Viel Theorie, zu wenig Praxis! - QZ

DAS LETZTE WORT Viel Theorie, zu wenig Praxis!
Warum „Industrie 4.0“ bis heute scheitert
IN DEUTSCHLAND werden die Aspekte und Fragestellungen
rund um „Industrie 4.0“ recht verhalten behandelt. Dies über­
rascht, wurde doch der Begriff in Deutschland geprägt.
Im Rahmen der Hannover Messe 2011 wurde das Konzept
Industrie 4.0 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. 2012 legte
die Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft ihren Ab­
schlussbericht „Umsetzungsempfehlungen für das Zukunfts­
projekt Industrie 4.0“ vor. Die von Verbänden initiierte und von
der Bundesregierung mitgetragene „Plattform Industrie 4.0“
nahm im Frühjahr 2015 ihre Arbeit auf. Zu den Themen Stan­
dardisierung, Forschung, Sicherheit, Recht, Arbeit, Aus- und
Weiterbildung präsentierte sie erste Tendenzen im Rahmen
des IT-Gipfels im November 2015. Da Industrie 4.0 als wichtige
Säule der „Digitalen Agenda“ der Bundesregierung gilt, hat der
Bundesminister für Wirtschaft zudem die Förderprogramme
„Autonomik für Industrie 4.0“ sowie „Smart Service Welt“ ins
Leben gerufen.
Fazit: Nach fast fünf Jahren fehlt dem Thema Industrie 4.0
der notwendige Schwung, insbesondere das Engagement der
produzierenden Industrie.
Was bremst die Digitalisierung ...
Dabei ist gerade Deutschland als Land
mit hohen Löhnen, wenig Rohstoffen
und hoher Exportorientierung in beson­
derer Weise auf Innovation und Kreati­
vität angewiesen. Vermutlich liegt die
Zurückhaltung bei der praktischen Um­
setzung von Industrie 4.0 an dessen
Komplexität: Vernetzung, Integration
und digitale Transformation lassen sich
eben nicht einfach erklären.
So überrascht es nicht, dass das
Mannheimer Zentrum für Europäische
Wirtschaftsforschung (ZEW) in einer
Studie mit dem Titel „Monitoring Wirt­
schaft Digital“ der deutschen Wirtschaft
ein schlechtes Zeugnis ausstellt. Im Ran­
king der zehn führenden Industrielän­
der belegen wir nur noch den sechsten
Platz. Spitzenreiter sind die USA, China
ist an Deutschland vorbeigezogen. Die
Studie gibt auch wenig Anlass zur Hoff­
nung auf rasche Besserung, denn die
­Digitalisierung in der deutschen Wirt­
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Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern
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schaft schreitet zu langsam voran. Die bisherigen Aktivitäten
zum Thema „Industrie 4.0“ und Digitalisierung beziehen sich
in Deutschland fast ausschließlich auf die produzierende In­
dustrie. Noch gar nicht ernsthaft begonnen hat die Betrach­
tung und Diskussion der Notwendigkeit einer umfassenden
Digitalisierung im Dienstleistungssektor bzw. in Industrien
mit integrierter Produktion und Dienstleistung sowie in
­öffentlichen Verwaltungen. Dabei liegt es auf der Hand, dass
Industrie 4.0 nur funktionieren kann, wenn dienstleistende
­Bereiche und öffentliche Verwaltungen in ein derartiges Sys­
tem intelligent eingebunden werden.
... in Verwaltung, Industrie und Dienstleistung?
Allein bei den zahlreichen Überschneidungen und gegenseiti­
gen Abhängigkeiten wird deutlich, dass die Vorteile der Digita­
lisierung nur greifen können, wenn es keine Methoden- oder
gar Medienbrüche gibt. Beispielsweise können Behörden ihre
zahlreichen Kontroll- und Überwachungsverfahren in einer
­digitalisierten Industrie wohl kaum auf herkömmliche Art und
Weise mit im Wesentlichen „analogen“
Mitteln und Methoden erfüllen. Er­
schwerend kommt noch hinzu, dass der
globalisierte Markt ständig nach zeit­
nahen Anpassungen, Änderungen und
maßgeschneiderten individuellen Lösun­
gen bei Produkten, Produktionsprozes­
sen und Dienstleistungen verlangt. Da­
durch entsteht sowohl ein erhöhter qua­
litativer als auch zeitlicher Druck, dem
nur mit digitalen Mitteln begegnet und
entsprochen werden kann.
Nicht zuletzt sind bis heute viele Fra­
gen zu Datensicherheit und Datenschutz
Udo Hansen ist seit 2014 Präsident
der Deutschen Gesellschaft für Qualioffen geblieben. Die in Deutschland eher
tät. Sein Engagement für und mit der
reflexartigen Reaktionen zum Thema
DGQ setzt insbesondere an den TheDatenschutz führen nicht weiter. Nötig
men Digitalisierung in Industrie und
ist vielmehr eine sachliche Betrachtung,
Verwaltung an. Der Präsident eines
Bundespolizeipräsidiums a. D. zeichdie sowohl die Risiken als auch die Chan­
nete unter anderem für die Einfühcen der Nutzung von „Big Data“ gegen­
rung von QM-Methoden in großen Beeinander abwägt und die rechtlichen
hörden verantwortlich.
und technischen Konsequenzen auf­
QZ-ARCHIV
zeigt. „Industrie 4.0“ bedarf einer ge­
samtgesellschaftlichen Betrachtung: In­
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dustrielle, rechtliche und politische As­
pekte sollten einbezogen werden. W
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