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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Feature
"Wir sind es leid"
Die mexikanische Bürgergesellschaft wehrt sich
Von Peter B. Schumann
Sendung: Mittwoch, 15. Juni 2016
Redaktion: Karin Beindorff
Produktion: DLF/SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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O-Ton
Cavallor:
Mexiko macht eine schwere Krise der Menschenrechte durch. Unsere Kommission
hat zahllose Zeugenaussagen für gewaltsames Verschwindenlassen von Personen
erhalten sowie für illegale Exekutionen und für schwerste Fälle von Folter.
Alejandro:
Dem mexikanischen Volk reicht es jetzt. Schluss mit den Zehntausenden von
Verschwundenen und Ermordeten. Schluss mit der Gewalt der Narcos. In Ayotzinapa
kristallisieren sich all unsere Probleme in einem einzigen Fall.
Musik: De Vuelta a Casa: Fero Esteban
Ansage:
„Wir sind es leid.“
Die mexikanische Bürgergesellschaft wehrt sich.
Ein Feature von Peter B. Schumann
O-Ton
Autor:
Im Zentrum der Reforma, einer der Hauptverkehrsadern von Mexiko-Stadt. Vor
einem der vielen gläsernen Bürotürme patrouillieren Wachtposten mit
Maschinengewehren. Ein mächtiges Eisengitter hält den Betrachter auf Distanz. Über
dem Eingang steht: Generalstaatsanwaltschaft der Republik.
Ich erinnere mich, dass im November 2014 der Chefankläger dieser Behörde, Jesús
Murillo Karam, eine Pressekonferenz mit dem Satz abbrach: „Ich bin es jetzt leid.“ Er
sollte Auskunft über die Ermittlungen wegen des Verschwindens von 43
Pädagogikstudenten aus Ayotzinapa geben. Sie waren am 26. September 2014
entführt worden. Die Journalisten wollten sich nicht mit Ausflüchten und
Halbwahrheiten abspeisen lassen und bedrängten ihn mit immer neuen Fragen.
Kurz danach wurde gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft ein Zelt errichtet, am
Rande des vorbeibrandenden Verkehrs. Das Zelt steht noch immer dort: ein
Fremdkörper neben den Glaspalästen von Behörden und Banken – ein ständiger
Appell, das Schicksal der 43 Verschwundenen endlich aufzuklären. Plantón nennen
die Mexikaner eine solche Mahnwache. Tag und Nacht trifft man hier Aktivisten an.
O-Ton:
Rosa Marta:
Der Plantón ist eine Manifestation gegen das gewaltsame Verschwindenlassen der
Studenten durch die Polizei und ein fortgesetzter Protest gegen die
Verschleierungstaktik der Regierung. Wir solidarisieren uns auf diese Weise mit ihren
Familien, die auch heute noch nach den Jugendlichen suchen.
Autor:
Rosa Marta, Mitte dreißig, ist Verwaltungsangestellte.
Rosa Marta:
Wir kommen aus unterschiedlichen Bereichen. Lehrer arbeiten mit, Studenten,
Arbeiter, Menschenrechtler, Nachbarn oder Mitglieder politischer Organisationen,
aber keine Vertreter der Regierung oder der Parteien.
1
Augusto:
Denn wir sind von ihnen enttäuscht. Das mexikanische Volk fühlt sich von der
politischen Elite nicht repräsentiert.
Autor:
Augusto, Anfang dreißig, ist eigentlich Politologe und hat eine Anstellung als
Informatiker gefunden.
Augusto:
Unsere Politiker sind nur an die Macht gekommen, um sich, ihre Familien und
befreundete Unternehmer zu bereichern. Diese Haltung ist längst systemimmanent.
Deshalb hat das Volk entschieden, sich selbst zu organisieren.
Alejandro:
Der Plantón ist eine für Mexiko neue Form der Organisation. Wir haben aus den
Erfahrungen in Lateinamerika gelernt, die zeigten, dass die Versuche sozialer
Reformen mit Hilfe von Wahlen oder Parteien zu nichts führen.
Autor:
Alejandro, Mitte zwanzig, studiert Politikwissenschaft.
Alejandro:
Deshalb diskutieren wir in diesem Plantón mit den Angehörigen der 43
verschwundenen Studenten und vielen Kollektiven darüber, wie wir uns am besten
organisieren können, um uns gegen dieses Unterdrückungsregime zu wehren und
ein neues System der Freiheit aufzubauen, in dem alle die gleichen Möglichkeiten
besitzen. Darüber informieren wir hier im Plantón mit regelmäßigen politischen und
kulturellen Veranstaltungen die Bürgerschaft dieser Stadt und die Touristen, die hier
vorbeikommen, denn über die üblichen Medien in Mexiko erfahren sie nichts.
Autor:
Ich will nochmal auf das Misstrauen gegenüber den Parteien zurückkommen. Gilt das
auch für die Linke?
Rosa Marta:
Die mexikanischen Linksparteien haben nie wirklich das Volk, sondern immer nur
ihre eigenen Interessen repräsentiert und die linken Ideale oft verraten. Ihre Vertreter
haben sich nur links eingeordnet, um an die Macht zu kommen, und zuletzt noch
nicht einmal mehr linke Ideen oder Projekte vorgeschlagen.
Autor:
Wie stark hat die Ermordung der Studenten die Bürgerbewegung beeinflusst, das
Bewusstsein der Bevölkerung verändert?
Alejandro:
Ayotzinapa ist zum Motor des sozialen Bewusstseins geworden. Die Bewegung
besitzt das Potential, den mexikanischen Staat zu bezwingen, der alles unternimmt,
um sich dieses Problem vom Hals zu schaffen. Moralisch haben wir bereits einen
Sieg errungen und zwar mit Hilfe der ausländischen Untersuchungskommissionen,
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die die offizielle Version vom Verschwinden der Studenten widerlegt und das
staatliche Lügengebilde aufgedeckt haben... Dem mexikanischen Volk reicht es jetzt.
Schluss mit den Zehntausenden von Verschwundenen und Ermordeten. Schluss mit
der Gewalt der Drogenkartelle. Für uns ist klar: In Ayotzinapa kristallisieren sich all
unsere Probleme in einem einzigen Fall.
Musik: Axel Ordaz ‚De vuelta a Casa‘
Sprecher:
Wir werden es weiter versuchen, hab‘ keine Angst. / Wir werden dich weiter suchen /
und mit uns das ganze Land / um dich zurückzubringen / nach Hause.
O-Ton
Autor:
Eine Demonstration vor dem Protestzelt gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft.
Die Aufzählung der verschwundenen Studenten ist zu einer ständigen Aktion
geworden. Eine junge Frau ergreift das Wort und wendet sich „an den
Staatspräsidenten, den Generalstaatsanwalt, den Obersten Gerichtshof des
Bundesstaates Guerrero und alle Behörden, die für die Aufklärung des AyotzinapaFalls und des Todes von Julio César Montragón verantwortlich sind“. Sie bezweifelt
die bisherigen Untersuchungsergebnisse:
Aktivistin:
Julio César fiel der Folter und einer. Exekution beim Angriff auf die Studenten zum
Opfer. Deshalb weisen wir die Theorie eines Einzeltäters zurück. Denn die
zahlreichen Knochenbrüche an Brustkorb und Kopf, die Schleifspuren an seinem
Körper, die abgezogene Gesichtshaut als Ausdruck des Terrors – das alles kann
nicht von einem Einzelnen verübt worden sein.
Autor:
Julio César Mondragón wurde als einer der ersten in der Nacht vom 26. auf den 27.
September 2014 erschossen, nachdem er zunächst hatte fliehen können. Er wurde
gefasst, gefoltert, skalpiert. Er war 22 Jahre alt und erst seit kurzem mit Maríssa
Mendoza Cahuatzía verheiratet. Zwei Monate vor seiner Ermordung war ihre Tochter
geboren worden. Heute lebt Marissa als Grundschullehrerin in Mexiko-Stadt. Dort
habe ich sie getroffen und sie hat mir zuerst von der Pädagogische Landschule in
Ayotzinapa erzählt.
O-Ton
Marissa:
Das ist eine Ausbildungsstätte für Studenten in ländlichen Gegenden, die wenig
Mittel besitzen und später auf dem Land als Lehrer tätig werden sollen. Früher gab
es viele solcher Schulen. Doch in den letzten Jahren wurde ihre Anzahl aus
politischen Gründen immer weiter reduziert. Und den verbliebenen wurden die Mittel
gekürzt. Der Schule in Ayotzinapa hatte die Regierung in Guerrero kurz vor den
Ereignissen die staatliche Unterstützung völlig gestrichen. Deshalb hatten sich die
Studenten auf die Reise nach Iguala, in die 130 Kilometer entfernte, nächst größere
Stadt, gemacht. Sie wollten Spenden sammeln und an ein anderes Ereignis erinnern:
an das Massaker von Tlatelolco in Mexiko-Stadt im Jahr 1968, bei dem ebenfalls
viele Studenten umkamen.
3
Autor:
Was geschah in der Nacht, als die Busse mit den Studenten von der Polizei
abgefangen wurden?
Marissa:
Ich war in ständiger Verbindung mit Julio César per SMS. Er informierte mich so um
20 oder 21 Uhr, dass ihre Busse von Polizisten attackiert und sogar beschossen
würden. Ich habe ihm gesagt, er solle sofort fliehen. Aber er wollte seine Kameraden
nicht im Stich lassen. Dann teilte er mir mit, dass sie einen von ihnen erschossen
hätten. Ich war völlig verzweifelt und flehte ihn an, endlich abzuhauen. Seine letzte
Mitteilung bekam ich um 21.42 Uhr. Erst am anderen Tag erfuhr ich, was geschehen
war durch das Foto, das im Internet verbreitet wurde und eine Person ohne Gesicht
zeigte.
Autor:
Es gab dann wohl eine offizielle Autopsie?
Marissa:
Das Ergebnis der Autopsie haben wir erst sehr viel später erhalten. Als
Todesursache wurden die Kopfverletzungen festgestellt. Und das Fehlen der
Gesichtshaut soll ein Tier verursacht haben, eine absurde Behauptung. Deshalb
suchen wir weiter nach der Wahrheit, fordern Gerechtigkeit, damit so etwas keinem
anderen Unschuldigen geschieht und das mexikanische Volk nicht erneut terrorisiert
wird.
Autor:
Den Angriff der sog. Sicherheitskräfte soll der Bürgermeister von Iguala befohlen
haben. Man sagt ihm Beziehungen zur Drogenmafia nach. Er befürchtete wohl, dass
die Studenten eine Kundgebung seiner Frau stören würden, auf der sie ihre
Kandidatur für das Bürgermeisteramt bekannt wollte. Ist diese offizielle Version
glaubhaft?
Marissa:
Das alles war auf jeden Fall gut geplant, denn das Ausmaß des Einsatzes lässt nicht
auf einen Zufall schließen. Das zeigen auch die Überwachungskameras der in Iguala
stationierten Infanterieeinheit der Armee. Zusammen mit Julio wurden insgesamt 6
Studenten und eine zufällig in einem Taxi vorbeifahrende Frau erschossen... Es war
ein geplanter Anschlag auf die Studenten, die man verschwinden lassen und töten
wollte als Warnung für alle Landschulabsolventen und -lehrer, die gegen die
Regierung aufbegehren, die für eine bessere Ausbildung demonstrieren und für
Gerechtigkeit kämpfen, die es in Mexiko nicht gibt.
O-Ton
Autor:
Der Fall Ayotzinapa rüttelte wie kein anderer zuvor die Mexikaner auf. Die Gewalt in
ihrem Land ist alltäglich: das Verschwinden von Journalisten und Menschenrechtlern,
die Ermordung von Frauen, Massengräber, die immer wieder gefunden werden.
Doch das Verschwinden der Studenten, der künftigen Lehrer trieb die Bevölkerung
zu Hunderttausenden überall im Land auf die Straße. Sie protestierte in riesigen
4
Kundgebungen gegen Präsident Peña Nieto und verlangte seinen Rücktritt. Doch der
zog es vor, nach China zu reisen, statt Stellung zu nehmen. Ihre Proteste richteten
sich außerdem gegen das Lügenkonstrukt der Generalstaatsanwaltschaft und gegen
die Behinderung der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte.
In einem Fernseh-Gespräch mit Carmen Aristegui, einer einflussreichen
mexikanischen Journalistin, äußerte sich James Cavallor, der Vizepräsident der
Kommission:
O-Ton
Cavallor:
Bei den Untersuchungen des äußert schweren Falls von Ayotzinapa hat man auf der
Suche nach den verschwundenen Studenten in der Umgebung von Iguala insgesamt
400 Leichen unbekannter Personen gefunden, nach denen bisher niemand gesucht
hatte. Eine Frau sagte uns: Als die Studenten von Ayotzinapa verschwanden, da
dankten wir Gott, denn nun würden sie endlich auch nach unseren Angehörigen, z.B.
auch nach meinem Mann, forschen. All denen haben die Behörden bisher nicht die
geringste Beachtung geschenkt.
Autor:
Und Emilio Alvarez Icaza, der Exekutivsekretär der Kommission, fügte hinzu:
Alvarez:
Es gibt einen ungeheuren Unterschied zwischen den Gesetzen und ihrer Anwendung
durch die Justiz, einen brutalen Graben. Einerseits unterlassen die
Staatsanwaltschaften viele Untersuchungen, andererseits erhalten sie mitunter
Morddrohungen, wenn sie Untersuchungen machen. In lediglich 3 von 30 Staaten ist
das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen juristisch definiert. Das heißt, es
gibt eine strukturbedingte Straflosigkeit.
Cavallor:
Mexiko macht eine schwere Krise der Menschenrechte durch. Unsere Kommission
hat zahllose Zeugenaussagen für gewaltsames Verschwindenlassen erhalten sowie
für illegale Exekutionen... und für schwerste Fälle von Folter.
O-Ton
Autor:
Die Regierung wies den Bericht sofort zurück.
Sprecher 2:
Dieser Bericht, der innerhalb von 5 Tagen und anhand von Einzelfällen erstellt
wurde, und die darin vorgeschlagenen Lösungen gehen an den Realitäten vorbei.
Auch zeigt die Geschichte unseres Landes, dass nur Lösungen, die von den
Mexikanern selbst getroffen werden, zum Ziel führen. Lösungen, die uns von außen
erteilt werden und die Verpflichtungen der Mexikaner ignorieren, bieten nur
leichtfertige Auswege und sind zum Scheitern verurteilt.
5
O-Ton
Autor:
„Lebend verschwanden sie, lebend wollen wir sie zurück!“ Den Ruf der ‚Mütter der
Plaza de Mayo‘ im Argentinien der Militärdiktatur haben die Mexikaner übernommen.
Die Forderung nach Aufklärung und Gerechtigkeit hört man bei allen
Demonstrationen. Immer wieder flammen sie auf. Ayotzinapa schockierte die
Mexikaner, ähnlich wie das Massaker von Tlatelolco, bei dem 1968 Hunderte von
Demonstranten erschossen wurden. Der dafür verantwortliche Innenminister wurde
wenig später Staatspräsident.
Musik: Belafonte & Paulina Lasa: Verte regresar
Sprecher:
Wir erwarten dich zuhause, hier bei uns: bei der Schar der Kämpfer, bei dem Marsch
ohne deine Stimme. Hier auf dem freien Stuhl mitten im Saal. Viele Leute wollen dich
wiedersehen, hier unter dieser Sonne.
O-Ton
Autor:
Studierende der privaten Iberoamerikanischen Universität von Mexiko-Stadt traten im
Mai 2012 auf einem Video im Internet auf und zeigten ihren Ausweis, insgesamt 131.
Sie solidarisierten sich mit dem studentischen Protest gegen den
Präsidentschaftskandidaten Enrique Peña Nieto. Er galt ihnen als Inkarnation des
korrupten politischen Systems. Politiker und Medien hatten die Akteure zuvor als
Dummköpfe und sogar als Faschisten beleidigt und ihren Protest gegen den
Kandidaten als einen „von außen gesteuerten politischen Boykott“ zu diffamieren
versucht. Innerhalb weniger Stunden wurde das Video 20.000 Mal heruntergeladen.
Es brodelte auf Facebook, Twitter und in eMails. Ein Hashtag tauchte auf und
entwickelte enorme Anziehungskraft. Zum ersten Mal formierte sich in Mexiko über
das Internet eine soziale Bewegung: YoSoy132/ IchBinNummer132.
O-Ton
Attolini:
Enrique Peña Nieto kam am 11. Mai 2012 auf Einladung der Studentenvertretung in
die Iberoamerikanische Universität, um an einer der Diskussionen teilzunehmen, die
dort mit den Präsidentschaftskandidaten vor den Wahlen veranstaltet wurden.
Autor:
Antonio Attolini war 2012 einer der Sprecher der Bewegung.
Attolini:
Die Studenten der Ibero hatten sich darauf vorbereitet, Peña Nieto als ehemaligen
Gouverneur des Bundesstaates Mexiko zu einem Polizeieinsatz im Jahr 2006 zu
befragen. Damals war es zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen, als
die Bewohner der Kleinstadt Atenco gegen den Bau eines neuen Flughafens
protestierten. Als er jetzt behauptete, er habe auf gesetzlicher Grundlage gehandelt,
gab es heftige Proteste. Der Kandidat verschwand schließlich durch einen
Hinterausgang der Aula.
6
O-Ton
Autor:
„Feigling“, „Mörder“, „Raus hier!“ riefen Studenten dem eilig sich Davonstehlenden
hinterher. Damit er dem Gedränge entgehen konnte, schoben ihn seine
Sicherheitsleute schließlich in ein Gebäude. Der Radiosender der Universität
berichtete.
Redakteur:
Er kam hier an unserem Studio vorbei, wollte aber offensichtlich nicht interviewt
werden. Er hatte wohl ein anderes Bedürfnis, denn er suchte die Toilette gegenüber
auf und kam lange nicht mehr heraus. Wir übermittelten das unseren Kommilitonen
vor dem Gebäude, und schnell machte das Gerücht die Runde, Peña Nieto habe sich
im Klo versteckt.
Attolini:
Das geschah in der letzten Phase des Wahlkampfs, der bis dahin langweilig
verlaufen war. Es war ziemlich klar, dass Peña Nieto, der Kandidat der ehemaligen
Regierungspartei PRI, gewinnen würde, und die Oppositionsparteien hatten dem
nichts entgegen zu setzen. Es war wirklich öde, bis die Bombe mit diesem Video
platzte. Was dann geschah, war alles nicht geplant: spontan entstand eine
Bewegung, ohne Struktur, ohne Hierarchie, ohne klares Ziel – IchBin132.
O-Ton
Autor:
An der von Jesuiten geleiteten Iberoamerikanischen Elite-Universität entzündete sich
der Funke 2012 und nicht an einer öffentlichen Hochschule wie der UNAM, der
Autonomen Universität von Mexiko, dem traditionsreichsten Ort studentischen
Widerstands. Die Empörung war derart angewachsen, dass sie selbst die Ibero
alarmierte, die bisher nicht gerade durch politische Aktionen aufgefallen war. Sofort
schlossen sich die Studenten der UNAM und zahlreicher anderer Hochschulen an
und mobilisierten die Massen zu Hunderttausenden: zu Demonstrationen, wie sie
Mexiko in diesem Ausmaß nur selten erlebt hat. Die aufgestaute Wut über die
Unfähigkeit, die Skandale, die Korruption ihrer politischen Elite explodierte. Und wie
so oft standen Studenten an der Spitze des Protestes und verwiesen in
Versammlungen auf die mexikanische Geschichte des Widerstands.
O-Ton
Student:
„Ein Volk, das seine Geschichte vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“
Deshalb sind wir hier, um diese Bewegung in den historischen Zusammenhang zu
stellen.
Wir vergessen nicht die Kämpfe der Bewegungen der Arbeiter, Campesinos,
Eisenbahner und Ärzte. Den Kampf um die Autonomie der Universitäten, den
bewaffneten sozialen Widerstand der 70er-Jahre. Wir vergessen auch nicht die
Studentenbewegungen und Tlatelolco 1968! Wir sind die Erben der Wahlfälschungen
von 1988 und 2006, der Wirtschaftskrisen von ´82, ´96 und 2008! Wir sind die Erben
des Aufstands der Zapatista, des Massakers von Acteal, der ungesühnten
Frauenmorde in Ciudad Juárez und im Bundesstaat Mexiko! Wir sind Teil dieser
Geschichte und verlangen Gerechtigkeit! Für sie werden wir kämpfen, bis
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Gerechtigkeit herrscht! Wir sind 132, sind Teil der Geschichte, sind das mexikanische
Bewusstsein! Heute und für immer sind wir 132!
Autor:
Wenig später verabschiedeten Studierende auf einer Generalversammlung ihr
politisches Programm. Im Internet nannten sie die wichtigsten Forderungen.
O-Ton
Student:
Wir sind eine Bewegung fern von jeglichen parteipolitischen Programmen. Deshalb
unterstützen wir keinen der Präsidentschaftskandidaten und keine Partei. Wir
respektieren die Pluralität und Diversität der Angehörigen unserer Bewegung.
Studentin:
Unsere Bewegung strebt die Demokratisierung der Massenmedien an, transparente,
pluralistische und nicht parteiliche Informationen, um ein kritisches Bewusstsein zu
schaffen.
Student:
Deshalb fordern wir: echten Wettbewerb der Kommunikationsmittel, angesichts der
Fernsehmonopole Televisa und TVAzteca.
Studentin:
Wir fordern außerdem, in allen Medien – Radio, Fernsehen und Presse –
Instrumente zu schaffen, die in den Programmen die gesellschaftlichen Interessen
garantieren.
O-Ton
Autor:
Es war die Diffamierungskampagne gegen den studentischen Protest von den
privaten Medienkonzernen Televisa und TV-Azteca, die die Situation am Anfang
eskalieren ließ. „Televisa verdummt!“ skandierten die Studenten und blockierten die
Eingänge zu den Fernsehsendern in verschiedenen Städten. Daraus entwickelten
sich die Massendemonstrationen, die das Land wochenlang in Atem hielten und dem
aussichtsreichsten Kandidaten den Wahlkampf verdarben. An Pena Nietos späterem
Sieg änderte das allerdings nichts.
Eine Stimmung zwischen Karneval und Volksaufstand erfasste Mexiko. Manche
Beobachter glaubten bereits an einen ‚mexikanischen Frühling‘. Antonio Attolini war
dabei.
O-Ton
Attolini:
Das war eine Erfahrung, die uns zeigte, dass wir etwas erreichen konnten, mehr als
durch die bisherigen studentischen Aktionen, Demonstrationen und Streiks. Denn
zum ersten Mal gelang es einer Studenten-Bewegung, sich im ganzen Land zu
verbreiten. Früher waren das nur lokale, meist auf Mexiko-Stadt begrenzte
Ereignisse. Jetzt bildeten sich überall Zellen und Gruppierungen, sogar im Ausland.
Über das Internet ließen sich die Jugendlichen rasch mobilisieren. Ich bin 132 war
ein offenes Projekt, dem sich jeder anschließen konnte. Uns einte der
Gründungsmythos: die Konfrontation mit Peña Nieto.
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Musik: Grushgrev: Enseñanza de Rabia
Sprecher:
Diese Scheißerziehung dient nur der Ausbeutung. Man sollte lernen, wie man dem
Volk den Magen füllt. Zuerst der Bauch, dann vielleicht der Kopf. Schule absolvieren
heißt doch nicht lernen, schon gar nicht Widerstand leisten. Du Lehrer bist nicht
schuld, hast das Bildungswesen nicht geschaffen, solltest aber lehren, Feuer zu
legen an das verrottete System.
O-Ton
Guiomar:
Das Erbe von IchBin132 findet sich in allen politischen Initiativen der Jugendlichen
wieder. Die Bewegung ist keineswegs – wie oft behauptet wird – gescheitert. Ich
halte sie sogar für einen Beitrag zur Politisierung einer neuen Generation und zu
einem neuen Diskurs.
Autor:
Guiomar Rovira Sancho, Sozialwissenschaftlerin an der Universidad Autónoma
Metropolitana in Mexiko-Stadt.
Guiomar:
Die Schwierigkeit von IchBin132, in ihrer Bedeutung wahrgenommen zu werden,
besteht darin, dass in Mexiko die überall präsente, traditionelle Linke neue Formen
der Politik ignoriert. Doch gerade im Internet haben sich durch den Einfluss der 132er
ganz neue Möglichkeiten der Kommunikation und neue politische Praktiken
herausgebildet. Das sind meist keine Massenaktionen, sondern kreative, ästhetische,
kulturelle Interventionen, oft mit performativem Charakter. Sie dringen in Bereiche
vor, die normalerweise wenig mit Politik zu tun haben.
O-Ton
Zitat:
„Vor einem Jahr lenkten dreißig Liter Farbe Hundertausende von Blicken auf die
Verantwortlichen. So einfach ist es, die politische Macht zu unterlaufen. Es gibt kein
Zurück. Es ist Zeit, alles zu ändern.“
O-Ton
Autor:
30 Sekunden lang ist dieser Videoclip, der im Netz kursiert. Er fasst eine nächtliche
Aktion zusammen, die kaum eine Stunde dauerte und in den meisten Medien des
Landes für Schlagzeilen sorgte. Auf den Zócalo, den größten Versammlungs- und
Demonstrationsplatz Mexikos, hatte das Künstlerkollektiv Rexiste mit weißer Farbe in
Meter hohen Buchstaben gemalt: „Fue el Estado/ Es war der Staat.“ Eine Antwort auf
die juristischen Ablenkungsmanöver der Regierung von ihrer Verantwortung für die
Verschleppung der 43 Pädagogik-Studenten. Der Spruch wurde zum Motto vieler
Demonstrationen.
9
O-Ton
Rexiste 1:
Wir hielten es für notwendig, diese Botschaft in einer besonderen Form zu verbreiten.
Über die Mittäterschaft der Polizei war schon viel diskutiert worden, aber wir wollten
darauf so groß wie möglich aufmerksam machen. Es war wohl eine Fläche von 30
m2, mitten im Herzen der Stadt, vor dem Präsidentenpalast.
Autor:
Die vier vom Kollektiv Rexiste, die mir ihre Aktionen und deren Absichten erklärt
haben, wollen nicht namentlich genannt werden.
Rexiste 1:
Das war das Ergebnis von langen Überlegungen, wie wir sie in der für uns neuen,
kollektiven Arbeit der 132er-Bewegung gelernt haben. Wir haben diese Intervention
im öffentlichen Raum übrigens mit sehr wenigen Leuten, mit weniger als zehn,
gemacht. Denn wir wollten zeigen, dass jede Gruppe in der Lage ist, eine
aussagekräftige Aktion durchzuführen. Wieder haben wir dabei erlebt, was wir schon
als 132er gelernt haben: dass man die Presse in diesem Land manchmal zwingen
kann, gewisse Informationen aufzugreifen, wenn sie die richtige Größe haben und
die sozialen Netzwerke ihnen Nachdruck verleihen.
Autor:
Rexiste habt Ihr so definiert: ich existiere, weil ich mich wehre. War die Intervention
auf dem Zócalo Eure spektakulärste Aktion?
Rexiste 1:
Wir haben uns danach natürlich gefragt, was wir nun machen sollten. Dann kam die
interamerikanische Untersuchungskommission und erklärte, dass unbedingt auch die
Mitschuld der Militärs an der Verschleppung der Studenten geklärt werden müsse,
was die Regierung bis heute verweigert. Als es daraufhin eine Demonstration vor der
Generalstaatsanwaltschaft auf der Reforma gab, haben wir auf eine Wand des
Gebäudes geschrieben: „Lasst die Wahrheit raus!“ Das heißt: es gibt keine Wahrheit,
solange die Mitwirkung der Armee nicht geklärt ist.
Autor:
Rexiste macht Straßenaktionen. Auf Eurer Webseite findet sich außerdem eine Fülle
von Grafikkunst. Ihr habt z.B. das Titelblatt für De vuelta a casa (Nach Hause zurück)
entworfen, eine CD mit Liedern der Solidarität mit Ayotzinapa. Und ihr macht Plakate
für Aktionen, deren Qualität mich an die politische Plakatkunst im Mexiko der 40erJahre erinnert.
Rexiste 2:
Die Grafik ist aus dem Bedarf an visuellem Material hervorgegangen. Es sollte eine
politische Aussage haben, allerdings nicht in der traditionellen Form der Linken,
dieser Plakate mit erhobenen Fäusten und Sternen in Schwarz-weiß-rot. Von diesen
Vorbildern wollen wir uns mit Motiven und Farben absetzen, mit denen wir uns mehr
identifizieren können als mit diesen Ausdrucksformen, die einmal revolutionär waren
und uns heute veraltet und nicht mehr revolutionär erscheinen.
10
Rexiste 1:
Ein anderes Projekt haben wir 2014 geschaffen: Droncita: unsere Graffiti-Drohne, mit
der wir viel Erfolg hatten.
O-Ton
Autor:
Die erste kleine Drohne startete einen Farbangriff gegen das auf eine Mauer kopierte
Bild von Präsident Peña Nieto in Siegerpose.
Rexiste 3:
„Ayotzinapa war der Beginn dieser Geschichte. An ihrem Ende hast du versucht, die
Wahrheit zu unterdrücken. Es ist Zeit, alles zu ändern.“
Autor:
„Hau ab!“ steht am Schluss quer über dem Bild des Präsidenten.
O-Ton
Rexiste 1:
Bei den Wahlen 2012 haben wir die gleiche Methode erlebt wie zuvor: das
Fernsehen hatte sich für einen Kandidaten entschieden, und es war nahezu sicher,
dass der unser Präsident werden würde. Also nicht meiner, doch der aller Übrigen.
Rexiste will nichts mit Parteien zu tun haben oder Teil dieses politischen Systems
sein, sondern unabhängig die Meinung sagen und diese Wirklichkeit verändern.
Rexiste 3:
Wir suchen auch nach Ausdrucksformen in anderen Bereichen, wo wir etwas
gestalten können: in der Kunst, in der Musik, im Tanz, in der Kreativität überhaupt,
nur nicht dort, wo Parteien herrschen oder Institutionen, die wir dann von innen
beeinflussen müssten. Mit dieser Idee hat IchBin132 Schluss gemacht.
Autor:
In den sozialen Bewegungen Mexikos hat es ein ständiges Auf und Ab gegeben.
IchBin132 ist nach dem Wahlsieg Peña Nietos 2012 nahezu verschwunden. Auch die
Massenproteste gegen die Verschleppung der 43 in Ayotzinapa verebbten. Müsste
das politische Engagement, das sich in den Demonstrationen und Aktionen gezeigt
hatte, nicht in ein gemeinsames politisches Projekt kanalisiert werden? So wie es der
spanischen Bürgerbewegung 15-M mit der Partei Podemos gelungen ist, die nun die
Parteienlandschaft verändert hat.
Rexiste 1:
Was würde in Spanien geschehen, wenn plötzlich Massengräber mit Hunderten von
Körpern gefunden würden oder wenn jeden Tag Aktivisten und Journalisten getötet
würden? Das hier ist auch nicht Frankreich, wo es ein paar schreckliche Attentate
gab. In diesem Land befinden wir uns seit langem tagtäglich in einem Kriegszustand,
in den die politische Klasse verwickelt ist. Dennoch haben wir eine Phase der Einheit
unter den Schulen und Hochschulen und eine Organisation zustande gebracht, die
so viele Jugendliche wie nie zuvor auf den Straßen mobilisierte, Möglichkeiten bot,
etwas zu ändern. Daraus ist zwar keine der traditionellen sozialen Bewegungen
entstanden, die sich meist in Versammlungen erschöpfen. Aber IchBin132 hat
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überlebt als eine andere Form, Politik zu machen: und zwar im Alltag zu
intervenieren.
Rexiste 3:
Wenn wir durch die Straßen gehen und uns jemand sexuell belästigt, laufen wir
dieser Person hinterher, holen unsere Konfetti-Pistole heraus, schießen auf ihn und
singen unseren ‚Sexista Punk‘: „Was du tust, macht nur ein Schwein.“ Damit wollen
wir andere Frauen ermutigen, genauso zu handeln. Aber es soll ihnen auch Spaß
bringen und keine Angst machen. Wir glauben nicht, dass wir so die Welt verändern.
Doch wir haben damit die unsrige verändert.
O-Ton
Autor:
Töchter der Gewalt nennt sich das Frauentrio, das mit dieser Aktion durch MexikoStadt zieht. Frauen wurden beispielsweise in den überfüllten Waggons der Metro
derart häufig belästigt, dass das Unternehmen sich gezwungen sah, einen Teil jedes
Zugs nur für weibliche Passagiere zu reservieren. In Lateinamerika haben Frauen
den Begriff Feminizid geprägt, um die alltägliche Gewalt bis hin zum Mord zu
charakterisieren, der sie ausgesetzt sind. Ich treffe die drei Aktivistinnen bei Rexiste.
Hijas 1:
Die Töchter der Gewalt ist ein Kollektiv feministischer Kunst. Mexiko hat ein großes
Problem mit dem Feminizid, und die sexuelle Belästigung auf der Straße wird als ein
kleineres Übel betrachtet, angesichts der Vielzahl täglicher Vergewaltigungen oder
der Morde in Juárez. Doch für uns ist das die Spitze des Eisbergs einer
machistischen Ideologie in diesem Land. Sie wird oft als Teil der Folklore betrachtet,
beispielsweise in den Filmen der ‚Goldenen Ära‘, in denen sie als ‚Mikro-Machismus‘
erscheint. Und Mexiko hat sich an diese Form alltäglicher Gewalt als etwas völlig
Normales gewöhnt.
Autor:
Und wie reagieren die Männer auf Eure Aktionen?
Hijas 2:
Normalerweise erschrecken sie, wenn wir mit Konfetti auf sie schießen. Dann werden
manche wütend, fühlen sich in ihrem Machismus ertappt und versuchen, so schnell
wie möglich abzuhauen, um sich nicht lächerlich zu machen.
O-Ton
Autor:
Das Frauen-Kollektiv gehörte im April zu den Organisatorinnen des größten
‚Marsches gegen machistische Gewalt‘ in Mexiko. Unter dem Motto „Leben wollen
wir“ demonstrierten Zehntausende von Frauen einen Sonntag lang in 27 Städten
gegen sexuelle Belästigung und Feminizid.
Musik: Sexista Punk
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Sprecherin:
Jeden Tag derselbe Blick
und dieselben sanfte Worte:
Mamacita, süßes Ärschchen,
darf ich nicht einmal?
Weißt du, was du machst,
heißt Vergewaltigung.
Ich warte auf den Tag,
an dem ich auf die Straße gehen kann,
ohne auf meinen Körper aufzupassen.
Sexist, Machist,
was willst du eigentlich?
Deine Männlichkeit beweisen?
Dann verpiss dich aus meinem Blick!
O-Ton
Cavallor:
Mit dem Fall Ayotzinapa ist das Land an einem Kreuzweg angelangt. Jetzt ist eine
Verstärkung des Rechtsstaates nötig sowie die Verteidigung, Garantie und Achtung
der Menschenrechte.
Autor:
Mit diesem Resümee der internationalen Untersuchungskommission beginnt eine
Videoreportage von Masde131 (Mehr als 131), einem Kollektiv junger Journalistinnen
und Journalisten für alternative Informationen. Der Name der Gruppe verweist auf
ihre Herkunft aus der Studentenbewegung IchBin132.
O-Ton
Nacho:
Damals, 2012, haben wir viele Geschichten erlebt, die keiner kannte, die es aber
Wert waren, erzählt zu werden. Als der Enthusiasmus in der Bewegung verebbte,
haben wir uns wie viele andere gefragt: Was können wir tun, um die Situation
unseres Landes zu verbessern? Und wir haben uns gemeinsam entschieden, diese
Geschichten zu verbreiten.
Autor:
Nacho, Mitte zwanzig, Student an der Iberoamerikanischen Universität, sitzt
zusammen mit Nora, Alfonso und Julio, drei weiteren Kommilitonen, im
Veranstaltungsraum eines Jesuiten-Kollegs. Nebenan tagt die große Runde des
Kollektivs. Eigene Räumlichkeiten brauchen sie nicht, denn die meisten Aktivitäten
spielen sich im Internet ab.
Sprecher 2:
Wir haben gesehen, was es bedeutet, eine Medien-Front aufzubrechen und was für
Auswirkungen dies auf die Realität eines Landes haben kann. Jeder von uns arbeitet
nach seinen Fähigkeiten mit. Ich kümmere mich um Fotos und Videos, andere um
das Design oder um die Texte der Webseite. Jeder wie er kann.
Autor:
Und wie finanziert Ihr das alles, frage ich den Politikstudenten Julio:
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Julio:
Anfangs haben wir alles aus eigener Tasche bezahlt. Für Reisen legen wir
zusammen. Außerdem unterstützen uns gelegentlich andere Institutionen wie die
internationale Menschenrechtsorganisation Artikel 19. Auch die Universität hilft
mitunter. Und jetzt machen wir gerade eine Kampagne des Crowdfunding.
Autor:
Wie entscheidet Ihr über eure Beiträge, will ich von Nora wissen. Sie studiert
Publizistik:
Nora:
Uns eint ein Grundkonsens, der es uns erlaubt, dieses Projekt durchzuführen. Wir
kennen uns und unsere Interessen genau und die Geschichten, die von den Medien
der großen Konzerne nie erzählt werden. Wir haben uns beispielsweise schon sehr
früh um die Familienangehörigen in Ayotzinapa und um die dortigen Studenten
gekümmert. Wir wollen auch den vielen anderen Opfern in unserem Land eine
Stimme geben.
O-Ton
Autor:
In einer Video-Reportage haben sie beispielsweise einen Fall von Landraub
dokumentiert. Über die Aufnahmen von einer anrückenden Polizeieinheit und den
Ruinen eines Hauses laufen Textzeilen, die den Hintergrund erläutern.
Zitat:
Armando-Hinojosa Cantú, Eigentümer der Higa-Gruppe, bekannt durch die PanamaPapers, baut mit Hilfe der Behörden eine private Autostraße quer durch ein
Wasserschutzgebiet im Bundesstaat Mexiko. Sie führt auch mitten durch das Dorf
Xochicuautla. Den indigenen Bewohnern wurde sie durch Einschüchterungen,
irreguläre Versammlungen und Enteignungsdekrete aufgezwungen. Trotz einer
einstweiligen Verfügung der Gemeinde ließ die Higa-Gruppe das im Wege stehende
Haus einer Familie zerstören.
O-Ton
Campesina:
Wir haben uns drin versammelt, denn wir dachten, sie würden die Bagger nicht
gegen das Haus einsetzen, wenn wir da drin wären. Aber zu unserer Überraschung
taten sie das. Die Polizei hat uns mit Gewalt vertrieben. Wir waren insgesamt 10
Personen und ein zweijähriges Kind. Eine Polizistin ergriff mich und zerrte mich raus.
Ich fiel hin, sie schlug auf mich ein, obwohl ich das Kind auf dem Arm hatte.
Präsident Peña Nieto sagt immer, er respektiere die Indigenen. Aber das ist eine
Lüge. Hier wird nichts respektiert.
O-Ton
Nacho:
Die Bewohner eines kleinen Dorfes zu interviewen, das sich gegen eine Firma wehrt,
darin sehen wir eine unserer Aufgaben. Viele Unternehmen wie dieser Konzern leben
von öffentlichen Aufträgen und nehmen keinerlei Rücksicht darauf, ob sie – wie in
diesem Fall - in einem Naturschutzreservat irreparable Schäden anrichten. Selbst
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progressive Medien sind an solchen Nachrichten nicht interessiert, und manche
sagen uns sogar, was wir täten, sei kein Journalismus. Auch sie richten sich eben
teilweise nach kommerziellen Kriterien. Doch oft taucht dann unser Material gerade
bei denen, oder es wird von den vielen anderen alternativen Medien übernommen.
Obwohl wir ja angeblich keine Journalisten sind, schenkt man uns doch Beachtung.
O-Ton
Was seht Ihr selbst für Alternativen angesichts der politischen Dramen und der
Verstrickungen des Machtapparates und Eures eigenen Misstrauens in das politische
System?
Julio:
In diesem System läufst du Gefahr, sofort absorbiert zu werden und dich in das
Gegenteil zu verkehren, für das du eigentlich kämpfst. Hier wird sich nicht so rasch
etwas verändern, sondern nur Schritt für Schritt. Und dazu wollen wir mit Masde131
unseren Beitrag leisten: als Gegenstück zu der großen Waffe dieses Systems, den
Massenmedien.
Nora:
Ich sehe keine Alternative innerhalb des mexikanischen Parteiensystems. In diesem
Projekt und seinem Kontext zahlreicher alternativer Unternehmungen, dieser
anderen Form, Politik zu machen, sehe ich die Hoffnung auf Veränderung. Diese
große Gemeinschaft ist dabei, neue Formen des Zusammenlebens und überhaupt
des Lebens zu schaffen. Denn dieses System ist unerträglich: es tötet uns, zerstört
die Natur oder lässt unsere Angehörigen verschwinden. Aus Empörung und Schmerz
etwas völlig anderes zu machen, darin sehe ich meine Möglichkeit und nicht in
diesem verfaulten System.
Musik: DePedro: Equivocado
Sprecher:
Sie haben mich gefunden, es waren keine Freunde, / es war die Polizei, die auf mich
zielte, / weil ich an einem falschen Ort geboren bin und lebte. / Doch sage ihnen, sie
werden nicht gewinnen. / Ich kann es nicht mehr.
O-Ton
Aktivistin:
Heute ist ein denkwürdiger Tag. Aus Anlass der Verkündung der
Verfassungsgebenden Versammlung der Bürger wende ich mich an das Volk, an die
anwesenden Autoritäten und an euch, Compañeras und Compañeros.
Autor:
Im Bundesstaat Chiapas, im armen Südosten des Landes, weltweit bekannt
geworden durch den Aufstand der Zapatisten in den 1990er-Jahren, wurde im
Dezember 2015 ein landesweites Projekt der Bürgergesellschaft ausgerufen.
Aktivistin:
Hiermit bringen wir unsere Ablehnung der politischen Klasse zum Ausdruck, die sich
nicht um die Interessen des Volkes kümmert, sondern nur um ihre persönliche
Bereicherung. Wir prangern ihre Korruption an, ihre Inkompetenz, ihre Vortäuschung
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einer Demokratie, diesen Parteien-Zirkus, den sie dem Volk aufgezwungen hat, und
ihren Pakt mit dem organisierten Verbrechen und dem Großkapital. Wir lehnen
kategorisch die von der Regierung geplante Verfassungsreform ab, denn sie
widerspricht den sozialen Grundsätzen der Verfassung von 1917 und dient nur den
Interessen der nationalen und internationalen Konzerne und ihrer Ausbeutung der
natürlichen Reichtümer unserer Mutter Erde.
O-Ton
Autor:
Einer der Berater der Verfassungsgebenden Versammlung der Bürger ist der
Philosoph Magdiel Sánchez Quiroz.
Sánchez:
Wir planen einen Verfassungstext, der einen neuen Sozialpakt beinhaltet. Damit
wollen wir die mexikanische Nation auf eine neue Grundlage stellen. Deshalb soll der
Text nicht von Experten ausgearbeitet werden, die nur an der Redaktion von
Paragraphen interessiert sind, sondern von Bürgern aus allen sozialen Schichten des
Landes und zwar auf der Basis der Bedürfnisse aller Mexikaner.
Autor:
Weshalb ist das nötig? Die 100 Jahre alte Verfassung von 1917, die jetzt gründlich
reformiert werden soll, war doch sehr fortschrittlich.
Sánchez:
Die Grundlagen unserer Verfassung wurden permanent zerstört: der durch die
Landreform vergesellschaftete Grundbesitz, die Nationalisierung der strategisch
wichtigen Rohstoffe, vor allem des Erdöls, das Arbeitsrecht und das Recht auf
Bildung. Diese vier Grundpfeiler wurden durch zahlreiche neue Modifikationen
ausgehöhlt. Nahezu 80 Prozent der mexikanischen Verfassung wurden im Lauf der
Jahrzehnte verändert. Deshalb braucht der Staat ein völlig neues Grundgesetz, denn
das bestehende ist zerrüttet.
Autor:
Wie soll das ablaufen in diesem tief gespaltenen Land, in dem es noch nicht einmal
eine Einheit der Linken gibt?
Sánchez:
Wir wollen jedenfalls nicht die Geschichte wiederholen und diese Reform mit Hilfe
der existierenden politischen Parteien durchführen. Wir sind nicht grundsätzlich
gegen Parteien, aber den Herrschenden vertrauen die Leute nicht mehr.
Autor:
Kann die Verfassungsgebende Versammlung auf bestehenden Strukturen aufbauen?
Sánchez:
Angesichts einer derartigen Krise haben die Leute zur Selbsthilfe gegriffen und
eigene Polizeieinheiten und Bürgerwehren gegen die Gewalt von allen Seiten
aufgestellt. Es gibt vielerorts Komitees zur Verteidigung des Wassers, das Konzerne
sich unter den Nagel reißen wollen oder verschmutzen. Komitees von Lehrern und
Eltern, um Schulprobleme zu lösen in unserem desolaten Bildungssystem. Mit der
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Zeit hat sich ein riesiges Arsenal von Selbsthilfeorganisationen gebildet, mit denen
wir eng zusammenarbeiten.
Autor:
Die Bürgergesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren sehr stark verbreitert.
Doch wie entsteht daraus ein Verfassungsentwurf?
Sánchez:
Auf dieser Basis wählen wir die Repräsentanten der Verfassungsgebenden
Versammlung. In ihren Debatten entsteht der Verfassungsentwurf, und dann beginnt
der friedliche politische Kampf um seine Durchsetzung. Das Projekt ist nicht so rasch
zu realisieren. Es vermittelt jedoch die Hoffnung auf einen Wiederaufbau dieses
Landes, und es bringt das mexikanische Volk als handelndes Subjekt in die Politik
zurück.
Musik:
La HH Botellita: Libertad
Sprecher:
Kommt alle heraus, auch die, die noch nicht dabei waren, zum Kampf um Würde und
Freiheit!
Absage:
„Wir sind es leid!“
Die mexikanische Bürgergesellschaft wehrt sich.
Ein Feature von Peter B. Schumann
Sie hörten eine Co-Produktion des Deutschlandfunks mit dem Südwestdeutschen
Rundfunk 2016.
Die Lieder der Platte De vuelta a casa haben die Interpreten und Komponisten zur
Verfügung gestellt: Fero Esteban, Axel Ordaz, Belafonte & Paulina Lasa, Grushgrev,
Hijas de violencia, DePedro und La HH Botellita.
Es sprachen:
Jean-Paul Baeck, Maya Bothe, Sigrid Burkholder, Andreas Potulski und der Autor.
Ton und Technik:
Christoph Rieseberg, Roman Weingart
Regie:
Peter B. Schumann
Redaktion:
Karin Beindorff
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