst, Überstunden nicht mitgerechnet. Sie hätte es einfacher haben können. Johanna Rönfeldt ist die Einzige von 60 Ärzten ihres Ausbildungsjahrgangs, die nach der Facharztausbildung auf eine Station wollte. Alle anderen sind in die Psychiatrische Ambulanz gewechselt, wo es keine Nachtdienste gibt und man selbstständiger arbeitet. Aber sie hatte diese Abteilung schon während ihrer Facharztausbildung kennengelernt und wollte unbedingt in das Team. Die Hierarchie ist flach, der Kontakt ist gut. Mittags geht das Team gemeinsam in die Kantine. Wenn es einer Kollegin schlecht geht, werden Blumen geschickt. Und so hat die Arbeit auf der Station auch Johanna Rönfeldt selbst verändert. Als sie mit dem Beruf angefangen habe, erzählt sie, habe sie immer davon geträumt, Oberärztin zu werden. Aber dann wäre sie wieder Einzelkämpferin, nicht mehr Teil ihres Teams. Und das mag sie sich dann doch nicht mehr vorstellen. # Berufe mit Seele Wer mit der Psyche arbeitet, hat ein ganzes Spektrum an Berufen zur Auswahl. Psychiater und Neurologen sind Fachärzte und haben ein Medizinstudium absolviert. Psychologen müssen das Fach Psychologie studieren, Psychotherapeuten brauchen zu ihrem Studium eine mehrjährige Zusatzausbildung. 30. J U N I 2 0 1 6 CHANCEN 65 D I E Z E I T No 2 8 GUT ZU WISSEN: PSYCHIATER Studentenproteste in den Sechzigern Gebraucht Psychiater werden gebraucht: Laut letztem Gesundheitsbericht der Techniker Krankenkasse (TK) waren Psychische und Verhaltensstörungen 2015 der Grund für die längsten Krankschreibungen. Männer fehlten rund 45 Tage im Jahr, Frauen rund 41 Tage. Laut DAK-Gesundheitsreport steigt die Zahl der Fehltage. Die meisten werden durch Depressionen verursacht. Frauen sind stärker betroffen als Männer. Fotos: Hug/Interfoto; Michael Gottschalk/ddp (u.) Gesucht »Aufmüpfig, rebellisch, links« Die größte Hürde auf dem Weg zum Psychiater ist das Medizinstudium. Zum Wintersemester 2015/16 gab es rund 9000 Studienplätze, auf einen Platz kamen rund fünf Bewerber. Der NC lag bei 1,0 bis 1,1. Um Jugendliche und Studenten für die Fachrichtung Psychiatrie zu begeistern, hat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie eine Nachwuchsinitiative gestartet: Unter generation-psy.de wird das Berufsbild erklärt. # Vor 50 Jahren brach in Deutschland die Studentenrevolte los. Ein Gespräch über die Ereignisse im Juni 1966 mit dem damaligen Berliner Asta-Vorsitzenden Knut Nevermann Geregelt Die große Koalition aus SPD und CDU/CSU hat sich 2013 in den Koalitionsvertrag geschrieben, das Vergütungssystem für Psychiater überarbeiten zu wollen. Im Mai fand dazu eine öffentliche Anhörung des Ausschusses für Gesundheit statt. Gelernt DIE ZEIT: Herr Nevermann, wollen Sie die Ge- schichte der Studentenbewegung neu schreiben? Bislang gilt 1968 als das Schlüsseljahr der Revolte. Knut Nevermann: Ich will einfach mit ein paar Mythen um »68« aufräumen. 1968 fand der studentische und außerparlamentarische Protest sicher seinen Höhepunkt – aber auch sein Ende. Den eigentlichen Aufbruch markiert das Jahr 1966. Erstmals in der deutschen Geschichte zeigte sich in Berlin ein relevanter Teil der akademischen Jugend aufmüpfig, rebellisch, links. ZEIT: Sie waren dabei. Was geschah damals? Nevermann: Rund 3000 Studenten setzen sich, das ist genau 50 Jahre her, in die Vorhalle des HenryFord-Baus der Freien Universität Berlin. Dort diskutieren sie neun Stunden lang über studentische Interessen, über den Protest gegen den Rektor, der ihnen die Nutzung von Räumen verboten hat, und über die »Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche«, wie es in der Abschlusserklärung heißt. Professoren und Assistenten diskutieren mit, sogar der Rektor erscheint für ein kurzes Statement. Es herrscht Hochspannung, die zu nicht enden wollendem Argumentieren führt. ZEIT: Ein Aufstand sieht aber anders aus. Nevermann: Nein, genau so sah eben der Aufstand aus. Sie müssen sich das vorstellen vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die noch durch die prüde Steifheit der Adenauer-Jahre geprägt ist: Erst mit 21 Jahren werden wir volljährig. Es gilt das rigide Sexualstrafrecht mit dem berühmten Kuppelei-Paragrafen, der es Zimmerwirtinnen verbietet, Pärchen die gemeinsame Übernachtung zu erlauben. Ohne Trauschein ist es schwer, die Pille zu bekommen. Als Studenten siezen wir uns. ZEIT: Herr Kommilitone? Nevermann: Ja: »Herr Kommilitone, könnte ich einmal einen Blick in Ihre Mitschriften von der letzten Vorlesung werfen? Ich war leider verhindert.« Der Friseur verpasst uns meist einen kurzen sogenannten Fassonschnitt. Als Studentenvertreter trägt man selbstverständlich Schlips – auch auf Sit-ins und Teach-ins, also den Sitzblockaden und Diskussionsveranstaltungen an der FU. ZEIT: Wie kam es zu der Protestaktion? Noch 1961 entwarf die Studie Student und Politik, an der auch der Philosoph Jürgen Habermas beteiligt war, das Bild der angepassten Studenten, die kein »Ferment politischer Unruhe« darstellten. Nevermann: Wesentlich zur Politisierung beigetragen haben Regelverletzungen von Studenten, auf die sich die Berliner Massenmedien – Stichwort Springer-Presse – stürzten, womit sie die Stimmung weiter anheizten. Regelverletzungen gab es aber auch durch die »Obrigkeit«, das Rektorat etwa. ZEIT: Zum Beispiel? Nevermann: Im Februar 1966 verbietet der FURektor Studenten die Nutzung eines Raumes der Universität für eine Vietnamdiskussion. Nach Protesten darf sie dann stattfinden, doch der Konflikt wirkt mobilisierend und führt anschließend 2500 Studenten zur ersten größeren Vietnamdemonstration. Hier folgt nun eine Regelverletzung vonseiten der Studenten: Die genehmigte Route wird verlassen, man steuert auf das Amerikahaus zu. Studenten werfen mehrere rohe Eier. In Berlin! Auf die Besatzungsmacht! Das Medienecho ist gewaltig. Vietnam als moralisches Thema ist gesetzt, die Studenten sind alarmiert. Der Streit um die Nutzung von Räumen geht weiter. Hinzu kommt, dass die Universitätsleitung Studenten nur noch befristet zulassen will. Wer zu lange studiert, dem droht die Zwangsexmatrikulation. Der Protest der Studenten reißt nicht ab. Mit uns tritt die erste Nachkriegsgeneration in die politische Arena. ZEIT: Welche Rolle spielten Sie dabei? Nevermann: Ich war, als 22-Jähriger, gerade zum Asta-Vorsitzenden gewählt worden und stand dem Sozialdemokratischen Hochschulbund nahe. Mitte Juni spitzte sich die Lage zu. Auf der Immatrikulationsfeier hielt ich eine Rede, in der ich die Raumverbote und die geplanten Zwangsexmatrikulationen kritisierte. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, aber damals war es üblich, dass der Asta-Vorsitzende vorab seine Rede dem Rektor zur Kenntnis gab. Als Zeichen der Missbilligung ziehen die Professoren des Akademischen Senats nicht wie üblich feierlich mit Talar in den Saal, und der Rektor kritisiert meine Rede. Doch sie wird mit viel Beifall seitens der Studenten bedacht. Das ist neu; bis dahin galt der Beifall immer dem Rektor. Vier Tage später folgt das Sit-in im Henry-Ford-Bau. ZEIT: Teach-in, Sit-in, das sind Protestformen nach dem Vorbild der amerikanischen Bürgerrechts- und Studentenbewegung. Nevermann: Es war ein kultureller Wetterwechsel zu spüren, der aus den USA kam. An den US-Universitäten verband sich der Protest gegen den Vietnamkrieg mit der Hippiebewegung. Protestsongs von Joan Baez und Bob Dylan wurden populär. ZEIT: Oft wird »68« als Aufstand gegen die Naziväter bezeichnet. Nevermann: Das kam in Deutschland dazu. Es gab dieses Schweigen der Väter oder den Streit über die Vergangenheit in vielen Familien. Mehr und mehr stellte sich heraus, welch üble Rolle viele ehrwürdige Ordinarien in der Nazizeit gespielt hatten. ZEIT: Die Studentenbewegung gewann nach 1966 an Fahrt. Ostern 1968 kam es in Berlin und im übrigen Westdeutschland zu massiven Aktionen gegen den Springer-Verlag, in Paris wurden die Studenten im Mai militanter, es gab gar einen Generalstreik, Studenten und Arbeiter verbündeten sich. Spricht nicht doch vieles für 1968 als das entscheidende Jahr der Revolte? Nevermann: Nein. Ende Mai war in Paris schon wieder alles vorbei, was auch in Berlin zur Desillusionierung führte. Zudem folgte der Schock aus Prag: Sowjetische Panzer beendeten brutal den Prager Frühling und damit die Hoffnung auf einen real existierenden Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Paris war gescheitert, Prag war gescheitert. Die Protestbewegung in Berlin war gescheitert, zersplittert, zerstritten. 1968 ist am Ende das Jahr des Scheiterns, nicht das Jahr des Aufbruchs. ZEIT: Aber ein irrlichternder Ausläufer dieser Zeit hielt die Bundesrepublik weiterhin in Atem: der Terrorismus der Baader-Meinhof-Gruppe. Nevermann: Die haben Tod, Angst und Schrecken verbreitet. Aber sie waren ja nur ein Rinnsal, das aus dem Strom der Studentenbewegung hervorgegangen ist. Dass sie bedeutende Erben dieser Bewegung waren, ist ein Mythos. Er wird dadurch genährt, dass sich diese Terrorerzählungen besser publizistisch vermarkten lassen als differenzierte Analysen zur Veränderung der politischen Kultur. ZEIT: Wer sind denn die Haupterben der Studentenbewegung? Nevermann: Jene Studenten, die sich selbst verändert haben, die politisches Bewusstsein entwickelt haben, die ihre private Lebensweise durcheinandergewirbelt haben. Das ist die überwältigende Mehrheit der damaligen Studierenden. Dazu kommen noch viele Lehrlinge. Sie alle haben das politische # Knut Nevermann Der Jurist Knut Nevermann, 72, war in den Jahren 1966/67 Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses (Asta) der Freien Universität Berlin. Später war er Staatssekretär für Wissenschaft in Sachsen und in Berlin. und gesellschaftliche Klima im Land verändert. Sie haben in Massen den langen Marsch durch die Institutionen angetreten. ZEIT: Haben sie das Land nach links gerückt? Nevermann: Nicht unbedingt. Die Erneuerung hat ja alle politischen Lager erfasst. Es ist auch ein Mythos, dass der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund, allein die Bewegung geführt hat. Es war eine plurale Bewegung. Ein Beispiel: Der Veranstalter der Vietnamdiskussion, dem der FURektor 1966 die Raumnutzung verbot, war der RCDS, der Studentenverband der CDU, gemeinsam mit liberalen und linken Studentenverbänden. ANZEIGE ZEIT: Was ist das wichtigste Verdienst der Studen- tenbewegung? Nevermann: Dass Autoritäten hinterfragt werden. Dass viele auch vor Fürstenthronen Mut zeigen. Die Erkenntnis, dass Politik wichtig ist. ZEIT: Und was ist schiefgelaufen? Nevermann: Die Verlotterung zwischenmenschlicher Umgangsformen. Die unverantwortliche Gewaltbereitschaft. Die Schmierereien in Zügen und an Häusern. Wir sind sozusagen auf der Suche nach dem verlorenen Über-Ich. Das Gespräch führte Thomas Kerstan Die Uni Marburg bietet den neuen interdisziplinären Weiterbildungsmasterstudiengang »Pharmarecht« an. Das berufsbegleitende Angebot richtet sich an Mediziner, Pharmazeuten, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler. Es soll Einblick in das Arzneimittel- und Medizinprodukterecht geben, von der Entwicklung eines Medikaments über seinen Marktzugang bis zur Überwachung. Der Studiengang soll vier Semester dauern, am Ende steht der Abschluss LL.M. Mehr unter pharmarecht-master.de FRIE DE RIKE LÜ BKE 30. JUNI 2016 D I E Z E I T No 2 8 Mehr für Kinder: Die neue Ausgabe von ZEIT LEO, dem Magazin für Kinder, jetzt am Kiosk! Weitere Infos: www.zeitleo.de 75 HIER AUSREISSEN! RÄTSELECKE Zahlenmix: Wie viele Nullen haben sich hier versteckt? Kreis sie ein, um sie zu zählen! 1 2 2 4 5 6 8 9 0 9 6 5 4 2 2 9 7 2 4 2 6 1 2 0 8 5 9 0 5 4 8 5 4 8 2 9 1 0 2 4 1 1 6 8 9 8 9 7 5 4 9 2 9 8 6 9 0 2 3 0 2 5 6 4 6 7 9 6 4 6 5 8 9 0 7 1 9 0 8 9 5 0 6 0 8 6 0 5 0 0 4 8 2 6 0 4 8 2 6 7 4 8 2 6 0 2 4 6 8 0 2 4 6 3 0 4 6 8 0 2 8 5 0 2 5 4 8 9 0 5 1 0 9 6 4 1 6 2 8 4 0 6 2 8 4 6 2 8 3 0 4 7 5 1 2 9 8 4 5 3 5 4 6 8 9 0 6 3 0 7 4 1 8 5 1 5 7 8 0 6 5 0 9 8 6 5 4 2 1 1 2 5 6 9 0 3 2 8 4 2 7 6 5 8 9 9 8 6 0 4 0 8 6 4 2 1 6 5 8 9 2 5 0 8 5 Lösung aus der Nr. 27: Sommerfest Fotos: Fabricio Morales/Plan International (Straße), Plan International (2, Silvia und Familie); Uefa (Ball); Illustration: Jon Frickey für DIE ZEIT (Wappen, Leo); Nikki Busch: Der dicke Ferien-Rätselblock © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg (Rätsel) Eine zerstörte Straße in der Region Rocafuerte Immer noch erschüttert Vor zwei Monaten verloren bei einem Erdbeben in Ecuador Tausende Menschen ihr Zuhause. Wie geht es ihnen heute? VON MAGDALENA HAMM A ls am 16. April in Ecuador die Erde bebte, saß die zwölfjährige Silvia gerade mit ihren beiden kleinen Brüdern vor dem Fernseher und sah sich eine Bastelsendung an. Ihre Mutter stand in der Küche und bereitete das Abendessen zu: gebratenen Fisch. »Auf einmal fing das Haus an zu wackeln, und das Licht ging aus«, erinnert sich Silvia. In der Dunkelheit klammerten sich die Geschwister aneinander, während um sie herum alles zu Boden fiel, Glas zersprang und die Wände einrissen. »Ich hatte so große Angst«, sagt Silvia, »ich dachte, die Welt geht unter.« Das Erdbeben, das vor gut zwei Monaten den Westen Ecuadors erschütterte, war das schwerste im Land seit 37 Jahren. Mehr als 660 Menschen kamen ums Leben, unzählige wurden verletzt. Ein paar Tage lang waren in allen Zeitungen und im Fernsehen Bilder von zerstörten Häusern, Straßen und Städten zu sehen. Mittlerweile wird kaum noch über das Unglück berichtet. Doch wie geht es den Menschen in Ecuador jetzt? Silvias Familie hatte Glück im Unglück: Abgesehen von ein paar Kratzern ist keinem von ihnen etwas passiert. Aber ihr Haus ist eingestürzt, dort kann niemand mehr wohnen. So geht es vielen Ecuadorianern, mehr als 80 000 haben durch das Beben ihr Zuhause verloren. Zwar hat die Regierung große Zeltlager errichtet und ver- Fußballmüde? ndlich Viertelfinale – jetzt wird die Fußball-EM richtig spannend! Von nun an beginnen allerdings auch alle Partien erst um 21 Uhr. Wer sie anschaut, kommt vor 23 Uhr kaum ins Bett – was dazu führen könnte, dass in etlichen Klassen morgens müde Schüler sitzen. In vielen Bundesländern erlauben Politiker den Schulen deshalb, den Unter- E sprochen, beim Wiederaufbau zu helfen, doch so einfach ist das nicht. Denn wer Unterstützung bekommen will, muss zuerst beweisen, dass ihm das Haus, in dem er vorher gelebt hat, wirklich gehörte. »Vielen Menschen ist das nicht möglich, weil sie keine Papiere über ihren Besitz haben«, erklärt Rüdiger Vater hatte das Haus der Familie selbst gebaut, beweisen kann er das nicht. Darum lebt die Familie nun seit vielen Wochen in einem notdürftigen Unterschlupf aus Bambusrohren und Plastikplanen, den sie in der Nähe ihres zerstörten Hauses aufgestellt hat. »Nachts ist es hier sehr kalt«, sagt Silvia, »und tagsüber viel zu heiß.« haben Sorge, dass man sie ihnen ganz wegnimmt.« Hier springen Hilfsorganisationen wie Plan International ein: Sie verteilen Plastikplanen und anderes Baumaterial und kümmern sich darum, dass die Obdachlosen in ihren Dörfern mit Wasser und Essen versorgt werden. In vielen Orten haben die Helfer Kinderzonen eingerichtet, wo sich Kinder wie Silvia und ihre Brüder von ihrem ECUADOR Schrecken erholen können. In großen Zelten spielen sie mit Lego, malen BilSÜD der und sprechen mit Betreuern über AMERIK A ihre schlimmen Erlebnisse. »Vielen steckt die Angst noch in KOLUMBIEN den Knochen«, erzählt Schöch. Manche Kinder trauen sich zum Beispiel nicht in die Schule, weil sie fürchten, Quito bei einem erneuten Beben dort verErdbebengebiet mit starker Zerstörung schüttet zu werden. Tatsächlich hat es ROCAFUERTE seit dem 16. April immer wieder ECUADOR Nachbeben gegeben. Bei einem bePazifischer sonders starken spielte Silvia gerade in Ozean einer der Kinderzonen, während ihre Mutter unterwegs war. »Da habe ich PERU mir riesige Sorgen um sie gemacht«, sagt das Mädchen. Silvia, ihre Mutter und ihre Brüder vor der Die Regierung von Ecuador rechZEIT- GRAFIK selbst gebauten Notbehausung der Familie 200 km net damit, dass es mindestens drei Jahre dauern wird, das Land wieder Schöch. Er ist Katastrophenexperte, Auf seiner Reise durch das Kata- aufzubauen. Wann Silvias Familie gekommt aus Deutschland und war vor strophengebiet hat Rüdiger Schöch holfen wird, ist völlig unklar. So lange Kurzem für die Kinderhilfsorganisa- viele Menschen getroffen, die wie müssen sie wohl noch zu fünft in ihtion Plan International in Ecuador. Silvias Familie lieber in selbst ge- rer winzigen Hütte leben. Die Zwölf»Gerade auf dem Land ist es normal, zimmerten Hütten schlafen, als in ein jährige macht trotzdem Pläne für ihre dass die Menschen ihre Grundstücke Zeltlager der Regierung zu gehen. »Ob- Zukunft: »Ich wäre gerne jemand, der einfach von ihren Eltern übernehmen.« wohl sie dort besser versorgt wären, andere Menschen schützen und ihnen Auch in Rocafuerte, der Gegend, trauen sich viele nicht, ihre Grund- helfen kann«, sagt sie, »vielleicht werde aus der Silvia kommt, ist das so. Ihr stücke zu verlassen«, sagt Schöch, »sie ich Ärztin.« In vielen Bundesländern können Schulen die Kinder nach EM-Spielen ausschlafen lassen VON JOHANNA SCHOENER richt später zu beginnen. In Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen etwa können Schulleiter selbst entscheiden, ob sie ihre Schüler nach Deutschlandspielen länger schlafen lassen. Das klingt erst mal super, ist aber keine leichte Entscheidung. Schließlich sind davon auch Kinder und Lehrer betroffen, denen Fußball egal ist. Eltern bekommen Probleme, selbst pünktlich auf der Arbeit zu sein. Und Schulbusfahrer müssen Fahrpläne ändern. Ein ziemlicher Aufwand, das alles zu berücksichtigen. Letztlich werden wohl nicht so viele Schulen später starten. In einigen Bundesländern sind solche Ausnahmen während der EM auch gar nicht gestattet, in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel. Denn Sonderregeln sind nie fair: Wenn sie nur nach Deutschlandspielen gelten, können sich Kinder beschweren, die bei anderen Teams mitfiebern. Und in ein paar Wochen beklagen sich womöglich Schüler, die nachts die Olympischen Spiele ansehen wollen. Das heißt? Auf jeden Fall ausschlafen können Fußballfans leider nur, wenn sie in einem der fünf Bundesländer leben, in denen schon Sommerferien sind. UND WER BIST DU? Jede Woche stellt sich hier ein Kind vor. Willst Du auch mitmachen? Dann guck mal unter www.zeit.de/fragebogen Mein Vorname und Alter: Ich wohne in: Wenn ich aus meinem Fenster gucke, sehe ich: Glücklich macht mich: Ich ärgere mich über: Dieses Ereignis in der Welt hat mich beschäftigt: Das würde ich meinen Eltern gerne beibringen: BLEEKER Der elektronische Hund 30. J U N I 2 0 1 6 IN DER ZEIT D I E Z E I T No 2 8 76 TITELTHEMA Wenn die Falschen gewinnen INHALT ZEITNAH POLITIK Was wird jetzt aus der Konjunktur? VON MARK SCHIE RITZ Exit vom Brexit Wird Großbritannien wirklich aus der EU austreten? 2 VON JOCHEN BITTNER 3 VON BE RND U LRICH Anarchy in the UK Die Regeln der Vernunft gelten nicht mehr 4 VON KH U Ê PHAM Merkel in Brüssel Wird Deutschland in Europa jetzt noch mehr Verantwortung übernehmen? VON M . BROST, P. DAU S E ND, D. E RK , T. HILDE BR ANDT, M . KRU PA , M . SCHIE RITZ 5 Foto: Privat Erziehung Die Welt ist in Aufruhr. Wie werden meine Kinder sich darin einrichten? Gedanken eines Vaters VON HEINRICH WE FING 6 Leipzig Interview mit dem Oberbürgermeister, der über zu wenig Pragmatismus in der Flüchtlingspolitik klagt 8 Stromaufwärts liegt die Zukunft Islamismus Der mutmaßliche Leibwächter Osama bin Ladens darf nicht nach Tunesien abgeschoben werden VON MARTIN KLINGST 9 Von Deutschland nach Addis Abeba sieben Stunden Flug, mit der Propellermaschine zwei Stunden nach Asosa in Richtung Sudan, dann drei Stunden mit dem Jeep über Schotterpisten, vorbei an Strohhütten und Pferdegespannen – und unser Redakteur Claus Hecking hat sein Ziel erreicht. Am Blauen Nil, mitten in der äthiopischen Savanne, entsteht Afrikas größter Staudamm. Millionen Menschen hoffen auf Strom und ein besseres Leben. Noch dreht sich keine Turbine, aber der Bauleiter Semegnew Bekele gilt bereits als Volksheld WIRTSCHAFT SE ITE 26 Zeitgeist VON JOS E F JOFFE 10 BND Die Bundesregierung sollte den Geheimdiensten gerade in diesen Zeiten mehr politischen Rückhalt geben 10 VON MARIAM LAU Nein.Quarterly 10 Krisenherde Warum wir mehr Friedensmediation brauchen VON ALM UT WIE LAND - K ARIMI Dausend 11 11 Männer Ein Duo kommt selten allein Illustration: Pia Bublies für DIE ZEIT Foto: Iztok Medja/Höhle von Postojna VON DAGMAR ROS E NFE LD 11 RECHT & UNRECHT Justiz Presserechtliche Verfahren landen in der Regel in Köln, Hamburg oder Berlin – und selten vor Gerichten etwa in Bremen oder München. Warum? 12 VON CON STANTIN VAN LIJ NDE N DOSSIER Unser Haus Hundert Jahre Leben Wer wohnt denn da mit mir? Eine Frau klingelt bei ihren Nachbarn, um sie endlich mal kennenzulernen Z SEITE 56 Grottenolme hausen im Dunkeln, fressen wenig und werden älter als mancher Mensch. Heute gibt es sie auch als Kuscheltiere. Alles Gründe für den Schriftsteller Clemens J. Setz, sie in einer slowenischen Tropfsteinhöhle zu besuchen WISSEN SEITE 3 3 Das Attentat von Brüssel Wie verändert der Terror die Gesellschaft? Besuche bei Verletzten und Angehörigen VON AMR AI COE N U ND TANJA STE LZE R 13 ZEIT:Hamburg Hamburg wächst. Aber das ist keine gute Nachricht VO N FR AN K D R I E S C H N E R 1 Foto: Thomas Lohr Die Büchertruhe in Keitum – Ideenquelle und Promitreff Wie junge Russen mit dem »Berliner Stil« die Mode prägen Der Traum der Sängerin Maggie Rogers, die den Überraschungs-Hit des Sommers landete VO N PIA FR E Y U N D AN NA VO N M Ü N C H HAU S E N 3 ZEIT im Osten Von der sächsischen Lausitz aus kämpft der CDU-Politiker Michael Kretschmer gegen die Ausbreitung der gefährlichen Droge Crystal Meth VO N A . HÄH N I G & M . MAC H OWECZ 10 Die Ärztin Loretta Farhat hilft Hunderten von Crystal-Süchtigen im Jahr. Ein Interview über die Frage, warum sich Menschen diesem Stoff hingeben 11 ZUM HÖREN ZEIT Schweiz Die Schweizer Bauern klagen über den zu niedrigen Milchpreis und fordern Geld vom Staat. Aber das Problem liegt woanders: Die Landwirte produzieren zu 10 teuer VO N S I M O N JÄG G I Die Schweiz soll mutig sein? Dann müsste sie nun eigentlich der EU beitreten VO N MAT TH IAS DAU M 12 ZEIT Österreich Vor 150 Jahren endete der Großmachttraum der Habsburger auf einem blutgetränkten Schlachtfeld in Böhmen – das Trauma von Königgrätz VO N U LR I C H S C H LI E 10 Otto von Bismarck, der Zerstörer Österreichs VO N VO LKE R U LLR I C H 30 Die so gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« unter www.zeit.de/audio ANZEIGEN IN DIESER AUSGABE Linktipps (Seite 27), Spielpläne (Seite 36), Museen und Galerien (Seite 46), Bildungsangebote und Stellenmarkt (ab Seite 66) FRÜHER INFORMIERT! Die aktuellen Themen der ZEITschon am Mittwoch im ZEITBrief, dem kostenlosen Newsletter www.zeit.de/brief Die ZEIT inklusive aller Regional- und Wechselseiten finden Sie in der ZEIT-App und im E-Paper. ANZEIGE Auto-Seite Strafe für VW in den USA und neue Fragen in Deutschland ARNE STORN 17 Nachruf Manfred Deix malte das dumpf-glückliche Kleinbürgertum 45 VON G EO RG S E E S S LE N Kino »The Assassin« von Hou Hsiao46 Hsien VON K ATJA NICODE M U S Kunstmarkt Skandal: Wie sich Münchner Museen an Raubkunst bereicherten VON TOBIAS TIMM 48 Ausstellung Die spanische Kunst des Zeitalters von Diego Velázquez in Berlin 49 VON HANNO R AUTE RBE RG GLAUBEN & ZWEIFELN VON MARCU S ROHWETTE R U ND 28 Autobahnen Will die Bundesregierung 29 verkaufen? VON FE LIX ROHRBECK Dschihadismus Ein Interview mit dem Islamwissenschaftler Behnam Said über die Kampfgesänge der Islamisten 50 Diskriminierung Familienministerin Manuela Schwesig antwortet auf die ZEIT-Kritik an ihren Gesetzesplänen 29 Vatikan Franziskus betont das gute Verhältnis zu seinem Vorgänger Mindestlohn Die vorsichtige Erhöhung 29 ist richtig VON KOLJA RU DZIO Was bewegt ... die unauffällige Umweltministerin Barbara Hendricks? VON PETR A PINZLE R 30 WISSEN Physik Warum gibt es etwas und nicht nichts? Forscher erkunden die Antimaterie VON CHRISTOPHER SCHR ADER 31 Pflegeskandal Dem bereits verurteilten Pfleger Nils K. lassen sich weitere Tötungsdelikte nachweisen. Wie kann man solche Serientäter erkennen? VON HARRO ALBRECHT 31 Zoologie In Slowenien wurde erstmals die Geburt eines Grottenolms gefilmt VON C LE M E N S J. S ETZ 33 50 VON EVE LYN FI N G E R Z – ZEIT ZUM ENTDECKEN Ansage Warum wir reisen müssen – trotz Terror und politischer Unruhen VON STE PHAN THOME 52 Entdeckungen Vom Altausseer See bis zum Fernando-de-Noronha-Archipel – Prominente über ihre Sehnsuchtsorte 53 Reise »Bomben versauen das Geschäft« – ein Strandbesuch an der türkischen Riviera, wo die Touristen ausbleiben 54 VON MICHAE L ALLMAIE R Nachbarn Eigentlich wollen wir nichts von ihnen wissen. Aber was geschieht, wenn man trotzdem mal klingelt? 56 VON LE NA STE EG Gestrandet in Göttingen VON E LI SABETH VON THADDE N 59 Unwetter Die Faszination der Tornados – ein Gespräch mit einem Sturmjäger 36 Drinks für jede Lebenslage Pastis 59 de Marseille VON GEORG BLU M E ZEIT Doctor Können wir mithilfe von bestimmten Diäten Organe stärken? VON CHRI STIAN HE INRICH 37 VON MARK FORSTE R Grafik Nach 25 Jahren: Wie sich Nato und Russland heute gegenüberstehen 38 FEUILLETON Sexualstrafrecht Warum die geplante Verschärfung schlecht und unnötig ist VON SABINE RÜCKE RT 39 Literatur Marcel Beyer erhält den Büchnerpreis VON J E N S J E S S E N 39 Nachruf Bud Spencer prügelte sich für die Babyboomer VON RONALD DÜ KE R 39 VON WOLFGANG STRE ECK Königgrätz Vor 150 Jahren siegte Preußen über Österreich VON HILMAR SACK Staudamm Energiewende auf Afrikanisch: Äthiopien will der Welt zum Vorbild werden VON CLAU S HECKING 26 Brexit Warum wir Europa nun kontrolliert zurückbauen müssen GESCHICHTE IN DEN REGIONALAUSGABEN Was können die Briten mit der EU aus23 handeln? VON KOLJA RU DZIO Stefan Aust Der Chefredakteur der »Welt« wird 70 – und schaut im Interview 24 auf gestern und morgen Europa und der Rest der Welt Die Frage, über die in Großbritannien tatsächlich abgestimmt wurde U N D M . TH U MANN 23 40 Keine Nation kann ihre Probleme allein 41 lösen VON CHRI STOPH MÖLLE RS Liebesbrief an den alten Klavierlehrer 60 Was mein Leben reicher macht 60 CHANCEN Kitas im Chaos Eine Umfrage enthüllt, wie schlecht die Qualität vieler Einrichtungen ist VON ASTRID GE I S LE R U ND K ARSTE N POLKE- MAJ EWS KI 61 Interview Die Kindheitsexpertin Fabienne Becker-Stoll erklärt, woran man eine gute Kita erkennt 62 Hochschulpakt Mehr Geld für immer? Die Länder verlangen vom Bund weitere Finanzhilfen für die Unis 63 VON JAN - MARTIN WIARDA Irre glücklich Eine junge Psychiaterin entscheidet sich für einen Job im harten Klinikalltag 64 VON FRIE DE RIKE LÜ BKE FUSSBALL Volksbefragung Der Wunsch nach Plebisziten muss nicht demokratisch 41 sein VON ADAM SOBOCZYN S KI Offene Wunde Wie Bundestrainer Joachim Löw sich und sein Team auf das Halbfinale gegen Italien einstimmt 18 VON CATH RIN G ILBE RT Nachruf Götz George maß sich sein Leben lang mit seinem toten Vater VON PETE R KÜ MME L Mit Tugenden zum Tor Belgien könnte die Überraschungsmannschaft der EM werden Literatur Carolin Emcke wird mit dem Friedenspreis ausgezeichnet VON E LI SABETH VON THADDE N 43 Ecuador Wie geht es den Menschen zwei Monate nach dem schweren Erdbeben? 75 VON MAGDALE NA HAMM Sachbuch Peter Wohlleben »Das Seelenleben der Tiere« VON J E N S J E S S E N 43 RUBRIKEN VON MATTH IAS KRU PA 19 WIRTSCHAFT Brexit Wie die Wirtschaft den neuen Nationalisten den Wind aus den Segeln nimmt – alles soll beim Alten bleiben 21 Axa-Chef Henri de Castries über die Folgen des Brexits 22 Warum haben die Finanzmärkte versagt? 23 VON BETTINA SCH U LZ 42 Prosa Antonio Tabucchi »Reisen und 44 andere Reisen« VON PETE R HAMM Politisches Buch Kristina Meyer »Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945–1990« VON G U NTE R HOFMANN 44 Oper Mozarts »Entführung aus dem Serail« und Halévys »La Juive« VON CHRI STINE LE MKE- MAT WEY 45 Interview Der einstige Studentenführer Knut Nevermann über den Beginn 65 der Revolte im Juni 1966 KINDERZEIT Worte der Woche Leserbriefe Quengelzone Macher und Märkte Stimmt’s? Vom Stapel/Gedicht/Wir raten zu Impressum Traumstück Das Letzte/Berliner Canapés 2 16 21 22 36 44 48 49 DIE ZEIT Mit 4 Seiten ZEIT für Österreich PREIS ÖSTERREICH 5,00 € WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR 30. JUNI 2016 No 28 ZEIT Österreich Was tun, wenn die Falschen gewinnen? Das Trauma von Königgrätz: Vor 150 Jahren verbluteten die österreichischen Großmachtträume Seiten 10, 11, 17 und 30 Trump, Johnson, Le Pen: Was früher nur wenige äußerten, wird plötzlich mehrheitsfähig. Doch die westlichen Demokratien hätten Gegenmittel. Sie müssen aber wollen Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT POLITIK, WIRTSCHAFT, FEUILLETON EINWURF NACH DEM BREXIT Jugend heult Wie viel Volk darf’s denn sein? Sie weint. Tränen laufen über die Wangen. Eine junge Engländerin auf einem Foto im Netz. »I am heartbroken«, steht darunter. Es zeigt den Kummer, den wir gerade teilen: Europa-Schmerz. Wir, das sind die Jungen Europas, die Vielgereisten, die Vielvernetzten. Die, die dachten, am Ende gewinnen doch immer die Guten. Seit Freitag wissen wir: Das stimmt nicht. Es gibt einen Weg zurück in ein Angst-Europa. Jugend heult. Wer tröstet? Die Eltern nicht. Die kommen aus einer Generation, die in Großbritannien mit für den Brexit gesorgt hat: Die Mehrheit der über 50-Jährigen hat für den Austritt gestimmt. Aber wir sind selbst schuld. Zu wenige Junge haben abgestimmt. Das ist zu erklären: Wir mussten kämpfen, aber nur privat. Über Politik streiten? Anstrengend. In vielen Timelines ist das Leben ein Kuschel-Konsens. Zu lange haben wir gedacht, Demokratie sei ein Lebensgefühl und Ironie unser Schutz. Aber wir tun doch was! Letzten Sommer, als die Flüchtlinge kamen. Nach dem Helfen ging es zurück in die Komfortzone. Dass Europa für viele keine Komfortzone mehr ist, haben wir zu spät gemerkt. Unser Engagement ist atomisiert, verteilt auf Netzwerke. Wie stellt man eine Gemeinschaft her, wenn man Parteien langweilig findet? Wir müssen verstehen: Solange man den Institutionen nichts als virtuelle Empörung entgegensetzen kann, sollte man sie ernst nehmen. Wer sich nur darum sorgt, was in seinem Viertel, in seinem Freundeskreis, bei seiner Arbeit passiert, wer nur auf die eigene Karriere und auf die Familie schaut, der ist nicht unpolitisch – das ist der eigentliche Schock: Wir sind politisch, ob wir wollen oder nicht. Denn Europa ist kein Ich, sondern ein Wir. Und wenn wir nicht handeln, tun es die anderen. Es gibt einen Gegner, die Europa-Hasser. Sie müssen wir endlich ernst nehmen. Er ist bestens organisiert, über Ländergrenzen hinweg, er hat einen Slogan: Take back control, »Gewinnt die Kontrolle zurück«. Take back control ist ein verdammt guter Slogan – nur für die falschen Leute. Wir sollten ihn uns zurückholen. Für unser Europa. KILIAN TROTIER Der Autor, 32, ist stellvertretender Ressortleiter der Hamburg-Seiten der ZEIT Den Eliten bleibt nichts anderes übrig, als besser zuzuhören und hinzuschauen W enn in Großbritannien die Brexit-Befürworter siegen, in Österreich ein FPÖ-Mann nur um 30 000 Stimmen an der Präsidentschaft vorbeischrammt oder in einigen deutschen Bundesländern die AfD in Umfragen plötzlich bei zwanzig Prozent liegt – dann schlägt die Stunde der Welterklärer. Am tröstlichsten ist noch die Interpretation, dass Zeiten bedeutender Umbrüche immer eine hohe Zahl von Unzufriedenen und Verunsicherten hervorbrächten, dass das »Rendezvous mit der Globalisierung« (Wolfgang Schäuble) Protestparteien rechts wie links erstarken lasse, dass alles ein vorübergehendes Phänomen sei. Das kann man nur hoffen. Denn wenig spricht dafür, dass die Zwietracht in fast allen westlichen Gesellschaften bald nachlassen wird. Starke Reizthemen wie die zunehmende Ungleichheit von Arm und Reich, vor allem aber der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen bergen so viel negative Energie, dass sie sich immer wieder mit Hass und Unmut aufladen können. Spätestens seit dem Votum für den Brexit ist das Entsetzen groß. Und aufseiten jener, die sich der europäischen Idee verbunden fühlen, ist nun endlich Kampfeslust auszumachen, jedenfalls verbal. Auch das kann man sich nur wünschen. Eine Frage allerdings bleibt offen: Wie holt man jene Bürger zurück, die sich partout nicht überzeugen lassen und andere Prioritäten haben? Was tun, wenn die Falschen gewinnen? Die Frage drängt sich auf, aber sie kann auch eine Falle sein. Dann nämlich, wenn sie eine Spaltung akzentuiert, statt sie zu überwinden. Wenn also mit den Richtigen die aufgeklärten und politisch interessierten, weltläufig und liberal gesinnten Menschen und mit den Falschen die angstgetriebenen, politisch unterbelichteten, ressentimentgeladenen Leute gemeint sind, wahlweise die Zukurzgekommenen, die Alten, die weißen Männer oder die Landpomeranzen, denen man am besten keine Ja/NeinFragen in Form eines Referendums stellen sollte. Wer die Welt so sieht, der muss auf Volkserziehung setzen, nach dem Motto: Erkenne, wie irrational deine Angst vor Flüchtlingen ist! Darum auch das wiederkehrende Stereotyp, wer Probleme der Zuwanderung allzu deutlich benenne oder gar auf Ängste zu viel Rücksicht nehme, stärke die Populisten. Spätestens nach dem Brexit spricht aber vieles dafür, dass wir mit solchen Mitteln nicht weiterkommen, dass stattdessen die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Eliten ihre Haltung zum Volk überdenken müssen. Was wir nämlich heute erleben, sind keine einzelnen politischen Streitfälle, es ist vielmehr ein Zusammenprall der politischen Kulturen und Lebenswelten – und das vor allem zwischen Inländern und Inländern. Gelingt es nicht, den Graben, der sich in fast allen westlichen Ländern aufgetan hat, zu überbrücken, drohen die aus Unverständnis und Unzufriedenheit erwachsenen neuen Bewegungen vieles zum Einsturz zu bringen, was über Jahrzehnte an Gutem und Bewahrenswertem aufgebaut wurde. Dazu gehört auch, Gewalt gegenüber und Diskriminierung von Andersdenkenden zu ächten, eine der großen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte und keinesfalls immer gleichzusetzen mit politischer Korrektheit. Beinahe täglich verschiebt sich der roher und abstoßender werdende Ton weiter über die Grenze des Erträglichen hinaus – von Trumps Beleidigung der Mexikaner als Vergewaltiger bis zu Höckes unsäglichem Wort der »Tat-Elite«, das von der SS gebraucht wurde. Es ist unmöglich, das Desaster des Brexits und das Erstarken populistischer Bewegungen in Europa und Amerika losgelöst von Fehlern des Establishments zu sehen. Wie in der vorigen Ausgabe der ZEIT ausführlich beschrieben, hat der in Harvard lehrende britische Politikprofessor Niall Ferguson kürzlich fünf Faktoren benannt, die zusammenwirken, wenn Populisten stark werden: 1. ansteigende Einwanderungszahlen, 2. große Ungleichheit, 3. der Glaube, dass es korrupt zugehe und Eliten dies für sich nutzten, 4. eine große Finanzkrise (wie die von 2008) oder ein wirtschaftlicher Schock und 5. schließlich ein Demagoge, der die Unzufriedenheit der Masse nutzt (Fergusons Rede gibt es in voller Länge auf YouTube). Für Demagogen mit Charisma können die Eliten nichts, aber man kann Ferguson nur schwer widersprechen: Viele Leute fühlen sich seit Jahren in ihrem Gerechtigkeitsempfinden beleidigt und von Teilen der Politik für dumm verkauft. Kein einziger Topmanager der USBank Lehman Brothers, deren Pleite 2008 die Finanzkrise auslöste, ist bis heute verurteilt worden. Keiner der Banker, die im Boom noch als Stars gefeiert worden waren, musste nach dem Platzen der Blase wirklich haften. Stattdessen kam es zu milliardenhohen Interventionen durch die Zentralbanken, an deren Folgen heute Schlafzimmer sind gefährliche Orte Die Reform des Sexualstrafrechts ist unnötig und verhängnisvoll Ein Essay von Sabine Rückert Feuilleton, Seite 39 VON GIOVANNI DI LORENZO Kleinsparer nicht nur in Deutschland leiden. Die deutsche Flüchtlingspolitik ist ein Musterbeispiel dafür, was Regierungen im Guten wie im Schlechten ausrichten können. Gut war im September 2015 die spontane, großzügige Hilfe für Menschen, die Krieg und Tod entflohen sind. Dies sollte ursprünglich eine einmalige Aktion sein. Doch als sie dann aus dem Ruder lief, wurde sie mit nicht mehr glaubwürdigen Argumenten verteidigt: dass nämlich die Flüchtlinge eh alle unterwegs gewesen seien und es keinen Anreiz aus Deutschland gegeben habe, zu uns zu kommen. Dass es nicht möglich sei, die Grenzen zu schließen, und so weiter. Durch diese Widersprüche entstehen die Bruchstellen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, nicht an der Frage, ob man Kriegsflüchtlinge aufnimmt – das will eine Mehrheit der Menschen von Herzen gern weiter tun. Nur eben nicht ungefragt, unkontrolliert und ohne eine glaubwürdige und leidenschaftliche Begründung. Weil Zweifel und Ängste als vordemokratisch und irrational kleingeredet oder diffamiert worden sind, konnten in so vielen Ländern furchterregende Bewegungen groß werden, die nach dem Brexit vermutlich noch mehr Auftrieb erhalten. Nun hat man das Gefühl, dass das Volk seine gewählten Vertreter vor sich hertreibt. Aber was sind das für Konstellationen: Regierungen und Eliten, die ihr eigenes Volk fürchten? Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als künftig besser hinzuschauen und hinzuhören. Krisen und Flüchtlingswellen haben immer Ursachen, sie werden nie ganz zu vermeiden sein. Was man aber sehr wohl beeinflussen kann, ist die Verhältnismäßigkeit der daraus erwachsenden Maßnahmen und die Glaubwürdigkeit jener, die sie verkörpern. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, dem nun wirklich niemand ernsthaft vorhalten könnte, die europäischen Ideale gut zu vermitteln, und auch die Bundeskanzlerin haben gerade in diesen Tagen versucht, die Lage als leicht verschärfte Normalität zu beschreiben. Wir leben aber in einer Zeit des Disruptiven, der allgemeinen Zerstörung: Gutes, Bewährtes droht weggefegt zu werden – von der repräsentativen Demokratie über ein vereintes Europa bis hin zu toleranten Gesellschaften. Wer so weitermacht, als sei nichts geschehen, mag auf der richtigen Seite stehen, betreibt aber das Geschäft der Falschen. PROMINENT IGNORIERT Füße im Feuer Der amerikanische Motivationstrainer Anthony Robbins hat in Dallas 7000 Gläubige versammelt und ihnen gesagt, mit hinreichender Willenskraft könnten sie über glühende Kohlen gehen. Etwa 30 verbrannten sich dabei die Füße, fünf kamen in die Klinik. Von der heiligen Kunigunde und von der heiligen Christina wird erzählt, sie hätten Glut und Feuer unversehrt überstanden. Merke: Es ist nicht ganz leicht, heilig zu werden. GRN. Kleine Bilder (v. o.): Jochen Remmer/bpk; Millennium Images/Look-foto; action press Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon +49-40 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Abonnement Österreich, Schweiz, restliches Ausland DIE ZEIT Leserservice, 20080 Hamburg, Deutschland Telefon +49-40 / 42 23 70 70 Fax +49-40 / 42 23 70 90 E-Mail: [email protected] o N 28 7 1. J A H RG A N G C 7451 C www.zeit.de/audio A 10 ÖSTERREICH 30. J U N I 2016 150 JAHRE KÖNIGGRÄTZ Das Duell D I E Z E I T No 2 8 Auf dem Schlachtfeld von Königgrätz wurde 1866 eine österreichische Zukunft besiegelt, die das Land bis heute prägt VON ULRICH SCHLIE Trauma Königgrätz Vor 150 Jahren endete der Großmachttraum der Habsburger auf einem blutgetränkten Schlachtfeld in Böhmen. Die Katastrophe von Königgrätz hallt bis heute nach: Sie gebar das Dritte Lager der großdeutschen Parteien, ihr entsprang die »Anschluss«-Sehnsucht der Ersten Republik ebenso wie der bis heute aktuelle österreichische Minderwertigkeitskomplex. Und der preußische Militärkapellmeister Gottfried Piefke, der für die Siegesparade vor den Toren Wiens den Königgrätzer Marsch komponierte, wurde zum Namensgeber des Schmähwortes für ein deutsches Großmaul Abb.: Deutsches Historisches Museum/bpk (Ausschnitt); kl. Foto: Privat K öniggrätz wird gemeinhin als Entscheidungsschlacht bezeichnet. Doch was genau wurde damals entschieden? Und was hat diese Entscheidung mit unserer Gegenwart zu tun? Die Schlacht, die am regnerischen Morgen des 3. Juli 1866 beim Dorf Sadowa an der Bistritz in Nordböhmen begann, beendete einen der kürzesten Kriege, den es je gab. Er ging als »deutscher Krieg« in die Geschichte ein. Bei den Deutschen indes scheint er heute fast vergessen zu sein. Auch ein Zuviel an erlittener und verursachter Geschichte im letzten Jahrhundert kann zu Geschichtsvergessenheit führen. So ist es in gewisser Hinsicht paradox, dass im Wien von heute die Erinnerung an 1866 gegenwärtiger zu sein scheint als im heutigen Berlin. Denn das Verständnis, was Deutschsein bedeutet und wer Deutscher ist, bleibt auch heute noch immer untrennbar mit der Reichsgründung von 1871 durch Otto von Bismarck verbunden, und diese Reichsgründung wäre nicht möglich gewesen ohne Preußens militärischen Triumph über den Rest der deutschen Länder und eben das kaiserliche Österreich. Nahe der Festung Königgrätz hatte damals der Generalstabschef Helmuth von Moltke einen gewaltigen Aufmarsch der von ihm befehligten preußischen Kräfte organisiert. Preußen siegte am Ende auch, weil sich Moltke der Segnungen der industriellen Revolution geschickt zu bedienen verstand. Ludwig von Benedek, der österreichische Oberbefehlshaber, der mit der Geografie Italiens besser vertraut war als mit jener Nordböhmens, trat mit dem geschlagenen Heer den geordneten Rückzug an. Noch lehnte Preußen am darauffolgenden Tag das von Österreich überbrachte Waffenstillstandsgesuch ab, doch bald obsiegte höhere Einsicht. Bismarcks Devise, dass, wer gesiegt habe, sich mäßigen solle, ersparte eine vernichtende Niederlage: Sie war bestimmend für den Vorfrieden von Nikolsburg am 26. Juli und den endgültigen Friedensschluss in Prag am 23. August 1866. Golo Mann sprach mit Blick auf Königgrätz einmal von der ersten deutschen Teilung. Ihr Ergebnis hat freilich beider Geschichten, Habsburgs wie Preußens, danach in eine andere Richtung gelenkt, als sie damals den Kriegführenden vor Augen stand. Mit dem kurzen Duell von 1866 war die Entscheidung zwischen großdeutsch und kleindeutsch gefallen. In einem einzigen Gefecht war entschieden worden, ob Deutschland künftig von Berlin oder von Wien aus regiert werden würde. Der Deutsche Bund verschwand von der Bildfläche, das 1806 aufgelöste Heilige Römische Reich wurde endgültig in die Tiefen der Geschichte versenkt. Die Verfassung des aus dem Krieg hervorgegangenen Norddeutschen Bundes von 1867 glich in wesentlichen Zügen der Reichsverfassung von 1871 mitsamt ihren konstitutionellen Schwächen. Auf dem nordböhmischen Schlachtfeld war die europäische Ordnung, die 1815 am Gemälde der Schlacht von Königgrätz von Georg Bleibtreu (1828–1885). Links vorn: Verletzte und gefangene Österreicher Wiener Kongress festgelegt worden war, zerbrochen. Bismarck konnte sich an seinem Sieg nicht recht freuen, seine Albträume kehrten wieder. Schon im Frühjahr 1866 hatte er prophezeit: Ist Preußens Macht erst einmal gebrochen, so werde Deutschland schwerlich dem Schicksal Preußens entgehen. Österreichs Verhältnis zum Deutschen Reich aber befand sich seit Königgrätz in einem unauflösbaren Zwiespalt, der sich mit dem Begriff des Dualismus auf einen einfachen Nenner bringen lässt, aber doch eine höchst komplizierte Konstellation beschreibt. Kaiser Franz Joseph musste sich wohl oder übel mit dem neuen Zustand abfinden. Der Staat, der ihm eigentlich vorschwebte, war ein zentralistischer, geeinter Staat. Innenpolitisch aber war die im Ausgleich mit Ungarn festgehaltene Stellung der Magyaren – auch dies eine Konsequenz der vernichtenden Niederlage – nun so stark, dass jede Veränderung unterbleiben musste, und außenpolitisch legte die Rücksicht auf Ungarn die Monarchie auf einen antirussischen Kurs fest, der verhängnisvolle Konsequenzen haben sollte. M anch einer ging in seinem Urteil so weit, zu behaupten, in Königgrätz sei das Todesurteil für die Habsburgermonarchie gefällt worden. Die künftige Ausrichtung des Donaustaates nach Südosten, wie sie auf den Ausgleich mit Ungarn von 1867 zurückgeht, war ohne Zweifel auch eine Abkehr von Zentraleuropa. Der Zweibund, den Bismarck 1879 mit Österreich schloss, konnte darüber nicht hinwegtäuschen. Eher verstärkte er die Probleme an der Peripherie und ließ sie zurückstrahlen ins Zentrum. Damit war zugleich das Grunddilemma des Verhältnisses des Habsburgerreiches zum Deutschen Reich berührt. Einerseits war die Donaumonarchie damals aus dem Zentrum vertrieben. Anderseits war das Deutsche Reich aber qua Vertrag an die Doppelmonarchie gebunden. Die Widersprüche eines immer komplizierter werdenden europäischen Staatensystems, das sich ins Globale ausweitete und bald darauf zerbrechen sollte, fanden im deutschen Dilemma, das immer auch ein österreichisches war, ihren Nukleus. Deshalb ist die Geschichte des preußisch-österreichischen Dualismus gar nicht losgelöst von der europäischen Geschichte zu betrachten. Bismarck scheint diese unheilvolle Bindung zwischen Preußen-Deutschland und Österreich bereits beim Friedensschluss vorausgesehen zu haben. Denn mit seiner leitenden Maxime hatte er zugleich eine bestimmende Vorgabe für die Bündnispolitik der folgenden Jahrzehnte formuliert, die mehr schlecht als recht einzuhalten war: »Die Streitfrage ist entschieden. Jetzt gilt es, die alte Freundschaft mit Österreich wiederzugewinnen.« Mit Glaubenssätzen allein lässt sich indes Politik nicht bestreiten. Die eigentliche Bedeutung von 1866 besteht wohl darin, dass die in der damaligen Konstellation enthaltene Entscheidungsfrage in der Geschichte auf weite Sicht angelegt war. Der Blick nach vorn und zurück zeigt, dass es auch anders hätte kommen können. Der großdeutsche Traum war dreimal kurz davor, Wirklichkeit zu werden. 1848 in Gestalt eines multinationalen Habsburgerreiches, sodann, bei einem anderen Verlauf, 1866 in Königgrätz und, wäre es nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, nach der Mehrheit der Deutschen und der Mehrheit der Österreicher, die sich in jener Zeit als Deutsche fühlten und begriffen, gegangen: im Jahr 1918/19. Die unzureichende Akzeptanz der Ersten Republik durch ihre Bürger hängt gewiss mit den Bedingungen ihrer Entstehung zusammen. Denn das Neben-, besser das Gegeneinander von Sozialistisch-Demokratischen, Katholisch-Konservativen und Großdeutschen ist auch ein Erbe des Zerfalls der Habsburgermonarchie. Und es war eine mehr als einschneidende Erfahrung, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das vom VierzehnPunkte-Plan des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson bis zu dem Völkermanifest von Kaiser Karl als Schlüssel für den Weg in eine neue Zeit verstanden wurde, den Österreichern nach dem Ersten Weltkrieg verwehrt wurde. Das Anschlussverbot von Versailles und Saint-Germain wurde als belastendes Unrecht empfunden und hat nicht dazu beigetragen, das Vertrauen in den neu errichteten Staat zu fördern. Als dann eine großdeutsche Lösung kam, 1938, in Gestalt des »Anschlusses« von Österreich an das nationalsozialistische Deutsche Reich, war die Zeit über Habsburg und Preußen bereits hinweggegangen. Diese mit den Mitteln von Verführung und Gewalt herbeigeführte Lösung war zum Scheitern verurteilt, weil sie mit einer verbrecherischen Ideologie und dem unaufhaltsamen Kriegskurs Adolf Hitlers verbunden war. Und doch ist die Geschichte des Jahres 1938 ohne die Entscheidungssituationen von 1848 und 1866 nicht verstehbar. In Trauer und Leid lehren die Ereignisse des Jahres 1938, dass es eine vorangegangene gemeinsame Geschichte gibt, auch wenn sich danach die Wege von Deutschen und Österreichern getrennt haben und die gemeinsame Nation, die bis dahin bestand, dauerhaft zerbrochen war. Das geistige Klima des sich auflösenden Vielvölkerstaates war der Nährboden für seinen Sozialdarwinismus, seine krude Ideologie und seine Hirngespinste gewesen. Vielleicht war es sogar der preußischösterreichische Dualismus, die Unentschiedenheit im Ringen um das, was der deutschen Geschichte als staatliche Form gemäß war, die im nationalen Taumel, in dem aufgeladenen Zeitklima, mit den psychologischen Belastungen des verlorenen Krieges, den unzureichenden Bedingungen eines zerbrechlichen Friedens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst dazu geführt hat, dass Hitlers Aufstieg möglich wurde. Und Hitler, besser: der Sieg über Hitler, ist es dann gewesen, der beiden Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, zu ihrer neuen Existenz verholfen hat. A us Schaden sollte man klug werden. Habsburg und Preußen zählen prima vista beide zu den Verlieren der Geschichte. Denn es war ein Duell mit mortalen Spätfolgen und posttraumatischen Nachwirkungen. 1914 versank die Welt des Siegers von Königgrätz, 1918 endeten die Monarchien. Und Preußen ereilte anno 1945/47 – nach der »deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) von 1945, die eine politische und moralische war – das Schicksal, das Habsburg eine Generation zuvor nach dem verlustreich beendeten Ersten Weltkrieg zuteil geworden war: Auslöschung per Dekret. Heute liegt die Geschichte Habsburgs und Preußens als abgeschlossenes Ganzes vor uns. Die für das 19. und frühe 20. Jahrhundert so charakteristische (und eigentlich unhistorische) Gleichsetzung von Nation und Nationalstaat ist seitdem einer Weitung des Blicks gewichen, der auch die vornationalstaatliche Zeit stärker in die Betrachtung einbezieht. Die deutsche Geschichte hat nie den Deutschen allein gehört. Und Österreichs Verhältnis zur deutschen und zur österreichischen Geschichte ist bis heute kompliziert geblieben. Die Suche nach Einheit und Freiheit waren die großen Leitmotive der Geschichte des 19. Jahrhunderts. Sie waren auch die treibenden Kräfte, die zur Entscheidungsschlacht in Nordböhmen im Juli 1866 führten. Diese Geschichte wirkt bis heute in die Gegenwart nach. Zunächst in dem Sinne, dass die späteren Entwicklungen nicht ohne jene Weichenstellung aus dem Jahr 1866 erklärt werden können. Aber auch in dem sehr viel weiterführenden Sinne Jacob Burckhardts, dass Geschichte nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer mache, hält das Vermächtnis von Königgrätz eine Vielzahl von Lehren für die Gegenwart parat. In dem Maße, in dem wir unsere Zukunft als europäische Gestaltungsaufgabe begreifen, europäisches Gemeinschaftsbewusstsein entwickeln, unsere eigene Geschichte in ihrem wechselvollen Verlauf annehmen und zugleich den Blick auf sie entnationalisieren, wird durch die Pflege das Erbe von Habsburg und Preußen lebendige Vergangenheit, wird der eigene Standort bewusster. Erst dann wird der Dualismus von einst vollkommen aufgelöst sein, erst dann sind Habsburg und Preußen gemeinsamer Besitz. Dann ist aus Verlust Gewinn geworden. Ulrich Schlie ist Autor des Buches »Das Duell – Der Kampf zwischen Habsburg und Preußen um Deutschland«, das 2013 im Propyläen Verlag erschienen ist 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 ÖSTERREICH 11 150 JAHRE KÖNIGGRÄTZ DONNERSTALK A Taktik revolutionieren würde. Bereits in den 1820er Jahren hatte der sächsische Fabrikant Johann Nikolaus Dreyse begonnen, einen neuartigen Hinterlader mit Zylinderverschluss zu entwickeln, bei dem die Treibladung der Patrone mithilfe eines nadelschlanken Bolzens gezündet wird. Die Vorteile lagen auf der Hand: Im Unterschied zu den herkömmlichen Vorderladern, bei denen die Schützen im Stehen nachladen mussten, konnte ein preußischer Infanterist, in seiner Deckung liegend, laufend neue Patronen in den Lauf schieben und mit drei- bis vierfacher Frequenz feuern. den Habsburgern 1859 ihre lombardischen Besitztümer entrissen wurden, hatte der junge Monarch höchstpersönlich das Oberkommando übernommen. Ihm imponierte, wie in dem Gemetzel die französischen Angriffskolonnen die österreichische Feuerlinie unterlaufen und mit dem Bajonett die Reihen seiner Soldaten ins Wanken gebracht hatten. Während preußischen Soldaten systematisch eine rigorose Feuerdisziplin eingedrillt wurde, vernachlässigte die österreichische Armee weiterhin sträflich die Schießausbildung ihrer Infanterie. Noch im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864, in dem Österreich und Preußen Seite an Finale in Böhmen Auf den Feldern um Königgrätz übertrumpfte moderne Taktik die traditionelle Kampfweise der Österreicher VON JOACHIM RIEDL Abb.: Heeresgeschichtliches Museum (Ausschnitt) m Morgen des regnerischen 3. Juli 1866 stapfte ein untersetzter Mann keuchend die steilen Treppen des Weißen Turms von Königgrätz hoch. 226 Stufen musste William Howard Russel, Kriegsberichterstatter der Times of London, überwinden, bis er in gut 60 Meter Höhe bei der Aussichtsplattform des gotischen Wahrzeichens der Festungsstadt angelangt war. Der Reporter zückte sein Fernglas und ließ seinen Blick über die hügelige Landschaft, die sich nordwestlich des Elbufers ausbreitete, schweifen. »Kein Panorama«, schrieb er später »könnte einen Begriff von jener Szenerie vermitteln, in der eine halbe Million Mann über das Gelände hinwegwogt wie die Meeresbrandung oder eine Wolke im Wind.« An diesem Tag, das war dem erfahrenen Journalisten aus England klar, würde das Ringen zwischen Preußen und Österreich um die Vormachtstellung in Deutschland entschieden werden – ein Ereignis, das für ganz Europa unabsehbare Folgen haben würde. Das Schicksal zweier Großmächte stand inmitten der nordböhmischen Hügel auf dem Spiel. Der österreichische Feldzeugmeister Ludwig August von Benedek, Oberkommandierender der Nordarmee des Habsburgerreiches, hatte seine gesamten Truppen, insgesamt 215 000 Mann mit 650 Kanonen, im Halbrund auf eine Front von über zehn Kilometer Länge aufmarschieren lassen. Noch zwölf Stunden zuvor hatte niemand damit gerechnet, dass die Armeen der Österreicher und Preußen an diesem Tag aufeinanderprallen würden. Die Schlachtordnung hatte General Gideon Krismanic, der Chef der Operationsabteilung, der eigentlich seines Postens bereits enthoben war, eilig in der Nacht am Kartentisch entworfen, als die preußische Avantgarde überraschend zu dem späteren Schlachtfeld vorgedrungen war. Bei Tageslicht besehen, stellte sich die defensive Aufstellung als äußerst ungünstig heraus. Die Hauptmacht und die Reserven waren im Zentrum massiert, die Flanken ungenügend abgesichert und luden zu Umfassungsoperationen ein. Ein ersichtlicher Operationsplan existierte nicht, und die Korpskommandanten hatten keine Ahnung, welcher Taktik das Oberkommando folgen wollte. »Aus der gesamten Kriegsgeschichte«, urteilt heute der deutsche Militärhistoriker KlausJürgen Bremm in seiner Monografie 1866 – Bismarcks Krieg gegen die Habsburger, »ist keine vergleichbar unglückliche Schlachtordnung bekannt.« Auf seinem Aussichtsturm beobachtete nun der englischen Reporter wie eine der größten Schlachten des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Kurz nach sieben Uhr drang das Grollen der Kanonen durch den Morgennebel. »Es war«, schrieb er, ein »nasskalter und freudloser Morgen, es schien, als hätte man einen trüben englischen Novembertag mitten in den Sommer verlegt.« Die Soldaten hatten in der Nacht unter freiem Himmel im Regen auf den durchnässten Feldern biwakiert, sie waren von den verlustreichen Rückzugsgefechten der vergangenen Woche entkräftet und entmutigt, viele erfahrene Offiziere waren bereits gefallen. Dennoch jubelten Infantristen, Kanoniere und Kavalleristen dem kaiserlichen Feldzeugmeister zu, als er mit seinem Stab die Reihen der Regimenter entlangritt. Es war ihr letztes Hurra. Der »deutsche Bruderkrieg« in Nordböhmen hat für die Österreicher von allem Anfang an unter einem unglücklichen Stern gestanden. Entschlossen hatte der preußische Reichskanzler Otto von Bismarck die auch im eigenen Land umstrittene Auseinandersetzung mit den Habsburgern vom Zaun gebrochen (siehe auch das BismarckPorträt Habsburgs Nemesis auf Seite 30) und die Donaumonarchie in einen Zweifrontenkrieg manövriert. Zugleich mit den Preußen griffen auch die Piemonteser in Oberitalien an. Als Beute winkte ihnen Venetien. Den Österreichern erschien das neue Zündnadelgewehr nicht verlässlich genug Zu diesem Zeitpunkt galt das österreichische Kaiserreich noch als bedeutende Hegemonialmacht, seine Armee, vor allem Artillerie und Reiterei, flößten den übrigen Mächten auf dem Kontinent durchaus Respekt ein. Im Vergleich dazu galt die preußische Streitmacht als unerfahren und nach einer Heeresreform noch mitten im Umbruch begriffen. Kaum ein Militärexperte traute ihnen zu, die Soldaten des Wiener Kaisers in die Knie zwingen zu können. Die Österreicher hatten allerdings eine technische Entwicklung verschlafen, die in den Jahren nach dem Debakel von Königgrätz die militärische Bei jedem Aufeinandertreffen waren ihre Verluste drei- bis viermal so hoch wie jene der Angreifer. In nur drei Tagen verlor Feldzeugmeister Ludwig von Benedek so 31 000 Mann, ein ganzes Armeekorps. Die moderne Taktik, die der exzentrische preußische Generalstabschef Helmuth von Moltke, der »große Schweiger«, gewählt hatte, war unkonventionell und riskant. Er ließ seine drei Armeen in getrennten Marschkolonnen in Böhmen eindringen. Erst zur Entscheidungsschlacht sollten sie sich vereinen. Doch auch wenn diese verstreuten Truppenteile nicht über die volle Schlagkraft verfügten, nirgends gelang es den Österreichern, sie mit ihrer hinhaltenden Defensivstrategie aufzuhalten. Einen konzentrierten, entscheidenden Schlag gegen eine der preußischen Kolonnen zu führen, wagten die Generale des Kaisers hingegen ohnehin nicht. Am Vorabend der Schlacht hatte Benedek, der sich lieber in der großen mährischen Festung Olmütz verschanzt hätte und nur auf Druck aus Wien widerwillig den Preußen in Böhmen entgegengerückt war, jede Siegeszuversicht verloren. Er schickte ein flehentliches Telegramm an Franz Joseph und bat darin »um jeden Preis Frieden zu schließen«: »Eine unvermeidbare Katastrophe erwartet die Armee.« Zwei Stunden später hielt er die Antwort aus Wien in Händen: »unmöglich«. Ob den wenigstens überhaupt eine Schlacht stattgefunden habe, wollte der Kaiser wissen – ein indirekter Befehl, sich endlich zu stellen. In den ersten Stunden der Kämpfe schienen sich indes die trüben Vorahnungen des Oberbefehlshabers nicht zu erfüllen. Überall boten seine Truppen den preußischen Angreifern Paroli und drängten sie sogar zurück. Nach sechs Stunden des Gemetzels glaubte Reporter Russell von seinem Turm aus in den Pulverwolken, die über den Feldern lagen, etwas erkennen zu können: »Kein Zweifel, links und im Zentrum waren die Preußen so gut wie geschlagen.« Da begingen zwei eigenmächtige österreichische Korpskommandanten den vielleicht entscheidenden Fehler. Sie verbluteten ihre Soldaten bei dem sinnlosen Versuch, eine preußische Division aus einem unzugänglichen, rund einen Quadratkilometer großen Waldrücken, dem Swiepwald, zu werfen, in dem sie sich verschanzt hatte. Dadurch war der rechte Frontabschnitt entscheidend geschwächt, als endlich um die Mittagszeit die Vorhut der Zweiten Armee des Kronprinzen Friedrich Wilhelm auf einem Höhenzug im Nordosten auftauchte. Unaufhaltsam stürmten die Garderegimenter voran und tauchten gegen 15 Uhr im Rücken der Einheiten auf, welche die zentrale Stellung bei dem Dörfchen Chlum besetzt hielten. Trotz verzweifelter Gegenangriffe, die Benedek selbst anführte, brach nach diesem Einbruch die Front Schlag um Schlag in sich zusammen. Die österreichische Nordarmee flutete in verzweifelten Rückzugsgefechten zurück über die Elbe. Sie hatte 41 500 Mann verloren, die Hälfte von ihnen als Gefangene. Die erschöpften Preußen verzichteten darauf, den geschlagenen Rest zu verfolgen. Noch heute erzählen Hunderte Mahnmale von der Schlacht Hingestreckt im preußischen »Schnellfeuer«: Die Batterie der Toten Das preußische Kriegsministerium setzte nun ganz auf diese revolutionäre Waffe. In aller Stille kurbelte es die Produktion an und rüstete die Infanterieregimenter mit dem neuen Percussionsgewehr M/1841 aus. Am Tag von Königgrätz war die Modernisierung längst abgeschlossen. Auch in Österreich hatte die Generalität nach dem Besuch einer Dreyse-Fabrik in Spandau kurz die Umrüstung auf den preußischen Gewehrtyp erwogen. Schließlich verwarf man wieder die Idee aber: Das Zündnadelgewehr erschien noch zu unzuverlässig, hatte eine deutlich geringere Reichweite, und die hohen Militärs fürchteten, die einfach zu handhabende Waffe würde die Soldaten dazu verführen, zu rasch ihren Munitionsvorrat zu verpulvern. Zudem setzten die österreichischen Generäle nach wie vor auf ihre »Stoßtaktik«, den Infanterieangriff mit gefälltem Bajonett, den Kaiser Franz Joseph favorisierte. In der verlorenen Schlacht von Solferino gegen Piemont und Frankreich, in der Seite die Herzogtümer Schleswig und Holstein erobert hatten, schien sich die erprobte Kampfweise zu bewähren. »Das Drauflosgehen unserer tapferen schwarz-gelben Brigade«, klagte im Rückblick der General Anton Mollinary von Monte Pastello, der in Nordböhmen selbst schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Zündnadelgewehr machte, »wurde zur nationalen Kriegstaktik emporgelobt und bejubelt.« Die gleichzeitige Überlegenheit der preußischen »Feuertaktik«, der massive Geschosshagel einer Schützenlinie, entging den militärischen Beobachtern vollkommen. Auf den nordböhmischen Feldern lernten die Österreicher nur zwei Jahre später ihre blutige Lektion. Dem preußischen Sperrfeuer hatten sie nur ihren Todesmut entgegenzusetzen. Schon in den ersten Gefechten, in denen die Österreicher die aus ihren schlesischen Aufmarschräumen vorrückenden preußischen Armeen aufhalten wollten, konnten die Verteidiger auch dann nicht standhalten, wenn sie weit überlegen waren. Überall auf dem Schlachtfeld sind noch heute Kreuze, Stelen und Gedenksteine verstreut, die von den vielen Einzelgefechten und selbstmörderischen Attacken, die hier vor 150 Jahren die Erde mit Blut tränkten, erzählen. Ein Führer über das Schlachtfeld aus dem Jahr 1907 kennt allein 419 dieser Mahnmale. Eines der gewaltigsten, eine sechs Meter hohe Säule, auf der die überlebensgroße allegorische Figur der Austria einen Lorbeerkranz in die Höhe reckt, ragt auf der Anhöhe von Chlum in den Himmel. Das Monument ist dem Artilleriehauptmann August von der Groeben und seiner »Batterie der Toten« gewidmet. Als die 1. Gardedivision der Kronprinzenarmee in die österreichischen Stellungen einbrach, befand sich die 7. Batterie des VIII. Feldartillerieregiments gerade im Gefecht mit preußischen Kanonieren im Zentrum der Front. Der neuen Gefahr gewahr, ließ Groeben aufprotzen, sprengte im Galopp bis auf 200 Meter an die Eindringlinge heran und empfing, um den Rückzug seiner Kameraden zu decken, die Preußen mit Kartätschen. Die Batterie hatte noch keine zehn Schuss abgefeuert, da waren ihre beiden Offiziere, 52 Mann und 68 Pferde gefallen. Hingestreckt vom preußischen »Schnellfeuer«, wie die Chronik vermerkt. Das 4,5 mal 7,5 Meter große Monumentalgemälde des tschechischen Historienmalers Václav Sochor, das diesen »Opfertod« festhält, erwarb Kaiser Franz Joseph wenige Jahre nach der Schlacht von Königgrätz für sein neues Heeresmuseum. Manche meinen, Demokratie und Wahlen seien untrennbar miteinander verbunden. Das stimmt nicht ganz, zumindest nur in einer Verbindungsrichtung. Demokratie ohne Wahlen ist schwer vorstellbar. Obwohl in manchen Demokratien die Wahl schwerfällt oder die Entscheidung zwischen Not und Elend gar nicht wirklich als Wahlmöglichkeit wahrgenommen wird. Wahlen ohne Demokratie hingegen sind durchaus möglich, man denke nur an gewisse Ereignisse in der Türkei. Wahlanfechtungen sind nicht nur in Demokratien möglich, sondern auch in Bananenrepubliken. Dort muss man auf seine Stimme überhaupt gehörig aufpassen, denn es kann passieren, dass die abgegebene Stimme rasch wieder verloren geht, so als hätte man den Stimmzettel nicht in eine Urne, sondern ins Nirwana geworfen. Es kann aber auch geschehen, dass Missstände bei der Auszählung nicht protokolliert werden, weil der bevorzugte Alfred Dorfer Kandidat ohnehin vorne sortiert die liegt. Zudem kommt es auch abgegebenen vor, dass die Wahlkarten vor- Wahlkarten zeitig ausgezählt werden, gleichgültig, wer vorne liegt, nur aus dem simplen und keineswegs betrügerischen Grund, später die Siesta nicht unterbrechen zu müssen. Wie gesagt, seinesgleichen ist in Bananenrepubliken allgemeine Praxis. Nun trifft die ebenso wichtige Nachricht ein, irgendein Designer habe bei der Präsentation seiner Männerkollektion Models mit klar ersichtlichen Hautverunreinigungen, mit Pickeln und Mitessern, auf den Laufsteg geschickt. Was für ziemliche Empörung sorgte. Man mag nun einwenden, diese ästhetische Geschmacksübertretung hätte mit demokratischen Grundsatzfragen nichts zu tun. Falsch. In der geheuchelten Empörung liegt die Übereinstimmung. Natürlich weist auch die Demokratie Hautunreinheiten auf. Das Prêt-à-porter dieser Republik ist in der Realität nicht immer kleidsam, aber wohl das einzige Gewand, das dem Land noch bleibt. NACHRUF Manfred Deix (1949–2016) Man muss sich Böheimkirchen auf nicht ganz halbem Weg zwischen Malibu Beach und dem Wiener Zentralfriedhof denken: ein niederösterreichischer Marktflecken, in dem dreitausend unverwechselbare Originale leben. In Böheimkirchen wurde vor 67 Jahren Manfred Deix geboren. In der väterlichen Gastwirtschaft zapfte der Bub das Bier und studierte aufmerksam die Gesichter der Gäste. Er entdeckte, dass sich allabendlich ein ganz spezieller, eigenartiger Menschenschlag an den Krügelgläsern festklammerte: stierende Kugelaugen, volle rote Wangen, kurze Stupsnasen und beim Lachen auffällig viel Zahnfleisch. Das hat sich Deix eingeprägt. Als die wilden sechziger Jahre hereinbrachen, die in Böheimkirchen Roaring Sixties hießen, gründete Deix eine Rockkapelle, die er Top Secret nannte. Ein Filmdokument zeigt den lässigen Stenz, wie er mit seinen Kumpanen über die Hauptstraße spaziert und Surfin’ USA singt. Insgeheim fühlte Deix nämlich, dass er der »sechste Beach Boy« war. Nach eigenem Bekunden wollte er damals ein »kalifornischer Küsserkönig« werden. Weil er wusste, dass es daheim in Böheimkirchen »wahrscheinlich nur zum Fleischhauer« langen würde, sagte er schweren Herzens: »Böheimkirchen, tschüss! Baba! Auf Wiedersehn!« Und weil der West-Coast-Intercity nach L.A. Verspätung hatte, bestieg er den Orientexpress nach Wien. In der Provinz genoss Wien vor fünfzig Jahren den legendären Ruf, die Stadt der Sünde zu sein. »An jeder Ecke wohlfeile Weiber«, erinnerte sich Deix. Er musste freilich bald erkennen, dass es allem Anschein nach lauter Böheimkirchnerinnen waren, die gemeinsam mit ihren Gespielen Wien die Aura einer »Metropole der Erotik« verliehen. So war es unausbleiblich, dass Manfred Deix das wilde Treiben zu Papier brachte; hatte er doch schon in jungen Jahren manches Frauenbildnis geschaffen und auch (dank der großen Brüste) an seine Dorfschulkameraden verkaufen können. In Wien ansässig, begann er, die Sittenchronik der Stadt zu zeichnen: schamlose Fleischberge, süchtig nach nackter Haut und hemmungslos perversen Spielen verfallen. Sie stülpen sich ein Ganzkörperpräservativ über, kriechen kopfüber unter fremde Röcke, grabschen in die Lederhose, saugen einander lüstern an den Nasen, lecken, lechzen, schnüffeln, hecheln und fallen im nietenbeschlagenen Lederkorsett übereinander her. »Ich bin ein großer Stauner«, sagte Deix. »Wenn diese Leute mit ihren dicken Wangen winseln und stöhnen, das fasziniert mich.« Seit den Tagen der Pestprediger hat niemand mehr diesem triebhaften Volk so unbarmherzig den Spiegel vorgehalten. Deix entlarvte Kinderschänder und Kameradschaftsbündler; Kanzler und Kirchendiener beraubte er ihres Scheins und ihrer Heiligkeit. Dergestalt hat sie der Rubens aus Böheimkirchen verewigt: wie sie leiben und leben und zu wollüstigem Fleisch geworden sind. Deix hatte sich zusammen mit seiner geliebten Marietta und 99 schnurrenden Katzen in ein stilles Haus außerhalb von Wien zurückgezogen: »Mein Lebensziel ist es, eine Katze zu werden: den ganzen Tag fressen, saufen und schmusen.« Am Samstag vergangener Woche wurde im Katzenhimmel ein neuer Besucher begrüßt. JR Siehe auch »So schön hässlich« Seite 45 Foto: Ingo Pertramer Ausgezählt wird später 12 ÖSTERREICH 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Wir vertrinken unser Taschengeld S tellt eine kleine Gruppe von Schriftstellern auf einem österreichischen Provinzbahnhof in der Junihitze ihre Rollkoffer ab, schultert ihre Reisetaschen, macht sich auf den Weg in Richtung Hotel, in Gedanken schon bei einem mehrtägigen Wettlesen, an dessen Ende vier- bis fünfstellige Euro-Summen als Preisgeld winken – dann sieht man bei diesem Bild Klagenfurt vor sich, die Tage der deutschsprachigen Literatur (TDDL). Nur ist die Stadt, in der ich am 23. Juni mein Gepäck hinter mir herziehe, nicht Klagenfurt, sondern Wiener Neustadt, und ich bin nicht auf dem Weg zum Bachmannpreis, sondern eingeladen zum Wettlesen um den Literaturpreis Wartholz. Der wurde vor neun Jahren ins Leben gerufen und hat nicht sein zehntes Jubiläum abgewartet, um sich neu zu erfinden. Bisher pilgerten die Geladenen im Frühjahr in die Schlossgärtnerei Wartholz, wo das Wettlesen in der morbiden Atmosphäre der vor sich hin bröckelnden k. u. k. Nostalgie stattfand und von wo man meist grippal infiziert zurückkehrte. 2016 zieht der Bewerb etwas unvermittelt in einer Kooperation mit Wiener Neustadt in die Ausstellungskirche St. Peter an der Sperr um. Die zwei Tage im angenehm temperierten Innenraum der profanisierten ehemaligen Klosterkirche der Dominikanerinnen zu verbringen klingt verlockend. Bei der Eröffnung zeigt sich das vormals sakrale Gebäude als imposante Kulisse für die Lesebühne. Nach gewissen Unpässlichkeiten der Jury im letzten Jahr stellt der Veranstalter neue Juroren vor, aus allen österreichischen Literaturbetriebsbereichen rekrutiert. Auch die zum Spiel angetretene Autoren-Mannschaft trägt zu drei Vierteln die Farben Österreichs, nur zwei Deutsche und ein Schweizer haben eine Einladung erhalten. Man kennt sich, und wenn nicht, so wird man sich schnell kennenlernen. Moderatorin Mari Lang nimmt schon zu Beginn Bezug auf die große Wettbewerbsschwester in Klagenfurt: Auch hier, beim Literaturwettbewerb Wartholz, laden die Jurorinnen und Juroren ihre Favoriten ein. Auch hier wird ein bisher nicht publizierter Text öffentlich vor der Jury gelesen. Auch hier wird die Jury live ein Urteil über die Beiträge fällen. ANZEIGE Die Schriftstellerin Cornelia Travnicek gewann 2012 den Publikumspreis in Klagenfurt. Dieses Jahr ging sie beim Literaturpreis Wartholz leer aus Die TDDL präsentieren sich zu ihrem vierzigsten Geburtstag mit einem stark deutsch besetzten Teilnehmerfeld und lassen sich das drohende Aus vor drei Jahren schon nicht mehr anmerken. Die Idee, den gerade erst gegangenen Ex-Juryvorsitzenden Burkhard Spinnen die Rede zur Literatur halten zu lassen, zeugt nicht von der Anstrengung zu einer kleinen Auffrischung – und ist nur die Krönung der Selbstbespielung der Bachmann-Bühne, die damit begonnen wurde, frühere Gewinner als Redner einzuladen. In den Dimensionen unterscheiden sich die beiden Bewerbe signifikant. Die Anzahl der geladenen Autoren liegt in Wartholz bei zwölf, mit einer Gesamtdauer von Lesung und Diskussion pro Teilnehmer von dreißig Minuten. In Klagenfurt gibt es vierzehn Teilnehmer mit einem Zeitbudget von jeweils etwa einer Stunde. In Sachen zu vergebende Auszeichnungen bietet erstere Veranstaltung den Wartholzpreis, den Land-Niederösterreich-Literaturpreis, einen Publikumspreis und einen NewcomerPreis, zusammen 17 000 Euro. In Klagenfurt gibt es den prestigeträchtigen Bachmannpreis, den KelagPreis, den 3sat-Preis und den von der Bank für Kärnten und Steiermark gesponserten Publikumspreis – Preisgelder von insgesamt 49 500 Euro. Auch die finanzielle Entschädigung der Teilnehmer für ihre Anreise fällt unterschiedlich aus. Während in Klagenfurt der ORF dafür bezahlt, dass man seine Miene im Fernsehen zeigt, während man der Kritik ausgesetzt ist, bekommen alle Teilnehmer in Wartholz ein kleines Taschengeld. Das wird schnell in Getränken angelegt, ist also eine direkte Förderung der Gastronomie Wiener Neustadts. Ein weiterer Unterschied ist die über die Jahre konstant hohe mediale Aufmerksamkeit, die dem Klagenfurter Ereignis zuteil wird. Die tagesfüllende 3sat-Liveschaltung ist Kultprogramm und wird auch im Internet verfolgt. Das allgemeine Interesse speist sich schon lange nicht mehr nur aus der Glorie der Gründungszeit in der Gruppe 47 und den folgenden, verklärten Jahren, sondern wurde mittlerweile zum Selbstläufer: Die Medien interessiert’s, weil es die Medien interessiert. Gleichzeitig ist diese Zuwendung der Aufmerksamkeit symbolisches Kapital, das die Autoren mit nach Hause nehmen können, die finanziell vor Ort leer ausgehen. Im Guten wie im Schlechten. Jedes Jahr erklären sich vierzehn Mutige bereit, für Ruhm, Ehre und Finanzspritze ihre Texte in den Klagenfurter Ring zu werfen, mit Aussicht auf einen Ausgang irgendwo zwischen Dauerapplaus und Demütigung. Die Gewinner von Wartholz werden sich hingegen innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nur auf auf noe.orf.at wiederfinden. Das bedeutet nicht, dass beim weniger beachteten Wartholzpreis Unbekannte zu sehen wären. Das Teilnehmerfeld ist zu großen Teilen ein Defilee von Bekannten, sodass man der Jury schon beinahe Schwierigkeiten unterstellen mag, am Ende den NewcomerPreis zu vergeben. Zum Glück findet sich dafür unter den Nominierten der absolut qualifizierte Steffen Roye. Der Publikumspreis sowie der 2. Platz gehen an Robert Prosser, der Hauptpreis an die aus Berlin angereiste Susanna Mewe. Das Fehlen des Fernsehauges schlägt sich in einer wohltuenden Entspanntheit nieder, die Notwendigkeit, etwas darstellen zu müssen, entfällt auch für die Kritiker. Autoren begegnen einander ohne Schutzring aus Verlagsmenschen, Agenturangestellten oder freundschaftlichem Unterstützungspersonal und finden sich als aufmerksames Publikum zu den Lesungen der jeweils anderen ein. Auch ist die Stimmung in Wartholz noch nicht in die zynischen Jahre gekommen. Leider fehlt es dem Bewerb an Breitenwirksamkeit, aber das kann sich ja noch ändern. Mit dem Klagenfurter Rundherum wie dem Lendhafen, dem Public Viewing, den Fahrrädern, dem See, ja, damit kann Wiener Neustadt nicht aufwarten. Der Kellner des Hotels wirft hier schon einmal entnervt bis verzweifelt seinen Notizblock auf die Schank angesichts vieler vegetarischer, glutenfreier und veganer Sonderwünsche, die sich so gar nicht mit dem vorbereiteten Paprikahendl vertragen wollen. Die Literatur gewinnt davon unbeeindruckt da wie dort. Der Wiener Neustädter Bürgermeister hat jedenfalls einen Blick für Potenziale und regt beim Abschlussgespräch einen abendlichen Shuttlebus zwischen Reichenau und seiner Stadt an, um den Schriftstellern auch im nächsten Jahr die Gelegenheit zu geben, bis in die frühen Morgenstunden ihr Taschengeld zu vertrinken. Die Welt in Österreich ist nicht zu klein für zwei Wettlesen. In Kärnten sitzt bereits die nächste Gruppe hoffnungsfroher Schreibender in den Startlöchern. Unter ihnen als einzige Österreicherin die mit ihren in zwei Büchern veröffentlichten FacebookPostings und als Bildungsbürger-Schreck bekannt gewordene Stefanie Sargnagel, Senior der Burschenschaft Hysteria. In den letzten Wochen habe ich von manchen Seiten Unverständnis für diese Einladungspolitik vernommen. Manchmal erzähle ich dann, dass sowohl Sargnagel sowie Wanda-Sänger Michael Marco Fitzthum als auch ich uns für eine Aufnahme in den ersten Jahrgang des Sprachkunst-Studiums an der Angewandten beworben haben. Ich wurde nicht zur Aufnahmeprüfung eingeladen, Sargnagel wurde nach der Aufnahmeprüfung kein Studienplatz angeboten. Genommen wurde Fitzthum. Dann schweigen ich und meine Gesprächspartner, und wir hängen jeder kurz unseren eigenen Gedanken nach. Die TDDL werde ich dieses Jahr wieder im Livestream verfolgen und mir, bevor ich nicht alle Texte gehört habe, keine Meinung bilden. Ich empfehle Stefanie jedenfalls aufrichtig ein oder zwei Bier im Lorettobad und dazu eine Portion Pommes rot-weiß-rot, der Rest ist nicht so wichtig. Von Wartholz im Juni habe ich weder Preisgeld noch Grippe mitgenommen, bloß einen Klimaanlagenschnupfen. Schön war’s allemal. Mehr Königgrätz Wie die Schlacht Europa verändert hat, lesen Sie auf Seite 17, wie Otto von Bismarck (Bild) schon lange auf einen Krieg gegen Österreich hingearbeitet hatte, auf Seite 30 Foto (Ausschnitt): Sven Simon/ddp images; kl. Abb.: bpk In Klagenfurt beginnen die Tage der Literatur. Auch in Niederösterreich wird um die Wette gelesen, kleiner und unglamouröser. Die Autorin CORNELIA TRAVNICEK vergleicht die Bewerbe 30. J U N I 2016 Das D I E Z E I T No 28 ÖSTERREICH Porträt 30 150 JAHRE KÖNIGGRÄTZ Abb.: Friedrich Emil Klein »Otto von Bismarck«, Foto: Jochen Remmer/bpk Preußen werde »in nicht zu langer Zeit für unsere Existenz gegen Österreich fechten müssen«, erklärte Ministerpräsident Otto von Bismarck bereits 1856 Habsburgs Nemesis Schriftverkehr Lange hatte Otto von Bismarck auf einen Krieg mit Österreich hingearbeitet. lässt BisDas Land musste dem preußischen Führungsanspruch weichen VON VOLKER ULLRICH marck keinen Zweifel daran, dass damit »die entscheidende Auseinandersetzung mit Österreich nur vertagt« worden sei. Für ihn geht es im Wesentlichen nur noch darum, den günstigsten Zeitpunkt für den als unvermeidlich betrachteten Waffengang abzuwarten. Auf einem Kronrat in Berlin vom 28. Februar wir uns 1866 werden die Weichen in Richtung Krieg gestellt. m 7. Mai auf die Dauer nicht ver- Allerdings schreckt der preußische König Wilhelm I. 1866 geht eine Nachricht wie ein Lauffeuer durch Ber- tragen. Wir atmen einer dem andern die Luft vor dem instinktiv noch vor der letzten Entscheidung zurück, lin: Auf den preußischen Minister- Munde fort, einer muß weichen oder vom andern und Bismarck muss seine ganze Überzeugungskraft aufbieten, um einem Sinneswandel des Monarchen präsidenten Otto von Bismarck ist ›gewichen‹ werden.« Das blieb das Ziel seiner Außenpolitik: Österreich vorzubeugen. Unter den Linden ein Attentat verübt worden. Fünf Schüsse wurden auf ihn abgefeuert, musste aus Deutschland hinausgedrängt und Preuund wie durch ein Wunder blieb er unverletzt. Der ßens Hegemonie etabliert werden. Dabei kalkuliert er Die Gerüchte über eine Mobilmachung sorgen Attentäter, der Student Ferdinand Cohen-Blind, ein von Anfang an den Krieg als Mittel seiner Politik ein. für Panik an den Börsen Stiefsohn des im Londoner Exils lebenden badischen »Daß wir in nicht zu langer Zeit für unsere Existenz Revolutionärs von 1848/49, Karl Blind, nimmt sich gegen Österreich werden fechten müssen«, hatte er be- Die auf den Kronrat folgenden Monate sind für den nach seiner Verhaftung das Leben. In einem Abschieds- reits im April 1856 unumwunden erklärt. Ein vorü- preußischen Ministerpräsidenten eine Zeit intensiver brief hat er zuvor über sein Motiv Auskunft gegeben: bergehendes Arrangement mit Wien ist damit nicht diplomatischer Aktivität. Mit allen Mitteln versucht Wenn Bismarck, dieser »Verräter an Deutschland«, be- ausgeschlossen. Das gilt vor allem für den Streit um er, Österreich außenpolitisch zu isolieren. Auf Russseitigt werde, könne der Krieg zwischen Preußen und die Zukunft der Herzogtümer Schleswig und Hol- lands Neutralität kann er einigermaßen bauen, denn stein, die laut den Londoner Protokollen von 1850 das Zarenreich ist mit innenpolitischen Problemen Österreich vielleicht noch abgewendet werden. Tatsächlich kommt der Anschlag nicht überra- und 1852 in Personalunion mit Dänemark verbleiben beschäftigt und zudem seit den Jahren des Krimkrieges schend. Denn Bismarck ist im Frühjahr 1866 der best- sollten. Der lange schwelende Konflikt ist im Herbst 1854 bis 1856, als Wien Partei für die Westmächte gehasste Mann weit und breit. Seit seinem Amtsantritt 1863 aufgebrochen, nachdem die dänische Krone an- England und Frankreich ergriffen hatte, antiösterreials preußischer Ministerpräsident im September 1862 gekündigt hatte, Schleswig unter Missachtung der chisch orientiert. Schwieriger war das Verhältnis zu Frankreich. Mit lag der als stockreaktionär verschriene pommersche Londoner Vereinbarungen zu annektieren. Von Anfang an verfolgt Bismarck den Plan, die einiger Mühe gelingt es Bismarck, sich der Neutralität Junker in einem Dauerkonflikt mit der liberalen Mehrheit des preußischen Landtags, die ihm das Geld Herzogtümer in den preußischen Machtbereich ein- Napoleons III. zu versichern, indem er ihm Kompenfür eine Heeresreform verweigerte. Ihren Widerstand zubeziehen. Nach außen hin gibt er sich freilich be- sationen zusagt, ohne sich freilich vertraglich in irhatte Bismarck mit allen Mitteln zu brechen versucht. tont friedfertig, indem er vorspiegelt, nur für die Er- gendeiner Weise zu binden. Schließlich gehört zur diplomatischen VorbereiEr regiert verfassungswidrig, nämlich ohne den gesetz- haltung der internationalen Verträge über Schleswiglich vorgeschriebenen Haushalt. »Das gegenwärtige Holstein eintreten zu wollen. Dadurch gelingt es ihm tung des Krieges gegen Österreich auch der Abschluss Ministerium ist in einer Art mißliebig, wie selten eines nicht nur, die europäischen Großmächte über seine eines Geheimvertrages mit dem neuen Königreich Itain Preußen war«, stellt Gerson Bleichröder, Bismarcks wahren Absichten zu täuschen, sondern auch Öster- lien am 8. April 1866. In ihm verpflichtet sich Italien, Bankier, im Februar 1863 fest. Daran hat sich auch reich als Bundesgenossen für einen Krieg gegen Däne- als Gegenleistung für den in Aussicht gestellten Ermark zu gewinnen. Nach ihrer Niederlage werden die werb von Venetien an Preußens Seite in den Krieg eindrei Jahre später noch nichts geändert. Der Hass auf den »Konfliktminister« ist noch ge- Dänen im Frieden von Wien vom 1. August 1864 zutreten. Allerdings ist die Dauer des Vertrages auf stiegen, seit für jedermann erkennbar geworden ist, dass gezwungen, alle Rechte an den beiden Herzogtümern drei Monate begrenzt. Das heißt: Die Entscheidung er es auf einen Krieg mit Österreich abgesehen hat. Kein zugunsten des preußischen Königs und des österrei- muss, so oder so, innerhalb dieser Frist fallen. Nicht nur in Süddeutschland, sondern in allen Wunder, dass der Attentäter in der liberalen Öffentlich- chischen Kaisers abzutreten. deutschen Staaten, selbst in Preußen, ist der bevorstekeit vor allem Süddeutschlands viele Sympathien findet. hende »Bruderkrieg« außerordentlich unpopulär. »Es wird sich niemand getrauen, den jungen Mann für Bismarck geht es nur um den günstigsten einen schlechten Menschen zu erklären, der sein Leben Zeitpunkt für einen Waffengang gegen Österreich »Mit einer solchen Schamlosigkeit, einer solchen grauenvollen Frivolität ist vielleicht nie ein Krieg andaran gegeben hat, um das Vaterland von einem solchen Unhold zu befreien«, ist im Parteiblatt der württember- Damit hat Bismarck sein erstes Etappenziel erreicht. gezettelt worden«, klagt der prominente Rechtsgelehrte Nun kann er die zweite Stufe anvisieren: nämlich Rudolf von Ihering. »Das innere Gefühl empört sich gischen Demokraten zu lesen. Lange hat Bismarck auf die Auseinandersetzung Schleswig-Holstein zu annektieren und damit zu- über einen solchen Frevel an allen Grundsätzen des mit Österreich hingearbeitet. Bereits als Gesandter am gleich das größere Problem des preußisch-österreichi- Rechts und der Moral.« Seit Anfang Mai 1866 Bundestag in Frankfurt am Main zwischen 1851 bis schen Dualismus zu lösen. Dabei nutzt er die im Wie- Gerüchte über eine Mobilmachung kursieren, 1859 ist es sein Hauptbestreben gewesen, Preußens ner Vertrag vereinbarte gemeinsame Verwaltung der herrscht an den Börsen Panikstimmung. Die Furcht Machtinteressen möglichst wirkungsvoll zur Geltung Herzogtümer als Hebel, um ständig Konflikte mit vor einem langen, verlustreichen Krieg lähmt das Wirtschaftsleben. zu bringen, und das heißt, Österreich den Führungs- Österreich zu provozieren. Selbst die hochkonservativen Freunde Bismarcks Im August 1865 scheint es, als würden die beiden anspruch im Deutschen Bund streitig zu machen. Im Dezember 1853 zieht er eine erste Bilanz: »Unsre Mächte doch noch zu einer einvernehmlichen Lösung gehen auf Distanz zu ihm, nachdem er am FrankfurPolitik hat keinen anderen Exerzierplatz als Deutsch- kommen. In der Gasteiner Konvention einigen sie ter Bundestag den Antrag auf Einberufung eines Naland (...), und gerade diesen glaubt Österreich auch sich darauf, die Herzogtümer aufzuteilen: Holstein tionalparlaments hat einbringen lassen, das aus allgefür sich zu gebrauchen; für beide ist kein Platz nach fällt unter österreichische, Schleswig unter preußische meinen und direkten Wahlen hervorgehen soll. Damit den Ansprüchen, die Österreich macht, also können Verwaltung. Doch im internen diplomatischen spielt er skrupellos die nationaldemokratische Karte A aus, die Österreich aufs Höchste reizen muss, weil sie den Habsburger Vielvölkerstaat vor die Existenzfrage stellt. Bismarcks langjähriger politischer Mentor, Ludwig von Gerlach, ist entsetzt. In einem Leitartikel in der Kreuzzeitung bricht er den Stab über die zum Krieg treibende Politik, und zugleich verurteilt er den Bundesreformantrag als einen »grundrevolutionären Versuch, (...) der das Herz Preußens und Österreichs tief verwundet«. Ab Anfang Juni 1866 spitzt sich die Situation rasch zu. Am 1. Juni überträgt die Wiener Regierung, ohne vorherige Konsultation Preußens, die Entscheidung über die Zukunft Schleswig-Holsteins auf den Bundestag, Bismarck antwortet auf die Verletzung der Gasteiner Konvention mit dem Einmarsch preußischer Truppen in Holstein. Am 14. Juni beschließt der Bundestag auf Antrag Österreichs, das Bundesheer gegen Preußen zu mobilisieren. Daraufhin erklärt der preußische Bundestagsgesandte den Bundesvertrag für erloschen. Am 16. Juni, nach Ablehnung eines Ultimatums, rücken preußische Truppen gegen Hannover, Sachsen und Kurhessen vor. Damit ist der Krieg eröffnet. Bismarck ist sich bewusst, wie ein Spieler alles auf eine Karte gesetzt zu haben. Am Abend des 15. Juni äußert er gegenüber dem englischen Botschafter Lord Loftus: »Es kann sein, daß Preußen verliert, aber wie es auch kommen mag, es wird tapfer und ehrenvoll kämpfen. Wenn wir geschlagen werden (...), werde ich nicht hierher zurückkehren. Ich werde bei der letzten Attacke fallen.« Doch der Sieg in der Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli ändert alles. Innerhalb weniger Tage schlägt die Stimmung radikal um. Der Erfolg heiligt scheinbar die Mittel. »Bismarck ist jetzt der populärste Mann in Preußen. Alles schwärmt für ihn, auch die Demokraten«, notiert ein Zeitgenosse. Selbst die prinzipienfestesten Liberalen lässt der Triumph nicht unbeeindruckt. Theodor Mommsen, der berühmte Berliner Althistoriker, empfindet plötzlich »ein wunderbares Gefühl, dabei zu sein, wenn die Weltgeschichte um die Ecke biegt«. Und Rudolf von Ihering, einer der schärfsten Kritiker, verneigt sich jetzt »vor dem Genius eines Bismarck, der ein Meisterstück der politischen Kombination und Tatkraft geliefert hat, wie die Geschichte wenige kennt«. Bismarck selbst reicht den Liberalen die Hand zur Verständigung. Im preußischen Abgeordnetenhaus bittet er um »Indemnität«, das heißt um eine nachträgliche Billigung seines budgetlosen Regiments. Auch gegenüber dem besiegten Österreich zeigt der kühle Machtstratege Mäßigung – im Unterschied zu Wilhelm I. und manchem seiner militärischen Berater, die am liebsten Wien besetzt und dem gedemütigten Gegner harte Bedingungen auferlegt hätten. »Wenn wir nicht übertrieben in unsren Ansprüchen sind (...), so werden wir auch einen Frieden erlangen, der der Mühe wert ist«, schreibt Bismarck seiner Frau. Es bedarf allerdings noch harter Kämpfe, um den Monarchen davon zu überzeugen. Im Vorfrieden von Nikolsburg am 26. Juli und endgültig im Prager Frieden vom 23. August kann Bismarck sich mit seinen Vorstellungen im Wesentlichen durchsetzen: Österreich muss Venetien an Italien, aber keine Gebiete an Preußen abtreten. Wichtiger im Blick auf die Zukunft ist, dass Kaiser Franz Joseph I. in die Auflösung des Deutschen Bundes und die Reorganisation Deutschlands nördlich der Mainlinie unter Preußens Führung einwilligen muss. Damit ist jene Ordnung von 1815 zerstört, deren Zweck es gewesen war, das Gleichgewicht und den Frieden auf dem Kontinent zu bewahren. An ihre Stelle soll nun die mitteleuropäische Hegemonie einer Militärmonarchie treten. Preußen annektiert Schleswig-Holstein, dazu das Königreich Hannover, Kurhessen und Nassau sowie Frankfurt am Main, die traditionsreiche Freie Reichsstadt. Hier also, wo es um die preußische Machtausdehnung ging, übt sich Bismarck keineswegs in Selbstbeschränkung, setzt er sich auch bedenkenlos über die Prinzipien dynastischer Legitimität hinweg. Nicht wenige Zeitgenossen empfinden daher das, was sich 1866 vollzog, als eine »Revolution von oben«. Den süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden werden die territoriale Integrität zugesichert, gleichzeitig aber eine engere Verbindung mit dem zu schaffenden Norddeutschen Bund in Aussicht gestellt. Der Weg zur kleindeutschen Lösung der »deutschen Frage« ist damit vorgezeichnet. Dass Bismarck auch die Gründung des ersten deutschen Nationalstaats von 1870/71 nicht auf friedlichem Wege, sondern durch »Blut und Eisen«, im Krieg mit Frankreich, betrieb, sollte sich für die weitere deutsche und europäische Geschichte als schwere Hypothek erweisen. Bilanz Erfolge 1866 Adel und Reichtum Für seine Erfolge bekommt Bismarck 1865 von Wilhelm I. den Grafentitel verliehen. 1866, nach dem Sieg über Österreich, belohnt ihn das preußische Abgeordnetenhaus mit einer Dotation von 400 000 Talern. Sie macht Bismarck zu einem reichen Mann. Ein Großteil des Geldes verwendet er für den Kauf des Gutes Varzin in Hinterpommern 1871 Sachsenwald Nach dem Sieg über Frankreich wird Bismarck in den Fürstenstand erhoben und bekommt als Geschenk Wilhelms I. den Sachsenwald vor den Toren Hamburgs. Hier wird er seine letzten Lebensjahre verbringen Misserfolge 1862 Blut und Eisen Am 30. September 1862, wenige Tage nach seiner Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten, erklärt Bismarck in der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses: »Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden (...), sondern durch Blut und Eisen.« Auf die Liberalen wirken diese Worte provozierend. Sie bestätigen das Bild vom skrupellosen Gewaltpolitiker. Ein Entrüstungssturm ist die Folge, der Bismarck fast das Amt kostet 1890 Entlassung Als Wilhelm II. 1888 Kaiser wird, kommt es rasch zu Konflikten mit dem alten Ministerpräsidenten. Im März 1890 entlässt der junge Monarch Otto von Bismarck. Dieser zieht sich in den Sachsenwald zurück und lebt dort bis zu seinem Tod DIE ZEIT Mit 3 Seiten ZEIT für die Schweiz PREIS SCHWEIZ 7.30 CHF WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR 30. JUNI 2016 No 28 ZEIT Schweiz Was tun, wenn die Falschen gewinnen? Mehr Geld für die Milch? Das bringt nichts. Die Bauern müssen zuerst ihre Ausgaben in den Griff kriegen Trump, Johnson, Le Pen: Was früher nur wenige äußerten, wird plötzlich mehrheitsfähig. Doch die westlichen Demokratien hätten Gegenmittel. Sie müssen aber wollen Seite 10 Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT POLITIK, WIRTSCHAFT, FEUILLETON EINWURF NACH DEM BREXIT Jugend heult Wie viel Volk darf’s denn sein? Sie weint. Tränen laufen über die Wangen. Eine junge Engländerin auf einem Foto im Netz. »I am heartbroken«, steht darunter. Es zeigt den Kummer, den wir gerade teilen: Europa-Schmerz. Wir, das sind die Jungen Europas, die Vielgereisten, die Vielvernetzten. Die, die dachten, am Ende gewinnen doch immer die Guten. Seit Freitag wissen wir: Das stimmt nicht. Es gibt einen Weg zurück in ein Angst-Europa. Jugend heult. Wer tröstet? Die Eltern nicht. Die kommen aus einer Generation, die in Großbritannien mit für den Brexit gesorgt hat: Die Mehrheit der über 50-Jährigen hat für den Austritt gestimmt. Aber wir sind selbst schuld. Zu wenige Junge haben abgestimmt. Das ist zu erklären: Wir mussten kämpfen, aber nur privat. Über Politik streiten? Anstrengend. In vielen Timelines ist das Leben ein Kuschel-Konsens. Zu lange haben wir gedacht, Demokratie sei ein Lebensgefühl und Ironie unser Schutz. Aber wir tun doch was! Letzten Sommer, als die Flüchtlinge kamen. Nach dem Helfen ging es zurück in die Komfortzone. Dass Europa für viele keine Komfortzone mehr ist, haben wir zu spät gemerkt. Unser Engagement ist atomisiert, verteilt auf Netzwerke. Wie stellt man eine Gemeinschaft her, wenn man Parteien langweilig findet? Wir müssen verstehen: Solange man den Institutionen nichts als virtuelle Empörung entgegensetzen kann, sollte man sie ernst nehmen. Wer sich nur darum sorgt, was in seinem Viertel, in seinem Freundeskreis, bei seiner Arbeit passiert, wer nur auf die eigene Karriere und auf die Familie schaut, der ist nicht unpolitisch – das ist der eigentliche Schock: Wir sind politisch, ob wir wollen oder nicht. Denn Europa ist kein Ich, sondern ein Wir. Und wenn wir nicht handeln, tun es die anderen. Es gibt einen Gegner, die Europa-Hasser. Sie müssen wir endlich ernst nehmen. Er ist bestens organisiert, über Ländergrenzen hinweg, er hat einen Slogan: Take back control, »Gewinnt die Kontrolle zurück«. Take back control ist ein verdammt guter Slogan – nur für die falschen Leute. Wir sollten ihn uns zurückholen. Für unser Europa. KILIAN TROTIER Der Autor, 32, ist stellvertretender Ressortleiter der Hamburg-Seiten der ZEIT Den Eliten bleibt nichts anderes übrig, als besser zuzuhören und hinzuschauen W enn in Großbritannien die Brexit-Befürworter siegen, in Österreich ein FPÖ-Mann nur um 30 000 Stimmen an der Präsidentschaft vorbeischrammt oder in einigen deutschen Bundesländern die AfD in Umfragen plötzlich bei zwanzig Prozent liegt – dann schlägt die Stunde der Welterklärer. Am tröstlichsten ist noch die Interpretation, dass Zeiten bedeutender Umbrüche immer eine hohe Zahl von Unzufriedenen und Verunsicherten hervorbrächten, dass das »Rendezvous mit der Globalisierung« (Wolfgang Schäuble) Protestparteien rechts wie links erstarken lasse, dass alles ein vorübergehendes Phänomen sei. Das kann man nur hoffen. Denn wenig spricht dafür, dass die Zwietracht in fast allen westlichen Gesellschaften bald nachlassen wird. Starke Reizthemen wie die zunehmende Ungleichheit von Arm und Reich, vor allem aber der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen bergen so viel negative Energie, dass sie sich immer wieder mit Hass und Unmut aufladen können. Spätestens seit dem Votum für den Brexit ist das Entsetzen groß. Und aufseiten jener, die sich der europäischen Idee verbunden fühlen, ist nun endlich Kampfeslust auszumachen, jedenfalls verbal. Auch das kann man sich nur wünschen. Eine Frage allerdings bleibt offen: Wie holt man jene Bürger zurück, die sich partout nicht überzeugen lassen und andere Prioritäten haben? Was tun, wenn die Falschen gewinnen? Die Frage drängt sich auf, aber sie kann auch eine Falle sein. Dann nämlich, wenn sie eine Spaltung akzentuiert, statt sie zu überwinden. Wenn also mit den Richtigen die aufgeklärten und politisch interessierten, weltläufig und liberal gesinnten Menschen und mit den Falschen die angstgetriebenen, politisch unterbelichteten, ressentimentgeladenen Leute gemeint sind, wahlweise die Zukurzgekommenen, die Alten, die weißen Männer oder die Landpomeranzen, denen man am besten keine Ja/NeinFragen in Form eines Referendums stellen sollte. Wer die Welt so sieht, der muss auf Volkserziehung setzen, nach dem Motto: Erkenne, wie irrational deine Angst vor Flüchtlingen ist! Darum auch das wiederkehrende Stereotyp, wer Probleme der Zuwanderung allzu deutlich benenne oder gar auf Ängste zu viel Rücksicht nehme, stärke die Populisten. Spätestens nach dem Brexit spricht aber vieles dafür, dass wir mit solchen Mitteln nicht weiterkommen, dass stattdessen die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Eliten ihre Haltung zum Volk überdenken müssen. Was wir nämlich heute erleben, sind keine einzelnen politischen Streitfälle, es ist vielmehr ein Zusammenprall der politischen Kulturen und Lebenswelten – und das vor allem zwischen Inländern und Inländern. Gelingt es nicht, den Graben, der sich in fast allen westlichen Ländern aufgetan hat, zu überbrücken, drohen die aus Unverständnis und Unzufriedenheit erwachsenen neuen Bewegungen vieles zum Einsturz zu bringen, was über Jahrzehnte an Gutem und Bewahrenswertem aufgebaut wurde. Dazu gehört auch, Gewalt gegenüber und Diskriminierung von Andersdenkenden zu ächten, eine der großen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte und keinesfalls immer gleichzusetzen mit politischer Korrektheit. Beinahe täglich verschiebt sich der roher und abstoßender werdende Ton weiter über die Grenze des Erträglichen hinaus – von Trumps Beleidigung der Mexikaner als Vergewaltiger bis zu Höckes unsäglichem Wort der »Tat-Elite«, das von der SS gebraucht wurde. Es ist unmöglich, das Desaster des Brexits und das Erstarken populistischer Bewegungen in Europa und Amerika losgelöst von Fehlern des Establishments zu sehen. Wie in der vorigen Ausgabe der ZEIT ausführlich beschrieben, hat der in Harvard lehrende britische Politikprofessor Niall Ferguson kürzlich fünf Faktoren benannt, die zusammenwirken, wenn Populisten stark werden: 1. ansteigende Einwanderungszahlen, 2. große Ungleichheit, 3. der Glaube, dass es korrupt zugehe und Eliten dies für sich nutzten, 4. eine große Finanzkrise (wie die von 2008) oder ein wirtschaftlicher Schock und 5. schließlich ein Demagoge, der die Unzufriedenheit der Masse nutzt (Fergusons Rede gibt es in voller Länge auf YouTube). Für Demagogen mit Charisma können die Eliten nichts, aber man kann Ferguson nur schwer widersprechen: Viele Leute fühlen sich seit Jahren in ihrem Gerechtigkeitsempfinden beleidigt und von Teilen der Politik für dumm verkauft. Kein einziger Topmanager der USBank Lehman Brothers, deren Pleite 2008 die Finanzkrise auslöste, ist bis heute verurteilt worden. Keiner der Banker, die im Boom noch als Stars gefeiert worden waren, musste nach dem Platzen der Blase wirklich haften. Stattdessen kam es zu milliardenhohen Interventionen durch die Zentralbanken, an deren Folgen heute Schlafzimmer sind gefährliche Orte Die Reform des Sexualstrafrechts ist unnötig und verhängnisvoll Ein Essay von Sabine Rückert Feuilleton, Seite 39 VON GIOVANNI DI LORENZO Kleinsparer nicht nur in Deutschland leiden. Die deutsche Flüchtlingspolitik ist ein Musterbeispiel dafür, was Regierungen im Guten wie im Schlechten ausrichten können. Gut war im September 2015 die spontane, großzügige Hilfe für Menschen, die Krieg und Tod entflohen sind. Dies sollte ursprünglich eine einmalige Aktion sein. Doch als sie dann aus dem Ruder lief, wurde sie mit nicht mehr glaubwürdigen Argumenten verteidigt: dass nämlich die Flüchtlinge eh alle unterwegs gewesen seien und es keinen Anreiz aus Deutschland gegeben habe, zu uns zu kommen. Dass es nicht möglich sei, die Grenzen zu schließen, und so weiter. Durch diese Widersprüche entstehen die Bruchstellen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, nicht an der Frage, ob man Kriegsflüchtlinge aufnimmt – das will eine Mehrheit der Menschen von Herzen gern weiter tun. Nur eben nicht ungefragt, unkontrolliert und ohne eine glaubwürdige und leidenschaftliche Begründung. Weil Zweifel und Ängste als vordemokratisch und irrational kleingeredet oder diffamiert worden sind, konnten in so vielen Ländern furchterregende Bewegungen groß werden, die nach dem Brexit vermutlich noch mehr Auftrieb erhalten. Nun hat man das Gefühl, dass das Volk seine gewählten Vertreter vor sich hertreibt. Aber was sind das für Konstellationen: Regierungen und Eliten, die ihr eigenes Volk fürchten? Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als künftig besser hinzuschauen und hinzuhören. Krisen und Flüchtlingswellen haben immer Ursachen, sie werden nie ganz zu vermeiden sein. Was man aber sehr wohl beeinflussen kann, ist die Verhältnismäßigkeit der daraus erwachsenden Maßnahmen und die Glaubwürdigkeit jener, die sie verkörpern. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, dem nun wirklich niemand ernsthaft vorhalten könnte, die europäischen Ideale gut zu vermitteln, und auch die Bundeskanzlerin haben gerade in diesen Tagen versucht, die Lage als leicht verschärfte Normalität zu beschreiben. Wir leben aber in einer Zeit des Disruptiven, der allgemeinen Zerstörung: Gutes, Bewährtes droht weggefegt zu werden – von der repräsentativen Demokratie über ein vereintes Europa bis hin zu toleranten Gesellschaften. Wer so weitermacht, als sei nichts geschehen, mag auf der richtigen Seite stehen, betreibt aber das Geschäft der Falschen. PROMINENT IGNORIERT Füße im Feuer Der amerikanische Motivationstrainer Anthony Robbins hat in Dallas 7000 Gläubige versammelt und ihnen gesagt, mit hinreichender Willenskraft könnten sie über glühende Kohlen gehen. Etwa 30 verbrannten sich dabei die Füße, fünf kamen in die Klinik. Von der heiligen Kunigunde und von der heiligen Christina wird erzählt, sie hätten Glut und Feuer unversehrt überstanden. Merke: Es ist nicht ganz leicht, heilig zu werden. GRN. Kleine Fotos (v. o.): Balzarini/Keystone Schweiz/ laif; Millennium Images/Look-foto; action press Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon +49-40 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Abonnement Österreich, Schweiz, restliches Ausland DIE ZEIT Leserservice, 20080 Hamburg, Deutschland Telefon +49-40 / 42 23 70 70 Fax +49-40 / 42 23 70 90 E-Mail: [email protected] o N 28 7 1. J A H RG A N G C 7451 C www.zeit.de/audio CH 10 SCHWEIZ D I E Z E I T No 2 8 Foto [M]: Daniel Auf der Mauer/13 Photo; Illustration: Smetek für DIE ZEIT (im Hintergrund) 30. J U N I 2016 Es lohnt sich, auf Kühe zu setzen, die wenig Milch geben Die Milchbüchlein-Rechnung I n der Gegend um Rothrist, wo Hans Brauns Bauernhof steht, ist Milchland. Einige der größten und produktivsten Betriebe des Landes stehen hier. Riesige Ställe mit bis zu hundert Kühen, davor turmhohe Futtersilos und modernste Traktoren. Es sind die Höfe von Bauern, die immer mehr Geld in ihre Betriebe investieren und am Ende, wegen der fallenden Preise immer weniger verdienen. Je nach Region erhält ein Bauer noch knapp 50 Rappen für einen Liter Milch. Das sind 30 Rappen weniger als noch vor drei Jahren. Auch Hans Braun ist Milchbauer. Doch ein anderer als die meisten seiner Nachbarn. Er sagt: »Für mich ist das völlig gestört, in welche Richtung sich die Milchproduktion entwickelt.« Auch er führte einmal einen Betrieb mit hochgezüchteten Kühen, die ihm maximale Erträge bringen sollten. Bis zu jenem Sommer vor zwanzig Jahren, als ihm das Geld ausging. Die Bauern in der Schweiz klagen über fallende Lebensmittelpreise, über Direktzahlungen und die Konkurrenz aus dem Ausland. Sie tun das an Großdemonstrationen, im Parlament oder, wie Ende Mai, auf dem Berner Hausberg Gurten, wo sich die führenden Schweizer Landwirtschaftsvertreter zum Milchgipfel trafen. Kaum je ein Thema sind allerdings die explodierenden Kosten. Dabei tragen sie sehr zur Krise der Landwirte bei. Das Schweigen hat seine Gründe. Die Profiteure dieser Mehrausgaben und die Bauernverbände sind eng miteinander verbandelt. Aber dazu später. Von den Landwirtschaftsmillionen profitieren die Traktor-Importeure Zuerst die Zahlen. Um einen Hektar Land zu bewirtschaften, gab ein Schweizer Bauer vor fünfzehn Jahren durchschnittlich 7100 Franken pro Jahr aus. 2014 waren es 9800 Franken, also fast 40 Prozent mehr. Am stärksten gestiegen sind die Kosten für Gebäude, Kraftfutter, Maschinen und Arbeiten, die von externen Unternehmen verrichtet werden. Der Ertrag pro Hektar ist im selben Zeitraum gesunken. So war es auch bei Hans Braun und seiner Frau. Mit dem Neubau eines Stalls hatten sie sich 1995 stark verschuldet. Verzweifelt saßen sie in ihrem kleinen Büro und brüteten über den Buchhaltungen der vergangenen Jahre. Bis sie irgendwann merkten: Auch wenn sie noch mehr Milch aus den Eutern ihrer Kühen melkten, es wird nicht reichen, die Futtermittel, die neuen Maschinen zu bezahlen und die Hypothek für den neuen Stall abzustottern. Wollen sie der Schuldenfalle entkommen, gibt es nur einen Weg: Sie müssen ihre Kosten senken – und zwar radikal. Während die Bauern um ihre Existenz bangen, floriert die vorgelagerte Branche. Zum Beispiel der Branchenriese Fenaco. Es ist Ende Mai. Kurz nach Mittag tritt Martin Keller in Bern vor die Medien. Der Fenaco-Chef beginnt seine Präsentation mit einer Untertreibung. »Das Jahr 2015«, sagt er, »ist gut und erfreulich.« Als bäuerliche Genossenschaft gegründet, profitiert die Fenaco AG mit ihren Tochterfirmen heute entlang der gesamten landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette. Sie liefert den Bauern alles, was sie auf ihrem Hof brauchen. Vom Saatgut über das Futter und den Dünger bis hin zu den teuren Landmaschinen. Der Milliardenkonzern, längst als gewinnorientierte Aktiengesellschaft organisiert, beschreibt sich gerne als »Selbsthilfeorganisation der Bauern«. Trotzdem steht er immer wieder in Verdacht, seine Marktmacht zuungunsten der Landwirte auszunutzen. Im vergangenen Jahr konnte das Unternehmen bei leicht rückläufigem Umsatz den Gewinn um 65 Prozent auf 96 Millionen Franken steigern. Das ist, Martin Keller ließ es unerwähnt: Unternehmensrekord. Groß war die Freude über das hervorragende Geschäftsjahr auch in Schaffhausen bei der GVS Gruppe. Einem ebenso weitverzweigten Großunternehmen, das mit den Bauern viel Geld verdient. Wie die Fenaco war die GVS einst eine Genossenschaft. Heute ist sie ein Riese im Geschäft mit den Landmaschinen. Sie importiert und vertreibt unter anderem die Marken Fendt, Valtra und Massey Ferguson, die ihre Traktoren im nahen Oberallgäu, im finnischen Suolahti oder im fernen Georgia produzieren. Im vergangenen Jahr erzielte die GVS Gruppe mit knapp 220 Millionen Franken einen Rekordumsatz und steigerte ihren Gewinn um 20 Prozent auf knapp 40 Millionen Franken. Weshalb geben die Schweizer Bauern immer mehr Geld aus, wenn doch ihr Einkommen stagniert? Wieso kauften sie im vergangenen Jahr 2500 neue Traktoren – das sind 21 Prozent mehr als im Jahr zuvor, – wenn gleichzeitig die Preise für ihre Produkte in den Keller rasseln? Andreas Bosshard beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Widerspruch. Der promovierte Agro- Die Schweizer Bauern klagen über den zu niedrigen Milchpreis und fordern mehr Geld vom Staat. Aber das Problem liegt woanders: Die Landwirte produzieren zu teuer VON SIMON JÄGGI nom ist Geschäftsleiter der ökologischen Denkfabrik Vision Landwirtschaft und gilt als einer der schärfsten Kritiker der heimischen Landwirtschaft. Er sagt klipp und klar: »Die wichtigste Ursache für die äußerst geringe Wertschöpfung der Schweizer Landwirte sind nicht die tiefen Preise, sondern die hohen Kosten.« Die Bauernverbände, die Agrar-Presse und die Landwirtschaftsschulen würden den Bauern weismachen: Wer stetig wachse und seinen Betrieb ausbaue, erwirtschafte automatisch ein höheres Einkommen. Ein Glaube, der viele Bauern in die Schuldenfalle treibe. Ermöglichen würden die übermäßigen Investitionen die Direktzahlungen des Bundes. Sie verleiteten die Bauern dazu, das Geld unüberlegt auszugeben. Besonders stört sich Bosshard an jenen Zahlungen, die nicht an Gegenleistungen gebunden sind. Zum Beispiel die 100 Franken, die ein Bauer pro Hektar und Jahr erhält, wenn er in einer hügligen Landschaft wirtschaftet. Oder die sogenannten Versorgungssicherheitsbeiträge: »Diese pauschalen Gelder sind Gift für eine wirtschaftlich orientierte Landwirtschaft.« Die Missstände, die Bosshard anprangert, haben aus seiner Sicht etwas gemeinsam. Es profitiert immer: die vorgelagerte Branche. »Die Unternehmen tun alles dafür, dass die Direktzahlungen hoch bleiben und die Bauern weiterhin im großen Stil investieren«, sagt Bosshard. Um ihre Interessen durchzusetzen, unterwanderten sie die Politik und die Landwirtschaftsverbände. Tatsächlich. Die Macht der Bauernlobby im Parlament ist legendär. Im Vorstand des Bauernverbands ist der langjährige Verwaltungspräsident der Fenaco AG ebenso vertreten wie der aktuelle Präsident der GVS Gruppe. Mit Guy Parmelin und Ueli Maurer sitzen selbst im Bundesrat zwei ehemalige Verwaltungsratsmitglieder der Fenaco. Zudem überweist das Unternehmen dem Bauern- verband jedes Jahr 250 000 Franken, unter anderem für die Kommunikation. Seit den Wahlen im vergangenen Herbst scheint das Netz zwischen Bauernvertretern, Politikern und Industrie so eng geflochten wie kaum je zuvor. Als Milchbauer Hans Braun vor zwanzig Jahren beschloss, sich unabhängiger zu machen, ahnte er nicht, wie grundlegend sich sein Betrieb verändern würde. Es fing an beim Speiseplan seiner Kühe. Zuerst aus Not, dann aus Überzeugung, kaufte er weniger Kraftfutter. Aus seiner ehemaligen auf Hochleistung getrimmten Herde hat Braun eine neue Rasse gezüchtet. Heute verbringen seine 40 Milchkühe den größten Teil des Jahres auf der Weide und werden von dem satt, was auf dem Feld wächst. Vor drei Jahren hat er seinen Tieren das letzte Mal Kraftfutter verfüttert. Die Bauern sind halsstarrig. Sie glauben weiter an die Mär vom ewigen Wachstum Inzwischen, sagt Braun, verdiene die vorgelagerte Branche kaum noch Geld mit seinem Betrieb. Und noch etwas anderes hat sich verändert. Etwas, wovor sich die allermeisten Bauern fürchten: Seine Kühe geben nur noch halb so viel Milch wie früher. Trotzdem sagt Braun, gehe es ihm heute deutlich besser. Weil seine Kosten markant stärker gesunken sind als die Einnahmen, hat sich sein Verdienst pro Liter Milch verdreifacht. Während er 1998 gerade noch 10 Franken pro Arbeitsstunde verdiente – wie der Großteil der Schweizer Milchproduzenten –, sind es heute über 30 Franken. Schweizweit ein Spitzenwert. Noch gibt es in der Schweiz kaum Bauern wie Hans Braun. Wie erfolgversprechend sein Modell auch für andere Betriebe sein könnte, zeigte vor wenigen Jahren eine Studie von Agroscope, dem Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung. Drei Jahre lang verglichen die Forscher Aufwand und Ertrag einer klassischen Stallherde mit denen einer Vollweideherde, wie die von Bauer Braun. Das Resultat bestätigte seine Erfahrungen und widersprach fast sämtlichen Gesetzmäßigkeiten, die Bauernvertreter und Landwirtschaftsmedien ständig predigen. Obwohl die Weideherde deutlich weniger Milch produzierte, verdoppelte sich das Stundeneinkommen. Das Fazit der Forscher fiel eindeutig aus: »Um im zukünftigen Milchmarkt bestehen zu können, müssen Milchproduktionsbetriebe ihre Kosten senken und in allen Bereichen effizienter werden.« Der geringere Erlös werde vor allem durch die niedrigeren Kosten mehr als kompensiert. Auf den Bauernhöfen kam diese Erkenntnis kaum an. Man machte lieber weiter wie bisher. Und auch die Bauern-Elite ist von einem Umdenken weit entfernt. Das zeigt sich am Milchgipfel auf dem Gurten. Gerade einen halben Tag sitzen die Spitzenvertreter der Milchbranche zusammen und sinnieren darüber, was gegen den fallenden Milchpreis zu tun ist. Als sie nach dem Mittag vor die Medien treten, um ihr Manifest zu präsentieren, macht Jacques Bourgeois, Co-Präsident des Bauernverbands, als Erstes klar, in welche Richtungen es gehen soll. »Weil die Branche alleine keinen Ausweg finden kann, ist auch die Politik gefordert!« Die zentrale Forderung lautet, etwas vereinfacht: mehr Geld vom Bund. Höhere Beiträge für die Nutztiere, die regelmäßigen Auslauf im Freien erhalten. Mehr Geld für Betriebe, die einheimischen Mais verfüttern. Und grundsätzlich mehr Geld für die Absatzförderung. Auch Hans Braun hat den Milchgipfel verfolgt. »Ich hätte mir schon gewünscht, dass sie sich etwas Originelleres einfallen lassen«, sagt er. Braun ist der Meinung, die Produzenten müssten das Problem selber lösen. Also kleinere Milchmengen, weniger Ausgaben. Doch wie lange es dauert, bis ein Bauer seine alten Gewohnheiten überwindet, das weiß er selber. Aus eigener Erfahrung. Seit Braun wieder mehr Zeit hat, unterrichtet er an einer Landwirtschaftsschule und versucht, den Bauern von morgen die Vorteile einer günstigeren Produktion aufzuzeigen. An seiner eigenen Geschichte zeigt er ihnen, wie neben seinem Einkommen auch die Milchqualität auf seinem Hof gestiegen sei, dass seine Tiere eine Lebenserwartung von elf Jahren hätten und nicht wie auf vielen klassischen Höfen schon nach vier Jahren zur Schlachtbank geführt werden müssten. Allein, die fixe Idee von Hochleistungskühen und Milchmaximierung sitzt noch tief, auch an den Schulen. Spricht er mit Kollegen in der Nachbarschaft, die selber unter dem Milchpreis leiden, hört er oft, eine Umstellung sei nicht möglich, sie hätten zu wenig Land, das direkt an den Hof angrenze. Sie hätten die falsche Kuhrasse. Und überhaupt, der Schweiz würde die Milch ausgehen, wenn alle so produzieren würden wie er. Für Hans Braun sind das Ausreden. »Bei dem Überschuss an Milch, den die Schweizer Bauern produzieren, gibt es noch sehr viel Platz für solche wie uns.« 30. J U N I 2 0 1 6 SCHWEIZ 11 D I E Z E I T No 2 8 Milch ist ein knappes Gut. Wenn sie bio ist N ein, es ist kein Scherz: Es gibt zu wenig Biomilch in der Schweiz. Jetzt, in den warmen Sommermonaten, wenn die Menschen Lust auf Mozzarella haben, auf Joghurt, Frischkäse, Quark, Lassi-Drinks oder Milchshakes. Doch just in dieser Zeit sind die Kühe weg, welche die Milch für all diese Frischprodukte liefern sollten. Sie sind auf der Alp. Ganze drei Monate lang. Dafür fehlt die Milch in den Großmolkereien im Mittelland. So auch bei der Züger Frischkäse AG, einem Familienunternehmen bei Wil. Seit Anfang Juni muss sie darum Biomilch aus Deutschland importieren: Vier Millionen Kilogramm bis Ende Sommer. Das hat ihr die eidgenössische Zollverwaltung erlaubt. Mit der Auflage, dass jeder Mozzarella und jeder Becher Frischkäse, der damit hergestellt wird, subito wieder exportiert wird. »Aktiver Veredelungsverkehr« nennt sich das Verfahren. Für Züger sei dies eine »absolute Notlösung« und das einzige Mittel, um Aufträge nicht zu verlieren. Das Branchenblatt Schweizer Bauer hatte die Geschichte vergangene Woche aufgeschnappt. Es ist absurd: Da klagen die Schweizer Bauern über viel zu niedrige Milchpreise (siehe nebenstehenden Artikel), und gleichzeitig muss eine Molkerei tonnenweise Milch importieren. Nicht nur an ein paar Tagen, sondern während mehrerer Monate. Christof Züger kann seinen Ärger nicht verbergen. Letztes Jahr habe man das Sommerloch gerade noch überbrücken können, sagt der CEO des fünftgrößten Milchverarbeiters in der Schweiz. »Doch jetzt ist fertig. Wir bekommen einfach nicht genügend Milch auf dem Schweizer Markt.« Seine Firma wächst und wächst. Längst ist sie raus aus der Bio-Nische. Ihre Produkte stehen in den Regalen der Großverteiler. Züger profitiert davon, dass 2007 der Käsemarkt in der Schweiz liberalisiert wurde. Heute verkauft er die Hälfte seiner Produktion ins Ausland. Doch der lange Alpsommer stört das Geschäft empfindlich. »Für uns sind in dieser Zeit 30 Prozent weniger Milch verfügbar«, sagt Züger. »Die Nachfrage von unseren Kunden ist aber um 10 bis 15 Prozent größer. Das geht einfach nicht auf.« Dass in der Schweiz ein Molkerei-CEO und die Chef-Bauern gleichzeitig jammern, hat seine Gründe. Die einheimische Milch wird auf zwei parallelen, voneinander fast unabhängigen Märkten produziert. Hier die konventionell hergestellte Milch, die mit rekordhohen Überkapazitäten und sinkenden Preisen kämpft. Dort die biologisch hergestellte Milch mit einem moderat wachsenden Anteil (5,6 Prozent) und einem seit fünf Jahren stabilen Preis. Zwei Drittel seiner Milch bezieht Christof Züger direkt bei den Bauern, den Rest über ver- Eine Ostschweizer Käserei importiert diesen Sommer 4 Millionen Kilogramm Milch aus dem Ausland. Weil die Schweizer Kühe in den Ferien sind VON SAR AH JÄGGI schiedene Handelsorganisationen. So auch beim Biomilchpool, dem größten Vermarkter von Biomilch im Land. Auf 550 Höfen sammeln seine Tanklaster die Milch ein und liefern sie an die Kunden. Geschäftsführer Cemil Klein kennt das Problem von Christof Züger. »Wir können seinen gewünschten Bedarf während der Sommermonate nicht vollständig decken, das ist eine Tatsache, an der sich leider kaum etwas ändern lässt«, sagt er. Die »extreme Saisonalität der Biomilch« ist für ihn ein Fakt. »Je nach Region, etwa im Berner Oberland oder im Kanton Graubünden, kracht die Produktion in den Sommermonaten richtiggehend zusammen«, sagt Klein. In manchen Gebieten wandert weit über die Hälfte der Tiere auf Sommeralpen: »Die Milch kommt gar nicht mehr ins Tal. Und mit der Umsetzung der Agrarpolitik 2014 bis 2017 ist die Alpung attraktiver geworden. In der Folge schicken noch mehr Bauern ihre Tiere in die Höhe.« Daran hat auch ein Aktionsplan wenig geändert, mit dem der ANZEIGE NORD-SÜD-ACHSE Diese Idee ist tot, mausetot Wer ist schuld am Brexit? Der Neoliberalismus VON ANITA FETZ Unterdessen ist England wieder eine KlassenRückblende in den Herbst 2008. Die Finanzwelt steht am Abgrund. Die master of the universe haben gesellschaft wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Die mit ihren wahnwitzigen Kasinospekulationen, ih- Superreichen aus aller Welt werden mit Billigsren luschen Finanzprodukten, die sich als warme teuern angezogen. Sie investieren ihre Milliarden Luft entpuppten, und ihren Lohnexzessen zahlrei- in Immobilien, Schlösser und Land. »Ausverkauf che Banken an den Abgrund getrieben. Die Regie- der Heimat« würde man das in der Schweiz nenrungen müssen die Institute mit Steuergeldern vor nen. In London kann sich ein normal verdienender bösen Marktwirtschaft schützen, auch in Eu- der Mensch längst keine Wohnung mehr leisten. ropa und der Schweiz. Weil sonst ein Domino- Geschweige denn ein Häuschen, wie es sich noch effekt die Weltwirtschaft erfasst und flachgelegt bis in die 1980er Jahre viele Arbeiter zusammenhätte. Keine der ach so kompetenten Rating-Agen- sparen konnten. Mit dem Finanzcrash zerbricht aber auch der turen, keiner der ach so gut gebildeten MainstreamÖkonomen hatte das vorausgesehen. Im Gegenteil. Glaube an das neoliberale Wirtschaftskonzept. Um ihre Banken zu retten, müssen sich viele Der berühmte Trickle-down-Effekt kommt nie Staaten massiv verschulden. Auf Kosten der Steuer- bei den normalen Menschen an. Ältere Briten zahler, auf Kosten der Rentner, auf Kosten der haben mehrheitlich für den Brexit gestimmt, Bildungs- und Gesundheitswesen. Die Arbeitslosig- denn sie haben am meisten verloren. Die Ökonomen warnten vor den wirtschaftlikeit schnellt auf neue Rekordhöhen, chen Folgen – ohne Erfolg. Ihre vor allem unter den Jungen. Eine Glaubwürdigkeit war auf ein Miniganze Generation wird ihrer Zukunftsmum geschrumpft, wie die Sonnenperspektiven beraubt. Dort, wo es scheindauer an einem englischen weniger Arbeitslose gibt, wie in Regentag. Deutschland und Großbritannien, Nichts ist einfacher, als in unwerden Millionen von Arbeitnehmern übersichtlichen Zeiten Ängste zu in prekäre, ungesicherte Jobs gedrängt. schüren: vor dem Bürokratiemonster Von den verantwortlichen BanAnita Fetz ist Brüssel oder vor den Ausländern. kern aber landet keiner hinter GitSP-Ständerätin Wenn das Menschen trifft, für die es ter. Kurz nach der Krise steigen die in Basel jahrelang nur bergab ging und die Boni wieder fröhlich, während der kein absehbares Ende ihrer Misere untere Mittelstand verarmt. Die Finanzkrise trifft England mit Wucht. erkennen, kann die Stimmung kippen. Das ist Den Boden dafür bereitete Margret Thatcher mit nicht neu, aber auch eine Lehre aus dem Brexitihrem Credo »There is no such thing as society«. Es Entscheid. Freuen kann sich die rechte Internationale, die gibt keine Gesellschaft, nur Individuen. Die Tories liberalisierten die Finanzindustrie, verlagerten wieder forsch auftritt. Doch nicht nur die EU hat Industriearbeitsplätze in billige Länder. Außer ein Problem, nicht nur Europa. Man darf beunruden Banken und Versicherungen in London und higt gespannt sein, was im Herbst in den USA der Kreativindustrie in einigen Städten gibt es passiert. Merkt Hillary Clinton, dass die Geister der heute in Großbritannien kaum mehr zukunfts- Reaganomics sie verfolgen – und sie einige Positioweisende Jobs. Und weil das Königreich weder nen von Bernie Sanders in ihr Programm aufnehflankierende Maßnahmen gegen Lohndumping men muss? Wenn nicht, dann kann es auch in den kennt noch eine ordentliche Berufsbildung hat, USA ein fassungsloses Erwachen geben. werden Hundertausende Arbeiter aus dem Ausland geholt, die handwerklich gut ausgebildet Nächste Woche in unserer Kolumne »Nord-Südsind und zu Hungerlöhnen schuften. Achse«: Der Tessiner Financier Tito Tettamanti Biomilchpool die Bauern mit einem finanziellen Zustupf in den Tälern und im Flachland halten wollte. Doch die Bauern ließen sich für einmal nicht vom Geld locken. »Wir haben von den Sommermilchförderungsbeiträgen eine ausgleichendere Wirkung erwartet«, sagt Klein. Ein möglicher Grund: »Die Alpprodukte generieren eine hohe Wertschöpfung. Außerdem gehört der Alpsommer für viele schlicht zum Jahreslauf.« Christof Züger hat nichts gegen Traditionen. Es fehlt ihm schlicht »an Marktorientierung im Biomilchzirkus. Was soll ich meinen Kunden sagen? Dass ihr Mozzarella erst im Winter geliefert wird, wenn die Kühe wieder im Tal sind?« Er wünscht sich »mehr mutige Bauern«, die daran glauben, »dass Bio Zukunft hat, und von der konventionellen Landwirtschaft auf ökologische Produktion umstellen«. Gerne würde er noch mehr Biobetriebe an sich binden. Doch das Echo auf einen Aufruf in der Lokalpresse war klein. »Und die Unterstützung von Bio Suisse fehlte vollends«, sagt Züger. Er glaubt, dass das Potenzial von Biomilch noch lange nicht ausgeschöpft ist. »Zehn Prozent Marktanteil sollten drinliegen.« Bei Bio Suisse ist man zurückhaltend. »Es hat insgesamt nicht zu wenig Biomilch«, sagt Sprecher Lukas Inderfurth. Der Dachverband der Schweizer Knospe-Betriebe berät Bauern, die ihre Betriebe auf Bio umstellen wollen. Und rät zur Vorsicht: »Sie sollen im Vorfeld Abnahmemöglichkeiten gründ- lich prüfen.« Aktuell gibt es Wartelisten von Bauern, die auf Bio umstellen möchten. Spricht man Inderfurth auf den Fall Züger an, sagt er: »Für Milchproduzenten ist es schwierig, kurzfristig auf einen solchen Anstieg der Nachfrage zu reagieren. Die Bauernbetriebe sind drauf angewiesen, dass ihre Milch ganzjährig abgenommen wird. Nicht nur in den Monaten, in denen Knappheit herrscht.« Also nicht nur im Sommer, da in der Ostschweizer Großmolkerei die Produktion heiß läuft, es die Kunden nach Mozzarella und Frischkäse gelüstet. Auch Biobauern wollen nichts lieber als langfristige Planungssicherheit. Christof Züger aber gibt nicht auf. Er sucht weiter nach Landwirten, die bereit sind, ihm dann ihre Biomilch zu liefern, wenn er sie benötigt. Ganz unromantisch. Ganz marktwirtschaftlich, ohne Absatzgarantie. Dafür während zwölf Monaten im Jahr. »Mein Angebot gilt!«, sagt er. Und was will Milchvermarkter Cemil Klein gegen das Sommermilch-Loch tun? »Mein Wunsch wäre, dass die Detailhändler etwas stärker Rücksicht nehmen würden auf die saisonalen Extreme. Etwa, indem sie zurückhaltend sind mit Aktionen für Frischprodukte. Das würde sicher helfen.« Oder anders gesagt: Liebe Konsumenten, esst euren Mozzarella bitte erst an Weihnachten, wenn die Kühe zurück aus den Bergferien sind. Zum Tomatensalat im Hochsommer passt auch ein rezenter Alpkäse. Mahlzeit! Fotos: Vitalina Rybakova/Getty Images; L. Hunziker (u.) Für den Mozzarella fehlt die Biomilch 12 SCHWEIZ 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Die Schweiz soll mutig sein? Dann müsste sie nun eigentlich der EU beitreten ... E s ist die Stunde der rechten Kraftmeier. Als es Europa in den frühen Freitagmorgenstunden dämmert, dass die Briten tatsächlich die Union verlassen wollen, schlürfen die Nationalkonservativen in der Schweiz ihren ersten Kaffee – und hauen in die Tasten. Sie haben diesen Tag herbeigesehnt. »Das britische Volk hat [...] eindrücklich gezeigt, dass es die Selbstbestimmung der Fremdbestimmung [...] vorzieht«, hallt es aus der Parteizentrale der SVP, die sich sonst aus fremden Händeln raushält. »Ein guter Tag für Großbritannien, für Europa – und für die Schweiz«, schreibt tags darauf der Chefredaktor der Basler Zeitung. »Es tut dieser EU gut, wenn die Briten die Religionsführer in Brüssel, Berlin und Paris auf den Boden der europäischen Realität holen«, kommentiert sein Kollege von der Schweiz am Sonntag. Es sind die immer gleichen, mal jüngeren, mal älteren Herren, die ihren Lesern erklären, was nun zu tun ist. In London, in Brüssel, vor allem aber in Bern. Es sind mal markigere, mal differenziertere Appelle an schweizerische, an männliche Tugenden. Es geht um Stärke, es geht um Durchhaltewillen – und es geht um: Mut. Es geht darum, die Chance zu packen, die der Brexit dem Land vermeintlich biete. »Die EU hat Angst vor der Schweiz«, donnert SVP-Chefstratege Christoph Blocher. »Ich bin überzeugt, dass das Verständnis der EU für das Schweizer Anliegen zunehmen wird«, meint Ökonom Reiner Eichenberger. ANZEIGE Und der Ex-Bankier Konrad Hummler orakelt: »Wir erweisen uns [...] als Europäer und sind bereit, eine europäische Alternative zur EU mitzugestalten.« Mitgestalten? Das wäre tatsächlich neu. Bisher stand die Schweiz in Europa, wenn es ums Entwerfen, um die große Politik ging, lieber nur dabei, statt mittendrin. Sie hat sich zwar über ein bilaterales Vertragswerk mit Brüssel verbunden, sie ist Mitglied in der Freihandels-Rumpforganisation Efta. Aber das muss reichen. Europäischer Wirtschaftsraum? Nein danke. Europäische Union? Satan, weiche! Wenige Tage vor dem Brexit zog die Schweiz sogar ihr offizielles EU-Beitrittsgesuch zurück, das seit 24 Jahren in einem Aktenschrank verstaubte. So viel Ordnung muss sein. Manch ein Schweizer rechts der Mitte träumt dieser Tage davon, dass sich der Kleinstaat mit dem mächtigen Großbritannien gegen die Europäische Union verbündet – und dabei gleich die ungeliebte Personenfreizügigkeit wegwischt. Eine Mini-Freihandelszone soll entstehen, gestützt von einem möglichst kleinen politischen Gerüst. Die Logik hinter dieser institutionalisierten Völkerfreundschaft: Als Inselstaaten, der kleine ein Eiland im Geist, der große auch eines auf dem Globus, versteht man sich bestens (ZEIT Nr. 25/16). Mutig ist das allerdings nicht. Mutig, das wäre ein anderer Schritt: ein Beitritt der Schweiz zur EU. Geht nicht! Chancenlos! Oder wie es kürzlich ein Ständerat in der Ratsdebatte formulierte: Nur noch »ein paar Wahnsinnige« wollen der EU beitreten. Alles klar. Vielleicht ist es eine Schnapsidee. Vielleicht steht die Union tatsächlich am Abgrund, wie das viele Schweizer – nicht nur rechte – seit Jahren behaupten. Wo immer das steht, drückt zwischen den Zeilen die perverse Lust am Scheitern eines Projekts durch, dem man auch hierzulande unglaublich viel verdankt. Das man aber kaum kennt. Aber die Gegenfrage sei erlaubt: Wer, wenn nicht die Schweiz, könnte Europa lehren, wie man ein politisches Gebilde demokratischer und föderalistischer gestaltet – wie man es näher zum Volk bringt? Die EU also genau in dieser Art und Weise reformiert, wie es nun Politiker quer über den Kontinent fordern. Von deutschen Sozialdemokraten über österreichische Rechtspopulisten und französische Grüne bis hin zu schottischen Nationalisten. Und wo könnte die Schweiz ihre guten Dienste am wirkungsvollsten einsetzen: im englischen Pub, mit Ukip-Führer Nigel Farage am Nebentisch – oder doch in der Brüsseler Zentrale? Eben. A lso wagen wir das Gedankenspiel. Die Schweiz könnte in der EU die Rolle spielen, die bisher die Briten hatten. Sie wäre der korinthenkackende Spielverderber, die liberale Nervensäge. Unter den Beamten in Brüssel kursiert der Witz, man sei eigentlich ganz froh, dass die Schweizer nicht in der EU sind. Sie würden vermutlich als Einzige sämtliche Richtlinien penibel einhalten – und darauf pochen, dass das alle anderen auch tun. Die Eidgenossenschaft in der EU, das wäre ein subversiver Akt. Sie wäre nämlich nicht nur wirtschaftsfreundlich wie die Briten, sondern auch eine Kämpferin gegen alle Versuche, immer noch mehr Macht ins Zentrum der Union zu verschieben. Helvetia als Schutzherrin des Subsidiaritätsprinzips: Löst die Probleme, beantwortet die Fragen dort, wo sie entstehen, dort, wo sie auftauchen. Den Klimawandel in Brüssel. Die Steuersätze in den Ländern. Die S-Bahn-Netze in den Regionen. Die Wohnbaupolitik in den Städten. Den Kredit für die neue Turnhalle in den Gemeinden. Vieles kann, aber nicht alles muss über den gleichen Leisten gebrochen werden. Klar, die Schweiz könnte nicht Kraft ihrer Größe, ihrer wirtschaftlichen Potenz den europäischen Laden aufmischen. Sie müsste das tun, worin sie seit der alten Eidgenossenschaft unglaublich gut ist: Banden bilden. Nach links, nach rechts, nach Süden und Norden. Auch mal übers Kreuz. All das würde sie nicht aus Selbstlosigkeit machen. Nein, sie würde natürlich davon profitieren. Die großen Umwälzungen, die auf Europa zukommen, werden auch an der Schweiz nicht vorbeigehen. Weil sie sich nicht von der Geografie trennen lassen. Da ist zuallererst die Migration. Hier ist die Schweiz bereits heute enger in Europa integriert, als es Großbritannien je war. Sie ist Teil des Schengen-Raums, sie hat das DublinAbkommen unterzeichnet. Aber sie sitzt nur am Katzentisch, wenn entschieden wird, wie man die Flüchtlinge retten, empfangen und verteilen will – oder wie man die EU-Außengrenzen schützt. Da ist aber auch die Sicherheitspolitik. Die EU wurde aus der Angst geboren, der Angst vor einem neuen Krieg. Nun, da im Osten ein neuer Russe neue Großmachtgelüste hegt, kocht diese alte Furcht wieder hoch. Oder TTIP. Kommt das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, bleibt für die Schweiz nur die eine Taktik: Vogel, friss oder stirb. Unterschreib unsere Bedingungen, die wir ausbaldowert haben – oder du darfst nicht mitmachen. W ie gesagt, das ist ein Gedankenspiel. Bevor die Schweiz in Brüssel ihre Mission antreten könnte, die EU zu verschweizern, müsste sie sich noch stärker europäisieren. Und das wäre schmerzhaft. Sie müsste nationales Recht streichen, das den EU-Verordnungen widerspricht. Das würde rund die Hälfte aller Bundesgesetze betreffen. Sie könnte neue EU-Verordnungen nicht mehr durch Volksentscheide infrage stellen. Die Verordnungen wirken, auch wenn sie nicht nationales Recht sind. Die Referenden würden geschwächt, das Initiativrecht gestutzt – beim Bund und in den Kantonen. Diese müssten bei einem EUBeitritt am stärksten leiden. So oder so: Die europapolitische Realität der Schweiz sieht ganz anders aus. Am Montag nach dem Brexit reist Staatssekretär Jacques de Watteville nach Brüssel. »Die bilateralen Verhandlungen gehen weiter«, sagt er. Eine neue Union, ein EU-Beitritt? Den Diplomaten kümmern diese Fragen nicht. Ihn beschäftigt, wie der Bundesrat, seine Chefs, die Masseneinwanderungsinitiative umsetzen kann, ohne die bilateralen Verträge zu gefährden. Zwei kurze Treffen, keine Resultate. Es ist ein hartes Erwachen. Foto [M]: ddp images ... denn in Brüssel könnte sie viel mehr bewirken als in einer neuen Union mit Großbritannien, von der die Nationalkonservativen träumen. Ein Gedankenspiel VON MATTHIAS DAUM DIE ZEIT Mit 3 Seiten ZEIT im Osten PREIS DEUTSCHLAND 4,90 € WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR 30. JUNI 2016 No 28 ZEIT im Osten Was tun, wenn die Falschen gewinnen? »Es ist wichtig, dass das geächtet wird« Der Politiker Michael Kretschmer über den Kampf gegen Crystal an Sachsens Grenzen Trump, Johnson, Le Pen: Was früher nur wenige äußerten, wird plötzlich mehrheitsfähig. Doch die westlichen Demokratien hätten Gegenmittel. Sie müssen aber wollen Seite 10 Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT POLITIK, WIRTSCHAFT, FEUILLETON EINWURF NACH DEM BREXIT Jugend heult Wie viel Volk darf’s denn sein? Sie weint. Tränen laufen über die Wangen. Eine junge Engländerin auf einem Foto im Netz. »I am heartbroken«, steht darunter. Es zeigt den Kummer, den wir gerade teilen: Europa-Schmerz. Wir, das sind die Jungen Europas, die Vielgereisten, die Vielvernetzten. Die, die dachten, am Ende gewinnen doch immer die Guten. Seit Freitag wissen wir: Das stimmt nicht. Es gibt einen Weg zurück in ein Angst-Europa. Jugend heult. Wer tröstet? Die Eltern nicht. Die kommen aus einer Generation, die in Großbritannien mit für den Brexit gesorgt hat: Die Mehrheit der über 50-Jährigen hat für den Austritt gestimmt. Aber wir sind selbst schuld. Zu wenige Junge haben abgestimmt. Das ist zu erklären: Wir mussten kämpfen, aber nur privat. Über Politik streiten? Anstrengend. In vielen Timelines ist das Leben ein Kuschel-Konsens. Zu lange haben wir gedacht, Demokratie sei ein Lebensgefühl und Ironie unser Schutz. Aber wir tun doch was! Letzten Sommer, als die Flüchtlinge kamen. Nach dem Helfen ging es zurück in die Komfortzone. Dass Europa für viele keine Komfortzone mehr ist, haben wir zu spät gemerkt. Unser Engagement ist atomisiert, verteilt auf Netzwerke. Wie stellt man eine Gemeinschaft her, wenn man Parteien langweilig findet? Wir müssen verstehen: Solange man den Institutionen nichts als virtuelle Empörung entgegensetzen kann, sollte man sie ernst nehmen. Wer sich nur darum sorgt, was in seinem Viertel, in seinem Freundeskreis, bei seiner Arbeit passiert, wer nur auf die eigene Karriere und auf die Familie schaut, der ist nicht unpolitisch – das ist der eigentliche Schock: Wir sind politisch, ob wir wollen oder nicht. Denn Europa ist kein Ich, sondern ein Wir. Und wenn wir nicht handeln, tun es die anderen. Es gibt einen Gegner, die Europa-Hasser. Sie müssen wir endlich ernst nehmen. Er ist bestens organisiert, über Ländergrenzen hinweg, er hat einen Slogan: Take back control, »Gewinnt die Kontrolle zurück«. Take back control ist ein verdammt guter Slogan – nur für die falschen Leute. Wir sollten ihn uns zurückholen. Für unser Europa. KILIAN TROTIER Der Autor, 32, ist stellvertretender Ressortleiter der Hamburg-Seiten der ZEIT Den Eliten bleibt nichts anderes übrig, als besser zuzuhören und hinzuschauen W enn in Großbritannien die Brexit-Befürworter siegen, in Österreich ein FPÖ-Mann nur um 30 000 Stimmen an der Präsidentschaft vorbeischrammt oder in einigen deutschen Bundesländern die AfD in Umfragen plötzlich bei zwanzig Prozent liegt – dann schlägt die Stunde der Welterklärer. Am tröstlichsten ist noch die Interpretation, dass Zeiten bedeutender Umbrüche immer eine hohe Zahl von Unzufriedenen und Verunsicherten hervorbrächten, dass das »Rendezvous mit der Globalisierung« (Wolfgang Schäuble) Protestparteien rechts wie links erstarken lasse, dass alles ein vorübergehendes Phänomen sei. Das kann man nur hoffen. Denn wenig spricht dafür, dass die Zwietracht in fast allen westlichen Gesellschaften bald nachlassen wird. Starke Reizthemen wie die zunehmende Ungleichheit von Arm und Reich, vor allem aber der massenhafte Zustrom von Flüchtlingen bergen so viel negative Energie, dass sie sich immer wieder mit Hass und Unmut aufladen können. Spätestens seit dem Votum für den Brexit ist das Entsetzen groß. Und aufseiten jener, die sich der europäischen Idee verbunden fühlen, ist nun endlich Kampfeslust auszumachen, jedenfalls verbal. Auch das kann man sich nur wünschen. Eine Frage allerdings bleibt offen: Wie holt man jene Bürger zurück, die sich partout nicht überzeugen lassen und andere Prioritäten haben? Was tun, wenn die Falschen gewinnen? Die Frage drängt sich auf, aber sie kann auch eine Falle sein. Dann nämlich, wenn sie eine Spaltung akzentuiert, statt sie zu überwinden. Wenn also mit den Richtigen die aufgeklärten und politisch interessierten, weltläufig und liberal gesinnten Menschen und mit den Falschen die angstgetriebenen, politisch unterbelichteten, ressentimentgeladenen Leute gemeint sind, wahlweise die Zukurzgekommenen, die Alten, die weißen Männer oder die Landpomeranzen, denen man am besten keine Ja/NeinFragen in Form eines Referendums stellen sollte. Wer die Welt so sieht, der muss auf Volkserziehung setzen, nach dem Motto: Erkenne, wie irrational deine Angst vor Flüchtlingen ist! Darum auch das wiederkehrende Stereotyp, wer Probleme der Zuwanderung allzu deutlich benenne oder gar auf Ängste zu viel Rücksicht nehme, stärke die Populisten. Spätestens nach dem Brexit spricht aber vieles dafür, dass wir mit solchen Mitteln nicht weiterkommen, dass stattdessen die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Eliten ihre Haltung zum Volk überdenken müssen. Was wir nämlich heute erleben, sind keine einzelnen politischen Streitfälle, es ist vielmehr ein Zusammenprall der politischen Kulturen und Lebenswelten – und das vor allem zwischen Inländern und Inländern. Gelingt es nicht, den Graben, der sich in fast allen westlichen Ländern aufgetan hat, zu überbrücken, drohen die aus Unverständnis und Unzufriedenheit erwachsenen neuen Bewegungen vieles zum Einsturz zu bringen, was über Jahrzehnte an Gutem und Bewahrenswertem aufgebaut wurde. Dazu gehört auch, Gewalt gegenüber und Diskriminierung von Andersdenkenden zu ächten, eine der großen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte und keinesfalls immer gleichzusetzen mit politischer Korrektheit. Beinahe täglich verschiebt sich der roher und abstoßender werdende Ton weiter über die Grenze des Erträglichen hinaus – von Trumps Beleidigung der Mexikaner als Vergewaltiger bis zu Höckes unsäglichem Wort der »Tat-Elite«, das von der SS gebraucht wurde. Es ist unmöglich, das Desaster des Brexits und das Erstarken populistischer Bewegungen in Europa und Amerika losgelöst von Fehlern des Establishments zu sehen. Wie in der vorigen Ausgabe der ZEIT ausführlich beschrieben, hat der in Harvard lehrende britische Politikprofessor Niall Ferguson kürzlich fünf Faktoren benannt, die zusammenwirken, wenn Populisten stark werden: 1. ansteigende Einwanderungszahlen, 2. große Ungleichheit, 3. der Glaube, dass es korrupt zugehe und Eliten dies für sich nutzten, 4. eine große Finanzkrise (wie die von 2008) oder ein wirtschaftlicher Schock und 5. schließlich ein Demagoge, der die Unzufriedenheit der Masse nutzt (Fergusons Rede gibt es in voller Länge auf YouTube). Für Demagogen mit Charisma können die Eliten nichts, aber man kann Ferguson nur schwer widersprechen: Viele Leute fühlen sich seit Jahren in ihrem Gerechtigkeitsempfinden beleidigt und von Teilen der Politik für dumm verkauft. Kein einziger Topmanager der USBank Lehman Brothers, deren Pleite 2008 die Finanzkrise auslöste, ist bis heute verurteilt worden. Keiner der Banker, die im Boom noch als Stars gefeiert worden waren, musste nach dem Platzen der Blase wirklich haften. Stattdessen kam es zu milliardenhohen Interventionen durch die Zentralbanken, an deren Folgen heute VON GIOVANNI DI LORENZO Kleinsparer nicht nur in Deutschland leiden. Die deutsche Flüchtlingspolitik ist ein Musterbeispiel dafür, was Regierungen im Guten wie im Schlechten ausrichten können. Gut war im September 2015 die spontane, großzügige Hilfe für Menschen, die Krieg und Tod entflohen sind. Dies sollte ursprünglich eine einmalige Aktion sein. Doch als sie dann aus dem Ruder lief, wurde sie mit nicht mehr glaubwürdigen Argumenten verteidigt: dass nämlich die Flüchtlinge eh alle unterwegs gewesen seien und es keinen Anreiz aus Deutschland gegeben habe, zu uns zu kommen. Dass es nicht möglich sei, die Grenzen zu schließen, und so weiter. Durch diese Widersprüche entstehen die Bruchstellen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, nicht an der Frage, ob man Kriegsflüchtlinge aufnimmt – das will eine Mehrheit der Menschen von Herzen gern weiter tun. Nur eben nicht ungefragt, unkontrolliert und ohne eine glaubwürdige und leidenschaftliche Begründung. Weil Zweifel und Ängste als vordemokratisch und irrational kleingeredet oder diffamiert worden sind, konnten in so vielen Ländern furchterregende Bewegungen groß werden, die nach dem Brexit vermutlich noch mehr Auftrieb erhalten. Nun hat man das Gefühl, dass das Volk seine gewählten Vertreter vor sich hertreibt. Aber was sind das für Konstellationen: Regierungen und Eliten, die ihr eigenes Volk fürchten? Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als künftig besser hinzuschauen und hinzuhören. Krisen und Flüchtlingswellen haben immer Ursachen, sie werden nie ganz zu vermeiden sein. Was man aber sehr wohl beeinflussen kann, ist die Verhältnismäßigkeit der daraus erwachsenden Maßnahmen und die Glaubwürdigkeit jener, die sie verkörpern. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, dem nun wirklich niemand ernsthaft vorhalten könnte, die europäischen Ideale gut zu vermitteln, und auch die Bundeskanzlerin haben gerade in diesen Tagen versucht, die Lage als leicht verschärfte Normalität zu beschreiben. Wir leben aber in einer Zeit des Disruptiven, der allgemeinen Zerstörung: Gutes, Bewährtes droht weggefegt zu werden – von der repräsentativen Demokratie über ein vereintes Europa bis hin zu toleranten Gesellschaften. Wer so weitermacht, als sei nichts geschehen, mag auf der richtigen Seite stehen, betreibt aber das Geschäft der Falschen. Schlafzimmer sind gefährliche Orte Die Reform des Sexualstrafrechts ist unnötig und verhängnisvoll Ein Essay von Sabine Rückert Feuilleton, Seite 39 PROMINENT IGNORIERT Füße im Feuer Der amerikanische Motivationstrainer Anthony Robbins hat in Dallas 7000 Gläubige versammelt und ihnen gesagt, mit hinreichender Willenskraft könnten sie über glühende Kohlen gehen. Etwa 30 verbrannten sich dabei die Füße, fünf kamen in die Klinik. Von der heiligen Kunigunde und von der heiligen Christina wird erzählt, sie hätten Glut und Feuer unversehrt überstanden. Merke: Es ist nicht ganz leicht, heilig zu werden. GRN. Kleine Fotos (v. o.): Stephan Floss für DIE ZEIT; Millennium Images/Look-foto; action press Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DK 49,00/FIN 7,50/N 66,00/E 6,10/ CAN 6,30/F 6,10/NL 5,30/ A 5,00/CH 7.30/I 6,10/GR 6,70/ B 5,30/P 6,30/L 5,30/H 2090,00 o N 28 7 1. J A H RG A N G C 7451 C www.zeit.de/audio 10 ZEIT IM OSTEN 30. J U N I 2016 Die Droge, die das Land überschwemmt Als der Grüne Volker Beck mit Drogen, mutmaßlich Crystal, erwischt worden war, twitterte Sachsens CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer einen hämischen Satz: »Und Tschüss«. Er bereut seinen Tweet heute, aber er will ihn auch erklären: Nirgendwo sonst gibt es größere Probleme mit Crystal als in der Lausitz, Kretschmers Heimat. Hier spricht er darüber. Außerdem auf dieser Doppelseite: Ein Interview mit der Psychiaterin Loretta Farhat, die in der Lausitz Drogensüchtige behandelt – über die Mythen, die Crystal Meth umgeben D I E Z E I T No 2 8 Michael Kretschmer daheim in der Lausitz. Der 41Jährige ist VizeFraktionschef der CDU im Bundestag »Es ist wichtig, dass Crystal geächtet wird« Kaum ein politisches Thema bewegt den Bundestagsabgeordneten Michael Kretschmer so sehr wie der Kampf gegen diese Droge: Denn von seiner Heimat aus, der ostsächsischen Grenzregion, verbreitet sich Crystal über Deutschland. Ein Gespräch DIE ZEIT: Herr Kretschmer, als der Bundestags- abgeordnete Volker Beck vor einigen Monaten mit Drogen, mutmaßlich mit Crystal Meth, erwischt worden war, twitterten Sie: »Und Tschüss«. Sie ernteten dafür einen Sturm der Entrüstung. Michael Kretschmer: Dieser Tweet war nicht richtig, nicht empathisch. Und er hat sich für viele Leute hämisch angehört. Ich saß in einer Kreistagssitzung und habe einfach drauflosgeschrieben. Es machte den Eindruck, als wäre ich schadenfroh. Ich habe das nicht so gemeint. ZEIT: Warum haben Sie das geschrieben? Kretschmer: Weil Crystal Meth ein Thema ist, das mich nicht mehr kaltlässt. Das ist eine Droge, die so viel Elend in dieses Land bringt. Es gibt in der Region, in der ich lebe – in der Lausitz –, Mütter, die schwer geschädigte Kinder auf die Welt bringen. Wegen Crystal. Es gibt Hunderte Menschen, die in unseren Suchtkliniken behandelt werden. Sehen Sie: Politiker lehnen es ab, Vorbild zu sein. Aber sie sind es. Das Private ist politisch, gerade bei Personen, die in der Öffentlichkeit stehen. Die Menschen bekommen mit, was wir tun. Wir müssen uns moralisch verhalten. ZEIT: Anders als Herr Beck, meinen Sie? Kretschmer: Ja. Wenn er, wie kolportiert wird, Crystal bei sich hatte und darüber nun nonchalant hinweggeht, sich nicht erklärt? Stattdessen kurz darauf wieder seiner Arbeit nachgeht, als habe es sich um eine Lappalie gehandelt? Dann finde ich das unmöglich. Hier in der Lausitz gibt es viele Menschen, die gegen Crystal wirklich kämpfen. Volker Beck hat dem Engagement dieser Leute geschadet. ZEIT: Sind Sie Herrn Beck begegnet, seit Sie Ihren Tweet abgesetzt haben? Kretschmer: Wir haben noch nicht persönlich gesprochen. Aber ich werde ihm noch sagen, dass mir mein Tweet leidtut. Das ist die menschliche Seite der Sache. Aber politisch will ich ihm auch sagen, wie ich sein Verhalten finde. ANZEIGE 80 Jahren nichts anderes mehr tun können, als Wasser von einem Glas ins andere zu löffeln. zieren müssen? Was genau sagen Sie ihm da? Kretschmer: Crystal Meth ist nicht irgendeine ZEIT: Ist Crystal ein regionales Problem? Droge. Hier in der Nähe fahren täglich die Dealer Kretschmer: Nein. Wir haben es hier zwar wegen über die Grenze und bringen den Stoff auch nach der Grenznähe geballt. Aber es breitet sich in ganz Berlin, offenbar landet er sogar bei Bundestags- Deutschland aus. Das Zeug wird in Hinterzimmerabgeordneten. Ich frage mich: Was macht das mit laboren zusammengemixt, vor allem in Tschechien. den Leuten, denen wir die ganze Zeit sagen, nimm Mal sind das größere Labore, mal scheußliche diese Droge nicht, die ist gefährlich, das endet im Erdlöcher. Die Polizei hat mir berichtet, dass die K. o.! Und die jetzt sehen: Wieso, passiert doch gar Menschen, die Crystal herstellen, zum Teil in nichts! Es geht einfach weiter! furchtbaren Verhältnissen leben. Nur wenige KiloZEIT: Wie oft begegnet Ihnen das Thema Crystal? meter von hier entfernt. Kretschmer: Ständig. Die Droge kommt aus Tsche- ZEIT: Dann kauft man die Drogen an der Grenze? chien nach Deutschland. Die Lausitz, meine Hei- Kretschmer: Vor allem auf den Vietnamesenmärkmat, ist vermutlich jene Region, in der Crystal das ten. Crystal ist hier im grenznahen Gebiet spottgrößte Problem darstellt. Mir begegnet das bei je- billig. Das Gramm kostet zwischen 10 und 20 dem Schulbesuch, den ich mache. Es gibt kaum Euro. Und es lässt sich wahnsinniges Geld damit eine Schule, die keine Probleme damit hätte. Ich verdienen. In Leipzig kostet das Gramm schon 70, dachte eine Zeit lang, das werde alles übertrieben. 80, 90 Euro. In Berlin noch mehr. Deshalb gibt es diesen Ameisenhandel. Aber das stimmt nicht. ZEIT: Was brachte Sie zum ZEIT: Ameisenhandel? »Politiker lehnen es ab, Umdenken? Kretschmer: Ja. Das ist ein Geschäftsmodell. Leute gehen Kretschmer: Viele Einzelfälle. Vorbild zu sein. Aber sie über die Grenze, kaufen ein Dazu kann ich Ihnen die Gesind es. Wir müssen uns paar Gramm, fahren nach schichte eines Mädchens aus Berlin oder Hamburg, brinLöbau erzählen, einer Gymmoralisch verhalten.« gen anderen Leuten was mit. nasiastin. Als sie zum ersten Michael Kretschmer Wie die Ameisen. Mal wegen ihrer CrystalSucht in die Klinik kam, ZEIT: Wann ist Ihnen das konnte man sie behandeln. Aber sie erlitt einen Crystal-Problem erstmals untergekommen? Rückfall. Als sie das zweite Mal ins Krankenhaus Kretschmer: Ich glaube, das ist jetzt drei oder vier musste, war nichts mehr zu machen. Ihr Hirn ist Jahre her. Patienten in den Entzugskliniken hier, das schwer geschädigt. Sie sitzt den ganzen Tag an ei- waren früher Leute, die in der DDR-Zeit ihren nem Tisch und löffelt Wasser von einem Glas ins Mann gestanden hatten, dann ihren Job verloren, in andere. Zu mehr ist sie nicht mehr imstande. Ein den Alkohol abrutschten. Aber eines Tages, als ich Mädchen von 17, 18 Jahren. Crystal macht inner- so eine Einrichtung besucht habe, fiel mir eine Frau halb kurzer Zeit abhängig, schädigt das Gehirn. Das auf, die sich so ganz anders verhielt. Ich glaube, das ist das Gefährliche an dieser Droge: Selbst wenn war in Weißwasser, eine junge Frau, 22 oder 23 man clean wird, kann es sein, dass man nie wieder Jahre alt, saß da zwischen all den 60-Jährigen. Sie so weiterleben wird wie vorher. Dieses Mädchen ist war apathisch – und so schwer geschädigt, dass sie ein Pflegefall, wird bis zu seinem Tod mit vielleicht die Klinik nicht mehr verlassen konnte. ZEIT: Sie meinen, er hätte sich deutlicher distan- ZEIT: Begegnet Ihnen das Thema auch privat? Kretschmer: Ja, wie vielen Menschen hier. Man hört immer wieder von Fällen aus dem Bekanntenkreis. Wenn ich mit Leuten über das Thema spreche, gibt es immer irgendwen, der sagt: Ich kenne auch jemanden! Auch ich kenne Leute, die mit Crystal zu tun hatten. Sei es, weil es jemanden in deren Familie gibt, der das Zeug nimmt. Sei es, weil sie sich um Leute kümmern, die das genommen haben. Der letzte tragische Fall, von dem ich gehört habe, handelt von einer jungen Mutter, die so schlimm abhängig ist, dass sie sich nicht mehr um ihr Kind kümmern kann. Nun lebt das Kind in einer Pflegefamilie, die ich kenne. Am tragischsten finde ich die jungen Eltern, die Crystal nehmen. ZEIT: Kommt das oft vor? Kretschmer: Viele Ärzte erzählen das. Die Krankenhäuser erleben inzwischen oft Geburten von Crystal-geschädigten Kindern. Wenn die auf die Welt kommen, sind sie total hibbelig, völlig durch den Wind. Aber viele Krankenhäuser schauen jetzt auch genauer hin, erkennen abhängige Mütter besser und können sich darauf einstellen. ZEIT: Ihre Kinder sind noch ziemlich klein. Sprechen Sie mit denen über Drogen? Kretschmer: Ja, es ist die größte Angst, dass sie so etwas mal nehmen – aus Abenteuerlust, aus Unbedarftheit. Es gibt Siebtklässler, die mit Crystal erwischt werden. Als Eltern hat man richtig Horror davor. Da bist du glücklich über die Geburt deines Kindes, tust alles dafür, dass es anständig groß wird, dass es nicht vom Balkon fällt oder vom Auto überfahren wird. Und dann kommt es mit Drogen in Kontakt? Wir müssen Kindern beibringen, stark zu sein und »Nein« zu sagen. ZEIT: Was können Sie politisch machen? Kretschmer: Was wir können – die Schulsozialarbeit stärken, die Polizei an der Grenze einsetzen, Suchtberatung ausbauen, Aufklärungsinitiativen starten. Sachsen gibt jedes Jahr mehr Geld dafür aus. Unser sächsischer Justizminister ist auf einem guten Weg, mit Tschechien und Polen zu Verabredungen zu kommen, die die Produktion und den Export von Crystal künftig erschweren. Da geht es vor allem darum, den Verfolgungsdruck auf die Produzenten zu erhöhen. Und wir müssen eben aufklären. Jeder muss selber wissen, ob er das Zeug nimmt oder nicht. Deswegen ist es wichtig, dass Crystal geächtet wird. Da komme ich wieder zur Debatte über meine Kollegen: Wenn da womöglich schon der zweite Bundestagsabgeordnete mit dieser Droge geschnappt wird, können wir uns solche Aufklärungsinitiativen auch sparen. ZEIT: Sie spielen auch auf den SPD-Politiker Michael Hartmann an, der vor einiger Zeit mit Crystal erwischt wurde. Hartmann hat seinen Konsum mit Arbeitssucht und einer Lebenskrise erklärt. Kann man das sogar ein Stück weit verstehen? Viele Politiker stehen permanent unter Volllast. Kretschmer: Ich bitte Sie. Das ist keine Entschuldigung. Es gibt mehr als 600 Abgeordnete. Ein überwiegender Teil dieser Leute kann seine Arbeit ausüben, ohne Drogen zu nehmen. Keiner muss diesen Job machen. Es gibt auch Chefärzte, Spitzenmanager und Journalisten, die viel Stress haben. Wenn man seine Arbeit nur schafft, weil man Drogen nimmt, dann läuft etwas grundsätzlich falsch. Dann sollte man sich hinterfragen. Und ich stelle mir noch eine andere Frage. ZEIT: Welche denn? Kretschmer: Was bedeutet das im Miteinander von uns Abgeordneten, wenn es darunter vielleicht welche gibt, die Drogen nehmen? Muss ich mich bei Debatten dann nicht permanent fragen, ob ich diejenige oder denjenigen jetzt ernst nehmen kann? Ich denke immer: Hat der gerade was genommen oder nicht? Diesem Zweifel dürfen sich Politiker nicht aussetzen. Die Fragen stellten Anne Hähnig und Martin Machowecz 30. J U N I 2 0 1 6 ZEIT IM OSTEN 11 D I E Z E I T No 2 8 OSTKURVE Loretta Farhat, 57, ist Chefärztin der Klinik für Psychiatrie in Großschweidnitz bei Görlitz Fotos: Stephan Floss für DIE ZEIT; kl. Foto:Gaby Gerster (r.) »Wer das nimmt, fühlt sich stark« Für die Ärztin Loretta Farhat war Crystal Meth vor einiger Zeit noch ein Randthema – nun behandelt sie Hunderte Süchtige im Jahr. Ein Interview über die Frage, warum Menschen ausgerechnet zu dieser Droge greifen DIE ZEIT: Frau Farhat, noch bis vor wenigen ZEIT: Crystal gilt als eine der gefährlichsten DroJahren hatte kaum einer je von Crystal gehört. gen. Wenn man sich schon aufputscht – wieso Inzwischen ist das eine der am weitesten verbrei- ausgerechnet damit? teten Drogen. Warum ausgerechnet Crystal? Farhat: Ein Problem sind die vielen CrystalLoretta Farhat: Weil keine andere Droge so eine Mythen. Manche dämonisieren es, manche verWirkung hat. Wer Crystal nimmt, wird erst ein- harmlosen es – beides finde ich falsch. Ein Mythos mal sehr, sehr glücklich. Und gleichzeitig un- ist zum Beispiel, dass jeder nach dem ersten glaublich leistungsfähig. Ich kenne Patienten, die Crystal-Konsum zwangsläufig körperlich abhänunter ihrer Sucht gelitten, die sie überwunden gig werde. Die Leute werden nicht unbedingt sohaben. Und die dennoch fast ein bisschen weh- fort körperlich abhängig, sondern eher psychisch: mütig zurückblicken auf die Zeit ihrer Abhän- Sie wollen dieses Glücksgefühl wieder erleben. gigkeit. Obwohl Crystal sie fast zerstört hätte! Meine erste Crystal-Patientin war eine OPZEIT: Sie sind Chefärztin am Fachkrankenhaus Krankenschwester, knapp 30 Jahre alt. Sie nahm Großschweidnitz in der Lausitz, das spezialisiert Crystal, weil sie arbeiten und Party machen wollte. ist auf psychische Krankheiten. Wann hatten Sie Bis morgens halb vier hat sie gefeiert, und um acht Uhr stand sie pünktlich im OP. Diese Frau sagte erstmals einen Crystal-Fall in der Klinik? Farhat: 2002 war das. Obwohl ich schon sehr viel mir: Das war meine schönste Zeit. Wer Crystal länger als Ärztin arbeite, schon seit Jahrzehnten nimmt, fühlt sich stark, klug; alles, was man tut, mit Suchterkrankungen zu tun habe. Ich wusste, fühlt sich erfüllend an – selbst die banalste Aufgabe. Unter Crystal finden dass Crystal schon im ZweiSie sogar Geschirrspülen erten Weltkrieg bei Soldaten »Unter Crystal hebend und berauschend. eingesetzt worden war, dass später in Tschechien frusZEIT: Wie ist das medizifinden Sie sogar trierte 68er ihren Trost in nisch zu erklären? Geschirrspülen erhebend dieser Droge gesucht hatten. Farhat: Crystal zwingt den Aber selbst vor 15 Jahren war Körper, zehnmal mehr vom und berauschend« Crystal in unserem KrankenGlückshormon Dopamin Loretta Farhat haus noch ein Randthema. auszuschütten, als er das normalerweise tut. ZEIT: Wie ging es nach dem ersten Crystal-Fall weiter? ZEIT: Wie lange dauert es, bis die Konsumenten Farhat: Nach 2002 hatten wir jedes Jahr einige gesundheitliche Probleme bekommen? wenige Crystal-Abhängige in der Klinik. Aber Farhat: Die Krankenschwester, von der ich er2010 stieg die Zahl plötzlich sprunghaft an. Der zählt habe, bekam nach einem halben Jahr HalDrogenmarkt wurde von billigem Crystal aus luzinationen. Sie sah und hörte Dinge und GeTschechien überschwemmt. Weil wir hier sehr stalten, die nicht da waren. nah an der Grenze liegen, traf es unsere Region ZEIT: Was sind die häufigsten Nebenwirkungen? sofort heftig. Seit 2014 betreuen wir jährlich zwi- Farhat: Nach einigen Monaten Konsum bekomschen 350 und 400 Crystal-Patienten. Und es men die meisten Konsumenten Hautentzündunwerden ja nur die schlimmsten Fälle bei uns ein- gen und Karies. Es ist kein Mythos, dass viele gewiesen! Die Dunkelziffer kennen wir nicht. In schon binnen weniger Jahre ein lückenhaftes Geunserer Forensischen Klinik, in der süchtige Straf- biss haben. Hinzu kommen schlechte Leber- und täter untergebracht sind, ist Crystal-Abhängigkeit Nierenwerte, Bluthochdruck, epileptische Aninzwischen die häufigste Erkrankung. fälle. Die körperlichen Schäden können wirklich ZEIT: 2014 gestand der Politiker Michael Hart- beträchtlich sein. Außerdem kommt es häufig zu mann, Crystal konsumiert zu haben. Anfang die- Psychosen. Die Patienten leiden oft unter Wahnses Jahres wurde der Grüne Volker Beck mit einer vorstellungen. Es kam schon vor, dass ein KonDroge, mutmaßlich Crystal, erwischt. Überrascht sument aggressiv wurde und ein Messer zückte. es Sie, dass sogar Spitzenpolitiker dazu greifen? ZEIT: Es heißt, Crystal könne das Gehirn so sehr Farhat: Bedauerlicherweise – nein. Viele würden schädigen, dass manche Patienten nie wieder sich wundern, wer alles Crystal nimmt. Das sind selbstständig leben können. Stimmt das? nicht nur Menschen aus problematischen Schich- Farhat: Ja, solche Fälle haben wir auch erlebt. ten, sondern auch gut situierte Leute. Studenten, Wir konnten nichts anderes tun, als den Patienauch Selbstständige. Einer unserer Patienten, An- ten nach der Entgiftung einen Heimplatz zu verfang 30, war gerade dabei gewesen, seinen Meister mitteln. Das sind aber nur wenige Fälle. Psychozu machen und nebenbei den Betrieb der Eltern tische Symptome behandeln wir mit Neuroleptizu übernehmen. Er nutzte den Stoff, um sich ka – das sind Medikamente, die bei schizophrenachts um die Abrechnungen kümmern zu kön- nen Erkrankungen zum Einsatz kommen. Aber nen. Crystal ist eine Droge für Menschen, die es gibt die Gefahr, dass die psychische Krankheit mehr schaffen wollen, als sie können. Einige von sich verselbstständigt. Dass die Patienten also ein ihnen haben nie zuvor Drogen konsumiert. Leben lang darunter leiden. ZEIT: Wie wirkt Crystal? ZEIT: Es gibt diese Horrorbilder im Internet, die Farhat: Crystal bedeutet, um es mal auf den Crystal-Opfer vor und nach ihrer Sucht zeigen. Punkt zu bringen: mehr Arbeit, mehr Party, Wie realistisch sind diese Aufnahmen? mehr Sex. Letzteres ist übrigens der große Unter- Farhat: Die Aufnahmen zeigen eine krassere Entschied zu Kokain. Langfristiger Kokaingenuss wicklung, als ich sie bei Patienten beobachtet hemmt die Libido, Crystal steigert das sexuelle habe. Aber sie veranschaulichen, was tatsächlich Verlangen permanent. Anfangs kann man feiern passiert, nämlich dass Crystal-Konsumenten viel wie verrückt und arbeiten wie ein Held. Ein Pa- schneller altern als normal. tient sagte mal: Mit Crystal hab ich Urlaub im ZEIT: Können Sie die meisten Patienten denn Kopf. Alle Sorgen sind vergessen. Man hat weni- heilen – oder werden viele rückfällig? ger Hunger, wird schlank, braucht wenig Schlaf. Farhat: Abhängig bleiben sie immer, genauso wie Manche Patienten sagen, sie hätten bis zu zwei ein trockener Alkoholiker. Aber man kann lerWochen nicht geschlafen. Das muss später wie- nen, ohne die Droge zu leben. Heikler als die der wettgemacht werden. Wenn die Patienten zu Entgiftung bei uns im Krankenhaus ist der Mouns kommen, schlafen sie oft erst einmal drei ment, in dem unsere Patienten wieder nach HauTage durch. Die Ruhe muss man ihnen dann se kommen, in ihr altes Umfeld, zu ihren alten auch gönnen. Freunden. Oh, Bud, komm wieder! ZEIT: Wo haben Ihre Patienten den Stoff ei- gentlich her? Farhat: Vom Vietnamesenmarkt an der tschechischen Grenze. Sie glauben nicht, wie einfach das ist. Sie brauchen nur »Crystal« zu sagen oder ein Schnupf-Zeichen zu machen, dann bekommen sie es. Eine Nachbarin von mir, 75 Jahre alt, war kürzlich auf so einem Markt. Mit Drogen hat sie nicht das Geringste zu tun. Selbst ihr wurde Crystal angeboten – einfach so. Das Zeug hat einen erstaunlichen Reinheitsgrad. Das heißt, es muss sehr professionell, fast industriell hergestellt werden. Ich frage mich: Wann gehen die tschechischen Behörden aktiver dagegen vor? ZEIT: Ist Crystal also auch deshalb so billig, weil es industriell gefertigt wird? Farhat: Offensichtlich ja. Wenn Sie es an der Grenze kaufen, sozusagen fast beim Erzeuger, dann kostet ein Gramm mitunter weniger als 20 ANZEIGE Euro. Ein Anfänger konsumiert pro Dosis gerade einmal 0,1 Gramm. In Berlin kostet das Gramm schon mindestens das Fünffache. Der Profit ist verrückt. Ein Dealer kann damit locker mehr als 10 000 Euro pro Monat verdienen. ZEIT: Hat es eigentlich eine Wirkung auf Ihre Arbeit, auf Ihre Patienten, wenn ein Bundestagsabgeordneter mit Crystal erwischt wird? Farhat: Ja, und zwar eine fatale. Unsere Patienten sagen natürlich: Wenn sogar der das nimmt, kann es ja nicht so schlimm sein. Ich erwarte, dass Politiker, die weitreichende Entscheidungen treffen, kein Suchtproblem haben und nicht zugedröhnt sind. Wenn ein Arzt Kettenraucher ist, dann wird das in der Bevölkerung auch kritisch gesehen. Aus meiner Sicht nachvollziehbar. Die Fragen stellten Anne Hähnig und Martin Machowecz Was wäre nicht alles zu berichten in diesen Tagen ... Die Isländer, die als kleines gallisches Dorf Geschichte schreiben, Schüsse und Tote und Schwerverletzte auf unserer Eisenbahnstraße in L., Syndikate, die sich bekriegen – auch eine Art von Kapitalismus. Dann Sebnitz, immer Sebnitz, dafür ist Chemie Leipzig aufgestiegen (damit hat die Stadt L. diesen Sommer drei Fußballaufsteiger, RB, Lok und Chemie, der Bürgermeister war aber nur bei RB ... auch eine Art von Kapitalismus). Aber was soll man weiter lamentieren, wenn der große Bud Spencer von uns gegangen ist. Natürlich lebt er ewig, der Bomber, der Himmelhund, der vom Affen Gebissene, der Banana Joe, der bereits vor 89/90 das Land vereinte, im Osten wie im Westen Millionen Kindheiten begleitete. Schlangen vor den Kinos und leere Spielplätze, wenn Bud im Kino oder im Fernsehen zuschlug, oft mit Clemens Meyer, Unterstützung von Terence geboren 1977, Hill, das Krokodil und sein Schriftsteller, lebt Nilpferd. Der gute alte im Osten Leipzigs Dampfhammer oder die Doppelhandbackpfeife waren immer eine Lösung. Ein westdeutscher Kollege erzählte mir, wie er als Kind mit Kassettenrekorder die Filme auf Audiokassette bannte. »Genau wie ich«, antwortete ich. Gestorben wurde in diesen Filmen selten. Und schon gar nicht, wenn man jemandem mit einem »Vorschlaghammer einen Scheitel zog«. Gute alte, politisch unkorrekte Prügel-Action mit Humor! Oh, Bud, du alter Ganovenschreck, komm wieder und erlöse uns von der Dummheit, der Netzhörigkeit, den Syndikaten und den raffgierigen Kapitalisten! Buds Dampfhammer unterschied weder nach Rassen noch nach Klassen, er predigte die Demut vor dieser höheren Gewalt! Man lachte befreit. Einmal sah ich den Meister, als er kurz nach der Wende im Capitol Leipzig (in diesem Kleinod ist jetzt ein Schuhladen drin, Dank an die Stadt!) seinen neuesten Film vorstellte. Da stand er vor mir, leibhaftig, und gab mir ein Autogramm. Danke, Bud. LEXIKON Hirschkäfererfassung, die. Zählung des Vorkommens eines bedrohten Insekts, des Hirschkäfers (Lucanus cervus). Wie der Landesbetrieb Forst Brandenburg mitteilt, gebe es auch dieses Jahr einen »Aufruf zur landesweiten Hirschkäfererfassung«. Wer »diese durchaus imposante Käferart« erspähe, möge seinen Fund unter www.hirschkaefer-suche.de melden. Vorab könne man sich in der »Hirschkäfer-Erlebniswelt« der Oberförsterei Königs Wusterhausen über das Tier informieren, das vor allem im »Totholz« zu Hause sei. Ein Hirschkäfer könnte also jeden Augenblick über diese Zeitungsseite laufen. MAC 12 ZEIT IM OSTEN 30. J U N I 2016 ZEITGEIST Hello Muslime! Ein Warum in Amerika keine Parallelwelten entstehen und Integration funktioniert Der Einreisestopp für Muslime ist ein Trump-Klassiker; nach Orlando hat er nun jene drei Millionen aufs Korn genommen, die bereits in Amerika leben: »Die assimilieren sich nicht wirklich. Und ich rede über die zweite und dritte Generation.« Wie die meisten seiner Sprüche ist auch dieser falsch. Wie misst man Assimilation? Man vergleiche die Sitten und Gebräuche der Neuen mit denen des Rests der Republik. Siehe da: Die Muslime sind so amerikanisch wie alle anderen. Ebenso viele – drei Viertel – trennen Müll. Sie verbringen fast genauso viel Zeit vor dem Fernseher. Und fast sechs von zehn sind in den Sozialen Netzwerken unterwegs – in der Gesamtbevölkerung sind es nur 44 Prozent. Es wird noch besser. Muslime sind zufriedener mit Amerika: Gut sechs von zehn meinen, dass »es gut läuft« in der neuen Heimat, was nur 23 Prozent der Bürger insgesamt glauben (Pew Research Center, A Portrait of Muslim Americans). Eine frühere Pew-Studie (2007) wirft ein Schlaglicht auf die Kluft zwischen Amerika und Europa. Entschieden Josef Joffe mehr US- als Euro-Muslime ist Herausgeber bekunden, es gehe Frauen in der ZEIT der neuen Heimat besser als in der alten. Das Gefühl der Nichtzugehörigkeit teilt weniger als die Hälfte; in Europa sind es zwei Drittel. Assimilation heißt: Ich will Amerikaner werden! Auf der Patriotismus-Skala liegen Muslime vor allen anderen Einwanderern. Von diesen beantragen nur 50 Prozent die Staatsbürgerschaft, bei den Muslimen sind es 70. Trump weiß also nicht, wovon er redet. Warum die Integration in den USA so gut funktioniert, dafür gibt es drei Gründe. Erstens: Selbstselektion. Aus der islamischen Welt gehen viele nach Amerika, um dort zu studieren (und zu bleiben); als Gruppe sind sie besser ausgebildet als etwa Türken in Deutschland oder Algerier in Frankreich. Die Einkommen belegen das. Der Anteil jener, die 100 000 Dollar oder mehr melden, ist fast so hoch wie unter den Alteingesessenen. Dramatisch ungleicher geht es dagegen in Europa zu. Zweitens: nationale Vielfalt der Neuen. Anders als in Europa, wo jeweils eine Nationalität dominiert, etwa Marokkaner in Belgien, kommen Amerikas Muslime aus achtzig Ländern – von Indien über Iran bis Ägypten, unterteilt in unzählige Sekten. Das Gemisch stärkt den Druck aufs gedeihliche Zusammenleben. Parallelwelten wie in Molenbeek werden hier rasch aufgesogen. Drittens: religiöse Toleranz (oder besser: Indifferenz) auf beiden Seiten. Amerika kennt keine Staatsreligion; jeder kann nach seiner Fasson selig werden, sich sein Gotteshaus bauen. Unter den Muslimen sorgt die chaotische Sektenvielfalt dafür, dass sich die Gläubigen untereinander sowie mit Christen und Juden vertragen müssen. Der Moschee-Architekt Chris McCoy bringt’s auf den Punkt: »Es geht nicht darum, ob die Kuppel nach saudischem oder indischem Muster gebaut wird, sondern darum, ob man sich überhaupt eine Kuppel leisten kann.« Geld schlägt Gott. Wie gut die Assimilation läuft, zeigen auch die hässlicheren Statistiken. Die Harvard-Soziologin Mary Waters notiert: »Amerikaner zu werden heißt, weniger Sport zu treiben, fetter und straffälliger zu werden.« Herzkrankheiten und Scheidungsraten passen sich in der zweiten Generation ebenfalls an. Der Schmelztiegel funktioniert also im Guten wie im Schlechten – wie einst für Deutsche, Iren, Polen und Juden. Bloß sind dem Demagogen Zahlen und Trends egal. ANZEIGE großer Teil der Deutschen hegt ausländerfeindliche Gedanken* * Oder stimmt das gar nicht? Die Rechtsextremismus-Studie der Uni Leipzig ist in die Kritik geraten. Besuch bei einem Forscher, der sich gegen den Vorwurf wehrt, der Mitte der Gesellschaft zu heftige Ressentiments zu unterstellen VON ANIK A KRELLER O liver Decker besitzt keine Yuccapalme. Irgendwie möchte man das einmal festhalten. Auf dem Blog Tichys Einblick stellt sich ein Autor, der die Arbeit des Forschers Oliver Decker kritisiert, nämlich vor, dass vermutlich eine Yuccapalme in Deckers Institut an der Uni Leipzig stehe und dass der Soziologe und seine Kollegen an »abgewetzten Resopaltischen in aufgeräumten Instituten mit diesen hochfrequentierten Rauchereckchen« säßen. Dass sie also, kurzum, irgendwie links-grüne, weltfremde Menschen seien. Deckers Studie, liest man in dem Blog-Eintrag, sei nichts als eine »pseudowissenschaftliche Ausarbeitung«. Das sind harte Worte – und das sind nur einige wenige der vielen heftigen Sätze, die Oliver Decker in der vergangenen Woche über sich lesen durfte. Denn der Extremismus-Forscher und seine Kollegen von der Universität Leipzig haben wieder ihre »Mitte«-Studie veröffentlicht, in der sie rechtsextreme Einstellungen in Deutschland untersuchen. Sie tun das alle zwei Jahre, insgesamt seit nun 14 Jahren. Die Studie wird stets breit diskutiert. Aber diesmal war etwas anders als sonst. »Dass so heftige Kritik kommt, hat keiner erwartet«, sagt Decker. Er ist mit einer Studie, die er im Grunde in alter Routine angefertigt hat, in politischste Zeiten geraten. Decker ist Vorstand und Sprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Uni Leipzig. Im Kern beschäftigt sich seine Mitte-Studie mit der Frage, wie weit Ressentiments und Vorurteile in die Mitte der Gesellschaft hineinragen. Und da haben sich die Ergebnisse, zu denen Decker und sein Team kommen, in den vergangenen Jahren kaum geändert. Zum Beispiel gehört es zu den Ergebnissen seiner Untersuchung, dass sich jeder zehnte Deutsche eine Führer-Figur wünsche, die das Land mit starker Hand regiert – was nach nicht allzu viel klingt. Oder dass knapp ein Viertel der jungen Ostdeutschen ausländerfeindlichen Tendenzen nachhänge – was schon schlimmer klingt. Oder dass 50 Prozent der Befragten sich angesichts vieler Muslime manchmal wie Fremde im eigenen Land fühlten – zum Ver- terin Kristina Schröder, die FAZ habe »ziemlich gleich: 2014 hatte diese Zahl noch bei 43 Prozent cool« die Mitte-Studie »zerlegt«. gelegen. Ist das jetzt ein Beleg für eine »enthemmte Ein zentraler Vorwurf: Die Studie sei purer AlarMitte«, stützt das also den plakativen Titel von mismus. »Ein Bärendienst für die Glaubwürdigkeit Deckers Studie? Oder bedeutet so eine Aussage allein des Journalismus« sei es gewesen, Deckers Ergebnisse ungeprüft weiterzuverbreiten, kommentiert noch gar nichts? Anfangs, am Tag der Veröffentlichung der Studie, der Medien-Branchendienst Kress, »denn ein genauesind sich die Zeitungen und TV-Stationen weitge- rer Blick auf die Untersuchung zeigt: Sie hält bei hend einig: Das Medienecho ist groß, die Unter- Weitem nicht, was sie verspricht.« Decker sieht gelassen aus, wenn man ihn dasuchung schafft es bis in die Tagesschau. Die Leipziger Forscher kommen unter anderem zu dem rauf anspricht. Aber er sagt auch, dass ihn die Art Schluss, dass zwar der Anteil von Menschen mit und Weise der Kritik geärgert habe. Tatsächlich war die Titelwahl der Studie nicht einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild auf niedrigem Niveau verharrt – dass es jedoch rechts- ganz glücklich. Denn die Wissenschaftler beziehen extrem eingestellte Gruppen gibt, die Gewalt als sich damit nur auf ein Teilergebnis ihrer recht umMittel der Interessendurchsetzung deutlich stärker fangreichen Untersuchung. »Man kann durchaus befürworten als bei der letzten Erhesagen, dass der Titel nicht sehr leise dabung. Decker sagt, gerade dieses Resulherkommt«, sagt Decker. Aber er sei getats wegen habe er sich zu dem Titel Die deckt durch den Befund, dass es in beenthemmte Mitte entschlossen. Spiegel stimmten Bevölkerungsgruppen durchOnline stellt die Studie unter der plakaaus eine Radikalisierung gebe. Dass sich tiven Überschrift Deutschlands hässliche die Kritik am Begriff der Mitte entFratze vor. facht, wundert ihn nicht. »Die Mitte hat eine hohe ideologische Bedeutung Dann plötzlich dreht sich der Wind. Zuerst meldet sich in einem Radiointerin Deutschland«, sagt Decker. »Die Idee Oliver Decker, view der Politologe Klaus Schroeder von Soziologe, leitet die ist immer, dass es die Mitte gebe, die den der FU Berlin zu Wort. Er bezeichnet Hort bilde, der die Demokratie vor den »Mitte«-Studien Deckers Ergebnisse als »belanglos«, der Extremen verteidigt.« Er habe schon der Uni Leipzig reißerische Titel sei völlig ungerechtimmer gesagt: »Das stimmt so nicht«, fertigt: Denn nur ein einstelliger Bevöldenn: »Die Mitte selbst ist etwas Hochkerungsanteil stimme in Deckers Studie fragiles.« Die Debatte um den Titel der den meisten rechtsextremistischen Thesen zu, die Studie, um ihre Interpretation, kann er dabei verMitte drifte nicht nach rechts. Schroeder kanzelt stehen. Was ihn wirklich wurmt: dass seine Kritiker auch die Methodik von Deckers Forschung ab. den Eindruck erwecken, die Studie sei insgesamt Häufig seien die Fragen suggestiv gestellt. Schroeder unhaltbar und voller Mängel. Dass Decker und unterstellt indirekt, dass die Leipziger ein bestimm- seine Kollegen fragwürdige Methoden angewandt, tes Ziel vor Augen gehabt haben: die Mitte der unwissenschaftlich und unsauber gearbeitet hätten. Gesellschaft in finsteren Farben zu zeichnen. Dabei sei, sagt Decker, insbesondere ein Vorwurf In den Tagen darauf kassiert Decker nun kriti- völlig unhaltbar: der, dass die Fragen zu suggestiv sche Kommentare, unter anderem in der Welt. In seien. Decker und sein Team hatten den mehr als der FAZ erscheint ein Text, der sich besonders ent- 2000 Studienteilnehmern verschiedene Aussagen schieden gegen die Leipziger Forscher richtet: Die vorgelegt. Die konnten die Teilnehmer auf einer enthemmten Wissenschaftler. Darin heißt es: »Leip- fünfstufigen Skala bewerten, von »lehne völlig ab« ziger Forscher sehen die deutsche Gesellschaft alle bis »stimme voll und ganz zu«. Darunter etwa: »Was zwei Jahre am Rande des Faschismus.« Auf Twitter unser Land heute braucht, ist ein hartes und energibewundert CDU-Politikerin und Ex-Familienminis- sches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.« Oder: »Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen.« Nicht jeder, der hier zustimme, sei gleich rechtsextrem, empörte sich Klaus Schroeder. Da gibt Decker ihm auch recht. »Deshalb«, sagt Decker, »ordnen wir auch nur Menschen als rechtsextrem ein, die allen 18 Aussagen, die wir ihnen dazu vorgelegt haben, zustimmen.« Zudem sei der Fragebogen zu den rechtsextremen Einstellungen 2001 auf einer Konferenz mehrerer Politikwissenschaftler verschiedenster deutscher Hochschulen entwickelt und auf seine Aussagekraft hin getestet worden. Decker hat ihn sich nicht willkürlich überlegt. Unter den Teilnehmern dieser Konferenz waren so honorige Leute wie Jürgen Falter, einer der bekanntesten Parteienforscher – und Doktorvater von Kristina Schröder, die sich auf Twitter so empörte. Klaus Schroeder, einer der heftigsten Kritiker, hat sich in seiner Forschung zum Linksextremismus außerdem einer ganz ähnlichen Fragebogentechnik bedient, nur mit anderen Aussagen. Decker bleibt also dabei: »Methodisch bietet die Studie keine Angriffsfläche«, sagt er. In der Interpretation aber vielleicht schon. Weil die Studie unter anderem von der linken RosaLuxemburg-Stiftung und der grünen Heinrich-BöllStiftung finanziert wird, hat sich Decker zudem den Vorwurf eingehandelt, er müsse ja wohl eine politische Agenda verfolgen. »Wir sind frei von Einflüssen bei der Erstellung der Studie«, sagt Decker dazu, »es ist unsere Sache, wie wir auswerten, welche Hypothesen wir prüfen, welches Design wir wählen.« Eine so aufwendige Studie komme ohne CoFinanzierung nicht aus. Vielleicht handelt es sich bei der Kritik an Deckers Studie deshalb im Kern um einen Streit über etwas ganz anderes: Wie geht man damit um, dass sich politische Einstellungen verändern – und wo beginnen Einstellungen, extrem zu sein? Wenn jene Parteien goldene Zeiten erleben, die einfache Erklärungen anbieten, könnte diese Debatte gar nicht so falsch sein. Wenn Menschen zu Pegida gehen, Politiker bepöbeln, AfD wählen – ist eine differenzierte Diskussion über »die Mitte« dann nicht gerade wichtig? Denn wenn die Mitte schon nicht enthemmt ist – dann ist sie doch zumindest tief verunsichert. Foto: Kay Nietfeld/dpa Foto: Larry Fiebert VON JOSEF JOFFE D I E Z E I T No 2 8 30. J U N I 2 0 1 6 D I E Z E I T No 2 8 HAMBURG 1 H Foto: Frank Egel (aus der Reihe „cAtCh oF tHe dAy“, www.frank-egel.tumblr.com) Jeden Tag ZEIT für Hamburg: www.zeit.de/elbvertiefung Das ist doch mal eine Hamburg-Perspektive! Lasst die Stadt im Regen stehen Hamburg wächst und wächst, die Aussichten sind prächtig. Das ist keine gute Nachricht V on Hamburg aus gesehen, ist ein Ratschlag aus London ein Rat aus der Zukunft. Hier ist er: Machen Sie Ihre Stadt weniger attraktiv! Hamburg, die wachsende Stadt, alles wird größer, neuer, wichtiger – muss man das als Einheimischer nicht begrüßen? Was gibt es Tolleres, als da zu leben, wo es so viele andere hinzieht? Nun, mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Wer sich für die nähere Zukunft interessiert, der blicke nach München, wo die Miet- und Wohnungspreise den hiesigen um ungefähr sechs Jahre vorauseilen. Studenten zu dritt in einem Zimmer, Ältere, die wegziehen, weil die Renten mit den Mieten nicht Schritt halten – darauf sollten wir uns einstellen. Die ferne Zukunft aber könnte dem heutigen London ähneln, der Stadt der Zwangs-WGs, der Vielbettzimmer im Souterrain und der Alleinerziehenden mit Vollzeitjobs – und neuerdings der Hauptstadt des Brexit. Darum hier, mit der Autorität einer Londoner Expertin, die dort seit Jahrzehnten den Wohnungsmarkt analysiert und an der renommierten London School of Economics lehrt, ein Hinweis. Es gebe, sagt Kathleen Scanlon von der LSE, genau drei Wege, die Wohnungskosten zu senken: das Angebot erhöhen. Den Markt regulieren. Die Nachfrage verringern. Das Angebot erhöhen, das heißt bauen. Hamburg tut es, London tut es. Hamburg will zehntausend neue Wohnungen im Jahr, das fünfmal so große London will 50 000 im Jahr. In beiden Städten streiten sie um die Frage, wo das möglich sein soll, und in beiden wissen die Fachleute, dass es am Ende an allem fehlen wird: am Platz, an der Akzeptanz neuer Bauvorhaben in der je eigenen Nachbarschaft, an der Bereitschaft, zur Not auch Grünflächen zu opfern. Regulieren, das können sie in Deutschland besser als in Großbritannien. Die Mietpreisbremse dient der Regulierung, ebenso der soziale Wohnungsbau mit seinen Preisbindungen. Kann man sich mehr davon vorstellen? Natürlich. Kann man es durchsetzen? Fraglich. Bleibt der dritte Weg. Wie verringert man die Nachfrage nach Wohnraum in einer Stadt wie Hamburg? Um sich dem Problem anzunähern, muss man die Deutschlandkarte so betrachten, wie das Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos es tut: als Nebeneinander wachsender und schrumpfender Regionen, die Investoren unterschiedliche Chancen bieten. Was dann sichtbar wird, sind die Zonen des Wachstums im Süden, um München, Stuttgart, Frankfurt. Im übergroßen Rest des Landes aber, zwischen Köln und Frankfurt an der Oder, zwischen Emden, Rügen und Flensburg, ragt ein einziger Wirtschaftsstandort weit über alle anderen hinaus: Hamburg. Berlin? Für Investoren ähnlich attraktiv wie die Gegend um Bad Segeberg. Hannover? Schon besser, könnte mit dem Kreis Stormarn mithalten. Bremen, Kiel, Lübeck, das Ruhrgebiet – wirtschaftlich gesehen, nicht der Rede wert. Wenn die Karte von Prognos, die ausdrücklich als »Zukunftsatlas« zu verstehen ist, dem Geld als Wegweiser dient, dann wird Hamburg in einer Region von der Größe Englands in ähnlicher Weise das Kapital aufsaugen, wie London es dort tut. Geld erzeugt Chancen, Chancen ziehen Menschen an, Menschen müssen irgendwo wohnen. Zu denen, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen, gesellen sich andere: Migranten ziehen Migranten an und junge Leute junge Leute. Den Familiennachzug der Bürgerkriegsopfer, die Hamburg in diesen Monaten aufnimmt, kann die Politik verzögern, aber nicht verhindern, ebenso den Zuzug jener Flüchtlinge, die einstweilen noch durch Wohnsitzauflagen aus den Ballungsräumen ferngehalten werden. Und dann sind da die Studenten: Sieben Bewerber kommen auf jeden Studienplatz in Hamburg, was vermutlich mehr an der Stadt liegt als an den hiesigen Hochschulen. Wie macht man Hamburg weniger attraktiv? Vielleicht hilft es, die Frage anders zu formulieren: Wie macht man andere Regionen weniger unattraktiv – und dämmt so den Strom der Zuwanderer ein? Das, könnte man entgegnen, ist nicht Aufgabe der Hamburger Politik. Aber in dieser Antwort liegt so viel Beschränktheit, dass sie selbst ein Teil des Problems ist. Da ist zum Beispiel der jüngste Streit um die sogenannte Exzellenzinitiative des Bundes für die Hochschulen. Hamburg hat einen Konflikt mit sämtlichen anderen Ländern vom Zaun gebrochen, um zu erreichen, dass möglichst viele Universitäten, und damit auch die eigene, sich irgendwann das begehrte Etikett aufkleben können. Das entwertet zwar die Exzellenzinitiative, aber es stärkt die eigene Position gegenüber den anderen Hochschulstandorten, die aus Hamburger Perspektive offenbar nur eines sein können, Konkurrenten. Man hätte an diesen Konflikt auch anders herangehen können. Die Bremer Universität ist eher leistungsfähiger als die Hamburger, Lübeck hat auch einiges zu bieten, die Hochschulen hätten sich gemeinsam um die begehrte Förderung bewerben können. Aus Hamburger Sicht hat das Land die eigenen Interessen vertreten. Aber ist diese Mischung aus kindlichem Lokalpatriotismus und Wir-geben-nichts-Mentalität einer Stadt angemessen, die noch auf Jahre hinaus mehr Menschen anziehen dürfte, als sie unterbringen kann? Oder die Elbvertiefung. Im jahrzehntelangen Streit um das Für und Wider gibt es eine Konstante: Niemand in Hamburg bestreitet, dass es unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gut wäre, möglichst viele Arbeitsplätze und Gewerbesteuerzahler in der Stadt zu halten. Ist das wirklich so? Es wäre für die Hamburger ein Leichtes, auf eine Partnerschaft mit Wilhelmshaven und seinem Tiefwasserhafen zu setzen, einer besonders unglücklichen Region zu neuen Chancen zu verhelfen und nebenbei etwas Bevölkerungsdruck von der eigenen Stadt zu nehmen. Wenn sie es denn wollten. Schließlich, aber das ist nun schon ein Vorschlag für Fortgeschrittene im Diskurs um die zu schnell wachsende Stadt, kommen Experten mit erstaunlicher Beharrlichkeit alle paar Jahre auf einen alten Vorschlag zurück, nämlich die Vereinigung der norddeutschen Bundesländer zu einem Nordstaat. Natürlich wird das nie geschehen. Die realistische Variante, die sich längst durchgesetzt hat, ist der Ausbau der Zusammenarbeit zwischen den Ländern, zuletzt im Bereich des Strafvollzugs. Diese Kooperation könnte eine klare Richtung bekommen: die der Verlagerung von Institutionen aus Hamburg in die Nachbarländer. Hamburg würde dabei Platz gewinnen, andere Städte Arbeitsplätze und neue Einwohner, VON FR ANK DRIESCHNER und wirtschaftlich rechnete es sich ohnehin. »Nahezu alle hoheitlichen Aufgaben ließen sich zusammen besser und billiger erledigen als in getrennt vorgehenden Bundesländern«, schrieben vor wenigen Jahren zwei Forscher des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts – das freilich auch nicht auf ewig in Hamburg bleiben müsste. Und, da wir dabei sind: Warum muss sich die Zentrale des Vier-LänderSenders NDR in Hamburg befinden? Dies ist vielleicht der Punkt, an dem das Gedankenexperiment abgebrochen werden muss, damit es nicht eine Denkblockade auslöst. In London hat ein erster Versuch, die Attraktivität der Stadt zu verringern, wenig erreicht. Zeitweise hätten Ministerien Abteilungen in andere Städte ausgelagert, berichtet die Wohnungsmarktexpertin Scanlon. Das Vorhaben endete an der jeweiligen Leitungsebene, deren gewöhnlich einflussreiches Personal Gründe oder Vorwände fand, in London zu bleiben. Die jüngsten britischen Bemühungen um eine weniger attraktive Hauptstadt, denn auch ANZEIGE so lässt sich der Brexit natürlich deuten, haben gerade begonnen – und werde, wie eine zutiefst schockierte Kathleen Scanlon meint, ihr Ziel womöglich erreichen: Schon gehen in London die ersten Gerüchte über abgesagte Transaktionen auf dem Wohnungsmarkt um. Am Ende aber, glaubt die Expertin, sei mit Politik auf diesem Feld ohnehin nur wenig zu erreichen. Wenn das stimmt, dann bleiben uns Hamburgern noch Jahre, uns auf Londoner Verhältnisse einzustellen: auf Enge und Wohnungsarmut, auf Kinder ohne Kinderzimmer und Erwachsene, die ihren Kinderzimmern nicht entwachsen. Und natürlich auf Wahlkämpfe im Zeichen der housing crisis, die wir demnächst mal ins Deutsche übersetzen sollten. Wohnungsnot, das klingt nach individuellem Unglück, als ginge es hier nicht um eine gesellschaftliche Krise. Ein Grund mehr, rechtzeitig zu überlegen, ob Hamburg nicht zu attraktiv ist. Attraktiver jedenfalls, als es uns, den Einheimischen, guttut. 2 HAMBURG H 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Hamburg in einem Satz Der grüne Justizsenator Till Steffen setzt Reformen um – merkt nur keiner Warum lang, wenn es auch kurz geht? Was die Stadt in dieser Woche bewegt hat KOMMENTARE Ganz recht! Ein politischer Paukenschlag: Die Justiz weist den Staatsanwälten eine neue Rolle zu S elten hat eine tief greifende Reform – zudem in einer Behörde, die im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit steht – so wenig Aufsehen hervorgerufen wie die jüngsten Änderungen bei der Hamburger Staatsanwaltschaft. Aus Weisungsempfängern, die im Gerichtssaal wenig zu sagen haben außer dem, was Vorgesetzte ihnen auftragen, werden autonome Juristen mit eigenem Urteil, wie es Richter auch sind. Ein solcher Kulturwandel ist ein justizpolitischer Paukenschlag. Seltsamerweise ist er weitgehend ungehört verhallt, weil eine triviale Nachricht, nämlich die Einstellung zusätzlicher Polizisten und Staatsanwälte, die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit beansprucht, die das Land für Fragen der inneren Sicherheit aufbringen kann. Natürlich sind 300 neue Polizisten und zwölf neue Jobs bei der Staatsanwaltschaft eine wichtige Nachricht, diese Einstellungsoffensive ist allerdings auch vollkommen unumstritten. Mehr vom Gleichen aber gibt es darum nicht – sondern etwas Neues: Staatsanwälte, die mitreden und mitdenken und dazu auch ausdrücklich aufgefordert sind. Und eine Behördenleitung, die ihren Unter- gebenen nicht nur Anweisungen übermittelt, sondern gehalten ist, mit ihnen zu sprechen, ehe sie sich ein Urteil bildet. Klingt selbstverständlich? War aber bis vor Kurzem hoch umstritten. »Reorganisation und Modernisierung der Staatsanwaltschaften«: Unter diesem Titel hatte eine Expertengruppe seit 2013 Reformvorschläge erarbeitet, denen jahrelang wenig folgte. Der Grüne Till Steffen, seit Anfang 2015 zum zweiten Mal Justizsenator, gibt der Reformbewegung nun Gelegenheit, ihre Vorschläge umzusetzen. Es ist auch höchste Zeit. Die Staatsanwaltschaft, so steht es in deprimierender Deutlichkeit in dem Bericht zur neuen Arbeitsweise, verfüge »derzeit weder über eine angemessene Personal- noch Sachausstattung« und könne »ihre gesetzlichen Aufgaben somit in vielen Bereichen nicht hinreichend erfüllen«. Die neuen Stellen werden helfen, ebenso der Umstand, dass die Ankläger nun weniger Zeit für das interne Berichtswesen aufbringen müssen. Der justizpolitische Fortschritt ist auch einer Notlage geschuldet. FR ANK DRIESCHNER Richtig draußen S ind Sie in letzter Zeit mal vom Hauptbahnhof zum Rathaus gelaufen, morgens vor Ladenöffnung oder abends nach Ladenschluss? In dieser Zeit campieren Obdachlose an jeder zweiten Ecke. Die Menschen liegen am Bahnhof, in den Eingängen der Geschäfte rund um die Mönckebergstraße und in den kleinen Gassen hinterm Rathaus. Es ist ein trauriger Eindruck, der sich statistisch bestätigen lässt: Seit der letzten Zählung 2009 hat sich die Zahl der Obdachlosen in Hamburg Schätzungen zufolge auf 2000 verdoppelt. Teils kursieren noch deutlich höhere Zahlen. Und wer mit Sozialarbeitern spricht, hört nicht nur einmal: So schlimm war die Situation noch nie, so viele Menschen, für die wir nichts tun können, gab es nie zuvor. Es herrscht ein Elend, das selbst für Profis kaum noch zu ertragen ist. Hamburg, das haben gerade die vergangenen Wochen gezeigt, hat kein tragfähiges Konzept, um mit dieser Tendenz umzugehen. Am Nobistor räumte das Ordnungsamt einen Park, in dem Obdachlose campierten. Eine nachvollziehbare ANZEIGE Aktion, viele der Menschen dort waren daueralkoholisiert, bettelten aggressiv, nicht weit entfernt von einem Spielplatz. Trotzdem fragt man sich, wo die Menschen hinsollen, wenn sie nicht mehr in Parks schlafen dürfen. Unter Obdachlosen gibt es seit Monaten eine Debatte um eine Frage, die alles andere als politisch korrekt ist: Warum war für Flüchtlinge in kurzer Zeit so viel möglich, während wir weiter auf der Straße bleiben? Das ist in vielerlei Hinsicht ein schiefer Vergleich. Die Stadt tut auch eine Menge für Wohnungslose. In einem Punkt stellt sich die Frage aber durchaus: im Hinblick auf die Notunterkünfte. Mit beeindruckendem Improvisationstalent hat es der Senat geschafft, dass Flüchtlinge in Hamburg nicht auf der Straße schlafen müssen. Für Hamburgs Obdachlose hingegen gibt es zurzeit gerade einmal gut 400 Notunterkünfte – das reicht bei Weitem nicht. Der Eindruck drängt sich auf: Es ist in Sachen Wohnungslosigkeit längst nicht mehr mit ein wenig mehr Unterstützung hier und da getan. Der Senat braucht einen Plan, und zwar dringend. S E BASTIAN KE MPKE N S Fotos: Lucas Wahl/Kollektiv25/Agentur Focus (l.); Axel Heimken/dpa (r.) Immer mehr Obdachlose in der Stadt. Wie lange will der Senat noch wegsehen? Ausgezeichnet: Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat die offizielle Urkunde vorbeigebracht, mit der die Unesco die Speicherstadt und das Kontorhausviertel zum Weltkulturerbe erklärt Ausgerechnet: Die Stadt will ihre Ausgaben von 2017 an ohne neue Schulden finanzieren, trotzdem soll es mehr Geld zum Beispiel für die innere Sicherheit geben Ausgerückt: Wegen starker Gewitter war die Feuerwehr am Wochenende mehr als hundert Mal im Einsatz Ausgehandelt: Senat und Bezirke haben eine Vereinbarung unterzeichnet, in den nächsten vier Jahren 280 Kilometer neue Fahrradwege zu bauen Ausgemessen: Die Abschlussparade der Harley Days am Wochenende war lauter als der Lärm eines Presslufthammers aus kurzer Entfernung, hat der Nabu mitgeteilt Ausgeführt: Nach dem Tod des einjährigen Taylor im Dezember hat die Staatsanwaltschaft nun gegen den ehemaligen Freund der Mutter Anklage erhoben, der das Baby zu Tode geschüttelt haben soll Ausgegrenzt: Laut aktuellen Zahlen des Statistikamts Nord sind nur 44 Prozent der Hamburger in der Stadt geboren, der Rest wird als Quiddjes belächelt und gehört nach strenger Auslegung nicht hier her Und der Polizeibericht: Auf St. Pauli fahndet die Polizei nach fünf Männern, die am Freitag vor zwei Wochen eine junge Frau von ihrem Fahrrad stießen und sie begrapschten; in Harburg haben Beamte einen 21-jährigen Serben festgenommen, der in einer Familienfehde einen Landsmann erschossen haben soll; und in St. Georg hat Polizeihund Akfa einen 17-jährigen Fahrraddieb geschnappt Aktuelle Meldungen unter www.zeit.de/hamburg WARUM FUNKTIONIERT DAS NICHT? Wieso senkt man die Eintrittspreise in den Museen nicht? ... fragt Yasmin Sabri aus Eimsbüttel D ie Kunsthalle hat es vorgemacht: Sie öffnete nach anderthalb Jahren Umbauzeit im Mai wieder – und nahm einen Monat lang keinen Eintritt; den übernahm Alexander Ottos Firma ECE. Das Resultat: Der Mai, schwärmte Direktor Hubertus Gaßner, »war einer der besucherstärksten Monate in einem deutschen Kunstmuseum überhaupt«. 205 000 Menschen sahen sich die Werke von der mittelalterlichen Malerei bis hin zur Gegenwart an. Das habe »alle Erwartungen übertroffen!«, sagte Hubertus Gaßner. Ist das nicht ein ausbaufähiges Modell? Wenn das Kunstbedürfnis der Hamburger und der Hamburg-Besucher derart groß ist, dass sie zuhauf ins Museum strömen, wenn es mal nicht 12 oder 14 Euro kostet – wieso reduziert man die Eintrittspreise denn nicht, oder streicht sie ganz? Ein Museum soll doch sowieso Bildungseinrichtung für alle sein. Und: Seit der Eintritt ins Folkwang Museum in Essen kostenlos ist, hat sich die Zahl der Besucher verdreifacht. Seit in Großbritannien die Dauerausstellungen in den Museen for free sind, schlendern ganz normale Angestellte in der Mittagspause in die National Gallery. Wäre freier Eintritt nicht eine viel bessere Vermittlungsleistung als jedes Dinner mit Monet, als all die langen Nächte? Braucht man die paar Euro vom Eintritt überhaupt? Durchaus, sagt Enno Isermann von der Kulturbehörde. »Wie jede andere Einrichtung in der Stadt müssen auch die Museen einen Teil ihrer Kosten durch eigene Einnahmen decken.« Und außerdem: Es gibt bei den Hamburger Museen nicht nur allerlei Rabatte und Ermäßigungen für Bedürftige, schon jetzt kommen unter 18-Jährige umsonst rein. Würde man gleich alle ohne Eintritt hineinwinken, kalkulierte Julia Daumann vom Museum für Völkerkunde neulich für den NDR, fehlten in ihrem Haus Einnahmen von etwa 300 000 Euro im Jahr. Rechnet man das hoch auf alle Museen, weiß man, warum es schwer werden dürfte, für den freien Eintritt in der Politik eine Mehrheit zu finden. Zumal sich hartnäckig die Ansicht hält, dass man mit solchen Aktionen doch nur die Leute locke, die immer kämen – im Gegensatz zur Sichtweise in Großbritannien, aber da waren die Leute ja auch so wahnsinnig, für den Brexit zu stimmen. Man braucht also einen Sponsor. Doch Alexander Otto kann schließlich nicht alles bezahlen. Und: Wäre das nicht ein falsches Signal? In einer Stadt, in der nicht mal öffentliche Toiletten umsonst sind – würde man da, wenn Kunst nichts kosten würde, am Ende nicht denken, die sei nichts wert? MARK S PÖRRLE Haben auch Sie eine Frage? Schreiben Sie unserem Kolumnisten: [email protected] 30. J U N I 2 0 1 6 HAMBURG D I E Z E I T No 2 8 H 3 Wer bei ihr alles aufschlägt Stars, Dichter, Politiker: Sie alle kommen in die Bücherstube nach Keitum. Dann verdreht ihnen Hildegard Schwarz den Kopf lange faule Tage an. Links warten, mehrere Meter übereinander, die komplette »Manesse Bibliothek der Weltliteratur« sowie Bände der Sammlung Tusculum, Literatur der griechischen und römischen Antike. Worauf ja »im Grunde« alles fuße, wie Schwarz kurz einstreut. Das Zentrum besetzen Büchertische mit Neuerscheinungen. Nicht einfach die Bestsellerliste – nein, die wichtigen Titel werden kuratiert präsentiert. Diesmal etwa Anthony Doerrs Alles Licht, das wir nicht sehen, immer sind Sachbücher dabei wie der Zoologe Frans de Waal mit Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote oder Heinrich August Winklers Geschichte des Westens. Nicht zu vergessen eine illustrierte Ausgabe von Herman Melvilles Bartleby. Hildegard Schwarz empfiehlt mit missionarischem Ehrgeiz und hat ihre Favoriten – es sind die Philosophen der Antike, aber auch »unsere Russen«, und nicht zu vergessen: die Gruppe 47. Was sie nicht sagt, ist, dass es zu ihrer Agenda gehört, ihre Favoriten der Kundschaft so hartnäckig anzupreisen, dass Leidenschaft ein viel zu schwaches Wort dafür wäre. Jüngstes Beispiel: ein 1200-SeitenBrocken Das achte Leben von der Autorin Nino Haratischwili, eine georgische Revolutionshistorie, verwoben mit einer Familienchronik, besser als Tolstois Krieg und Frieden, findet Schwarz. Wenn sie beschließt, dass dieser Roman ein Erfolg werden muss, dann präsentiert sie ihn im Fenster. Dann stellt sie ihn auf den Tisch in der Mitte. Dann zieht sie jedes passende Opfer hinein in dieses berauschende Opus. Sagenhafte 450 Exemplare à 34 Euro hat sie bis jetzt davon abgesetzt. Der Verleger sollte ihr Champagner schicken. Wobei, na ja – die Verleger, die Vertreter: Nicht alle sind ihre Freunde. Anfangs haben sie die komische Neue da oben im Norden eingedeckt mit Standardware. Mit dem, was sie für passend hielten. Die neue Utta Danella, der neue Stephen King, Frederick Forsyth, P.S. Ich liebe dich. Ging alles zurück an den Grossisten. »Ich habe weder Utta Danella genommen noch andere StrandkorbLektüre.« Strandkorb-Lektüre gibt es bei Schwarz nicht. Was nicht bedeutet, dass sie Besucher von oben herab anschauen würde, die danach fragen. »Der Mensch, der vor Ihnen steht, den dürfen Sie nicht verachten, weil er Strandkorb-Lektüre will«, sagt sie. »Es ist ja nur ein Ausdruck dafür, dass er etwas möchte, das sich leicht liest. Das muss nicht minderwertig sein.« So läuft das in der Büchertruhe. Man fragt sich natürlich, wie das seit 37 Jahren funktionieren kann. Eine inhabergeführte Buchhandlung, so eigenwillig, so anspruchsvoll, auf einer Insel hoch oben im Norden, wo die Leute doch ans Meer und nicht in eine Buchhandlung wollen. Wie kann sie überleben? Und: Wie kam Hildegard Schwarz überhaupt zu ihrer Büchertruhe dort? Fotos: Lucas Wahl für DIE ZEIT S ylt war ja nicht immer so. Früher, lange bevor die Champagnerbars auf der Insel ihre Klientel entdeckten und die Klientel die Champagnerbars entdeckte, vor der Kolonialisierung durch Prominente wie Günther Jauch und Jogi Löw, durch Wechseljuicer und Flexitarier, vor der Invasion von SUVs, schwarzen Möpsen mit Kuhhalsband und nervösen Polo-Pferdchen, vor langer, langer Zeit also war Sylt der Fluchtpunkt von Dichtern, Denkern und Verlegern. Thomas Mann, Alfred Kerr, Gottfried Benn, Robert Musil, auch Peter Suhrkamp und Axel C. Springer, Rudolf Augstein – die intellektuelle Elite zog sich hierher zurück, in die meditative Monotonie, starrte aufs Watt, auf Wellen und Heide und schluderte sommerlang herum. Max Frisch zum Beispiel: »(...) draußen flötet der Wind, Regen prasselt gegen die Scheiben, die vom Anfall des Windes zittern, Wolken jagen über das Uferlose. Man sitzt und schaut, ganz sich selber ausgesetzt. Hin und wieder kippe ich einen Steinhäger oder zwei; man braucht das bei so viel leerem Himmel. (...) Es bleibt das Gefühl, man befinde sich am Rande der Welt.« So beschreibt es Frisch in seinem Tagebuch, Juli 1949. Ein Dichter »am Rande der Welt«, verdammt lange her. Ist das Sylt von Frisch und Grass und Musil, von Springer, Raddatz und wie sie alle heißen, im Champagner ertrunken? Ist es nicht. Es hat sich nur zurückgezogen. Das Dichter-Sylt wird konserviert und gepflegt, an einem Ort, den es nach allen Regeln des Marktes längst nicht mehr geben sollte: in der Büchertruhe Keitum von Hildegard Schwarz. Eine Buchhandlung – natürlich eigentlich viel mehr als das – zwischen Bäckerei, Boutique und Juweliergeschäft, Am Tipkenhoog. Nur zehn Minuten Fußweg entfernt von dem Friedhof, wo Suhrkamp, Augstein und Raddatz in Frieden ruhen, hoffentlich. Am Tipkenhoog also. Küstenschwalben, Dünenrosen, viel Reet ringsum. Man kann das Watt hier riechen, es ist nur wenige Meter entfernt. Das Geschäft: ein kleines Wohnzimmer, Bücherregale, die bis an die Decke reichen und keinen Zentimeter Platz lassen. Vor allem nicht für Frühstücksbrettchen, Parfüms und anderes sogenanntes Nonbook-Sortiment, das bei Thalia und Hugendubel ablenkt. Stattdessen Bücher. Und die Frau der Bücher: Hildegard Schwarz. Man sieht sie zunächst nicht, sie ist klein, fuhrwerkt irgendwo hinter den Regalen herum. Nur ihre Brillen sieht man, die überall bereitliegen. Kleine, runde Brillen in Rot, Grün und Schwarz, immer das gleiche Modell. In der Büchertruhe von Hildegard Schwarz entdeckte Rosemarie Springer philosophische Traktate für ihren Mann Axel Caesar. Spiegel-Gründer Rudolf Augstein fragte nach einer Biografie über Friedrich den Großen. Stern-Chefredakteur Henri Nannen wollte wissen, ob er es sich gemütlich machen und rauchen dürfe (er durfte nicht). Der ZEITFeuilletonchef Fritz J. Raddatz rauschte herein, raumfüllend, »ein exzellenter Schreiber«, sagt Frau Schwarz, allerdings »privat auch ungezogen«. Das Gegenteil von Richard von Weizsäcker; der fragte als Erstes nach großen Reden der Antike, tauschte das Buch am nächsten Tag dann gegen Gesetzestexte aus dem Beck-Verlag ein. Gern zog der Bundespräsident sich zum Plaudern mit der Buchhändlerin ins Souterrain zurück und fand es so lustig, wenn seine draußen wartenden Bodyguards ihn aus den Augen verloren hatten und in Panik gerieten. Wenn man mit Hildegard Schwarz spricht, begreift man sofort, was Sylt-Stammgäste erzählen: dass diese Buchhandlung eine Mischung sei aus Bibliothek, Literaturhaus und Refugium, ein Gegenpol zur Sylter Chichi- und Proll-Flut. Eine Dame von 84 Jahren, enorm belesen, versteht sich. Frisur: eine Kreuzung aus ritterlichem Pagenkopf und Mireille Mathieu. Gern kleidet sich die Chefin der Truhe anthroposophisch erdfarben, wollig, dazu schwarze Leggings und festes Schuhwerk, schwarz. Ein typisches Gespräch mit der Buchhändlerin, die niemals Buchhandel gelernt hat, hat wenig mit Handel zu tun – aber viel mit Verhandlung. Wer sie zum ersten Mal fragt: »Was soll ich lesen?«, den schaut sie prüfend an. Man fühlt sich leicht verunsichert, wie in der ersten Sitzung beim Therapeuten. »Was haben Sie denn zuletzt gelesen?« Unmerklich wird man umkreist, erforscht, nur um plötzlich Neugier zu verspüren – große Neugier genau darauf, was die Kennerin einem nahelegt. Dann verlässt man die Truhe mit mehr als einem Titel und dem vagen Gefühl, gerade selbst gelesen worden zu sein. »Der Kunde findet bei mir Bücher, die er sonst nicht liest«, sagt Schwarz. Wie sie erkennt, was das Richtige für ihn ist, in diesem Moment, in diesen Ferien? »Es ist eine Gottesgabe.« Der Kunde soll sich erst einmal umschauen bei ihr. Er kann gleich rechts ein Regal mit russischer Literatur finden – Dostojewski, Tolstoi, Puschkin, auch der Oblomow von Gontscharow bietet sich für VON PIA FREY UND ANNA VON MÜNCHHAUSEN Zufall war es. Schwarz kommt nicht von der Insel, sie ist aufgewachsen in Essen – also maximal weit entfernt von Sylter Habitus und Lebensart. Das Verlagsgeschäft gelernt hat sie nie, dafür etliches anderes. Zum Beispiel Komparatistik studiert bei dem Heidelberger Professor Horst-Jürgen Gerigk, ihrem »großen Lehrmeister«. Zum Beispiel auf der Essener FolkwangSchule Aquarelltechnik gelernt, Farben mischen. Mit ihrem ersten Mann hat sie Werbekampagnen entworfen, auch mal Kochtöpfe promotet in Kaufhäusern. Dann eröffnete sie eine Buchhandlung in Dortmund. Deren Pachtvertrag lief aus, Schwarz fand ein anderes Ladenlokal, aber sie bekam es nicht, jemand anderes war schneller gewesen. Damals hatte Hildegard Schwarz viel Zeit, mehr, als ihr lieb war. Sie wollte raus aus der Stadt und fuhr mit ihrem Mann nach – Sylt. Sie liefen über die Insel, kamen in Keitum an einem Haus vorbei, fünf Geschäfte entstanden da gerade, ihr Mann sagte: »Kannste ja deine Buchhandlung hier aufmachen.« Schwarz hörte auf ihn. Mit einem Mal verkaufte sie Bücher an einen Menschenschlag, den sie als Frau aus dem Ruhrpott kaum kannte, an Professoren und »Wirtschaftsmänner«, wie Schwarz sie nennt. Und die kamen nicht nur, um sich mit Lektüre einzudecken. Hildegard Schwarz unterhielt sich mit ihnen, lud sie nach Hause ein und bewirtete sie in ihrem Morsumer Haus, zwischen Stockrosen und Rittersporn. Sie blieben wochenlang, diese Freundschaften halten seit Jahrzehnten. Freundschaften stiften, das kann Sylt. Konnte es immer. »Heute nachmittag widerfährt meinem niedern Strohdach die Ehre«, schreibt Siegfried Jacobsohn 1921 aus Kampen an Kurt Tucholsky, »daß Thomas Mann unter ihm weilt. Der alte Waterkantler hatte die Insel nicht gekannt und ist so erschlagen, daß er sofort ein Friesenhaus kaufen will.« Der 1200-SeitenBackstein über die georgische Revolution kommt nach vorn. In ihrer Büchertruhe verkauft Hildegard Schwarz Sylt-Urlaubern Werke, die sie sonst nie gelesen hätten Was Thomas Mann nicht schaffte, schafften viele andere Inselbesucher nach ihm. Sie kauften und bauten. Immer neue Lkw-Ladungen Klinker, Reet und Mörtel werden über den Hindenburgdamm herangekarrt, als gelte es, irgendwann jeden Zentimeter Düne zuzupflastern. Die Quadratmeterpreise steigen. Seit die ehemalige CSUPolitikerin Gabriele Pauli als Kandidatin für das Sylter Bürgermeisteramt einen sehr lauten Wahlkampf betrieb, weiß die ganze Republik Bescheid über die Krise der Insel – Immobilienhype, Personalnot, Einwohner, die keine Wohnungen mehr finden und aufs Festland fliehen. Und natürlich liegt die Frage auf der Hand: »Frau Schwarz, wie sehen Sie dieses neureiche Publikum, das sich Pseudo-Friesenhäuser hinknallen lässt?« Man denkt, es folge eine schmissige Gesellschaftskritik. Nö. »Was wäre die Insel ohne die Schönen und Reichen? Wo bliebe ich mit meinem Geschäft?« Und nach einer Pause fügt sie hinzu: »So wie die Insel jetzt ist, wurde sie von Insulanern geschaffen. Sie hätten den Hindenburgdamm nicht bauen lassen dürfen. Dadurch ist etwas gewachsen, und dann lässt es sich nicht mehr bremsen.« Es ist nicht nur etwas gewachsen. Es ist auch manches verschwunden. Der Winter ist ruhig geworden, bis auf Silvester natürlich und die Tage rings ums Biikebrennen im Februar, bei dem die alten Weihnachtsbäume am Strand in Flammen aufgehen. In manchen Monaten ist es gefährlich ruhig auf der Insel: Das Schwimmbad neben dem Buchladen wurde dichtgemacht, es kamen zu wenig Menschen. Ein Investor versprach goldene Zeiten, setzte einen Betonklotz ans Tipkenhoog – Riesenpleite. Neu war das für die Keitumer, dass mal etwas richtig schiefging. Nun dient die Ruine als Mahnmal der Immobiliengier. Vor ein paar Jahren, als das Bauen ringsum richtig losging, haben Schwarz und ihr Mann ihr großes Haus in Morsum verkauft, in dem sie Lesungen und Diskussionen veranstaltet hatten. Vom Festland aus pendeln die beiden seither täglich mit Hunderten von Handwerkern, Geschäftsleuten und Servicekräften per Bahn von Klanxbüll auf die Insel. Schön sei das, morgens in die Frische hinein übers Watt zu fahren und abends auf der Rückfahrt »auszuschludern«. In der Hochsaison arbeitet Schwarz nie weniger als 70 Stunden in der Woche. Und das mit 84! Jeden Morgen schließen sie und ihr Mann um 7.30 Uhr die Truhe auf, abends um 18 Uhr rollen sie die Ständer mit den Ansichts- und Kunstpostkarten wieder herein, Kassensturz und dann schnell zum Bahnhof. »Wir kommen zurecht«, sagt sie. Aber wie lange noch? Hildegard Schwarz mag es nicht, über einen möglichen Nachfolger zu sprechen. Würde es dem gelingen, die neue Sylt-Prominenz einzufangen, jene Leute, die jetzt im Juli wieder die Klatschspalten füllen, Jürgen Klopp oder Jogi Löw? Am Tipkenhoog wurden sie bislang noch nicht gesichtet. Sie spielen lieber Golf. Und überhaupt, wer soll denn so einen Laden übernehmen, der eben einzig und allein davon lebt, dass diese Frau ihn führt? Die Schriftstellerin Ursula Krechel hat einmal gesagt: »Eine Buchhandlung braucht keine großen Schaufenster, keine Verführung zum Eintritt, keine himmelhohen Stöße, die ›abverkauft‹ werden müssen. Sie braucht kenntnisreiche Menschen mit großer Zuneigung zu den Büchern, Sucher und Finder.« Sie muss dabei an Hildegard Schwarz gedacht haben. 4 HAMBURG H 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 Ballaballa? Tennis, Dart und Zehnkampf: Ein neues Magazin berichtet über alle erdenklichen Sportarten – bis auf eine VON KILIAN TROTIER I ANZEIGE Knochenarbeit Den Toten ihre Identität zurückgeben. Dafür braucht man Ausdauer – und Hamburger Biotechnologen VON JARK A KUBSOVA Fotos: Kham/Reuters (o.); Jann Klee für DIE ZEIT; Abb.: Gruner+Jahr st natürlich ein Spaß, dieser Titel: No Sports. Becker. Also haben sie Boris Becker begleitet. Im Merkt man gleich, wenn man auf dem Cover Handball gibt es kein beliebteres Team als die Boris Becker im Trainingsoutfit stehen sieht, Deutsche Nationalmannschaft, die in diesem Jahr der für vieles steht, aber sicherlich nicht für eine Europameister wurde. Also haben sie eine GeAbwendung vom Sport. No Sports müsste eigent- schichte über dieses Team gemacht. Im Radsport lich »Jeder Sport außer Fußball« heißen, aber weil gibt es keinen besseren Deutschen als Marcel Kittel. das kein besonders schmissiger Slogan für ein Also haben sie den Athleten porträtiert. Die Geschichten sind alle gut zu leneues Magazin ist, haben sich die Entsen und interessant bebildert. Sie sind in wickler um den 11Freunde-Chefredakihrer dramaturgischen Richtung aber teur Philipp Köster für die provokante auch erwartbar. Was das Heft trotzdem Variante entschieden: Sport mit Nichtzur Entdeckung macht, sind die SpezialSport zu verkaufen. themen. Zum Beispiel: Dart. Wie ein Was der schlaue Leser – der Leser britischer Kneipensport zu einer europamuss ja schlau sein, um diesen Gag zu weiten Massenbewegung wurde. Oder: verstehen – dann in Händen hält? Ein Magazin mit herrlichen Bilderstrecken Ein Anti-Fußball- ein Gespräch mit dem ehemaligen Zehnkämpfer Jürgen Hingsen, der in (Nahaufnahmen von Ringern nach dem Magazin – den Achtzigern muskelbepackt und mit Kampf ), mit amüsanten Rubriken (bei passend zur EM Freundin im Arm auf den Titelbildern »Lernen von den Profis« verstehen, wie der perfekte Tischtennis-Aufschlag funktioniert). posierte – und dann abstürzte. Das Magazin No Sports, das Gruner + Jahr alle Aber auch ein Magazin, das sich noch nicht richtig was traut. Und das hat wiederum mit Boris Becker zwei Monate rausbringen will, ist eine Wette: Wenn sich alle Sportarten zusammentun, sind sie zu tun. Wer über Sport schreibt, der kein Fußball ist, für den Leser genauso spannend wie der überhat eine Auswahl an Disziplinen und Athleten zur mächtige Fußball. An mangelndem SelbstbewusstVerfügung, die gen unendlich tendiert. No Sports sein wird die Idee nicht scheitern. Immerhin brinist für seine erste Ausgabe auf Nummer sicher ge- gen die Macher das erste Heft in einer Zeit auf den gangen. Im Tennis gibt es keine größere Figur als Markt, in der alle auf die Fußball-EM schauen. Gigantische Forschungsaufgabe: Gräber nicht identifizierter Soldaten auf dem Friedhof von Anh Son in Vietnam E s war im März vor zwei Jahren, dass Wolfgang Höppner nach Hanoi bestellt wurde. Der Anruf erreichte ihn an einem Dienstag. Man erwarte, dass er Freitag abfliege, hieß es. Ein Gesuch, dass den 64-Jährigen aus seinem bis dahin so eingespielten Leben riss. Höppner ist Professor für Biochemie und Molekularbiologie, ein gemütlicher, grauhaariger Herr. Er besitzt und führt ein Labor für Gendiagnostik. Es heißt Bioglobe, was weltläufiger klingt, als es ist: acht Laborräume im Lokstedter Grandweg, zwölf Angestellte. Der Professor und seine Mitarbeiter untersuchen verdächtige Gewebeproben auf Krebs oder seltene hormonelle Erkrankungen. Ein überschaubares Geschäft, aber kein Grund, etwas zu ändern. Bis Höppner in den Flieger nach Vietnam stieg. Mindestens 500 000 Kriegsopfer liegen dort noch immer in Massengräbern, in Urwäldern, unter Reisfeldern. Im Zuge eines Programms der Regierung sollen sie nun geborgen, anhand ihrer DNA identifiziert und endlich den Angehörigen übergeben werden. Doch die Skelette sind im feuchtheißen Klima Vietnams zerfallen, in vielen Gräbern liegen mehr als 300 000 Knochenteile, ein unheimlich komplexes Projekt. Das Vorhaben schien fast unmöglich. Aber Höppner hielt die Sache für machbar. Er sagte: »Gut, ich will es versuchen.« Und initiierte eines der größten DNA-Projekte weltweit. Höppners Kollegen staunten und gratulierten. Das Wissenschaftsmagazin Nature schrieb einen langen Artikel. Weitere erschienen in Indonesien, in Vietnam sowieso. Doch Höppners Projekt ist nicht nur für die Wissenschaft und die vielen Verbliebenen der Vietnamkriegsopfer etwas Besonderes, sondern auch ein Vorzeigeprojekt für den Standort Hamburg: Es zeigt etwas Typisches der Hamburger Biotechnologie-Branche. Denn hier sind es weniger die großen Konzerne, sondern vor allem die mittelständischen Betriebe, die den Standort voranbringen. Höppner prägt mit seinem Unternehmen eine Art Hamburger Stil, einen neuen Ton: Da ist ein hoher wissenschaftlicher Anspruch, großer Ehrgeiz, das schon. Aber all das kompakt und pragmatisch, in überschaubaren Teams, ganz ohne die für die Branche lange Zeit typische Selbstüberschätzung, den wirtschaftlichen Größenwahn, die Investoren und Exits. Es mag sich seltsam anhören, doch dass Hamburger Biotech-Unternehmen nun Knochen sortieren statt Aids heilen, ist ein großer Glücksfall für die Stadt. Viele Jahre lang schien die deutsche Politik in Sachen Biotechnologie nur Superlative zu kennen. Auch in Hamburg rief Wirtschaftssenator Thomas Mirow Ende der Neunziger die Disziplin zum »strategischen Schwerpunkt der Hamburger Wirtschaft« aus. Ole von Beust und sein damaliger Gesundheitssenator Jörg Dräger erklärten den Wirtschaftszweig unter dem Label »Life Science« zu einem der wichtigsten Cluster. Man träumte von der Ansiedlung neuer Firmen und Tausenden Arbeitsplätzen, erhoffte neue Medikamente gegen Krebs, HIV, eigentlich gegen jedes unheilbare Übel. Biotech war ein Zauberwort für die Zukunft. Eine große Zukunft. Höppner erinnert sich gut an diese Zeiten, auch er hatte große Träume. Sein Büro liegt im hinteren Abschnitt eines langen, kahlen Flurs. Am anderem Ende befinden sich die Laborräume mit Blick auf Neubauobjekte und die Hofeinfahrt. Die Atmosphäre ist familiär. Einst hatte Höppner Bioglobe ein paar Nummern größer geplant. Mit vielen Mitarbeitern, potenten Geräten, einer kräftigen Anschubfinanzierung. Das war, rund ums Jahr 2000, ein ganz normaler Traum in dieser Branche. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms nährte die Hoffnung auf schnelle Fortschritte bei der Diagnose und Heilung tödlicher Krankheiten. »Jeder, der nicht wusste, was er mit seinem Geld machen sollte, hat es in Firmen gesteckt, die mit Biotechnologie zu tun hatten oder neu gegründet wurden«, sagt einer, der damals nah dran war. Als Hochburgen der Branche galten München und Heidelberg. Sie wurden über Jahre gezielt mit Bundesmitteln gefördert. Hamburg hingegen hatte den Wettbewerb ums große Geld verloren. »Hier war einfach weniger Geld im System«, sagt Hinrich Habeck, Chef des Netzwerkes Life Science Nord, das die Aktivitäten der Branche in Hamburg und Schleswig-Holstein heute bündelt. Bioglobe-Chef Wolfgang Höppner und eine Mitarbeiterin in ihrem Hamburger Labor So begann sich eine Hamburger Besonderheit zu entwickeln, für die Höppner bis heute steht: Treiber des Booms wurden hier vor allem einzelne Personen. Eine der wohl wichtigsten war Freimut Leidenberger, der in einem Fahrradkeller eine Firma gründete, für die er mit zwölf Millionen Mark Privatvermögen bürgte: Evotec. Das Unternehmen erforschte Wirkstoffe. Rückblickend betrachtet, ist Evotec eine der wenigen Erfolgsgeschichten der gesamten Branche – denn andernorts setzte bald Ernüchterung ein. Die großen Erfolge blieben aus, die Aktienkurse der jungen Firmen stagnierten oder fielen ins Bodenlose. Auch Höppners damaliger Arbeitgeber, eines von Leidenbergers Laboren, bekam Probleme. Zulieferer riefen an, drohten: »Wann bezahlt ihr? Bald werden wir euch nichts mehr geben.« Also fing Höppner an, sein eigenes Ding zu basteln: Bioglobe, das Gendiagnostik-Labor. »Ich wusste, das würde laufen, damit konnte man was verdienen.« Und er hatte Grund, sich Hoffnung zu machen. Ein Wagniskapitalgeber sagte ihm acht Millionen Mark zu. Im Herbst 2001 wollte Höppner mit Bioglobe die Arbeit aufnehmen. Doch noch bevor es dazu kam, platzte die Hightech-Blase – und riss die Biotechnologie mit in den Abgrund. Hunderte Millionen Mark, die Fonds eingesammelt hatten, waren plötzlich weg. Unzählige Pleiten folgten. Auch Höppners Finanziers zogen sich zurück, und zwei Ärzte, mit denen er gründen wollte, sprangen ab. Die Konsequenz: Bioglobe wurde kleiner als geplant. Viel kleiner. »Im Nachhinein bin ich froh. Wären wir größer gestartet, wären wir wahrscheinlich auch untergegangen«, sagt Höppner. Der Rest der Branche suchte die Rettung in der Vernetzung. Hamburg und Schleswig-Holstein schlossen sich zusammen, versammelten auch Firmen aus der Pharmabranche und Medizintechnik unter dem Begriff Life Science. So betrachtet, kommt die Region heute auf 500 Unternehmen. Einige große wie Evotec sind dabei, aber man kann sie an einer Hand abzählen. Heute sind es kleine Firmen wie Bioglobe, die die Branche stärken und sich gegenseitig stützen: In sein Exhumierungsprojekt hat Höppner auch andere Hamburger Firmen eingebunden. Es ginge nicht ohne sie: Um die riesigen Datenmengen schnell und preiswert zu bewältigen, müssen automatisierte Abläufe her, spezielle Geräte und Software. Wenn die Arbeitsabläufe einmal eingespielt sind, sollen täglich rund 1000 Proben bearbeitet werden. Dafür will Höppner jetzt die richtigen Firmen zusammenbringen, Strukturen und Standards schaffen, die vietnamesischen Kollegen fit machen. Drei Monate lang wurde eine Gruppe von ihnen in Hamburg angeleitet, am UKE und auch in Sarajevo bei der Internationalen Kommission für vermisste Personen, die bisher wohl über die größte Expertise bei der Identifizierung von Kriegstoten verfügt. Viel Arbeit wartet in Vietnam. Höppner hat dort Labore gesehen, in denen sich Ventilatoren über den Arbeitsplätzen drehen und DNASpuren durch den Raum blasen. Nun entstehen neue Gebäude, und die sogenannte Reinraumtechnik wird installiert, die in deutschen Laboren längst Standard ist. An vielen Orten in Vietnam läuft das Projekt schon: Für jede Analyse der KnochenDNA brauchen die Experten eine Vielzahl von Proben aus der heutigen Bevölkerung, um sie mit der DNA der Toten vergleichen zu können. Mit Aufrufen in Medien werden Menschen, die Angehörige vermissen, aufgefordert, spezielle Büros der Sozialbehörde aufzusuchen. Den möglichen Verwandten wird dann ein Blutstropfen für die Erbgutanalyse abgenommen. Mindestens 1000 Mitarbeiter werden in Vietnam an dem Projekt arbeiten. »Eine Aufgabe ohne Ende«, sagt Höppner. 20 Jahre werde sie mindestens dauern. Doch Höppner hat Geduld, es geht ihm nicht mehr um das große Geld, er verdient nicht viel an dem Projekt. Aber Höppner hofft, dass das Wissen, das er jetzt aufbaut, zum Standard werden könnte. So pietätlos es klingt: Vielleicht sind die Knochen sogar ein Zukunftsmarkt. In Ruanda liegen Hunderttausende namenlose Tote des Völkermordes. Eine Delegation aus dem Land hat Bioglobe bereits zu ersten Gesprächen getroffen. Das UKE, mit dem Höppner ebenfalls zusammenarbeitet, bereitet einen ersten Forensiker für einen Einsatz in Syrien vor. In seiner Rede zum Start des Vietnam-Projekts stand ein Satz, den Höppner am Ende vor Publikum nicht vorlas, weil er ihn schließlich zu zynisch fand. Nun überlegt er und sagt ihn dann doch: »Es gibt viel zu tun. Packen wir’s an.« HAMBURG D I E Z E I T No 2 8 H 7 Fotos: Roman Pawlowski für DIE ZEIT (5); A. Schmidt/Brauer Photos (u.r.) 30. J U N I 2 0 1 6 Schlägertypen: Teilnehmer des diesjährigen Berenberg-Polo-Derbys in Klein Flottbek Stilprägend: Der britische Secondhandladen von Rudolf Beaufays in der Büschstraße Union Jack, hochprozentig: Der London Pub am Hans-Albers-Platz Südenglische Touristen beim Hamburg-Besuch Schluck: Adelsdevotionalien einer Hamburger Sammlerin Die Höhe: Siegerinnen des Hut-Wettbewerbs beim Deutschen Derby 2015 in Klein Flottbek Es bleibt dabei Brexit – na, und? Großbritannien liegt weiterhin in Hamburg D ie Briten verlassen die EU, jetzt bleibt alles an uns hängen, den Hamburgern. Hamburg ist die britischste Stadt Deutschlands, das wissen alle, und ohne London sind wir auch die britischste Metropole Europas. Statistisch und unter Hipster-Gesichtspunkten betrachtet, ist natürlich Berlin am britischsten. In Berlin leben doppelt so viele Briten wie in Hamburg, und von den zwei Millionen Touristen aus dem Vereinigten Königreich kommen die meisten an die Spree. Berlin ist also London, nur eben mit EUBescheinigung, innovativ, jung, kreativ. Und Hamburg ist wie der Rest von Great Britain, allerdings in idealtypischer Form, eine Mischung aus Stratford upon Avon, Manchester und Dover. Irgendwann, wenn den Brexit-Akteuren dämmert, dass man die Zukunft nicht aufhalten kann, indem man auf Sanduhren umstellt (ein schiefer, in seiner Kaltschnäuzigkeit aber ungemein britischer Vergleich), wird Hamburg ihr letzter Zufluchtsort sein. Hamburg ist schon jetzt das Freilichtmuseum jener britischen Lebensart, die die Brexit-Leute vor dem globalkapitalistischen, eurozentristischen Strukturwandel bewahren wollen. Wir sind pragmatisch und elegant, verschlossen und hemdsärmelig, humorig (sort of ) und traditionsbewusst (very). Und wir tragen mit einer Hingabe gewachste Regenjacken, als lebten wir im schottischen Hochmoor. Womöglich wäre es Cameron und seiner Regierung günstiger gekommen, hätten sie ein Hamburg-Verschickungsprogramm für die Brexiteers aufgelegt. Die Leute wären zu uns gereist und hätten gemerkt, dass man Teil Europas und doch nostalgisch versiert sein kann. Dass sich die Postmoderne durchaus mit der Folklore vergangener Zeiten kostümieren lässt. Unsere Britishness ist illustrer und in musealer Hinsicht authentischer als jeder Manufactum-Katalog. Beginnen wir mit einem Spaziergang an der Alster entlang zum Anglo-German Club. Ein paar Gläser Pimm’s (Sommerdrink aus Ginger Ale, Gurke, Minze und Gin) auf den Gründungsvater Sir John Dunlop oder gleich auf die Queen, deren Geburtstag hier ebenso zelebriert wird wie der VON DANIEL HA AS Commonwealth Day und zum Jahresende der Victorian Christmas Market. Ziehen wir weiter, nach Klein Flottbek, zum Outdoor-Event British Flair (auch dieses Jahr wieder, am 6. und 7. August im Hamburger Polo Club). Dort eine Partie Cricket – eigentlich autogenes Training, nur dass man dabei einen Holzschläger in der Hand hält und angezogen ist wie ein Wimbledon-Spieler aus den dreißiger Jahren –, anschließend Gummistiefelweitwerfen und als Preis einen Paddington-Stoffbären. Hamburger Kinder wissen, wer Paddington ist, sie bekommen das Maskottchen in den Koffer gepackt, zusammen mit einer Ausgabe von Pu der Bär (natürlich in der Übersetzung von Harry Rowohlt), wenn sie ins englische Internat verschickt werden. 500 der 2500 deutschen Schüler, die 2015 auf ein britisches Internat gingen, kamen aus Hamburg, und wenn diese Kids zurückkehren, dann haben sie monatelang Schuluniform getragen und Drogentests absolviert und über dieser arbeitsethischen Mobilmachung eine entscheidende britische Tugend erlernt: Coolness. Ja, wir Hamburger sind cool, mit stiff upper lip erdulden wir den Regen, die AfD, Labskaus (vor- zugsweise im Old Commercial Room, 1795 von einem englischen Reeder gegründet). Wir gehen zum Derby und tragen, ohne mit der Wimper zu zucken, Hüte vom Umfang eines Wagenrads. Wir spielen Hockey, Polo und Golf, Sportarten, deren Finanzierung es nicht gerade leichter macht, die Leasingraten für den Range Rover zu stemmen, aber, well, das sind wir Cool Britannia schuldig. Und deshalb kann Anjes Tjarks, Vorsitzender der grünen Bürgerschaftsfraktion, noch so sehr jammern, der Brexit sei »ein politisches Erdbeben«; Katharina Fegebank kann schluchzen, sie sei »sehr traurig über das Votum« – am Ende bleibt Europa britisch dank Hamburg. Wir haben die Beatles groß gemacht, John le Carré durfte hier für den MI6 Spitzelarbeit leisten, und unsere wichtigste Kirche steht an der Englischen Planke. Dorthin gehen wir und beten für all jene Briten, denen the Lord zwar die Abkehr von Europa gewährte, aber noch nicht die Einsicht, wo ihr wahres, schönes, in Tweed gehülltes Britannien im Notfall immer Zuflucht fände: an Alster und Elbe. Herzlich willkommen. 8 HAMBURG H 30. J U N I 2016 THEATER LITERATUR Regentanz am Silbersee Für ein Selfie zur Elphi Die Eröffnung der Karl-May-Spiele: Eine Schlammschlacht für Groß und Klein D I E Z E I T No 2 8 Ein neuer Hamburg-Reiseführer für Frauen. Freu dich, Instagram! VON LARS WEISBROD Foto: PR; Illustration: Anton Hallmann/Sepia für DIE ZEIT I Old Shatterhand (Till Demtrøder) kämpft gegen die Indianer vom Stamm der Utah D ie Hitze hatte ihren Würgegriff um Hamburg ein wenig gelockert, aber man wollte trotzdem raus aus der Stadt am vergangenen Samstag. Die Harley Days und Hundstage hinter sich lassen. Knapp eine Stunde Autofahrt Richtung Norden gibt es zum Glück ein Fenster zurück in die eigene Kindheit, zurück zu den schönsten Stunden damals, jenen im Wilden Westen. Die Karl-May-Spiele feierten Premiere in Bad Segeberg. Gründe, endlich einmal hinzufahren: Das 65. Jubiläum, da wird natürlich Der Schatz im Silbersee gegeben, der größte Winnetou-Old-ShatterhandKlassiker. Außerdem Besucherrekord im vergangenen Jahr. Und man hat noch die Nachrufer auf Pierre Brice im Kopf, die sich einig zeigten: Mays Werk und seine Adaptionen, das ist deutscher Exotismus, deutsche Sehnsucht, deutscher Mythos. Aber warum Bücher, Filme, Hörspiele und Parodien nicht ausreichen, um Winnetou und seine Gefährten zu erfassen, das lässt man am besten die Experten erklären. Blonde Grundschuljungs, die aufgeregt den Weg vom Parkplatz zum Bad Segeberger Karl-May-Platz entlangrennen. Es sei, weiß einer der Jungs, schon »sehr geil«, wenn die dort mit Platzpatronen schössen. Am besten aber werde es, wenn Winnetou mit seinem Tomahawk »so zwanzig Leute auf einmal plattmacht«. Noch bevor die erste Patrone platzt, versteht der Debütant, was gemeint ist: Die Freilichtbühne ist ein wahr gewordener Kindertraum, als hätten Zahnfee und Weihnachtsmann endlich den sehnlichen Wunsch erfüllt, die kleine Playmobil-Westernstadt zu Lebensgröße aufzupumpen. Der steile Kalkberg mit seinen weißen Flecken stellt die dramatische Kulisse fürs Westernörtchen namens Sheridan. Auf drei Ebenen am Hang breitet sich alles aus, was Westmänner – so heißen die Trapper und Abenteurer der frontier ANZEIGE bei May – brauchen: Saloon, Jail, Telegrafenstation, Büro der Eisenbahngesellschaft. Auftritt eines anderen Experten, Torsten Albig, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Er trägt Bolotie, Karohemd, schwarzen Hut und Doppelpistolengürtel. Als Drittklässler sei er zum ersten Mal hier gewesen und seitdem Fan, sagt er zur Begrüßung und zielt mit den Spielzeugrevolvern auf die Moderatorin. Er darf auch die ersten Platzpatronen abfeuern, allerdings in Richtung einer großen 2016, die dann funkensprühend und rauchend die Spiele eröffnet. »Meine Güte«, ruft Albig fröhlich, als es knallt und bumst. Am Eingang hängt der Warnhinweis: »Während der Vorstellung achten Sie bitte darauf, dass die Kinder nicht mit ihren Pistolen schießen.« Die Geschichte vom Bad Segeberger Schatz im Silbersee zusammenzufassen ist überflüssig, die Grundzüge sind bekannt: Jan Sosniok, durchaus würdiger Nachfolger von Größen wie Brice und Gojko Mitić in der Rolle des Winnetou, kommt zu Winnetou-Musik hineingeritten, Indianer greifen an, werden besiegt, die Tramps greifen an, werden besiegt. Im Übrigen erstaunlich, wie viel Mühe sich das Unterhaltungstheater sonst machen muss, um ComicRelief-Figuren dazuzuerfinden wie HobbleFrank, den Westmann mit deutschem Migrationshintergrund und sächsischem Dialekt. Oder den schottischen Touristen Lord Castlepool. Nicht so bei May, da ist dieser ganze Klamauk schon im Original enthalten. Ansonsten stehen bei der Revue am Kalkberg Dramaturgie und narrative Geschlossenheit nicht unbedingt im Vordergrund. Stattdessen: Explosionen! Knallerei! Kunstreiterei! 80 Mitwirkende! 25 Pferde! Außerdem der Adler Ko-inta, das Feuerauge, extra angereist aus der Greifvogelstation Hellenthal in der Eifel. Die Show legt den Kern des trivialen Abenteuerromans frei: Der erzählerische Faden darf ruhig lose gespannt sein, denn hier geht es mehr um eine Spielwelt, die tatsächlich wie Playmobil oder Lego funktioniert. Eine Handvoll prototypischer Figuren werden präsentiert, außerdem verschiedene Parteien (Westmänner, gute Indianer, Banditen, böse Indianer), und dann darf man sie in tausend Varianten aufeinandertreffen lassen, pengpeng. Wichtig sind natürlich die Spezialeffekte, die sich ebenfalls multifunktional einbauen lassen: Der Saloon kann in Flammen stehen, die Wand des Badehauses kollabieren, manchmal fällt ein Bahnarbeiter vom Gerüst. Der Kalkberg ist mehr Abenteuerspielplatz als Theater; zu schade, dass man nicht im Zickzack runterrennen und die Geschichte zusammen mit Torsten Albig weiterspielen darf. Winnetou und Old Shatterhand kommen leider nicht mehr bis zum Silbersee – nach der Pause Abbruch der Vorführung wegen Dauerregens, Gefahr bestehe für Zuschauer, Pferde und Adler. Zum Glück sind vorgegebene Handlungsstränge hier nicht wichtig, das Westernabenteuer lässt sich auf dem Fußweg zurück zum Auto im knöchelhohen Matsch zu Ende fantasieren. Im Schlamm denkt man nicht nur an Winnetou, sondern auch an Django. Tarantino meets May. Damals übrigens, 1952, als entschieden wurde, was mit der Kalkberg-Naturkulisse geschehen soll, konnten sich die Winnetou-Fans durchsetzen gegen eine Theatergruppe, die hier gerne einen anderen deutschen Mythos erzählt hätte: die Nibelungensage. Aber warum nicht mal beides zusammen? Indigene gegen Siegfried, das wäre das Gipfeltreffen deutscher FanFiction. Ein Superheldenabenteuer aus dem Geist des Teutonentums. Vielleicht zum 70. Jubiläum in Bad Segeberg. Klar, wer da gewinnt. »Der Schatz im Silbersee«: bis zum 4. September, donnerstags bis samstags 15 und 20 Uhr; sonntags 15 Uhr n Berlin kann man schon länger in kein ange- Handtaschen von Céline oder Chloé, wohin das sagtes Restaurant mehr gehen, ohne dass jeder Auge blickt. Dazu Parfümwolken, wehendes Haar sofort sein iPhone zückt und die Teller vor in Blankenese-Blond und interessante Mixgetränke. sich dokumentiert – zwecks Direkteinspei- Die Buchvorstellung ist in 15 Minuten erledigt, sung in die sozialen Netzwerke. In Hamburg pas- die vielen Frauen und sehr wenigen Männer im siert das eher selten. Das könnte an der angenehm Publikum zieht es zum Smalltalk nach draußen an sedierenden Wirkung des Astra liegen oder an der die saharaheiße Luft. Über guten Stil lässt sich schon lange nicht manierlichen Art des Hanseaten an sich – die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen. mehr streiten, vor allem nicht im Kreis derer, die Fakt ist: Ceviche, Chia-Pudding und andere Super- zur globalen Geschmackselite gehören wollen. Sie foods konnte bisher noch jeder Hamburger in sind daran gewöhnt, dass alles um sie herum bis ins kleinste Detail kuratiert wurde. Man trinkt Ruhe verzehren. Doch das ändert sich gerade, auch die Hanse- nicht irgendein Bier, sondern es muss ein stadt schließt an globale Lifestyletrends an, und da Fastmoker Pils von Wildwuchs sein, laut der läuft nichts ohne digitalen Distinktionsgewinn. Ein Biersommelière Sophia Wenzel, die in dem Führer Symptom dafür ist der eben im österreichischen zu Wort kommt, »ein frisches, grünes, vegetatives« Craft-Bier. Das Resultat: All die lässigen Brandstätter Verlag erschienene HamburgBars, schicken Concept Stores und miniReiseführer for Women only. Das Buch ist malistischen Galerieräume sehen gleich das vierte seiner Art, Wien, Berlin und aus und bieten von skandinavischen München gibt es bereits, alle herausgeTöpfereien über handgerührte Biocremes geben von der Wiener Modejournalistin bis hin zu Street-Art-Paste-ups ein ähnNicole Adler. liches Angebot – egal, ob in Brooklyn, Die Reihe ist, obwohl auf Papier geKopenhagen oder im Schanzenviertel. druckt, ein Produkt des Instagram-ZeitDa ist es nur folgerichtig, dass die drei alters. Der modern Reisende fährt nicht Autorinnen des Reiseführers Lifestylemehr in erster Linie in fremde Städte, um Bloggerinnen sind. Katharina Charpian, sein Bedürfnis nach Sehenswürdigkeiten Lisa van Lisa van Houtem und Anna Weilberg beoder kulturellen Einrichtungen zu be- Houtem u. a.: treiben zusammen femtastics.com, »das friedigen, sondern weil er dringend neue, Hamburg for digitale Magazin für Girlpower«. Das Blog aufregende Kulissen für Selfies braucht, Women only. will eine »Plattform für spannende und mit denen er sein Internet-Ich aufpolie- Brandstätter inspirierende Frauen« sein, der Reiseren kann. Verlag; 208 S., führer die Tipps der besten Freundin Solche fotogenen Kulissen zeitsparend 24,– € ersetzen. Bei beidem gilt das Prinzip des zusammen- und vorzustellen, hat sich schwesterlichen Zusammenhalts, dessen dieser Reiseführer zur Aufgabe gemacht. Dass er laut Titel »nur für Frauen« gedacht ist, mag Vorbild amerikanische Initiativen wie lean in als Verkaufsargument wirkungsvoll sein, den zum together sind, die von erfolgreichen Frauen wie der Äußersten entschlossenen Hipstermann wird – Managerin Sheryl Sandberg und der Regisseurin und Schauspielerin Lena Dunham unterstützt werund soll – das nicht bremsen. Auf 208 Seiten versammelt das aufwendig ge- den. Auch wenn man sich womöglich nie von einer staltete Buch Interviews mit Hamburgerinnen wie gewissen Delia im Day Spa im Gastwerk massieren Iris von Arnim, Cornelia Poletto oder Eveline Hall lassen wird, wie die Beauty-Bloggerin Hanna sowie mit weniger bekannten Persönlichkeiten wie Schumi einem ans Herz legt – was zählt, ist das der Fotografin Sevda Albers oder der Bar-Inhaberin Gefühl, über weibliches Geheimwissen zu verfügen Vera Heimsoth. Unterteilt in die Rubriken »Mode und den entsprechenden Termin jederzeit buchen & Shopping«, »Architektur«, »Interior & Design«, zu können. Im Prinzip verdient der Empowerment»Essen & Trinken«, »Nachtleben & Musik«, »Kunst & Kultur«, »Beauty & Entspannung« und Gedanke Unterstützung, auch wenn er, wie hier, »Ausflüge & Erholung«, finden sich massenhaft eher an der Oberfläche kratzt. Schließlich weiß Adressen, augenscheinlich alle hip und besonders, jeder, der sich mit Popkultur befasst, wie befreiend das sein kann. Ihren Job, Hamburg das Image eben for those who know. Bei der Buchpremiere in der sympathischen einer begehrenswerten It-City zu verpassen, haben Kiez-Bar Kleines Phi vergangene Woche kommt es die drei Autorinnen jedenfalls erfüllt. Und zwar so einem dann auch so vor, als sei ein Glamour- gründlich, dass man demnächst wahrscheinlich Raumschiff in der Feldstraße gelandet. Zehenfreie nicht einmal mehr in Ruhe in sein Fischbrötchen Ankleboots, bestickte Ethnokleider, sündteure beißen kann. JENNY HOCH STILKUNDE Unsere Impulse Taxis mit Defibrillator: Eine tolle Chance – und ein Risiko I n Hamburg gibt es jetzt Taxis mit Defibrillatoren, »Defi an Bord« steht gut sichtbar auf den Autos. Wenn man sich also nicht gut fühlt (Schwindelgefühl, Atemnot), kann man, soweit es die Kräfte zulassen, so einen Wagen heranwinken. Vielleicht winkt man auch nicht mehr, weil eine Körperhälfte bereits taub ist. Dann wäre es gut, in Begleitung eines HamburgKenners zu sein, der die betreffende Nummer wählt und sagt: Bitte einen Wagen mit Defibrillator. Das geht womöglich schneller, als sich beim Notruf zu melden. Statt Rettungswagen besser einen sportiv agierenden Fahrer, der sich freut, die 200 PS seiner S-Klasse einmal angemessen zur Geltung zu bringen. Fragt sich allerdings, ob ein kardiologisches Taxi nicht zum Missbrauch einlädt. Exzentrisches Partyvolk zum Beispiel, Leute, die schon immer wissen wollten, ob jenseits der Vier-PromilleGrenze noch etwas kommt, sie könnten sich ermutigt fühlen, den Lustgewinn an äußerste Grenzen zu treiben. »Also, dieses Zeug (gulp, schniiief ) ist wirklich massiv, aber was wegmuss, muss weg. Ruf besser mal ein Defi, zur Sicherheit.« Umgekehrt könnten Taxifahrer ängstlich werden. With great power (rund 4000 Volt) comes great responsibility. Vielleicht hat der Fahrgast nur deshalb keinen Puls mehr, weil er meditiert. Es soll solche Meister des autogenen Trainings geben, die minutenlang den ontologischen Status wechseln. Das Herz-Taxi: tolle Sache, aber auch eine Herausforderung. DANIE L HA AS 30. J U N I 2 0 1 6 HAMBURG KALENDER D I E Z E I T No 2 8 H Eine Woche Hamburg 30. JUNI BIS 6. JULI Täglich neue Veranstaltungstipps: www.zeit.de/hamburg ERNSTNEHMEN DO 30. 06. 9 AUSSPANNEN RAUSKOMMEN Literatur Das wird Upper-Klasse! Der Anthony-PowellAbend dreht sich um den wiederentdeckten Briten und seinen Roman »Ein Tanz zur Musik der Zeit«. Benefiz Bock auf einen Lauschhandel? Tolle Musik gegen (hoffentlich!) großzügige Gaben bei der 2. Lübecker Spendengala für Flüchtlinge. Performance »Come in and find out«: Die Klanginstallation »Außen/Innen« lädt Besucher ein, Grenzen zwischen draußen und drinnen zu erfahren. Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19 Uhr St. Marien zu Lübeck, Marienkirchhof 1, 19 Uhr Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, 20 Uhr VORMERKEN Open Air Auf einen Luftsprung zum 2. Rathauskonzert »Die Klassiker« mit Werken von Brahms und Beethoven. Innenhof des Hamburger Rathauses, 21. Juli, 19 Uhr 01. 07. SA 02. 07. HIER AUSREISSEN! SO 03. 07. MO 04. 07. DI 05. 07. MI 06. 07. Ausstellung Das Unsichtbare kann sich sehen lassen: In »Dawn Mission« zeigt die Künstlerin Katja Novitskova visuelle Daten jenseits der Wahrnehmung. Party Bitte komplett durchdrehen: Der dreifache DJ World Champion Kid Fresh serviert selbst gemischte Elektro-Sounds vom Plattenteller. Stimmung satt! Festival Dafür sollte man auf die Straße gehen: STAMP eröffnet die altonale18 mit Künstlern, die den öffentlichen Raum zur Bühne machen. Kunstverein, Klosterwall 23, 12–18 Uhr moondoo, Reeperbahn 136, 23 Uhr Verschiedene Orte, mehr unter www.altonale.de/stamp, ab 18 Uhr Klassik Nicht alt, aber gut: Nachwuchs-Pianistin Katharina Königsfeld zeigt beim Klavierabend »Von Bach bis Chopin« ihr Können. Markt Ob »Die Wicherts von nebenan« auch kommen? Hallo Frau Nachbar verkauft Schönes, Handgemachtes und Leckeres direkt vor der Haustür. Bootstour 100 % seemannsgarnfrei! Fotograf Thomas Kunadt erzählt bei »Shipspotting – Hamburger Schiffe« wahre Geschichten über Ozeanriesen. Schloss Reinbek, Schloßstraße 5, 19 Uhr Phoenixhöfe, Ruhrstraße 11, 12–18 Uhr Ab/An Überseebrücke, St.-Pauli-Landungsbrücken, 17 Uhr Gottesdienst & Gespräch Bibel-Fest: Bei der Lutherischen Messe »Marias Geheimnis« ist der koptisch-orthodoxe Bischof Thomas aus Ägypten zu Gast. Salam! Kinder Das Haut hin: Kids erfahren bei »Tätowierungen der Maori – ta moko« alles über Neuseelands Tattoos – und bemalen sich mit Motiven! St. Petri, Bei der Petrikirche 2, 10 Uhr Museum für Völkerkunde, Rothenbaumchaussee 64, 14.30–17 Uhr Tanz Und, wer führt? Schnupperkurs SommerTango, dazu spanisches Essen. Olé juhé! HafenCity Elbpromenade, Strandkai. Bei Regen: Tango Chocolate, Kirchenallee 25, 15–20 Uhr Vortrag Den Begriff »Krise« begreifen: »Der krisenhafte Anfang und die Krise am Ende der modernen Kunst – Von der Romantik zur Postmoderne«. Kinopremiere Davonlaufen und wieder Feuer fangen: »Ferien« erzählt vom Burn-out einer Frau, die auf einer Insel neuen Lebensmut findet. Gast: Schauspieler Detlev Buck. Chor Aus heiterem Himmel kommt Swing do ChorCovado: Drei Dutzend Sänger mit Samba- und Bossa-nova-Rhythmen. HafenCity Universität, Hörsaal 150, Überseeallee 16, 18.15–19.45 Uhr Abaton, Allende-Platz 3, 20 Uhr Kulturkirche Altona, Bei der Johanniskirche 22, 19.30 Uhr Vernissage Siegen auf einen Streich: »veni, vidi« zeigt Werke der Bildhauerklasse Stephan Balkenhol – Schöpfer von Hagenbecks »Mann auf Giraffe«. Party Helle Aufregung! DJ Shadow knipst nach langer Pause die Lichter am DJ-Pult an und kommt mit »The Mountain Will Fall« vorbei. Open-Air-Kino The Greatful Dead: Im Film »Ich bin tot, macht was draus« gehen in die Jahre gekommene Rocker auf Tour – mit der Asche ihres Freundes. Evelyn Drewes Galerie, Burchardstraße 14, 14–18 Uhr Mojo Club, Reeperbahn 1, 20 Uhr St. Pauli – Sommerkino, Millerntor-Stadion, Heiligengeistfeld, 22 Uhr Führung Vergangen, aber unvergessen: »Die Jüdischen Friedhöfe in Wandsbek« klärt auf über die Gemeinde von Beginn bis zur Auslöschung im »Dritten Reich«. Kabarett Keine Foul-Pelze: Schauspieler Karoline Bär und Bastian Reiber laufen in »Untergrund: Grün wie Rasen« zur EM-Humor-Höchstform auf. Ausflug Wollen wir zu »Kirschen aus Nachbars Garten mit Kirschsecco«? – Kerne! Natürlich inklusive Wettweitspucken und Naschen. Treffpunkt Jüdischer Friedhof Wandsbek, Königsreihe, 11–13.15 Uhr Restaurant im Theaterkeller, Kirchenallee 39, 19 Uhr Obsthof Lefers, Osterjork 140, 16 Uhr, Anmeldung unter 04162/375 Zusammengestellt von REGINA PICHLER WAS HAMBURG LIEST ANZEIGE KW 01 S 03 02 T 01 03 S 10 04 T 02 05 ... 06 T 05 07 T 04 08 Q 08 09 ... 10 NEU Belletristik Sachbuch Juli Zeh: Unterleuten Luchterhand; 24,99 € Giulia Enders: Darm mit Charme Ullstein; 16,99 € 01 Donna Leon: Ewige Jugend Diogenes; 24,– € Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume Ludwig; 19,99 € 02 Dörte Hansen: Altes Land Knaus; 19,99 € Stefanie Stahl: Das Kind in dir muss Heimat finden Kailash/Sphinx; 14,99 € 03 Heinz Strunk: Der goldene Handschuh Rowohlt; 19,95 € Stefan Krücken: Sturmwarnung Ankerherz Verlag; 29,90 € 04 Jojo Moyes: Ein ganz neues Leben Wunderlich; 19,95 € Peter Wohlleben: Das Seelenleben der Tiere Ludwig; 19,99 € 05 Jonas Jonasson: Mörder Anders und seine Freunde nebst ... 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Infos auf www.sonneboatundsterne.de, 30. Juli, ab 19 Uhr ANZEIGE Illustrationen: Anton Hallmann/Sepia für DIE ZEIT FR 10 HAMBURG H 30. J U N I 2016 D I E Z E I T No 2 8 HAAS GEHT AUS Von wegen gefühlig Damenwahl vom Feinsten: Der Emotion Award VON DANIEL HA AS Wer da war: Susann Atwell, Rosa Loy, Iha von der Schulenburg, Julia-Niharika Sen, Susanne Stichler, Kristina Tröger MAHLZEIT Toller Hecht aus Winterhude Günstige Gelegenheit für Fischgenuss: Das Liman ANZEIGE I Bettina Wulff, Christina Block Pola Fendel, Fashion-Unternehmerin Marie Nasemann, Model und Schauspielerin »Emotion«-Herausgeberin Katarzyna Mol-Wolf (Bildmitte) mit Gästen m Urlaub sinkt bei den meisten Essern das Verlangen nach Raffinesse. Ein ehrliches Fischlokal in der Bucht. Meeresfrüchte frisch vom Grill – und das Leben ist schön. In der Großstadt ist dieses Gefühl naturgemäß schwer zu erzeugen. Einer versucht es doch: Gürcan Aksoy. Der Gastronom mit Kontakten ins Showgeschäft tritt öfters im Fernsehen auf, wo er merkwürdige Dinge sagt, etwa, er sei »Gastronaut«. Seine Geschäftsidee vermittelt sich leichter: »solides Handwerk und kein Schnickschnack«. Sein Restaurant, Liman heißt es, benennt sich zwar nach dem türkischen Wort für Hafen, sucht aber nicht dessen Nähe. Man findet es im Hofweg – wenn man die Augen aufhält. Denn obwohl das Restaurant mit seinem doppelten Eingang nicht klein ist, setzt die Einrichtung das Credo »kein Schnickschnack« so gründlich um, dass man es kaum bemerkt. Es wirkt wie eins dieser austauschbaren Strandlokale am Mittelmeer, nur ohne den Kellner, der einen hereinwinkt, und ohne die Vitrine mit dem Tagesfang aus dem Großmarkt. Aber alles wirkt freundlich; und die meisten Tische sind belegt mit jungen Leuten. Man kann sich gut ausmalen, sie hätten einen Strandtag hinter sich und eben erst ein paar bequeme Sachen über die Badekleidung gezogen. Was sie heute empfiehlt? Die nette Kellnerin schaut verdattert. Nach einem Blick in die Speisekarte versteht man, warum. Es gibt im Prinzip nur ein Hauptgericht: Fisch vom Grill mit Röstkartoffeln und gemischtem Salat. Auch die Fischsorten zur Wahl sind immer dieselben, ohne jeden Anspruch auf Originalität. Das System, so plump es klingt, hat einen Vorteil: Hier kostet der Teller nur halb so viel wie in manchem Urlaubslokal. Die Fischsuppe vorneweg bietet Kulturschock genug. Die »Edelfische« darin wurden so lang mitgekocht, dass man unmöglich erraten kann, welche das einmal waren. Von manchen schwimmt nur ein Stück Haut in der rötlichen Masse, die eine Bouillabaisse wässrig aussehen ließe. Doch der Geschmack ist ebenso dicht und verblüffend sauber. Nichts Muffiges, nichts Angebranntes, nur volle Dröhnung Fisch. Kaum ist die bewältigt, steht schon der Hauptgang auf dem Tisch, ein tellerfüllendes Dreierlei von Pulpo, Heilbutt und Thunfisch. Alles ist tadellos gegart (wenn man Tintenfisch nach alter Schule ein bisschen schwabbelweich mag). Macht dies nun das Liman zum besten Fischrestaurant in Hamburg? Schwer zu sagen; es gibt ja kaum mehr welche. Woran das liegt, zeigt schon ein Blick aus dem Fenster zum Fischladen gegenüber. Da bekommt man die Ware noch günstiger samt Tipps fürs richtige Garen. Banales Essen, denkt man noch, dann ist schon der Teller leer. Nun ja, Seeluft macht hungrig. Was Aksoy bietet, ist zumindest ein Urlaub von Winterhude. Zwischen all den schicken Lokalen kultiviert er ein Barmbek-Feeling. Hier heißen die Gerichte noch »Gourmetteller« oder »Schlemmerplatte«. Aus den Boxen dudelt der Buena Vista Social Club. Und keiner sagt: »Das geht ja gaaar nicht!« Es geht eben doch. MICHAE L ALLMAIE R Liman, Mühlenkamp 16, Winterhude. Tel. 37 08 56 53, www.liman-fisch.com. Geöffnet montags bis donnerstags von 12 bis 24 Uhr, samstags und sonntags von 12 bis 1.30 Uhr, sonntags von 12 bis 23 Uhr. Hauptgerichte um 18 Euro Fotos: Daniel Feistenauer für DIE ZEIT; Maximilian Probst für DIE ZEIT (o.l.); Illustration: Anton Hallmann/Sepia für DIE ZEIT L aeiszhalle, früher Abend, dreißig Grad. Die Damen schimmern, ab einer gewissen kosmetischen Kompetenz wirkt Transpiration veredelnd. Die Herren halten die Köpfe starr in ihren Krägen, zur Vermeidung zusätzlicher Reibungswärme. Emotion Award, eine Ehrung für Frauen und ihre besonderen gesellschaftlichen Leistungen, vergeben vom gleichnamigen Magazin. Entsprechend ist der XY-Chromosomenträger in der Minderheit. Es macht nichts, zumal die Männer sich als nicht satisfaktionsfähig erweisen. Moderator Jörg Thadeusz: nervt mit bemühten Witzchen (»Ich bin im Paradies gelandet! 500 Frauen und alles ohne Selbstmordattentat!«). Johannes B. Kerner: erscheint als Laudator in Jeans und Knittersakko. Dabei stand es sogar in der Einladung: Cocktail Attire. Die Ladys beherrschen sie perfekt, diese Mischung aus Lässigkeit und Sinn fürs Formale. Christina Block zum Beispiel trägt ein beigebraunes Sommerkleid mit Trompe-l’ŒilMuster. Man schaut sie an, und zum Weißwein stellt sich eine angenehme Verwirrung ein. Die Damen bechern schnell und effizient die Spirituosen. Lady, hoffentlich ist Ihr Chauffeur in der Nähe, denkt man und bestaunt eine beschwingte Pola Fendel, die Jahrgangswhiskey aus einer Pipette schlürft. Auch an diesem Abend gibt es die Hamptonites (heimlich hat man sie so getauft): eine Clique von Frauen, die aussieht, als träfe man sie eben genau dort, an der ostamerikanischen Küste, auf dem Weg zum Segeltörn, best friends mit Kennedy und Radziwill. Cremefarbenes Kleidchen, Perlenkette, Hochsteckfrisur – sie könnten als unscheinbar durchgehen, wäre da nicht dieser Zug von Entschlossenheit und Disziplin um die Augen. Emotion? Ja, aber bitte gekühlt. Nr. , . Juni DIE PERESTROIKA DER MODE WIE JUNGE RUSSEN MIT DEM BERLINER STIL DIE MODE PRÄGEN zeitmagazin inhalt nr. mode — Die russische Avantgarde In der Politik herrscht momentan Eiszeit zwischen Russland und der westlichen Welt. In der Mode aber geschieht zwischen Ost und West so viel wie nie zuvor. Eine junge Generation lebt vor, was möglich ist: die Kultur des anderen zu akzeptieren, miteinander zu reden, zu feiern – und daraus etwas Neues entstehen zu lassen. Zurzeit kommen nämlich viele aufregende Mode-Designer aus der ehemaligen Sowjetunion. Und ihre Inspiration beziehen sie aus der Stadt, in der wie in kaum einer anderen verschiedene Kulturen zusammenkommen: Berlin. 200 000 russisch sprechende Menschen leben in der deutschen Hauptstadt – in unserem Modeheft widmen wir uns einigen von ihnen. Sie gehören zu denen, die den neuen Stil der Stadt prägen, der dem politischen Umgang zwischen ihrer alten und ihrer neuen Heimat um einiges voraus ist. deutschlandkarte: wo wird am häufigsten teilzeit gearbeitet? von friederike milbradt . . . . . . . . . . . . . gesellschaftskritik: über das kennenlernen von özlem topçu . . . . . . . . . . . . . . . . . . maggie rogers ’ traum ist es, von ihrer musik leben zu können aufgezeichnet von sascha chaimowicz . . . . . . . stil: erst die uhr macht den piloten tillmann prüfer . . . . . . . . . . . . . . . . von ein grünes kaninchen erlebt lustige abenteuer: die app »easy joe world« von mirko borsche . . . . . . . . . . . . . . . . . kolumnen über die radikalisierung der mitte von harald martenstein . . . . . . . . . . . . . . heiter stimmen uns kaltes eis und heisse shirts von claire beermann . . . . . . . . . . . . . . . . . Titelfotos: Thomas Lohr; Cover 1: Herrenhemd von Gosha Rubchinskiy, Ohrringe Topshop Cover 2: Jumpsuit und Cape von Moncler Gamme Bleu, Schuhe von Asos im wochenmarkt gibt es zucchinipuffer . . . . . . . . . . . . . . . von elisabeth raether wundertüte: eine öllampe gegen mücken von laura schupp . . . . . . . . . . . . . . . . . . wann muss schluss sein mit den flirtmails? von wolfgang schmidbauer . . . . . . . . . . . eine idee seiner mutter rettete den schriftsteller garth risk hallberg von anna kemper . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herr Janosch, was macht man gegen Einbrecher? »Die Türen auf, durch eine offene Tür kann niemand einbrechen. Zusätzlich kann man eine Einbrecher-Falle aufstellen. Allerdings sollte man mit einem gefangenen Einbrecher auch etwas anzufangen wissen.« diese woche in der tablet- und smartphone-app »die zeit«: eine modenschau des designers gosha rubchinskiy in florenz harald martenstein Über Umfragen und die Radikalisierung der Mitte Alte Freunde kamen zu Besuch, ein Paar. Bürger, könnte man sagen, mit Studium und Haus. Der Mann ist früher sehr links gewesen. »Übrigens, wir sind jetzt Nazis«, sagte er fröhlich. Einige Leute verwenden neuerdings dieses Wort in einer ähnlich ironischen Weise, wie Homosexuelle vor Jahren das Schimpfwort »schwul« verwendeten, so lange, bis es für die meisten kein Schimpfwort mehr war. Die beiden sehen die Regierung kritisch, vor allem die Einwanderung. Zeitungen und Fernsehen nutzen sie kaum noch. »Es ist wieder wie in der DDR«, sagte die Frau, eine Ostdeutsche. Auf ZEIT ONLINE habe ich einen Artikel über die »Radikalisierung der Mitte« gelesen, es gibt dazu eine Studie der Uni Leipzig. In der Mitte der Gesellschaft gebe es eine Gruppe, die Gewalt akzeptiere, Vorurteile gegen alles Andersartige pflege, ein autoritäres Milieu. Als Beleg für diese These wird die Zustimmung zu folgendem Satz zitiert: »Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land.« Diesem Satz stimmen, falls die Studie recht hat, fast 50 Prozent der SPD- und der CDU-Wähler zu, von den Grünen-Wählern tut dies immerhin ein Viertel. Dass ein Viertel sogar der Grünen-Anhänger ausländerfeindlich denkt, Gewalt akzeptiert und ein autoritäres Regime herbeisehnt, wäre wirklich ein erstaunlicher Befund. Aber das gibt diese Frage ja auch nicht her. Die Leute werden nur nach einem Gefühl gefragt; nach den Konsequenzen, die sie aus ihrem Unbehagen ziehen, wurden sie nicht gefragt. Sie könnten zum Beispiel als zweiten Satz sagen: »Daran wird man sich gewöhnen, das ist halt die Globalisierung.« Oder: »Trotzdem, die meisten Muslime sind sicher gute Leute.« Im weiteren Verlauf des Artikels, der, wie üblich, eine Mischung aus Nachricht und Kommentar ist, werden alle, die ein Unbehagen empfinden, in die Nähe von Rechtsextremen gerückt. Zitat: »Da ist der Schritt zum Schleudern von Brandsätzen auf Asylbewerberunterkünfte nur ein kleiner.« Zu den Gründen für die »Radikalisierung der Mitte« gehört, glaube ich, auch die Art, wie diese »Mitte« in den Medien häufig behandelt wird. So etwas wie »Differenzierung« gibt es eigentlich nur noch selten. »Differenzierung« scheint, wenn es um diese Frage geht, auch irgendwie rechtsradikal zu sein. Die Tatsache, dass es in jeder Demokratie seit Anbeginn der Zeiten Rechte und Linke gegeben hat und dass gewisse Unterschiede zwischen Liberalen, Konservativen und Nazis bestehen, scheint einigen Journalisten unbekannt zu sein. Der Unterschied zwischen einem Bombenbauer von der RAF und einem SPD-Ortsvereinsvorsitzenden ist ihnen dagegen bewusst. Es gibt für die nur zwei Denkungsarten, entweder »alles bestens, mehr davon« oder Nazi. Ich hätte auf die Frage der Leipziger Nazijäger »Nein« geantwortet. Ich fühle mich nicht fremd. Ich bin gegen Abschottung, ich will nicht zurück in die fünfziger Jahre und all das. Vielfalt finde ich gut, autoritäre Typen finde ich zum Kotzen. Trotzdem sehe ich die Regierungspolitik kritisch. Früher, als ich ein flammender Gegner des Kapitalismus war, wurde ich ständig aufgefordert, in die DDR zu gehen, wenn es mir hier nicht passt. Dabei mochte ich die DDR gar nicht so. Heute bin ich offenbar ein Nazi, wo soll ich denn jetzt hin? Polen? Bitte nicht Russland, da werde ich nicht alt. Aber in der Umfrage wäre ich immerhin bei den Guten gelandet. Das heißt, die Umfragen müssen strenger werden. Wie wäre, zur Ermittlung wirklich aller Nazis, die Frage: »Sehen Sie manche Dinge anders als die Bundesregierung?« Harald Martenstein ist Redakteur beim »Tagesspiegel« Zu hören unter www.zeit.de/audio Illustration Fengel 6 heiter bis glücklich Unsere Entdeckungen der Woche Mit der neuen Platte des schwedischen Pop-Trios Peter Bjorn and John im Ohr bewegt man sich nur noch im Tanzschritt durch die Gegend. Musik ist eben doch die beste Droge Fotos Peter Bjorn and John, Gyalpa, Abolfazl, Carne Corporation, Fortnum & Mason, Olaf Unverzart »Ketchup auf alles.« Mal wieder eine »Vom Müll zum DesignObjekt«-Erfolgsgeschichte: Das libanesische Label Art Afif macht aus alten Flaschen diese eleganten Wassergläser (über avocadostore.de) Von der Flucht bis zur Ankunft in Deutschland erzählen neun Flüchtlinge in Bildern, Videos und Texten, die vom 1. bis 3. Juli im Münchner Studio The Stu ausgestellt werden Die amerikanische Schauspielerin Kate Bosworth hat in einem Interview endlich das Geheimnis ihrer schlanken Figur verraten Calippo, die klebrigste Erinnerung unserer Kindheit, gibt es jetzt auch für Erwachsene: Zum Beispiel mit Gin und Sherry (von Fortnum & Mason) Keine Angst vorm Alter: Im ZEITmagazin waren die Fotos, mit denen Olaf Unverzart das hundertste Jahr seiner Großmutter dokumentiert, schon zu sehen. Jetzt ist »Hundert« als Buch erschienen (fountain Verlag) Von Claire Beermann Der Sommer macht übermütig – wem das Stelldichein unter freiem Himmel aber zu heikel ist, der kann auch erst mal eins der verwegen bestickten T-Shirts von Carne Bollente anziehen 7 wochenmarkt Eieiei! Grüne Gemüsepuffer Zutaten für 3–4 Personen: 250 g Zucchini (geraspelt), Salz, 2 Handvoll Blattspinat (in Streifen geschnitten), 120 g Feta (zerkrümelt), 25 g Parmesan, ½ Knoblauchzehe (fein gehackt), einige Blättchen Basilikum (grob gehackt), abgeriebene Schale von 1 Zitrone, Pfeffer, 5 Eier, Olivenöl Neulich habe ich an dieser Stelle ein Rührei als Frittata verkauft, damit nicht jeder sofort merkt, wie allzu simpel mein Geschmack ist. (Sie war ja trotzdem sehr gut, finde ich, diese Frittata mit grünem Spargel.) Jetzt habe ich einen tollen Begriff für gebratenes Ei entdeckt, nämlich »Gemüsepuffer«. Das Rezept stammt von Anna Jones, einer britischen Köchin, die bei Jamie Oliver gelernt hat. In ihrem Buch A Modern Way to Eat (Mosaik Verlag) sind alle Rezepte vegetarisch oder vegan, das ist aber nicht weiter schlimm, denn die Geschmackskombinationen sind einfach toll. Anna Jones hat einen Instagram-Account mit 100 000 Followern, denen sie ihre extrem geschmackvoll angerichteten Teller präsentiert – oder manchmal ein gut gestyltes Picknick im Wald, eine pittoreske Haustür oder ihren schwangeren Bauch. Obwohl ich selbst praktisch kein Gespür für Tischdeko und Antiquitäten habe und, ehrlich gesagt, für Fotos überhaupt, habe ich auch einen InstagramAccount. Mir folgen bislang nur 1200 Leute, weshalb ich mich über jeden neuen Follower freue. Name des Accounts: @zeitmagazin_wochenmarkt. Bis bald also hoffentlich! Von Elisabeth Raether Foto Silvio Knezevic Zucchiniraspel salzen und ungefähr eine halbe Stunde lang in einem Sieb abtropfen lassen. Dann zusammen mit Spinat, zerkrümeltem Feta, fein geriebenem Parmesan, Knoblauch, Basilikum, Zitronenschale, Salz und Pfeffer in einer großen Schüssel am besten mit der Hand vermengen. Eier aufschlagen und unterrühren. In einer Pfanne Olivenöl erhitzen, nicht am Öl sparen. Wenn es heiß ist, je zwei Esslöffel vom Teig in die Pfanne setzen und etwas flach drücken, sodass Puffer entstehen. 2 bis 3 Minuten lang braten, dann wenden, bis das Ei durchgegart ist. Dazu passt ein Salat mit Senfdressing. 8 deutschlandkarte Teilzeitarbeit Plön (34,9) Emden (14,9) Osterholz (34,4) Lüchow-Dannenberg (35,7) Delmenhorst (36,6) Wolfsburg (13,2) Salzgitter (18,7) Frankfurt (34,0) Wolfenbüttel (34,5) Olpe (19,1) Sömmerda (19,6) Werra-Meißner-Kreis (35,7) Sonneberg (19,2) Cochem-Zell (35,1) Kusel (35,2) Hohenlohekreis (18,3) Ingolstadt (17,6) Dingolfing-Landau (17,9) Tuttlingen (18,6) unter 15 15 – unter 20 20 – unter 25 25 – unter 30 30 – unter 35 35 und mehr Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in Teilzeit arbeiten – in Prozent nach Kreisen und kreisfreien Städten. Benannt sind die Orte mit den zehn höchsten und den zehn niedrigsten Werten (Stichtag: 30. September 2015) Eigentlich ist Teilzeit eine tolle Idee. Arbeiten Frau und Mann in einer Beziehung je nur zur Hälfte, können sie sich Haushalt und Kinderbetreuung ganz gerecht teilen und haben trotzdem noch ein volles Einkommen. Die Sache ist nur: Es sind meist nur die Frauen, die in Teilzeit arbeiten. Aber nicht nur zwischen den Geschlechtern ist die Teilzeit ungleich verteilt, sondern auch zwischen den Regionen. Am kleinsten sind die Quoten in Wolfsburg, Emden und Ingolstadt. Diese Städte haben gemein, dass dort Werke von großen Automobilherstellern beheimatet sind: In Wolfsburg und Emden sitzt VW, in Ingolstadt Audi. Dort ist man oft im Schichtbetrieb tätig – und das in Vollzeit. Und in den Metropolen? Im armen Berlin arbeitet man eher in Teilzeit (31,6 Prozent) als im reichen München (23,9 Prozent) oder in Hamburg (26,3 Prozent). Deutscher Meister im Teilzeitarbeiten ist allerdings Delmenhorst. Das liegt an den zahlreichen Dienstleistungsfirmen in der Stadt. Besonders viele Teilzeitstellen gibt es hier im Einzelhandel – einer »Frauenbranche«. Illustration Laura Edelbacher Von Friederike Milbradt 10 Quelle Bundesagentur für Arbeit Freiburg (34,2) Über Arten des Kennenlernens eine gesellschaftskritik Die amerikanische Pop-Sängerin Taylor Swift hat kürzlich bei einem Abendessen den britischen Schauspieler Tom Hiddleston kennengelernt. Okay, es war kein einfaches Abendessen, sondern die wichtigste Benefizveranstaltung der New Yorker Modewelt. Es gab weiß eingedeckte Tische und später einen Tanz, und seitdem gehen Swift und Hiddleston miteinander, heißt es zumindest. Kennengelernt bei einem Abendessen?, wird sich jetzt vielleicht der eine oder andere jüngere Leser überrascht fragen. seinen Agenten bat, ihm mal diese kleine Dunkelhaarige vorzustellen, diese Katie Holmes? Dann war mit Holmes Schluss, und als er anschließend wieder auf die Suche ging, soll er, so heißt es, einen Dating-Service von Scientology in Anspruch genommen haben. Oder Elyas M’Barek, der seine Freundin angeblich auf dem Oktoberfest kennengelernt hat: na ja. Oder David Beckham, in dessen (autorisierter) Biografie steht, dass er sein späteres Spice Girl zuerst im Fernsehen bewunderte, während sie ihn Fotos Christopher Smith / action press; Taylor Hill / Getty Images Zwei Bilder, aber neuerdings gemeinsam unterwegs: Taylor Swift und Tom Hiddleston Ja, das passierte früher tatsächlich häufig, als es noch kein Online-Dating gab. Man hat sich erst gesehen, dann telefoniert, gemailt oder gesimst. Nicht umgekehrt. Man konnte einander nicht einfach wegwischen wie auf dem Smartphone, und ob ein »Match« vorlag, errechnete nicht der Computer, sondern man selbst. Und alles hatte seine Reihenfolge: Man konnte sich erst anschauen, also in echt. Dann lächeln. Dann sprechen. Dann tanzen. Heute ist diese Reihenfolge des Kennenlernens völlig durcheinander. Das Wie und Wo des Kennenlernens ist für Promis ja auch Teil des Images und damit genauso wichtig für die Mythenbildung wie die eigentliche Partnerwahl. Nur blöd, dass es auch Mythen beschädigen kann. Wollen wir wirklich wissen, dass Tom Cruise seinerzeit Von Özlem Topçu in einem Sammelalbum für FußballerBildchen für sich entdeckt habe. Man kann es sich eben nicht immer aussuchen. Nicht mal als Promi. Und für das Ende der Beziehung scheint es sowieso keine Rolle zu spielen, wie zwei sich kennengelernt haben. Auch dafür steht Taylor Swift. Mit ihrem Ex wurde sie nämlich ganz klassisch verkuppelt: Wie man der einschlägigen Presse entnehmen kann, lernte sie Calvin Harris, einen schottischen DJ, im vergangenen Jahr durch eine Freundin kennen. Die stellte die beiden einander bei den Brit Awards vor, aus guten Gründen (»Sie sind beide großartig und sehr groß«). Nun, hat auch nicht lange gehalten. Die Trauerzeit betrug zwei Wochen. Dann kam schon Hiddleston. Dieses Matchen ist doch jedes Mal wieder ein verdammtes Wunder. 11 cattelan & ferrari Kettenkarussell Maurizio Cattelan ist einer der einflussreichsten italienischen Künstler. Seit 2009 arbeitet er mit dem Fotografen Pierpaolo Ferrari zusammen. In diesem Jahr produzieren sie jede Woche ein Bild für das ZEITmagazin 12 RUSSISCHE REVOLUTION Berlin wird wieder zum Sammelpunkt der russischen Kreativen, die mit ihrem hier geprägten Stil die Modewelt begeistern. Wir haben Berlins neue Bewohner fotografiert, in deutscher und internationaler Mode 15 Fotos Thomas Lohr Styling Klaus Stockhausen Von Tillmann Prüfer Das Atelier des Künstlers Dmitri Wrubel in Prenzlauer Berg ist ein Treffpunkt der Hoffnungsvollen. Der Russe lädt zusammen mit seiner Partnerin Viktoria jeden Samstag in sein Atelier ein. Hier kommen Menschen zusammen, die Russland verlassen haben, weil sie unter den gegebenen politischen Umständen dort keine Heimat mehr haben. Einmal war der Politologe Alexander Morozov eingeladen, er sollte über die aktuelle Lage in Russland reden. Er trat nach vorne und sagte, die Lage in Russland mache ihn sprachlos, deswegen wolle er nur ein Gedicht aufsagen. Anschließend trat einer nach dem anderen aus dem Publikum vor – jeder trug ein persönliches Gedicht vor. Auch der Schriftsteller Wladimir Kaminer war dabei. Er hat mit seiner in den neunziger Jahren gegründeten »Russendisko« russischen Pop in der Hauptstadt zum Hit gemacht, gerade arbeitet er an seinem nächsten Buch – Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger. Für ihn sind es solche Abende, an denen er die russische Seele spürt. »Die Russen sind ja alle sehr poetisch«, sagt er. »Jeder kann unzählige Gedichte auswendig.« So gesehen wird die deutsche Hauptstadt immer poetischer. Denn sie ist ein Sammelpunkt russischer Exilanten. Kaminer sagt: »Ich fühle mich wie in den zwanziger Jahren, ständig treffe ich hier neue Menschen, die das Land verlassen haben, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen.« Für solche Leute ist Berlin die erste Anlaufstation. »Deutschland steht für die Russen für Europa«, sagt Kaminer: »Es ist der Beweis dafür, dass Dinge funktionieren können.« Vor allem Journalisten kämen nach Berlin, und auch Künstler und Intellektuelle, die hier Freiheit suchten. Berlin als das Symbol für die Freiheit, für das Leben, das man führen möchte. Das zeigt sich auch in der Mode. Zurzeit sind Designer aus Russland und den Ländern der durch Russland geprägten ehemaligen Sowjetunion präsent wie nie. Designer wie Demna Gvasalia, Mitbegründer des Labels Vetements und Kreativchef von Balenciaga, stehen für eine wilde, ungezügelte Art, Mode zu gestalten. Ihr Vorbild ist der Ost-Streetstyle, wie ihn junge Russen in Marzahn und Neukölln tragen, mit Bomberjacken, Trainingshosen und geschorenen Haaren. Die Schnitte der neuen DesignerGeneration sind hart, ganz und gar nicht gefällig und voller Bezüge auf Deutschland und seine Hauptstadt – wenn etwa gelbe T-Shirts mit dem Aufdruck DHL inszeniert werden oder Mäntel, auf deren Rücken der Schriftzug POLIZEI leuchtet. Auf einem Vetements-Kleid findet sich das Logo einer legendären Berliner Schwulenbar: Ficken 3000. Vetements ist eine Marke mit Sitz in Paris, die sich ihre Ideen in Berlin holt. Berlin und Russland, das ist eine Beziehung mit Tradition. Die Stadt hatte schon viele russische Momente. Als in Russland nach dem Ersten Weltkrieg die Oktoberrevolution losbrach, kamen Tausende Russen nach Berlin. Die Stadt wurde zum Sammelbecken derer, die Grund hatten, die Rote Armee zu fürchten. Es waren ArmeeAngehörige, Aristokraten und Intellektuelle. Sie arbeiteten als Taxifahrer oder drehten in Heimarbeit Zigaretten, um in Berlin durchzukommen. Anfang der zwanziger Jahre lebten 300 000 Russen in der Stadt. Rund um den Wittenbergplatz entstand ein kleines St. Petersburg, Charlottengrad genannt, eine Stadt in der Stadt – erbaut aus den Trümmern der bürgerlichen russischen Gesellschaft. In Berlin sammelten sich die Geflüchteten, bevor sie in andere europäische Städte zogen oder einfach sesshaft wurden. Viele Adlige hatten internationale Verbindungen und konnten auf Hilfe rechnen, zumal da man in deutschen feudalen Kreisen die Bolschewisten ja auch hasste. Nachdem die Russen erfahren mussten, dass die alte Ordnung in Russland verloren war, bauten sie in Berlin russischorthodoxe Kirchen, eröffneten ihre eigenen Restaurants und gründeten Tennisclubs. Es gab in der Stadt russische Bücherstuben, russische Konditoreien und russische Zeitungen. Auch der Schriftsteller Vladimir Nabokov lebte lange in Berlin: von 1922 bis 1937. Er war kein großer Freund der Stadt, aber sie prägte sein Frühwerk, dort finden sich wunderbare Beschreibungen der Metropole. Nabokov heiratete in Berlin und bekam hier seinen Sohn. Die Stadt hatte einen großen Vorteil, den viele heute noch an ihr schätzen: Sie lässt einen sein. In Berlin konnten die Russen unter sich bleiben. Mit seinen vier Millionen Einwohnern, damals eine der größten Städte der Welt, bot Berlin genug Platz für jede Kultur. Zeitweise wurden in den russischen Verlagen Berlins mehr Bücher veröffentlicht als in Moskau. Die Russen waren es, die Berlin erstmals zur internationalen Stadt machten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Osten Berlins gleichsam ein Teil Russlands. Davon zeugen heute noch wichtige Bauwerke. Die im russischen Bombast-Stil gebaute Karl-Marx-Allee, das Café Moskau, auf dessen Dach eine Nachbildung des Satelliten Sputnik thront. Und natürlich das Wahrzeichen Berlins, der Fernsehturm. Der ursprünglichen Planung nach sollte seine Facetten-Kugel nachts rot angestrahlt werden. Als sozialistischer Gruß Moskaus in den Westen. Die heutige russische Diaspora in Berlin besteht nicht mehr aus geflohenen Adeligen oder Militärs. Aber immer noch sind es jene, die hier ein besseres Leben suchen. Schätzungsweise 200 000 russisch sprechende Menschen leben in Berlin. Es sind zum einen die vielen, die nach der DDR-Zeit hiergeblieben sind. Dazu kommen Tausende jüdische Aussiedler. Und dann sind da noch die Russen, die Berlin als neue Heimat oder Heimat auf Zeit gewählt haben, darunter Studenten, Künstler und solche, die sich im heutigen Russland bedrängt fühlen. Auch Menschen wie Dmitri Wrubel. Er ist als Maler durch das Bild, das er auf die Berliner Mauer gemalt hat, bekannt geworden: Es zeigt Honecker und Breschnew, die sich innig küssen. Wrubel wohnt seit sechs Jahren in Berlin. »Solch politische Kunst könnte ich im heutigen Russland nicht mehr machen«, meint er. In der alten Heimat ist er nur noch selten. Wenn man darauf achtet, entdeckt man überall in Berlin den Einfluss der russischen Kultur. Es gibt russische Bars, Restaurants, Dampfbäder und Geschäfte mit Namen wie Bukowina, Matreshka und Samowar, in denen »RUSSEN SIND SEHR GROSSHERZIG« Vitali Gelwich, 26, Fotograf, wurde in Nowosibirsk geboren. Seit sechs Jahren lebt er in Berlin Von Claire Beermann die Waren des alten sowjetischen Imperiums angeboten werden: Rigaer Sprotten, Kamtschatkakrabben, armenischer Kognak. Es gibt eine russische Lokalzeitung und einen russischen Radiosender. Die deutsche Hauptstadt hat eine Sonderrolle. Sie liegt zwischen Ost und West. Mit ihrer rücksichtslosen Architektur, ihrer Unordnung, den erbarmungslosen Wintern und dem nimmermüden Nachtleben. Ebendas macht Berlin zur Inspirationsquelle für die neue Generation von Designern, die gerade die internationale Modewelt umkrempeln. Allen voran Gosha Rubchinskiy und Demna Gvasalia. Gvasalia, Georgier mit deutschem Pass, ist der Kopf des DesignerKollektivs Vetements. Und er liebt Berlin: »Berlin gibt mir das Gefühl, dass alles möglich ist.« Man habe sogar überlegt, die Marke in Berlin zu gründen – sei dann aber aus wirtschaftlichen Gründen nach Paris gegangen. Das Label Vetements hatte schnell den Ruf, von Moderebellen gestaltet zu werden. Bei der jüngsten Show spazierten die Models zwischen Kirchenbänken herum, trugen Sweater mit überdimensionierten Schulterpolstern und T-Shirts mit Slogans wie »Fuck you, asshole«. Auch die Stücke von Gosha Rubchinskiy haben nichts mit üblichen Schönheitsvorstellungen zu tun. Seine acidwashed Jeans und schlecht sitzenden Mäntel bringen ein anarchisches und ungezügeltes Moment zurück in die Mode. Sie nehmen Bezug auf die russische Realität, auf die Leute, die sich irgendwie durch ihren Tag schlagen müssen und dazu anziehen, was für diesen Zweck brauchbar ist: eine Jeans und eine Jacke. Während der amerikanische Streetstyle längst von der Designermode aufgesogen wurde, kann der Straßenstil der Russen dieser noch etwas entgegensetzen: eine gewisse radikale Wucht. Der kurz geschorene Mode-Russe ist gewissermaßen der Gegenspieler des Großstadt-Hipsters mit Bärtchen. Letzterer lebt in einer Welt, in der alles ironisch, crafted und flexitarisch ist und man nostalgisch verklärt zurück in die analoge Zeit schaut. In einer Bomberjacke von Vetements hingegen blickt man besten stur und schnörkellos nach vorne. Zum Glück ist in einer Stadt wie Berlin Platz genug für beide. Ich bin in Fürstenwalde in Brandenburg groß geworden. Anfangs haben wir dort in einem Asylbewerberheim gewohnt. Meine Mutter war sehr darauf bedacht, mich von anderen russischen Kindern fernzuhalten. Sie wollte, dass ich wie ein normales deutsches Kind aufwachse. Trotzdem habe ich die russische Mentalität. Russen sind temperamentvoll, aber auch sehr familiär und großherzig. Meine besten Freunde sind alle russisch. Ich weiß, dass ich ihnen vertrauen kann: Ein Russe verrät einen anderen Russen nicht. Wenn ich heute Russland besuche, fühle ich mich allerdings wie ein Deutscher. Ich habe zwei Kulturen in mir – ein großes Privileg, meiner Ansicht nach. Als Fotograf finde ich es interessant, dass der postsowjetische Stil momentan ein solcher Hype ist. In Russland laufen die sozial Schwachen in dem herum, was Gosha Rubchinskiy und Demna Gvasalia in Paris auf dem Laufsteg zeigen. Ein reicher Russe würde sich niemals so anziehen. Das ist typisch russisch: niemals arm aussehen zu wollen. Ich habe vor fünf Jahren Gosha und die Stylistin Lotta Volkova kennengelernt. Damals meinte Lotta zu mir: Gosha wird in fünf Jahren berühmt sein. Blödsinn, dachte ich. Das Zeug sieht doch aus wie von Humana. Jetzt ist dieser Look erfolgreich, gerade weil er real und ungekünstelt ist. An Berlin liebe ich, dass das Leben hier so einfach ist. Ich teile mir mit fünf Fotografen ein 300 Quadratmeter großes Studio in Moabit. In New York wäre das undenkbar! Aus aller Welt kommen die Leute deshalb hierher. Ich kenne einige Zugezogene, die seit Jahren in Berlin wohnen und nicht mal Deutsch sprechen. In welcher Stadt hat man das schon – dass man sich nicht anpassen muss und trotzdem kein Außenseiter ist? 17 Wir haben unsere Modestrecke in der Berliner Karl-MarxAllee fotografiert. Auf der vorigen Seite: Vitali Gelwich auf einem Hausdach (Trainingsanzug von adidas x Palace, Socken von American Apparel, Uhr von Rolex) 19 Oben: Das Dach des ehemaligen Kinos Kosmos. Links: Daria Surneva in der Karl-MarxAllee (Kleid mit Volants von Kenzo) Meine Erinnerungen an meine Kindheit in Russland sind vor allem von einem Gefühl der Unsicherheit geprägt. Ich war damals fasziniert von lateinamerikanischen Tänzen. Wenn meine Mutter mich spätabends vom Training abholte, war sie immer mit einem Regenschirm bewaffnet, um uns ein Gefühl von Schutz zu geben, weil sich auf den Straßen viele Betrunkene herumtrieben. Auch an die Entbehrungen in der Sowjetunion kann ich mich gut erinnern. Wenn ich einen Schokoriegel bekam, aß ich jeden Tag nur ein winziges Stück, damit er die ganze Woche reichte. Trotz allem legte meine Mutter Wert darauf, dass wir Kinder gut gekleidet waren. Einmal gab sie ihr ganzes Monatsgehalt aus, um einen rosa Schneeanzug für meine Schwester zu kaufen. Das ist sehr russisch: Man hat zwar nicht viel, aber man investiert trotzdem in das Aussehen. Vielleicht hat das meine Liebe zur Mode geprägt. Vor eineinhalb Jahren habe ich den Kindermodeladen Walking the Cat in Berlin-Mitte eröffnet. Diese Gegend finde ich sehr entspannt. Mittlerweile begreife ich mich als Deutsche. Ein Leben in Moskau kann ich mir nicht mehr vorstellen. Von Laura Schupp »EIN SCHOKORIEGEL MUSSTE EINE WOCHE LANG REICHEN« Daria Surneva, 35, wurde in Moskau geboren und hat heute einen Laden für Kindermode in Berlin Von Tillmann Prüfer Ich kam nach Berlin wegen der Liebe. Aber die Liebe musste lange warten. Ich hatte 1970 in Moskau eine Frau aus Berlin geheiratet, doch erst fünf Jahre später durfte ich ausreisen. In Moskau war ich unangenehm aufgefallen, weil ich mich an den sogenannten verbotenen Ausstellungen beteiligt hatte. Das waren Ausstellungen in Wohnungen. Man konnte sie nicht verbieten, aber ich galt fortan als verdächtig. In Ost-Berlin gefiel es mir sofort. Ich hatte Kontakt zu Bürgerrechtlern und zur evangelischen Kirche, auch zu Wolf Biermann. Nach der Wende bekam ich eine dicke Akte, die die Stasi über mich geführt hatte, wegen einer antisozialistischen Einstellung. Heute ist Berlin eine internationale Stadt, die sehr künstlerfreundlich ist. Ich habe hier ein Netzwerk mit Menschen aus vielen Ländern, meine engsten Kontakte sind nicht unbedingt Russen. Wenn ich zu meinen Partys einlade, feiern sie allerdings am besten. Ich veranstalte regelmäßig Rennen mit eigens dafür gezüchteten Kakerlaken. Außerdem betreibe ich seit mehr als 20 Jahren das Museum der Stille. Stille ist etwas, was diese Stadt am allerbesten gebrauchen kann. »IN OST-BERLIN GEFIEL ES MIR SOFORT« Nikolai Makarov, 63, ist Maler und zog 1975 nach Ost-Berlin. Heute lebt er im Westen der Stadt 20 Nikolai Makarov auf einem Dach am Strausberger Platz (Sakko, Longsleeve und Hose von Yohji Yamamoto, Sneaker von Hugo Boss) Ich komme aus einer Millionenstadt mit Wasser, Brücken, romantischen Bauten, einer Stadt des schönen Geistes. Einer Stadt mit jahrhundertelanger Tradition und höfisch französischer Sprache zu Zaren-Zeiten. Hätte ich etwas Adäquates auf dieser Erde finden wollen, wäre es wohl eher Paris geworden und nicht Berlin. Doch das Schicksal meiner Eltern sagte »Deutschland«, und meins sagte »Berlin«. Es ist nicht besonders romantisch hier, wenn man nicht gerade, so wie ich, dem Umstand, dass Banker und Stricher an der Currywurstbude am Zoologischen aufeinandertreffen, etwas Romantisches abgewinnen kann. Hier ist es rau. Doch wo es nicht rau ist, entsteht keine Kunst, hat mein Vater mir seit Kindheitstagen eingetrichtert. Also suche ich die Romantik in dem Dreck Berlins, in dem Clash dieser Stadt, der keine Abgrenzung zwischen Arm und Reich zulässt. Das Land, aus dem ich komme, birgt das Chaos in sich. Du musst lernen, dich zurechtzufinden, denn die Vielschichtigkeit ist enorm. Das gleiche Gefühl habe ich in Berlin, wenn ich, gerade noch ein Bouquet Blumen in Charlottenburg gekauft, auf ein paar südländische Jungs treffe, die mir mit ihrem »Ks-ksBaby-Baby« eindeutig zu nah kommen. Dann ist es viel wert, in Sekunden von »Oh, herzlichen Dank, die Päonien sind dieses Jahr wirklich besonders schön« auf »Alter, was geht mir dir? Was du brauchst, hab ich gefragt?!« auf Russisch wechseln zu können. In Russland ist ein Leben nicht besonders viel wert, das weiß man, also gehen die Jungs auf Abstand, sagen: »Hey, alles gut, alles gut ...« Russisch ist die Sprache der Gewalt und der Schönheit, Deutsch die Sprache der Vernunft. Ich lebe in Berlin irgendwo dazwischen. 23 Kat Kaufmann vor dem Brunnen am Strausberger Platz (T-Shirt von Marc Jacobs Vintage, Lederjacke von Diesel Black Gold) 20 Von Tillmann Prüfer »RUSSISCH IST DIE SPRACHE DER SCHÖNHEIT« Kat Kaufmann, 34, wurde in St. Petersburg geboren. Sie ist Schriftstellerin und lebt in Berlin 25 Oben: Blick vom Dach am Strausberger Platz. Links: Magomed Dovjenko am Frankfurter Tor (langes Top aus bedruckten T-Shirts von Vetements, Hose von adidas, Mütze von Billionaire Boys Club) An meine Heimat kann ich mich kaum noch erinnern. Aber ich liebe vieles, was aus Russland kommt: zum Beispiel Pelmeni, mit Fleisch gefüllte Teigtaschen, die mir meine Großmutter manchmal kocht. Obwohl ich mich selbst eher russisch als deutsch fühle, betrachte ich Russland heute mit Abstand. Den Umgang mit Leuten dort, die nicht ins Raster passen, finde ich gruselig. Wer als Mann in einer engen Hose herumläuft, kriegt Probleme. Das mag ich an Berlin: Man kann hier sein, wer man sein will. Am liebsten zeichne ich nachts und höre dazu Musik von A$AP Rocky oder Kanye West. In dieser Stimmung kann ich gut arbeiten. Als ich das erste Mal in die Stadt kam, fand ich Berlin unübersichtlich und chaotisch. Vor zwei Jahren habe ich hier dann Leute getroffen, die ebenfalls künstlerisch aktiv sind. Man trifft sich in der Odessa Bar. Dort arbeiten einige Russen. Mir gefällt der Laden, obwohl er kein Geheimtipp ist. Ich mag das Düstere, Raue an der Stadt, gerade im Nachtleben. Eine ähnliche Stimmung soll ja auch in Kiew und St. Petersburg herrschen – mit illegalen Partys in Kellerlöchern. Von Claire Beermann »ICH LIEBE DIE PELMENI MEINER GROSSMUTTER« Magomed Dovjenko, 22, floh 1994 mit seiner Familie aus Tschetschenien. Er arbeitet als Illustrator und Designer Von Tillmann Prüfer »MATHEMATIK WAR MEINE ERSTE LIEBE« Ekaterina Eremenko arbeitete als Model und Moderatorin – bis sie nach Berlin zog, um Filme zu machen Die erste große Leidenschaft in meinem Leben war die Mathematik. Das Fach habe ich in Moskau studiert. In Russland ist Mathematik etwas Besonderes, eine Philosophie. Allerdings wurde ich aus diesem Denken herausgerissen, als ich Model wurde. Ich war in Paris, London, New York unterwegs, aber am besten hat es mir schon immer in Berlin gefallen. Ich finde, Russen und Deutsche passen gut zusammen: Wir teilen dieselbe Melancholie. Nach meiner Modelkarriere wurde ich erst Moderatorin, dann ging ich nach Berlin, um Filmproduzentin zu werden. Vor einigen Jahren bekam ich das Angebot, einen besonderen Dokumentarfilm zu machen, über Mathematik: »The Colors of Math«. Inzwischen habe ich meinen zweiten Mathematik-Film gedreht, »The Discrete Charm of Geometry«. So habe ich hier in Berlin tatsächlich zurück zu meiner ersten Liebe gefunden. 27 Ekaterina Eremenko in der Karl-Marx-Allee (Kleid von Lutz Huelle) Von Laura Schupp Vor sechs Jahren bin ich für mein Jurastudium nach Berlin gezogen. Davor habe ich mit meinen Eltern im Münsterland gewohnt. In Kiew, wo mein Vater herkommt, bin ich nur ein einziges Mal gewesen. Ich habe die Stadt als einen sehr kalten Ort erlebt – vielleicht wegen der grauen Häuserblocks und des riesigen Kriegsdenkmals, der Mutter-Heimat-Statue. Ich glaube, diese Stimmung macht etwas mit den Menschen, auch mit meinem Vater. Er ist sehr melancholisch, ich glaube, er ist nie wirklich in Deutschland angekommen. Er war als Soldat der sowjetischen Armee in Magdeburg stationiert, als er meine Mutter kennenlernte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entschied er sich, in Deutschland zu bleiben. Ich glaube, er war, wie viele Menschen aus den Ostblockstaaten, auf der Suche nach seiner Identität. Ich habe zu ihm heute keinen Kontakt mehr und habe somit auch den Bezug zur russischen Kultur verloren, bis auf meinen Namen ist da nicht viel geblieben. Meine Kindheit war schwierig, deswegen schätze ich die Freiheit in Berlin sehr. Ich habe mir immer ein unbeschwertes Leben für mich gewünscht und es hier gefunden. »KIEW WIRKT AUF MICH SEHR KALT« Sascha Aleksjuk, 25, studiert Jura. Seine Mutter ist Deutsche, sein Vater ein ehemaliger sowjetischer Soldat 28 Sascha Aleksjuk auf dem Dach der Bar Babette (Jacke von Diesel Black Gold, T-Shirt von American Apparel Vintage, Hose von Paul’s Boutique) Von Laura Schupp Meine Eltern zogen 1991 nach Deutschland. Zu Hause sprachen wir nur Russisch. Im Kindergarten redete ich wie selbstverständlich in meiner Muttersprache und konnte nicht begreifen, wieso mich keiner verstand. Später gewöhnte ich mir das rollende R ab, um nicht sofort als Russin erkannt zu werden. Ansonsten fühle ich mich aber durch und durch als Russin. Vor allem die Zusammengehörigkeit innerhalb unserer Großfamilie schätze ich sehr. Obwohl meine Familie traditionell lebt, sind alle Frauen bei uns sehr emanzipiert. Mittlerweile hat sich hier in Berlin eine neue russische Szene gebildet. Meine Freundinnen, die Models Bonnie Strange und Stefanie Giesinger und die Bloggerin Masha Sedgwick, stammen alle aus Russland und sind zielstrebige, starke Frauen. Unsere Herkunft schweißt uns zusammen. Wir teilen den gleichen makabren Humor, lieben Kaviar und haben alle einen Onkel Waldemar. Dank ihnen und meinem Lieblingssupermarkt Kasatschok in Prenzlauer Berg vermisse ich Russland hier nur wenig. Für mich vereint Berlin die Größe Moskaus mit einer Gelassenheit, die es so in Russland nirgends gibt. »WIR TEILEN DEN GLEICHEN MAKABREN HUMOR« Valentina Belleza, 24, ist Tochter einer Sibirierin und eines Kasachen. Sie modelt und schreibt ein Mode-Blog 30 Oben: Der Vorplatz des ehemaligen Kinos Kosmos. Rechts: Valentina Belleza vor der Galerie Capitain Petzel (Bluse mit zwei Röcken von Moncler Gamme Rouge, Gürtel von Diesel Black Gold, Stiefel von Kenzo) Ich kam als 13-Jährige mit meiner Mutter und meinem deutschen Stiefvater nach Deutschland. Ich habe mich auf den Umzug sehr gefreut, es war schließlich ein großes Abenteuer. Ich erinnere mich, wie mir anfangs alles so makellos und schick und sauber erschien, ganz anders als in meiner Heimat Sibirien. Wenn ich dort aus meinem Schlafzimmerfenster schaute, sah ich Junkies und Obdachlose auf einer Müllkippe herumhängen. Erst später wurde mir bewusst, was für eine schöne Kindheit ich in Russland hatte. Ich kann mich erinnern, wie meine Mutter, die in Moskau arbeitete, an Silvester überraschend im eingeschneiten Pelzmantel wie eine Schneekönigin vor der Tür stand. In den ersten Wochen in Deutschland habe ich Russland sehr vermisst. Heute bin ich froh, nicht mehr dort zu leben. Es ist katastrophal, wie intolerant die russische Gesellschaft zum Teil ist. Gleichzeitig ärgert es mich, dass Russland im Westen fast nur negativ dargestellt wird, während die großen russischen kulturellen Leistungen – das Ballett, das Theater, die Musik und die Literatur – in Vergessenheit zu geraten scheinen. Berlin hat etwas Magisches für mich. Kein Wunder, dass David Bowie hierherkam, als er erschöpft war. In meinem ersten Sommer habe ich in der Lychener Straße in Prenzlauer Berg nächtelang auf Dächern gesessen und mich so frei gefühlt wie nie zuvor. Die Menschen erwarten hier erst mal nichts Großes von dir. Berlin hat mir die Chance gegeben, mich selbst zu finden. Und wenn ich die Heimat vermisse, tröstet mich die Berliner Ostblock-Architektur: Die ist fast so wie in Sibirien. 33 Lera Abova auf einem Hausdach in der KarlMarx-Allee (Kleid von Miu Miu) Von Claire Beermann Digital-Operator: Fabian Blaschke; Foto-Assistenz 1: Tom Weatherill; Foto-Assistenz 2: Axel Heumisch; Haar und Make-up: Helge Branscheidt/Klaus Stiegemeyer mit Produkten von Chanel S/S 2016 und Aveda; Haar und Make-up-Assistenz: Michi Schietzel; Styling-Assistenz: Laura Schupp; Casting: Sina Linke (Gillian Wiechert Casting); Claire Beermann »ICH HABE RUSSLAND SEHR VERMISST« Lera Abova, 23, stammt aus dem sibirischen Slawgorod. Sie arbeitet als Model »RUSSEN SIND SEHR DIREKT« Seitdem der Designer Gosha Rubchinskiy in Paris erfolg reich ist, sind sogar russische Millionäre von seiner unglamourösen Mode begeistert – obwohl man ihr genau ansieht, wo Rubchinskiy herkommt: Aus einer grauen Moskauer Wohnsiedlung, wo er als Kind TerminatorSticker sammelte und von Hollywood träumte Foto Thomas Lohr 34 Von Claire Beermann Herr Rubchinskiy, mit welchem Missverständnis des Westens gegenüber Russland würden Sie nur zu gerne mal aufräumen? Im Westen denken viele Leute, Russland läge in fremder Ferne. Tatsächlich sind wir sehr europäisch. Ich habe immer das Gefühl, dass die Leute im Westen Angst vor Russland haben, weil es so groß und einschüchternd wirkt. Russen sind sehr direkt und haben eine starke Meinung. Viele von ihnen kennen nur Schwarz oder Weiß, nichts dazwischen. Das wirkt natürlich auf manche Menschen bedrohlich. Sie stammen aus Moskau. Sieht man das Ihrer Mode an? Ich bin im Norden Moskaus in einer grauen Wohnsiedlung aufgewachsen. In der Schule sammelten wir Terminator-Sticker und schwärmten von Hollywood-Filmen. Natürlich beziehe ich mich mit meinem Design auf meine Vergangenheit. Ich mische diese Erinnerungen aber mit dem, was junge Leute aktuell auf der Straße tragen. In allen Metropolen der Welt ist Streetwear heute beliebt. Junge Menschen tragen Kapuzenpullover, Jogginghosen und Turnschuhe. Ich interpretiere diesen Look mit einem russischen Akzent. Den Titel »Post-Sowjet-Style«, der meinem Design in der Presse verpasst wurde, habe ich aber nicht erfunden. Sie wollten Ihr Label zuerst in Moskau gründen, sind dort aber gescheitert. Woran lag das? Meine erste Show, die 2008 in einem Moskauer Sportstadion stattfand, war sehr erfolgreich. Kurz danach wurde ich als Gastdesigner zur Londoner Modewoche eingeladen. Von Anfang an wollte ich meine Sachen nicht nur in Russland verkaufen, sondern auf der ganzen Welt. Wegen der schlechten Produktionsbedingungen in Russland und der hohen Exportgebühren hat das allerdings gar nicht gut funktioniert. Also habe ich umgesattelt und mich auf die Fotografie konzentriert. Erst als ich Adrian Joffe, den CEO von Comme des Garçons, kennenlernte und er vorschlug, mein Label innerhalb seiner Firma aufzuziehen und sich um das Geschäftliche zu kümmern, kam ich zurück zur Mode und zog nach Paris. Es heißt, das Reale und Ungekünstelte Ihrer Kollektionen sei Ihr Erfolgsrezept. Warum sind Glamour und Eleganz heute nicht mehr so gefragt? War Mode nicht eigentlich mal dazu gedacht, zum Träumen von einem schöneren Ich einzuladen? Ich mache Mode, die man kaufen und anziehen kann. Es gibt ein paar besondere Stücke in jeder Kollektion, die meisten Sachen sind aber Basics. Innovativ ist das Styling, das eine bestimmte Idee von Jugendlichkeit und Aufbruchsstimmung vermittelt. Ich glaube, dass die Leute nicht mehr an den extravaganten Modeträumen fantasierender Designer interessiert sind, sondern an lässigen Sachen, in denen man auf die Straße gehen kann. Junge Menschen wollen sich einer Gruppe und einem bestimmten Image zugehörig fühlen, cool sein. Sie wollen keinen Regeln folgen, die ihnen ein Modemagazin diktiert hat. In Ihren Kollektionen verfremden oder zitieren Sie immer wieder die Logos bekannter Traditionsmarken wie Tommy Hilfiger oder aktuell Fila. Gab es in Ihrer Jugend eine Sehnsucht nach westlichen Marken? Dass ich diese Labels zitiere, hat einen anderen Grund. Ein Problem der Modewelt war immer, dass die großen Firmen mit ihren Logos viel Druck erzeugt haben. Man wusste sofort, wer die »richtige« Marke trug, also dazugehörte, und wer nicht. Junge Leute wollen sich diesem Druck nicht mehr beugen. Im Gegenteil: Sie schauen lieber in die Kleiderschränke ihrer Eltern und finden dort Jacken und Sweatshirts von verstaubten Marken wie eben Fila oder Tommy Hilfiger. Das möchte ich aufgreifen, ohne dabei die Marken zu kopieren. Stattdessen kriegen sie den frischen GoshaAnstrich verpasst. Trägt man Ihre Sachen auch in der russischen Oberschicht? Dort sind doch eigentlich eher teure Uhren und Pelzmäntel gefragt ... Doch, mittlerweile tragen sogar russische Millionäre meine Sachen. Die russische High Society kauft immer das, was gerade als cool gilt. Nach dem Motto: Was man in Paris trägt, muss gut sein. Das ist gerade deshalb ironisch, weil der Look meiner Entwürfe ja das Gegenteil von offensichtlichem Reichtum vermittelt, während die russische Upperclass normalerweise gerade darauf viel Wert legt. Was vermissen Sie am meisten, wenn Sie nicht in Russland sind? Die Sprache! Russisch ist wunderschön und sehr poetisch. Im Russischen gibt es zehn Wörter für etwas, das man auf Englisch nur mit einem Wort ausdrücken kann. Früher träumten Jugendliche von amerikanischer Popkultur, ihr Sehnsuchtsziel war New York. Heute wollen junge Leute aussehen wie ein russischer Skaterboy und nach Berlin ziehen. Haben Sie eine Erklärung für diesen erstaunlichen Wandel? Jahrzehntelang war Osteuropa durch den Eisernen Vorhang von der Welt isoliert. Wir konnten dem Geschehen im Westen zuschauen, aber nichts dazu beitragen, weder in der Kunst oder in der Musik noch in der Mode. Jetzt wird die erste Generation, die kurz vor oder nach dem Zerfall der Sowjetunion geboren wurde, erwachsen. Es ist die erste russische Generation, die ihre eigenen Ideen in die Welt tragen kann. Bisher waren wir still, jetzt machen wir plötzlich Lärm. Das beschert uns natürlich Aufmerksamkeit. Sie haben vor einiger Zeit Jugendliche in Berlin für eine Bilderserie fotografiert. Was gefällt Ihnen an der Stadt? Berlin erinnert mich an Russland. Die Stadt ist nicht hübsch, sie hat eher etwas Kaltes an sich. Gleichzeitig habe ich dort immer das Gefühl, dass es unter der Oberfläche dampft und brodelt. Gosha Rubchinskiy, 1984 in Moskau geboren, arbeitet als Mode-Designer und Fotograf. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt den Bildband »Youth Hotel«. Seine Kollektionen sind weltweit in über 150 Läden erhältlich ich habe einen traum Maggie Rogers In meiner Familie macht sonst niemand Musik. Ich fing in der Highschool an, mich der Folk-Musik zu widmen, das Banjo war mein Instrument. Mit 17 bewarb ich mich mit dem ersten Song, den ich je aufgenommen habe, für das Musikstudium in New York – und wurde angenommen. An der Universität galt ich schnell als das Banjo-Mädchen vom Land. In diesem Internetvideo erzähle ich, dass mich ein spirituelles Erlebnis dazu gebracht hat, meine Banjo-Folk-Musik mit elektronischer Dance-Music zu verbinden, wie eben im Song Alaska. Was ich dort nicht erzählt habe: Diese spirituelle Erfahrung machte ich in Berlin. Ich besuchte dort gute Freundinnen und ließ mich mit ihnen tagelang durch die Stadt treiben. Ich hatte damals nicht mal ein Handy und schaute kein einziges Mal auf einen Stadtplan. Wir zogen durch die Straßen, ich sog die Atmosphäre auf, und sie nahmen mich mit in einen Club an einem Fluss. Mir kam es dort vor, als bedeute das Tanzen zu elektronischen Beats viel mehr als anderswo: Es ging den Menschen darum, den Kopf freizubekommen, auszuspannen, es ging um das Glück des Moments. Die Beats gaben einen Herzschlag vor, der alle verband. Drei Tage dauerte mein Berlin-Aufenthalt. Danach wusste ich, wohin ich mich musikalisch entwickeln wollte: Zu hören unter www.zeit.de/audio Es ist merkwürdig: Bis vor Kurzem habe ich ein Traumtagebuch geführt. Und gerade als ich damit aufhörte, verwandelte sich mein echtes Leben in einen Traum. Bis Ende Mai war ich Musikstudentin an der New York University. Dort wurde im Frühjahr ein Wettbewerb veranstaltet, in dem es darum ging, einem Überraschungsgast eigene Kompositionen vorspielen zu dürfen. Zu den ausgewählten Stücken gehörte mein Song Alaska. Der Überraschungsgast war Pharrell Williams. Ein Kamerateam hat das Ganze gefilmt. Während mein Song lief, saß Pharrell neben mir; ich konnte nicht erkennen, wie er reagiert. Irgendwann sah ich nur, dass seine Fußspitzen im Takt mitwippten. Der Hype um das Video, das diese Szene zeigt, begann lustigerweise genau an dem Tag nach meinem Auszug aus meiner Studentenwohnung. Plötzlich hatte ich 100 000 FacebookFans und der Mitschnitt mehr als eine Million Klicks. Für mich war das surreal, auch deshalb, weil mir das Internet immer wie eine künstliche Welt vorgekommen ist. Ich bin einfach nicht damit aufgewachsen. Meine Heimat ist eine Farm an der Ostküste Marylands, die Internet-Verbindung war dort immer sehr langsam. Aufgezeichnet von Sascha Chaimowicz Foto Straulino »Plötzlich hatte ich 100 000 Facebook-Fans« 22, ist in Maryland, USA, geboren. Bekannt wurde die Studentin des Clive Davis Institute der New York University mit einem bewegenden Internetvideo, in dem sie den Popstar Pharrell Williams mit ihrem Song »Alaska« erstaunt und restlos begeistert Maggie Rogers, 37 Die emotional warme Folk-Musik wollte ich mischen mit der physisch so kraftvollen Dance-Music, die ich in Berlin gehört hatte. Wer sich Alaska genau anhört, wird das Rauschen einer Brise bemerken. Die habe ich während einer Alaska-Wanderung aufgezeichnet. Jetzt werde ich erst mal in den französischen Alpen wandern gehen, auch da werde ich Sounds für meine Musik sammeln. Ich weiß nicht, was mich erwartet, wenn ich im Juli aus den Bergen zurückkomme. Bald werde ich neue Songs veröffentlichen, sie sind schon fertig. Ich wollte immer von meiner Kunst leben können. Dass es gerade so aussieht, als könnte das klappen, ist der eigentliche Traum. Pilotenuhr mit grünem Logo: Oyster Perpetual Air-King, 5650 Euro stil unter Mirko Borsche testet ein Computerspiel mit einem grünen Kaninchen Von Tillmann Prüfer Foto Peter Langer Foto Spil Games Luftnummer Wozu braucht man eigentlich eine Uhr? Oft wird behauptet, eine Armbanduhr sei ein überflüssiges Accessoire, denn jeder habe schließlich heute ein Handy, das ihm die Uhrzeit viel genauer angebe. Die Armbanduhr ist gewissermaßen ein mechanisches Spielzeug, ein Anachronismus, in jeder Hinsicht technisch der billigsten Quarzuhr unterlegen. Die Uhrenhersteller hingegen investieren dennoch viel, um ihre mechanischen Kleinkunstwerke immer genauer zu machen. Eben erst hat Rolex den neuen Präzisionsstandard »Chronometer der Superlative« eingeführt. Eine Bezeichnung, die diese Uhren einerseits von der Konkurrenz abheben soll – andererseits aber an eine Zeit erinnert, in der es tatsächlich das wichtigste Kriterium für eine Uhr war, wie genau ihr Werk lief. Denn Präzision war entscheidend. Als der Mensch begann, sich zu motorisieren, und sich damit selbst schneller bewegte, wurde auch eine genaue Zeitmessung wichtiger. Uhrenfirmen mussten mit dem technischen Fortschritt mithalten. Als größte Herausforderung galt unter den Uhrmachern die im 20. Jahrhundert aufkommende Fliegerei. Wer in einem Cockpit saß, brauchte eine genaue Uhr, um die Flugzeit und den Treibstoffverbrauch ermitteln zu können, sie musste auch sehr robust und antimagnetisch sein. Die erste Fliegeruhr wurde 1906 von Cartier für den brasilianischen Flugpionier Alberto Santos Dumont gebaut. Man konnte sie am Handgelenk tragen. Bald wurde es zur Königsdisziplin der Uhrmacherei, Fliegeruhren herzustellen. Es waren Uhren, die keinen Zierrat brauchten, sondern perfekt funktionieren mussten. Sie waren mit zusätzlichen verstellbaren Ringen für Navigation und Entfernungsmessung ausgestattet, hatten gut ablesbare Zifferblätter und fluoreszierende Indizes für Nachtflüge. Dazu extralange Armbänder, damit man sie über den Ärmel einer Fliegerjacke schnallen konnte. Das Beste an einer solchen Pilotenuhr war allerdings ein Nebeneffekt, der nicht technisch war: Sie zeigte an, dass man ein König der Lüfte war – auch wenn man gerade sein Flugzeug nicht dabeihatte. Vermutlich erklärt das auch den Erfolg der Pilotenuhr weit über die Dauer ihrer technischen Notwendigkeit hinaus. Denn Uhren wurden schon bald in die Armaturenbretter der Flugzeuge eingebaut. Die Pilotenarmbanduhr blieb trotzdem ein Bestseller, es wurden viel mehr davon verkauft, als es Piloten gab. Bestimmte Armbanduhren waren also schon immer ein eigentlich überflüssiges und gleichzeitig unersetzliches Accessoire. strom Wenn meine Söhne bei mir sind, dann gibt es für uns alle eigentlich ein Handy-Verbot. Ich möchte einfach nicht, dass wir die ganze Zeit auf unsere Bildschirme starren. Leider kommt es aber immer mal wieder vor, dass ich selbst nicht konsequent bin und doch meine Mails checke oder schnell was google. Tatsachen, die natürlich sofort gegen mich verwendet werden. Es ist im Grunde ja wünschenswert, wenn Kinder lernen zu argumentieren – hat aber auch seine Nachteile. Jedenfalls muss ich manchmal nachgeben. Das fällt mir etwas leichter, seit ich die App Easy Joe World entdeckt habe. Easy Joe ist ein kleines anarchisches grünes Kaninchen, das es faustdick hinter den Löffeln hat. Mit ihm muss man zum Beispiel andere Kaninchen aus der Schule befreien. Oder zum Mond fliegen. Oder sich einen Burger erschleichen, was so aussieht: Sobald er den Burger hat und der Verkäufer Geld haben will, haut Easy Joe ab. Der Burgerverkäufer natürlich hinterher, aber zum Glück erscheint rechtzeitig auf dem Schirm weiße Farbe, mit der man Joe als Geist tarnen und den Verkäufer verscheuchen kann. Es ist ein wirklich lustiges Spiel, Joe fallen dauernd witzige Lösungen für seine Probleme ein, wir haben beim Spielen oft laut gelacht. Dazu ist es ganz simpel und cool illustriert, nicht hyperrealistisch, sondern sehr grafisch. Mir gefällt, dass es gewaltfrei ist, man geht nicht wie bei anderen Spielen kaputt oder wird zerstört und muss dann ganz von vorn anfangen, sondern man probiert einfach herum, bis man in jedem Level die lösende Pointe gefunden hat. In ein bis zwei Stunden hat man alle Level durch – und dann kommt das Handy aber wirklich weg! Technische Daten Sprache: Englisch; Kompatibilität: iOS 6.0 oder höher, Android 3.2 oder höher; Preis: kostenlos Mirko Borsche, Creative Director des ZEITmagazins, schreibt jede Woche die Kolumne »Unter Strom« 39 die wundertüte nr. Eine Öllampe gegen Mücken Zu den Gemeinheiten der Stechmücke gehört es, dass ihre Opfer nie wissen, wie sie zu verscheuchen ist. Manche Gifte wirken sicher, aber will man sich in Deutschland, wo keine Malaria herrscht, wirklich mit Diethyltoluamid einreiben? Eine Öllampe mag von »überschaubarer Wirkung« sein, wie ein befragter Apotheker sagt, aber immerhin: Weil der Geruch ätherischer Öle den des Menschen verschleiert, fliegen die blutsuchenden Mücken (hoffentlich!) in die Irre. Diese Lampe stammt von Smarticular, einem »Ideenportal für einfaches und nachhaltiges Leben«. Man braucht ein großes Joghurtglas mit Blechdeckel, in den man ein Loch von 10 Millimeter Von Laura Schupp Illustration Alex Walker Durchmesser bohrt. Durch das Loch steckt man ein Metallröhrchen gleichen Durchmessers mit Außengewinde, zu finden im Eisenwarenladen (solche Röhrchen werden etwa zum Lampenaufhängen genutzt). Das Röhrchen wird mit je einer Mutter von oben und unten am Deckel befestigt, anschließend fädelt man einen Runddocht von 6 bis 8 Millimeter Durchmesser hindurch, er sollte oben einen halben Zentimeter hinausragen. Ins Glas füllt man Pflanzenöl, etwa Sonnenblumenöl. Dazu kommen nach Belieben Kräuter: Zitronengras, Nelke, Zedernnadeln, Lavendel, Melisse oder Eukalyptus. Wenn das die Mücken nicht beeindruckt, riecht es wenigstens gut. 40 Mitarbeit Corinna Liebreich Ätherische Öle führen, mit etwas Glück, Stechmücken in die Irre Lebensgeschichte Schach Freiheit war ihr immer wichtig. »Ich habe von klein auf gelernt, auf eigenen Beinen durchs Leben zu gehen [...]. Vielleicht kommt es daher, dass ich so freiheitsliebend bin«, liest man in ihrer Autobiografie. Aber das Bedürfnis nach privatem Spielraum macht ihr auch zu schaffen, da es ihr berufliches Fortkommen bremst. »Ich wollte reisen und feiern. Ich habe deshalb Lehrgänge verschlafen, nicht richtig trainiert ...« Das ändert sich erst, als ihr jemand klarmacht, dass sie Gefahr läuft, ihr Talent zu verschleudern. Von nun an steht sie im Dienste des Teams – für eine erklärte Einzelkämpferin so wenig selbstverständlich wie der daran geknüpfte Tagesplan: »10 Uhr Frühstück, 10.30 Uhr Training, 13.30 Uhr Mittagessen ... das ist überhaupt nicht meine Lebensphilosophie.« Aber nach und nach machen Erfolge die Mühe wett, gewinnt sie Medaillen und Titel. Und doch: Wenn sie nur könnte, wie sie wollte, gesteht sie in einem Interview, würde sie lieber mit dem Rucksack um die Welt reisen und mit den Haien tauchen. Gut, dass sie dem Impuls nicht folgt, denn sie wird immer noch besser, krönt ihre Karriere in nur einem Jahr mit gleich drei Titeln. Manchmal braucht es wohl erst einen Sprung über den eigenen Schatten, um sich voll zu entfalten. Und dann, nach dem Abschied von der Hauptbühne, kann sie endlich mit den Haien tauchen, denn die gibt es da, wo sie nun für eine Zeit lebt und arbeitet. Heute ist es ruhiger um sie geworden, in ihrem Blog schreibt sie über gesunde Ernährung: Pfannkuchen ohne Zucker und Mehl. Wer ist’s? Lösung aus Nr. 27: Regisseur Reinhold Schünzel verhalf der Schauspielerin Renate Müller (1906 bis 1937) zu ihrem ersten großen Erfolg in »Liebe im Ring«. Die Komödie »Viktor und Victoria« ist ihr und Schünzels Meisterwerk. Goebbels wollte sie (angeblich) mit Hitler verkuppeln Logelei Doris findet einen Zettel. Darauf steht: Trage Zahlen von 1 bis 6 so in das Diagramm ein, dass jede Zahl in jeder Zeile und jeder Spalte genau ein Mal vorkommt. Befindet sich zwischen zwei Feldern ein schwarzer Kreis, so muss eine der beiden Zahlen in diesen Feldern genau das Doppelte der anderen sein. Ein weißer Kreis hingegen bedeutet, dass eine der beiden Zahlen in diesen Feldern genau um eins größer sein muss als die andere. Befindet sich kein Kreis zwischen zwei Feldern, so darf keine der beiden Eigenschaften zutreffen. 8 7 6 5 4 3 2 1 a b c d e f g h Gerd Kolbe liebt den BVB, dessen Stadionsprecher er war und über dessen Geschichte in der NS-Zeit er ein Buch geschrieben hat. Er liebt aber auch das Dortmunder Sparkassen Chess Meeting, eines der stärksten Traditionsturniere der Welt, das er seit Jahrzehnten leitet. Und er liebt Zahlen: »In diesem Jahr findet das Turnier vom 9. bis 17. Juli zum 44. Mal statt, Kramnik nimmt zum 22. Mal teil, und er kann es zum 11. Mal gewinnen.« Vielleicht findet er ja noch etwas mit 33. Bleiben wir bei Wladimir Kramnik (41) aus Russland, der 2000 Garri Kasparow entthronte und zweimal seinen Titel verteidigte, bevor er 2008 in der Bonner Bundeskunsthalle dem Inder Viswanathan Anand unterlag. Auch für ihn ist das Dortmunder Turnier eine Liebesbeziehung. Alle Weltmeister von Spasski über Karpow, Kasparow, Anand, Carlsen wie auch Judit Polgar und Hou Yifan haben in Dortmund gespielt, aber niemand hat ihm so sehr seinen Stempel aufgedrückt wie Kramnik. Für ihn ist Dortmund eine Wohnstube bei guten Freunden, wohin er immer wieder gern zurückkehrt. Als Nummer zwei der aktuellen Weltrangliste ist er natürlich einer der großen Favoriten, dummerweise gibt es allerdings noch junge Leute wie Fabiano Caruana (23) aus den USA als Nummer drei, der zudem in den letzten drei Jahren Sieger wurde, und den Franzosen Maxime Vachier-Lagrave (25) als Nummer fünf. Mit welchem »geometrischen Manöver« gewann Kramnik als Weißer am Zug 2008 schnell gegen den Engländer Nigel Short? Lösung aus Nr. 26: 1. 255 : 3 = 85 2. 6 x 11 = 20 + 3 x 17 - 5 3. 3 x 7 x 59 x 3 = 85491 : 23 nächste woche an dieser stelle: sudoku und die auflösung aus nr. Impressum chefredakteur Christoph Amend stellvertretender chefredakteur Matthias Kalle creative director Mirko Borsche art director Jasmin Müller-Stoy style director Tillmann Prüfer (Mitglied der Chefredaktion) berater Andreas Wellnitz (Bild) textchefin Christine Meffert essay & reportage Heike Faller bildchefin Milena Carstens redaktion Jörg Burger, Anna Kemper, Friederike Milbradt, Ilka Piepgras, Jürgen von Rutenberg, Matthias Stolz, Annabel Wahba; Mitarbeit: Claire Beermann, Johannes Dudziak, Klaus Stockhausen (Contributing Fashion Director), Elisabeth von Thurn und Taxis (New York), Carolin spiele Würfel fotoredaktion Michael Biedowicz gestaltung Nina Bengtson, Gianna Pfeifer, Mirko Merkel (Mitarbeit) autoren Jean-Philippe Delhomme, Daniel Lösung aus Nr. 27: Welche forcierte Kombination gewann für Weiß am Zug? Nach 1.Txe6! Txe6 2.Le5+ Kc8 (auf 2...Txe5 gewönne 3.Txd8+ Kc7 4.fxe5 Kxd8 5.exf6 eine Figur) 3.Lxb7+! Dxb7 4.Txd8+ Kxd8 5.Dxb7 verlor Schwarz die Dame GmbH anzeigen DIE ZEIT, Matthias Weidling (Gesamtanzeigenleitung), Nathalie Senden empfehlungsanzeigen iq media marketing, Michael Josefsohn, Herlinde Koelbl, Brigitte Lacombe, Zehentmeier (Gesamtanzeigenleitung) anzeigenpreise ZEITmagazin-Preisliste Nr. 10 vom 1. 1. 2016 anschrift Louis Lewitan, Harald Martenstein, Paolo Pellegrin, Lina verlag Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Scheynius, Wolfram Siebeck, Jana Simon, Juergen Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg; Tel.: Teller, Moritz von Uslar, Günter Wallraff produktionsassistenz Margit Stoffels korrektorat Thomas 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail: [email protected] Worthmann (verantw.) dokumentation Mirjam Zimmer anschrift redaktion ZEITmagazin, Dorotheenstraße (verantw.) herstellung Torsten Bastian (verantw.), Oliver 33, 10117 Berlin; Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: Nagel, Frank Siemienski druck Prinovis Ahrensburg 030/59 00 00 39; www.zeitmagazin.de,www.facebook.com/ GmbH repro Twentyfour Seven Creative Media Services ZEITmagazin, E-Mail: [email protected] spiele Um die Ecke gedacht Nr. 2335 1 2 7 8 13 14 3 9 10 15 20 4 16 5 11 17 6 12 18 21 19 22 23 24 25 26 27 29 30 32 31 33 36 43 34 37 38 44 47 28 39 40 41 45 35 42 46 48 Waagerecht: 7 Hier vom Altkönig aus gesehen, dort vom Schauinsland angeschaut 10 Ein weiteres Tun im Golf oder Tennis oder epischen Erzählen 13 Verwendet nach dem Prinzip: Schubkraft schafft mehr als Tragkraft 15 Für manch eine gilt: Reichlich Touristen sind vor allem Randerscheinung 17 Urlaubsunternehmung auf größeren 6 senkrecht 20 Soll er bleiben oder wechseln, das ist die Frage anlässlich einer 39 senkrecht 21 Bietet Beflügelten gewissen Raum zum Abheben immerhin 22 Strebt andererseits und zwischendrin zum selben Ziel wie Sieg und Lippe 23 Besagte Basis von Verschluckaktionen 24 Wie man klopfe, wenn keiner »Herein!« sagt 25 Erfreuen Naturholzmöbelkäufer, plagen junge Patienten 27 Gern sieht man Rot an ihm, weil’s auf kommendes Blau zu schließen erlaubt 29 Produktorientierte Produktion 32 Wirken schirmübertrumpfend in Erfüllung ihres Beschattungsauftrages 34 Sein Circuit: alle Jahre wieder zweimal rund um die Uhr von Interesse 36 Der alte Meister der schwarzen Kunst hat sie im Kopf 37 Phasen von Sommerwetterlagen? Anlässe für Beschwörung des Wir-Gedankens 42 Ist auch der Weg sein Ziel, wird sich Wanderer über einen ab und zu nicht beschweren 43 Wer weiß nichts, wer weiß alles? 44 Standardeintrag im Heldengästebuch 45 Für Phileas Fogg ging’s elfeinhalb Wochen um die 46 Kommt beim Star vor dem Fall 47 Auf die höheren schielen Ehrgeizhälse 48 Keine Ferienregionen für Kraxler, Gleitschirmflieger, Pässeradler – Senkrecht: 1 Namensvetterchen vom Herrn der Passwege ins Aostatal 2 Liegt aber nicht am Fluss des States, sondern am South Platte 3 »Ist mir doch zu piekant«, mag Reineke, sich trollend, säuerlich murmeln 4 Einer von vieren mit Sonderbedeutung für jeden von Dreien 5 Wanderten bei Ioniern und Achaiern und damit in peloponnesische Geschichte ein 6 Der Früchte ...: eine Frage der Sonne und der Zeit 7 Häufigster Betreff der Kinderfragen vom Rücksitz aus 8 Kurz: Unternehmung nichtschweigender Minderheit 9 Ergänzt einen Mann wie der Brand den Stifter, auf demselben Buchdeckel 10 Kein Schätzchen fand er, als früher Passwortnutzer 11 Von Gijon oder Bilbao aus gesehen liegt das meiste von España in dem 12 In den Schülernennungen gegeben als Antwort auf die Frage: Was macht Sehnsucht auf Ferien? 14 Deren Motto: Bloß nicht 9 senkrecht wirken! 16 Saisonaler Antipode der Pudelmütze 18 Oberster Bangemacher überm Karpfenteich 19 Sind dem Plan verhaftet, dass man sich Wissen schafft 25 Mann aus Ovids Metier, zu Titus’ Zeiten, mit Juvenals Freundschaft 26 Eifriges ... gehört zu Flamingos Speisen 28 In bescheideneren Zeiten gegriffen, statt Rucksack zu schultern 30 Wunsch zum Urlaubsmorgen: dass man mich nicht – Wunsch zum Frühstück: eine 31 Acker-Erscheinungen vergangener Erntezeiten 33 Pflicht möge schweigen und sie, soll Ferienheiterkeit sich ergeben 35 Bekannt für seine Kreidekante, zum Ostseerande hin 38 Mainhattan-Boulevard: Die an die bringt endlich Seit’ auf Seit’ beim Romanschreiben 39 Nach spätestens zwei bis drei 37 waagerecht darf man annehmen: mann/frau kennt sich in der aus 40 Kurz: der häufigste Zweck der Ansage 41 Muss sommers nicht unbedingt dampfen, auch die Eis-Version ist willkommen Die Lösung von Nr. 2334 werden wir wegen des S ommerpreisrätsels erst in A usgabe 29/16 veröffentlichen, denn noch bis Dienstag, den 5. Juli 2016, haben Sie Zeit, Ihr Lösungswort der vergangenen Woche einzusenden. Kreuzworträtsel Eckstein Lebensgeschichte Frauke Döhring Logelei Zweistein Schach Helmut Pfleger ZEITmagazin-Sommerpreisrätsel (2) So können Sie gewinnen: Finden Sie im Kreuzworträtsel das Lösungswort der Woche (heute 29 waagerecht)! Es ergibt sich, wenn Sie die Buchstaben der in der Mitte des Kreuzwortgitters abgebildeten Speisezutat (in einer geeigneten Reihenfolge!) mit den Buchstaben in den getönten Feldern kombinieren. Ein Beispiel: Aus FRE, einer Flasche SIRUP im Bild und CH ergibt sich FREISPRUCH. Entweder teilen Sie uns diese Lösung mit unter www.zeit.de/sommerpreisraetsel oder Sie senden sie auf einer Postkarte an DIE ZEIT, Stichwort Sommerpreisrätsel ZEITmagazin, Postfach 10 68 08, 20045 Hamburg Teilnahmeschluss ist Dienstag, der 12. Juli 2016 aus allen richtigen einsendungen werden die gewinner durch das los ermittelt. sie werden schriftlich verständigt, und ihre namen werden vom . juli an unter www.zeit.de/sommerpreisraetsel bekannt gegeben. die auflösung finden sie im zeitmagazin nr. / vom . juli . mitarbeiter des zeitverlages und ihre angehörigen dürfen nicht teilnehmen. der rechtsweg ist ausgeschlossen. die gewinne sind nicht in geld einlösbar. namen und adressen der teilnehmer kann der zeitverlag für eigene werbezwecke verwenden. Und das sind unsere Preise: Illustration Siri Matthey Fotos Europäischer Hof, Züco / Dauphin Home, Anette Closheim 1. Preis: Drei Nächte im Europäischen Hof Heidelberg 151 Jahre ist es her, dass die Erfolgsgeschichte des Traditionshauses begann. Seit 1906 ist das einstige »Hotel de l’Europe« in Familienbesitz und wird heute in vierter Generation geführt. Sie wohnen zu zweit im Doppelzimmer inklusive Frühstück und Nutzung des Panorama Spa 2. Preis: Stuhl »Little Perillo« von Züco für Dauphin Home Das preisgekrönte Möbel des Designers Martin Ballendat ist klein, leicht und mit der in einem Guss gefertigten Sitzschale aus Kunststoff auch für lange Balkonabende geeignet 3. bis 7. Preis: Je ein Weinpaket von Anette Closheim Im 150 Jahre alten Nahe-Weingut der Familie baut die Winzerin hochreife Trauben zu einer puristischen Weinlinie aus. Im Paket befindet sich je eine Flasche Weiß-, Rosé- und Rotwein die scrabble-kolumne entfällt während der laufzeit des sommerpreisrätsels. dafür gibt es den zeit-scrabble-sommer auf der leserbrief-seite der zeit die grossen fragen der liebe Nr. 408 Wann muss Schluss sein mit den Flirtmails? Christine und Franz sind seit zwanzig Jahren ein Paar und haben zwei Kinder im Schulalter. Die Kinder sind an einem Wochenende bei den Großeltern, Christine geht mit Franz essen, alles könnte perfekt sein – da bekommt Franz eine Mail. Christine liest statt der erwarteten Botschaft von den Kindern Schwärmerisches von einer fremden Frau: Sie kenne ihn vom Sport, er sei ihr Traummann. Franz behauptet, er bekomme von dieser Frau manchmal solche Botschaften, er nehme das nicht ernst. Christine kontrolliert den Familiencomputer, findet heraus, dass er die Fremde gegoogelt hat, dass es weitere Nachrichten gibt: Der Frau ist ihre Verliebtheit peinlich. Jetzt ist Christine untröstlich. Warum hat Franz nicht sofort gesagt, dass er glücklich verheiratet ist, und die Absenderin gesperrt? Wolfgang Schmidbauer: Es liegt für Christine nahe, sich verraten zu fühlen und darüber zu vergessen, dass eine Ehe viel Stabiles haben muss, wenn die erste Eifersuchtsszene zwanzig Jahre auf sich warten lässt. Und wenn sie selbst nie neugierig darauf war, wie sich ein Flirt mit einem anderen Mann anfühlt, muss sie in der Tat aus allen Wolken fallen. Auf jeden Fall sollte sie Franz sagen, was sie erwartet hätte und was er, wenn er es denn will, auch jetzt noch tun kann. Offensichtlich haben sie dieses Thema bisher so vermieden, dass sie noch gar nicht herausfinden konnten, ob ihre Bilder von Bindung und Vertrauen sich decken. Das mag auch daran liegen, dass Franz nur die sexuelle Aktion ernst nimmt, während es für Christine bereits unerträglich ist, dass er sich für die Schwärmerei einer anderen Frau interessiert. Wolfgang Schmidbauer ist einer der bekanntesten deutschen Paartherapeuten. Zuletzt erschien sein Buch »Coaching in der Liebe. Neue Spielregeln für das Leben zu zweit« (Kreuz-Verlag) 45 Garth Risk Hallberg war ein unglücklicher, einsamer Teenager. Bis seine Mutter eine gute Idee hatte doch Gedichte. Der Kurs kostete 700 Dollar, und wir hatten damals überhaupt kein Geld. Aber sie sagte: Wenn du das machen möchtest, bezahle ich es gern. Ich war total nervös und zugleich positiv aufgeregt. Als wenn man einen Roman anfängt: Es könnte ein Desaster werden – aber was, wenn es toll wird? Herr Hallberg, die erste Fassung Ihres gefeierten 1000-Seiten-Romans »City on Fire« haben Sie mit der Hand geschrieben. Wieso nicht am Computer? Ich hatte die ersten Notizen zu dem Buch jahrelang in einer Schublade gelassen, weil mir die Idee für das Buch zu groß erschien. Als ich die Notizen wieder hervorholte, war das beängstigend. Ich musste einen Prozess finden, um die Angst beim Schreiben zu kontrollieren. Deshalb habe ich in kleine, karierte Notizbücher geschrieben. So hatte ich immer das Gefühl, nur diese eine Seite füllen zu müssen anstatt eine unendlich lange Datei. Es war immer noch beängstigend und schwierig, aber es ermöglichte mir, überhaupt anzufangen. Wovor fürchteten Sie sich? Ich hatte Angst zu scheitern. Um überhaupt die Möglichkeit zu schaffen, etwas richtig Gutes zu vollbringen, musst du dich verwundbar machen. Ich hatte beim Schreiben das Gefühl, alles auf den Tisch legen zu müssen. Das erschien mir riskant. Solange man nur von etwas träumt, kann es ja nicht schiefgehen. Garth Risk Hallberg, 37, wurde in Louisiana geboren. Für seinen Debütroman »City on Fire« (S. Fischer), in dem er vom Ausnahmezustand in New York während des Stromausfalls 1977 erzählt, bekam er zwei Millionen Dollar Vorschuss. Er lebt mit Frau und Kindern in Brooklyn Wieso haben Sie es dann doch gewagt? Schwer zu sagen. Ich kenne die Angst, vor etwas wegzurennen, sehr gut. Als Teenager hatte ich sehr viel Angst, bis es irgendwann nicht mehr weiterging und ich mich entschied, mich umzudrehen und mich mit der Angst zu konfrontieren. Ich wusste also: Wenn es nicht mehr weitergeht, muss man genau das machen. Wovor hatten Sie als Teenager Angst? Mir ging es so schlecht, wie es einem nur als Teenager schlecht gehen kann. Nennen Sie es Einsamkeit. Du fühlst dich einsam und missverstanden, deshalb hörst du auf, auf andere zuzugehen, weil du denkst, dass sie dich ablehnen werden, und dadurch wirst du noch einsamer. Hatten Sie keine Freunde? Doch, aber das Einzige, was uns verband, waren Drogen. Bei einigen Leuten, die ich damals kannte, scheue ich mich heute, nachzuforschen, was aus ihnen geworden ist. Ich habe Angst, es herauszufinden. Gab es nichts, was Ihnen damals Trost spendete? Das Einzige, was meinem missverstandenen 14-jährigen Selbst half, waren Gedichte. Sie waren leidenschaftlich, intelligent, Rock ’n’ Roll. Ich war oft bis drei Uhr morgens wach, weil ich nicht schlafen konnte, und versuchte dann, Gedichte zu schreiben, die natürlich furchtbar waren. Und wie haben Sie sich mit Ihren Ängsten konfrontiert? Als ich 16 war, sagte meine Mutter zu mir: Vielleicht solltest du in diesem Sommer etwas machen, was du auf deine College-Bewerbung schreiben kannst. Ich blockte natürlich ab – ich dachte, wenn ich irgendeinen Sommerkurs belege, wie ihn viele Unis anbieten, wird mich dort jeder komisch finden und nicht mögen. Aber dann kam meine Mutter noch mal und sagte: Ich habe hier einen Kurs gefunden, der nur eine Woche dauert, einen Gedichte-Workshop. Du magst IM NÄCHSTEN HEFT Wie wir heute lieben – der Start unserer dreiteiligen Serie über die Liebe im 21. Jahrhundert Ja. Zu Kursbeginn saß ich mit lauter nervösen Teenagern in einem Raum, wir warteten auf jemand Offizielles, es war ganz still. Bis ein Typ plötzlich fragte: Hat jemand eine Zigarette? Und ich sagte: Ja! Wir sind zu dritt oder viert raus, rauchten und fingen an, darüber zu reden, was wir lasen und schrieben. Das war das erste Mal, dass ich Gleichaltrige traf, die meinen Antrieb teilten. Und sie waren cool. Cool, ohne zu allem Nein sagen zu müssen. Einer wohnte in Washington, ich besuchte ihn oft, seine Freunde waren Maler, Musiker und Schauspieler. Plötzlich war da diese schöne, kreative Welt. Bis heute sind einige dieser Leute meine besten Freunde. Die Idee Ihrer Mutter hatte Sie gerettet? Ja, und zwar wortwörtlich. Der Typ, der damals das Eis brach, gab mir den Tipp, dass sein College viele Stipendien vergab, von denen ich dann tatsächlich eines bekommen habe. Dort habe ich meine jetzige Frau kennengelernt. Wenn ich zu der Idee meiner Mutter Nein gesagt hätte, wäre mein ganzes Leben heute anders. Meine Frau, meine besten Freunde, die Stadt, in der ich lebe, dieses Buch – alles wäre nicht so gekommen. Haben Sie Ihrer Mutter das mal gesagt? Nein, nein, schrecklicherweise ist es mir immer noch peinlich, dass sie damals recht hatte. Das Gespräch führte Anna Kemper. Sie gehört neben der Fotografin Herlinde Koelbl, dem Psychologen Louis Lewitan, Evelyn Finger und Ijoma Mangold zu den Interviewern unserer Gesprächsreihe 46 Foto Mark Vessey das war meine rettung
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