SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Das kann doch nicht wahr sein! –
Musikalische Irrtümer (4)
Als mit Irrtümern aufgeräumt wurde:
Historisch informierte Aufführungspraxis
Von Nele Freudenberger
Sendung:
Donnerstag, 02. Mai 2016
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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SWR2 Musikstunde mit Nele Freudenberger
Das kann doch nicht wahr sein! – Musikalische Irrtümer (4)
Als mit Irrtümern aufgeräumt wurde: Historisch informierte
Aufführungspraxis
Signet
Mit Nele Freudenberger
Die Alte Musik Szene hat schon mit so manchem musikalischen Irrtum
aufgeräumt: ob Dynamik, Besetzung oder Tempo – die Interpretation alter Musik
basiere jetzt auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, so heißt es. Doch auch die
können in die Irre führen. Die historisch orientierte Aufführungspraxis mit all ihren
Irrungen und Wirrungen wird uns in der heutigen Musikstunde beschäftigen.
Titelmusik
Es war Felix Mendelssohn der die Alte Musik überhaupt wieder zur Aufführung
brachte – wie z.B. seine legendäre Wiederaufführung von Bachs
Matthäuspassion, die allerdings durch rüde Kürzungen und einige
Uminstrumentierungen dem Zeitgeschmack angepasst wurde.
Vorher – also Jahrzehnte nach ihrem Tod - wurden Bach, Händel und co. nicht
mehr gespielt: unmodern, nicht mehr en vouge. Erst allmählich kam man
dahinter, dass auch die alten Meister durchaus hörenswerte Musik komponiert
hatten.
Hier gab es allerdings ein grundlegendes Problem: mit der Romantik wurden die
Klangapparate immer größer und damit unbeweglicher.
Das angestrebte Klangideal war in jeder Beziehung üppig: mit großem Vibrato,
breiten Bögen und langen Linien. Herrlich für Bruckner, aber ein Todesurteil für
Barockmusik, der damit die Spritzigkeit die sie auszeichnet völlig
abhandenkommt.
Nichtsdestotrotz ließen sich die großen Dirigenten der alten Schule nicht davon
abbringen, ein Bachkonzert genauso zu dirigieren wie eine Mahler-Sinfonie.
Karajan und die Berliner Philharmoniker haben 1965 die brandenburgischen
Konzerte von Johann Sebastian Bach auf diese Weise aufgenommen. Hier ein
kurzer Ausschnitt aus dem dritten Satz des dritten Konzerts in G-Dur.
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Musik 1
J. S. Bach
Brandenburgisches Konzert Nr. 3, 3. Satz
Berliner Philharmoniker / Herbert von Karajan
Track: 10
Zeit: 3:30
Deutsche Grammophon, LC00173, 4803337, 028948033379
Eine solche Interpretation ist heute kaum noch vorstellbar: denn während das
hier vielleicht die langsamste Aufnahme dieser Konzerte der Welt ist, hat Reinhard
Goebel sicherlich eine der schnellten Aufnahme desselben Stücks hingelegt. Bei
den Aufnahmen wurde Goebel zum Tempo gefragt: sind Sie sicher, dass Sie das
so schnell spielen lassen wollen? Und ob er das war, denn Goebel hatte lange
und viel geforscht. Seine musica antiqua Köln war viel kleiner besetzt als die
Berliner Philharmoniker. Vibrato war – zumindest damals – gestrichen, das Stück
wurde völlig anders gedacht und eingeteilt: nämlich nicht wie Karajan das getan
hatte in dem 12/8 Takt in dem es notiert ist, sondern als alla breve was dem
ganzen Stück einen völlig anderen Charakter verleiht. Denn bei einem alla breve
verhält es sich folgendermaßen: statt der üblichen Viertel-Noten zählt man die
halben – spielt also schneller und setzt die Betonung deutlicher. Während Karajan
diesen 12/8 Takt also wie einen vierer Takt schlägt, denkt Goebel ihn nur noch in
einem zweier Takt.
Neben dieser rein mathematischen Beschleunigung ist Goebels Ansatz
menschlich gedacht: zum Zeitpunkt der Aufnahmen war er genauso alt wie Bach
als er die Konzerte schrieb (nämlich 35) – ein naheliegender Gedanke also, dass
beide etwa dieselbe Auffassung von Temperament und Geschwindigkeit hatten.
Und Goebel ist eher von der schnellen Truppe und wenn man sich Bachs
Kompositionen sowohl in Qualität als auch in Quantität ansieht, kann man wohl
davon ausgehen, dass das auch auf Bach zutrifft.
Diese Aufnahme von 1985/86 war ein Meilenstein! Und spaltete, wie zu erwarten
die Gemüter. Während die einen Goebel für diesen radikalen, aber eben
wissenschaftlich fundierten Ansatz feierten, beschwerten sich die anderen über
den fehlenden Kuschelfaktor dieser Interpretation. Und tatsächlich: diese
Aufnahme geht ab, wie eine Rakete! Völlig entschlackt ist das eine
Verjüngungskur um etwa 200 Jahre! Dass mit dem Irrtum aufgeräumt wurde, man
könne Bach wie ein romantisches Stück spielen, hat die historisch orientierte
Aufführungspraxis weit nach vorne gebracht. Goebel stand schon damals
natürlich in einer nicht mehr ganz neuen Tradition. Er selbst studierte unter
anderem bei Marie Leonhardt – eine der Pionierinnen der Barockvioline und der
historisch informierten Aufführungspraxis. Sie war Konzertmeisterin in Ton Kopmans
musica antiqua Amsterdam und natürlich spielte sie auch im Leonhardt-Consort –
schließlich war sie mit dem Cembalisten Gustav Leonhardt verheiratet.
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Goebel studierte außerdem bei Eduard Melkus – ebenfalls Barockgeiger, der
nicht nur zum engeren Kreis um Leonhardt, sondern auch zu dem um Nikolaus
und Alice Harnoncourt gehörte. Impulse gab es für Goebel also reichlich.
Hier aber nun besagte revolutionäre Aufnahme von Reinhard Goebel und seiner
musica antiqua Köln – ebenfalls der dritte Satz aus dem brandenburgischen
Konzert in G-Dur
Musik 2
J. S. Bach
Brandenburgisches Konzert N.r.3, 3. Satz
Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel
M0011221 009, 3‘50
Reinhard Goebel und seine musica antiqua Köln mit dem dritten Satz aus dem
brandenburgischen Konzert Nr. 3 in G-Dur von Johann Sebastian Bach.
Vielleicht DIE Aufnahme, die eine ästhetische Wende für die Interpretation von
Barockmusik brachte – denn von einzelnen Ausnahmen abgesehen – wurde
Barockmusik genauso gespielt, wie romantisches Repertoire auch.
Jetzt könnte man ja annehmen, dass die historisch informierte Musikpraxis sich
ausschließlich um Alte Musik kümmert – aber auch das ist ein Irrtum. Sukzessive
haben sich die Protagonisten der historischen Aufführungspraxis weiter
vorgepirscht – denn wer sagt denn, dass die Werke der Romantik genau SO
aufgeführt wurden, wie man es sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte
angewöhnt hat!
Es wurde also weiter geforscht und experimentiert. Eine der berühmtesten und
beeindruckendsten Figuren dieser Zeit ist ohne Frage Nicolaus Harnoncourt. Auch
wenn er zu den Frontleuten dieser Bewegung gehörte, so konnte er die
Formulierung „historisch informierte Aufführungspraxis“ nicht leiden.
Er empfand es als seine Pflicht zu forschen und nicht nur nach rein ästhetischen
Parametern zu musizieren. Er legte seinen Interpretationen die Idee der Musik als
Klangrede zugrunde – ein Prinzip, über das er auch mehrere Bücher geschrieben
hat.
Eigentlich war Harnoncourt Cellist. Festangestellt bei den Wiener Philharmonikern.
Schon während seines Studiums kam er in Kontakt zur Alten Musik – und zu
Musikern, die sich damit befassten. Unter anderem lernte er seine spätere Frau
die Geigerin Alice Harnoncourt geborene Hoffelner kennen. Gemeinsam mit ihr
und noch ein paar anderen Musikern gründete er einen Vorläufer des Concentus
Musicus Wien – ein Ensemble, dessen primäres Ziel es war, die alte Musik und
deren authentische Aufführung zu erforschen und nicht, Konzerte zu geben.
Dieser Vorläufer des Concentus bestand überwiegend aus Musikern der Wiener
Philharmoniker. Sie suchten nach alten Instrumenten und versuchten, aus alten
Quellen herauszubekommen, wie genau man sie spielte.
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Schnell wurde Harnoncourt zum musikalischen Leiter – dirigierte aber eben nicht,
sondern übernahm die Leitung vom Cello aus. So, wie es in der Zeit des Barock
üblich gewesen war; der Dirigent ist eine vergleichsweise späte Erfindung.
Auch in dieser Besetzung gab es eine bahnbrechende Aufnahme von Bachs
Brandenburgischen Konzerten – aus dem Jahre 1964.
Von da an nahm die Internationale Karriere des Ensembles ihren Lauf, eine
Aufnahme folgte der nächsten, die historisch informierte Aufführungspraxis trat
ihren Siegeszug an.
Plötzlich wurde Harnoncourt auch von anderen Ensembles als Dirigent angefragt.
Zunächst lehnte er ab, denn er sah sich nicht in der Dirigentenrolle, sondern in der
des musikalischen Leiters – ohne Taktstock, vom Cello aus.
Erst in den 70er Jahren sagte er zu, als es darum ging, an der Mailänder Scala
Monteverdis Oper „il ritorno d’Ulisse in patria“ zu dirigieren. Und von da an
dirigierte er immer häufiger, wagte sich zeitlich im Repertoire immer weiter vor, bis
zu den Klassikern Mozart und Beethoven. Er predigte – und lebte – „die Botschaft
der Handschrift“ so der Titel einer seiner Aufsätze über Mozart. Er hat die
Dirigenten und Solisten quasi zu Philologen gemacht, die nun fleißig die
Handschriften studieren, um einen klareren Bezug, eine klarere Idee zu den
Werken zu bekommen. Und das funktioniert, genau wie das Prinzip der
Klangrede, eben in allen Epochen. Es waren unter anderem die Wiener
Philharmoniker, die ihn baten ihr Chefdirigent zu werden. Aber er lehnte ab.
Immerhin nahm er die Ehre an, das Neujahrskonzert zu dirigieren.
Hier also ein historisch informierter Johann Strauß, mit den Wiener Philharmonikern,
die ja auf modernen Instrumenten spielen, und Harnoncourt am Pult
Musik 3
Johann Strauß: Baunerpolka
Wiener Philharmoniker / Nikolaus Harnoncourt
Neujahsrkonzert 2003
M0055581 011, 2‘53
Die Bauernpolka von Johann Strauß Sohn: gespielt von den Wiener
Philharmonikern unter der Leitung von Nicolaus Harnoncourt.
Die Alte Musik gehört dank Menschen wie Nikolaus Harnoncourt oder Gustav
Leonhardt oder Christopher Hogwood heute wie selbstverständlich zum
klassischen Repertoire.
Das war beileibe nicht immer so.
Die ersten Anfänge gab es etwa zur Jahrhundertwende. Hier begann man, sich
für alte, authentische Instrumente zu interessieren. Alfred Deller, der die
Gesangstechnik der Countertenöre wiederbelebte spielte eine wichtige Rolle,
aber sie galten lange Zeit noch als absolute Exoten.
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Heute erleben Countertenöre geradezu eine Hoch-Zeit: tolle Stimmen wie die
von Philippe Jaroussky, Max Emanuel Cencic, Valer Bader Sabadus und wie sie
nicht aller heißen feiern geradezu Siegeszüge!
Doch die alten Instrumente starteten trotzdem ihre Karriere neu: ob Blockflöte,
Laute oder Gambe: sie wurden wieder populär. Zunächst zwar nicht in den
Konzertsälen, aber zum häuslichen musizieren. Der Grund ist schnell erklärt und
ein großer Irrtum: die Instrumente galten als besonders leicht zu spielen, ebenso
wie die alte Musik an sich, weswegen die Alte Musikszene sich aus einer
Jugendmusikbewegung heraus etabliert hat.
Es gab eine sogenannte „Gambenbewegung“ die tatsächlich eine Art
Protestbewegung gegen das künstlerische Establishment war.
Wirklich interessant wird es ab etwa 1927, als der Cellist August Wenzinger auf der
Bildfläche erscheint: schon längst beschäftigt er sich mit der Gambe und ein
Hagener Industrieller wird auf seine Arbeit aufmerksam: Hans Eberhardt Hoesch.
Er ist selbst passionierter Geiger, interessiert sich brennend für den Originalklang
und beginnt früh, alte Instrumente zu sammeln, was seine finanzielle Lage ihm
durchaus im großen Stil erlaubt. Später unterhält er sogar eine eigene
Instrumentenwerkstatt. Aber er sammelte auch Schriften und Musikalien, um dem
Originalklang auf die Schliche zu kommen – kurz um: er forschte und förderte mit
allen Mitteln. Quasi autodidaktisch wurde er vom Liebhaber zum Fachmann –
gerade, was Fragen zur Mensur alter Streichinstrumente anging. Aber das
Sammeln und forschen allein, waren ihm nicht genug. Er versammelte Musiker um
sich, die genau wie er für die Alte Musik brannten! Nach einigen Forschungsreisen
zu Festivals und Konzerten initiierte Hoesch die Kabeler Kammermusik. Das erste
Mal wurden sie 1930 gegeben. Aus ganz Deutschland wurden Musiker
eingeladen, um unter der Leitung von Christian Döbereiner innerhalb von 5
Tagen ein Programm mit alter Musik einzustudieren. Das Konzert war ein voller
Erfolg, so dass gleich eine regelmäßige Einrichtung daraus wurde. Hier trafen sich
Musiker wie der Flötist Gustav Scheck und der Cellist und Gambist August
Wenzinger, die ihrerseits auch außerhalb der Kabeler-Kammermusiktage
musizierten, forschten und ihre Ergebnisse verbreiteten. Die alte Musik wurde
immer populärer, erreichte ein immer größeres Publikum. Den Durchbruch
erreichte sie sicherlich mit dem ersten Konzert der capella coloniensis unter der
Leitung von Wenzinger. 1954 trat das Orchester, das auf Originalinstrumenten
spielte mit einem Bach Programm beim Nordwestdeutschen Rundfunk im Kölner
Funkhaus auf.
Auch Wanda Landowska darf man natürlich in dieser Entwicklung nicht
vergessen: sie verhalf dem Cembalo zu neuem Glanz. Die Polin hat wichtige
Impulse für die Alte Musikszene gegeben.
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Sie lehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an unterschiedlichen
Musikhochschulen Europas und konzertierte auf der ganzen Welt und brachte so
das Cembalo als Instrument wieder in das öffentliche Bewusstsein.
Allmählich also kamen die alten Instrumente wieder zu neuem Ruhm und mit
ihnen eben auch die alte Musik. Und wenn diese Szene eines bewiesen hat, dann
sicherlich, dass die alten Instrumente und die alte Musik mindestens so virtuos
sind, wie die romantische.
Musik 4
The Duke of Norfolk (Paul's Steeple)
Ensemble 1700, Dorothee Oberlinger
M0384877 001, 2‘55
Dorothee Oberlinger und das Ensemble 1700 mit Musik von the Duke of Norfolk –
aus „the division Violin“ gemischt mit Variationen aus „the division flute“ und
improvisierten Variationen.
Die Blockflöte – ein Instrument, mit schlechtem Ruf und dem man vor allem zu
Unrecht unterstellt, dass es besonders leicht zu spielen sei. Überraschenderweise
glaubte man das auch von der Gambe – weil sie im Gegensatz zum Cello Bünde
hat.
Für die Gambe, die quasi die Vorgängerin des Cellos im Musikleben war, gibt es
zahlreiche Kompositionen. Sie galt als das Instrument der Könige, von besonderer
Eleganz und Finesse und so wundert es nicht, dass auch Nicht-Könige sich für
dieses Instrument begeistern konnten und es reichlich Nachfrage gab. Trotzdem
konnte es sich nur ein Georg Philipp Telemann leisten, 12 Fantasien für Gambe
solo herauszubringen.
Schließlich war er nicht nur Komponist sondern auch Verleger und dem Publikum
muss damals eine Komposition so ganz ohne Generalbass und für Gambe, die
allmählich vom Cello abgelöst wurde, nicht geheuer gewesen sein – das war ja
furchtbar altmodisch!
Dass diese Sammlung 1735 auf dem Markt erschienen sein muss, geht aus einer
Art Werbekatalog hervor, den Telemann regelmäßig drucken ließ. Deswegen
wusste man, dass es diese 12 Fantasien geben musste! Aber ach, kein einziges
der gedruckten Exemplare war mehr zu finden und ein Autograph schon
überhaupt nicht.
Damit bekam dieses Werk eine mystische Aura bzw. Legendencharakter, ähnlich
dem Bernstein-Zimmer. Wunderschön und kunstvoll muss es sein – aber leider
werden wir es nie erfahren… schließlich ist es weg. Ein großer Irrtum!
Mit so etwas kann man sich natürlich abfinden, sollte man aber nicht, wie der
Gambist Thomas Fritzsch eindrucksvoll bewiesen hat: denn er hat sie
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wiedergefunden, die sagenumwobenen „douze Fantaisies pour la Basse de
Violle“ von Georg Philipp Telemann. 12 Fantasien, die tatsächlich unglaublich
sind! Zeugnis ablegen von Telemanns Kreativität und Kennerschaft des
Instruments, die zeigen, dass er mit Geschmack und Zeitgeist nicht viel zu
schaffen hat, denn er nutzt gleichermaßen die alten, wie die neuen Formen –
eben so, wie es gerade am besten passt.
Gefunden hat Thomas Fritzsch die Noten übrigens auf Schloss Ledenburg in der
Privatbibliothek der adeligen Dichterin Eleonore von Münster. Sie lebte von 17341794 und war offenbar eine hervorragende Gambistin, die diese Noten einfach
haben musste!
Dass es diese private Sammlung überhaupt gibt, diesen Hinweis bekam Fritzsch
von dem französischen Musikwissenschaftler Francois-Pierre Goy. Der ist
Konservator der Bibliotheque national de France in Paris und die Gambe und
Zupfinstrumente sind sein Forschungsschwerpunkt. Dass er mit seiner These richtig
lag, dass wenn jemand die Noten von Telemann hatte, es Eleonore von Münster
sein müsse, war ein Glücksgriff.
Ein Irrtum also einfach anzunehmen, ein Werk sei verschollen, nur weil es nicht in
einer der großen Bibliotheken katalogisiert ist!
Hier also eine der 12 Fantasien für Viola da Gamba solo von Georg Philipp
Telemann
Musik 5
Georg Philipp Telemann
Fantasie für Viola da gamba Nr. 1 c-Moll, TWV 40:26
Thomas Fritzsch
M0433984, 5‘48
Die erste aus den 12 Fantasien für Viola da gamba solo von Georg Philipp
Telemann, gespielt hat Thomas Fritsch, der die verschollen geglaubten Noten
auch wiederentdeckt hat.
Während dieses Werk also wiedergefunden wurde, nachdem man es endgültig
ins Reich der Mythen entlassen wollte ist die nächste Musik die ich Ihnen
vorstellen möchte ein wirklich großer Urheberirrtum! Das ist besonders bitter, denn
im Grunde ist es das bekannteste Werk von Tomaso Albinoni – nur ist es eben
nicht von Albinoni. Die Rede ist vom Adagio in g-Moll.
Eins DER Werke des Barock, das praktisch auf jeder CD zu finden ist, die etwas
seichte Klassik anbietet. Ein Werk, das unzählige Male und in unglaublichen
Versionen und Arrangements bearbeitet wurde. Kitsch pur!
1958 präsentierte ein italienischer Komponist und Musikwissenschaftler namens
Remo Giazotto das Adagio, das er selbst – im Stile Albinonis – komponiert habe
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und zwar aus Fragmenten rekonstruiert, einer Skizze nur, die der Meister
hinterlassen haben soll.
Erstaunlich hierbei, dass Giazotto die Skizzen nicht vorlegen konnte – und das ist
doch das, was ein Musikwissenschaftler reflexartig und voller Stolz tun würde:
einen Autographen-Fund präsentieren!
Man weiß nur, was Giazotto über diese Skizze zu einer angeblichen Triosonate
sagt: nicht mehr als 6 Takte sollen es gewesen sein für Violine und eine bezifferten
Bassstimme.
Auch wenn sich schon damals Zweifel breit machten, zumal wegen der
unbarocken Harmonik und Struktur, ist dieses Adagio bis heute für die breite
Masse das bekannteste Werk von Tomaso Albinoni. Bitter. Zumal, wenn man
bedenkt, was für herrliche Musik der Venezianer tatsächlich komponiert hat!
Hier also nun der Fake von Remo Giazotto: das Adagio g-Moll. Nennen wir es
wohlwollend Adagio á la Albinoni….
Musik 6
Albinoni / Remo Giazotto
Adagio g-Moll
Academy of St. Martin in the Fields / neville Marriner
Decca, LC0171, 460483-2, 028946048320
7’16
Neville Marriner am Pult der Academy of St. Martin in the Fields mit dem Adagio
in g-Moll angeblich von Tomaso Albinoni und absurderweise heutzutage sein
bekanntestes Stück, dabei hat es der Komponist und Musikwissenschaftler Remo
Giazotto geschrieben – nach einer ominösen Skizze Albinonis, die er aber niemals
hat vorzeigen können.
Einer Verwechslung gänzlich anderer Art fiel – und zwar immer wieder – der
Komponist Ludwig Berger zum Opfer. Er hatte nämlich einen Namensvetter, der
allerdings noch ein K. zwischen Vor- und Nachname trug: Ludwig K. Berger war
Sänger und komponierte offenbar auch das ein oder andere Lied – in der Regel
allerdings mit Gitarrenbegleitung.
Da sich sowohl Ludwig als auch Ludwig K. Berger in erster Linie mit Gesang
beschäftigten, war diese Namensverwandtschaft fatal. Zumindest für Ludwig –
denn qualitativ lagen Welten zwischen den Werken der beiden.
Ludwig Berger, also der, über den zu reden sich lohnt, wurde 1777 in Berlin
geboren. Er war in den Berliner Salons ein gern gesehener Gast und ging dort ein
und aus. Unter anderem beim Staatsrat Friedrich August von Staegemann, wo er
den Dichter Wilhelm Müller kennen lernte. Innerhalb dieses Salons entstand unter
dem Motto „Rose, die Müllerin“ Müllers berühmter Gedichtzyklus, dem vor allem
Franz Schubert durch seine Vertonung zu Unsterblichkeit verholfen hat.
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Die erste musikalische Version allerdings stammt von Ludwig Berger! Er vertonte
10 der Gedichte, noch bevor der Zyklus fertig gestellt war. Freilich ist diese
Fassung von anderer Qualität als die von Franz Schubert, aber die Lieder sind
durchaus hörenswert und handwerklich gut gemacht. Hier eine Probe aus
diesem Zyklus – der übrigens ausnahmsweise mal nicht Ludwig K. Berger
zugeschrieben wurde – „des Baches Lied“
Musik 7
Ludwig Berger
Des Baches Lied
Markus Schäfer, Tobias Koch
Avi-music, LC15080, 8553333, 4260085533336
3‘16
Des Baches Lied von Ludwig Berger, ein Komponist, der Zeit seines Lebens und
auch noch danach mit einem Zeitgenossen und Namensvetter verwechselt
wurde, der ebenfalls Lieder komponierte, wenn auch von minderer Qualität.
Markus Schäfer wurde von Tobias Koch begleitet.
Wir bleiben beim Thema Kammermusik, verlegen uns aber auf Streichinstrumente.
Auf Streichquartette um genau zu sein. Das Streichquartett, so wird bzw. wurde
allgemein angenommen, sei eine Erfindung von Joseph Haydn. Vor ein paar
Jahren kam allerdings der berechtigte Einwand auf, dass auch Franz Xaver
Richter schon Streichquartett publiziert hat – und zwar bereits 1768. Zwar hatte
Joseph Haydn schon 1764 Quartettdivertimenti veröffentlicht, aber richtige
Streichquartette op.9 erst 1771. Die These, dass Haydn das Streichquartett
erfunden hat, wird aber nicht nur von Richter bedroht: auch in Italien gibt es eine
Entwicklung für diese Kammermusikform, die mit zwei Geigen, einer Bratsche und
einem FESTGESCHRIEBENEN Cello besetzt ist. Vorher hätte man die Bassstimme mit
einem beliebigen Instrument besetzen können. Während Haydn und Richter also
in Deutschland an dieser Form arbeiteten, war es in Italien maßgeblich Luigi
Boccherini, der als Cellovirtuose den Streichinstrumenten ja ohnehin zugeneigt
war, der eine italienische Form des Streichquartetts in die Welt gebracht hat.
Während sein op. 1 noch Streichtrios sind, so ist sein op. 2 erweitert aufs Quartett –
mit der üblichen Besetzung: 2 Violinen, Viola und Violoncello.
Diese Quartette stammen aus dem Jahre 1761 und sind beileibe nicht der einzige
italienische Versuch ins Streichquartettgeschäft einzusteigen.
Madalena Lombardini Venezianische Geigerin und Komponistin veröffentlichte
ihre ersten Streichquartette nur 6 Jahre später! Und auch Bartolomeo
Campagnioli legte ein Jahr später nach. Also von wegen, Haydn oder Richter
hätte das Streichquartett erfunden!
Die von Boccherini fanden sogar ausgesprochen schnell Verbreitung, denn
veröffentlicht wurden sie in Paris. Ein cleverer Schachzug, denn dort gelangten sie
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praktisch direkt in die Salons. Insgesamt hat Boccherini übrigens 91
Streichquartette komponiert!
Haydn und Boccherini haben sich beide sehr um die Gattung verdient gemacht.
Ihr Stil könnte aber kaum unterschiedlicher sein und der von Haydn hat sich nun
mal in der öffentlichen Wahrnehmung durchgesetzt.
Hier eine Kostprobe wie ein Quartett von Boccherini klingen mag: natürlich eines
aus seinem op. 2
Musik 8
Luigi Boccherini
Quartett für 2 Violinen, Viola und Violoncello C-Dur, G 164 (op. 2 Nr. 6)
Sonare Quartett
M0018082 W06 016, 3‘44
Der erste Satz aus Luigi Boccherinis Streichquartett in C-Dur op. 2 Nr. 6, gespielt
hat das Sonare Quartett.
Damit geht die SWR2 Musikstunde für heute zu Ende. Morgen beschäftigen wir
uns in unserer Reihe musikalische Irrtümer mit dem Thema Biographik: die kann
nämlich absichtlich oder unabsichtlich voller Irrtümer stecken.
Mein Name ist Nele Freudenberger – ich sage Tschüss und wünsche Ihnen noch
einen schönen Tag!