SWR2 Glauben LORD KRISHNA UND DIE WITWEN

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Glauben
LORD KRISHNA UND DIE WITWEN
IN DER INDISCHEN PILGERSTADT VRINDAVAN PULSIEREN
GLAUBE UND ARMUT
VON ØLE SCHMIDT
SENDUNG 09.10.2016 / 12.05 UHR
Redaktion Religion, Migration und Gesellschaft
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Atmo-Collage
Nach 25 Sekunden leise unterlegen
Markante Atmos, die später einzeln im Stück auftauchen.
Erzähler
Eigentlich ist Vrindavan eine verschlafene, kleine Stadt im Norden Indiens. Die
Felder sind weitläufig und fruchtbar, die Menschen betreiben Ackerbau und
Viehzucht, ruhig ist es und beschaulich. Bis eines Tages ein Kuhhirte das Leben
in Vrindavan auf den Kopf gestellt hat, andere sagen: den Himmel auf die
Erde geholt hat. Der junge Kuhhirte trug stets eine Pfauenfeder im Haar und er
spielte Bambusflöte, sein Name war Krishna. Ihm zu Ehren verwandelt sich das
kleine, verschlafene Vrindavan zu Sonnenuntergang, wenn es Zeit für den
Gottesdienst wird, in ein spirituelles Tollhaus. Abertausende Pilger aus der
ganzen Welt und verstoßene Witwen aus ganz Indien feiern den Kuhhirten
dann als Lord Krishna, als eine der wichtigsten Gottheiten im Hinduismus.
Atmo
Hört hier auf
Erzähler
Und die Witwen in Vrindavan, sie erzählen sich, dass Krishna mit seiner
Geliebten Radha noch immer abends unter dem Mondschein am Ufer des
Yamuna spazieren geht. Wer genau hinhört, so sagen sie, kann von fern sein
Flötenspiel hören.
Atmo
Steht kurz alleine, dann leise unterlegen
Witwen sprechen und scherzen, Geschirr klappert.
O-Ton Witwe Umar
Ich bin viele Tage mit dem Zug gefahren, ich war verwirrt und alleine, in
Vrindavan bin ich ausgestiegen und herumgeirrt. Die Männer von der
Eisenbahnpolizei haben mich dann hier in den Ashram gebracht. Das war vor
zwei Monaten.
Erzähler
Umar hat ein runzeliges Gesicht mit großen Augen, die mittlerweile wieder
strahlen. Die achtzigjährige Witwe lebt mit anderen Witwen zusammen in
einem Haus, finanziert wird der Ashram von Sulabh International, einer
indischen Nichtregierungsorganisation.
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O-Ton Witwe Umar
Wir haben über meinen Stromanschluss gestritten. Meine erwachsenen Söhne
leben ein Haus neben mir, und weil sie Geld sparen wollten, haben sie meinen
Anschluss angezapft und Strom gestohlen. Als ich sie eines Tages gefragt
habe, warum meine Stromrechnung so hoch ist, sind meine Söhne wütend
geworden, und haben mich beschimpft und geschlagen. Meine eigenen
Kinder haben mich geschlagen...
Atmo
Noch mal hochziehen, dann leise unterlegen
Witwen sprechen und scherzen, Geschirr klappert
Erzähler
Als Umars Mann starb, war plötzlich alles anders in der Familie. Ihre Söhne
behandelten sie schlecht und warfen sie aus der Wohnung. So wie Umar geht
es vielen Witwen in Indien. Mit dem Tod ihres Mannes verlieren sie den Schutz
des Familienoberhauptes, Schutz vor ihren eigenen Kindern und den
Schwieger-eltern. Indische Frauen ziehen nach der Hochzeit traditionell zu
ihrem Mann, der meist noch unter dem Dach seiner Eltern lebt.
O-Ton Witwe Umar
Als meine Söhne mich geschlagen haben, habe ich ihnen gesagt, dass ich zur
Polizei gehe und sie anzeige. Selbst das war ihnen egal. Ich war so verzweifelt
und zornig, dass ich das Haus mit gerade einmal 1.500 Rupees verlassen
habe, und nach Vrindavan gefahren bin. Mit 79 Jahren habe ich das erste
Mal in meinem Leben meine Heimatstadt verlassen. Ich habe meine Söhne
groß gezogen, sie gefüttert und beschützt. Und dann behandeln sie mich so,
schlagen mich.
Erzähler
Der Ashram von Sulabh International liegt abseits der lärmenden Hauptstraße,
seit nunmehr zehn Jahren bietet er 50 Witwen Obdach. Jeweils drei von ihnen
teilen sich ein spartanisches Zimmer, auf dem Boden steht ein kleiner
Gaskocher, mit ihm bereiten die Witwen ihre Mahlzeiten zu. Es ist einfach hier,
aber ein Zuhause, mit Strom sogar und Wasser, und vor allem: mit
Familienanschluss. Weil der indische Staat die Witwen alleine lässt, zahlt
Sulabh ihnen Essengeld und eine bescheidene Rente. Einmal die Woche
schaut eine Ärztin nach ihnen. – Wie jeden Mittag kommen die Frauen in dem
großen Raum des Hauses mit Schellen, Trommeln und Glocken zusammen;
um zu singen für Krishna, um Erlösung von ihrem weltlichen Leid zu erbitten.
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Atmo
Steht 8 Sekunden alleine, dann leiser unterlegen
Die Witwen chanten
Erzähler
Laut und stickig, arm und beseelt ist das Leben in Vrindavan, dem Pilgerort
von Lord Krishna. Die Stadt der 5000 Tempel ist die letzte irdische Station von
Witwen aus ganz Indien. Viele von ihnen sind nach dem Tode ihres
Ehemannes von der Familie verstoßen worden, weil Witwen nach der
Vorstellung vieler Inder Unglück bringen sollen. Sie leben in großer Armut,
ohne Obdach, haben Gewalt und Demütigung erfahren; einige sind gerade
so mit dem Leben davongekommen. Meist endet an dieser Stelle die
Erzählung in westlichen Medien. Dass sie weitergeht, wissen diejenigen, die in
die leuchtenden Augen der Witwen geschaut haben beim ekstatischen
Singen für Krishna, den spirituellen Wegbegleiter der Witwen in Vrindavan.
Atmo
Wieder hochziehen, dann leiser unterlegen
Die Witwen chanten etwas schneller.
Erzähler
Als ich das Mikrofon ausschalte, erzählt mir Umar, dass sie nach dem Tode
ihres Mannes von ihren Schwiegereltern geschlagen und misshandelt worden
ist. Einige Jahre ging das so, bis die Schwiegereltern starben. Eine andere
Witwe nickt, nachdem sie lange zugehört hat. Sie sagt, dass der Bruder ihres
Mannes sie vergewaltigt hat. Alle in der Familie wussten es, doch niemand hat
etwas unternommen. Als sie ihn bei Polizei anzeigen wollte, versuchte der
Bruder, sie umzubringen. Im letzten Moment gelang ihr die Flucht. Seitdem
lebt sie in diesem Ashram, der Bruder ihres verstorbenen Mannes sitzt im
Gefängnis. – »Krishna ist unser Leben«, sagt Umar mit fester Stimme; sagt die
Witwe, die sich in Vrindavan auf ihren Tod vorbereitet.
Atmo
Steht 5 Sekunden frei, dann leiser unterlegen
Autos, hupen, schimpfen, irgendwas, Krishna-Gesänge leise.
Erzähler
Plötzlich streikt der Rikscha-Fahrer. Er deutet auf das heillose Durcheinander
vor uns, und stoppt den Motor. »Krishna!«, sagt er beschwörend und schickt
ein Stoßgebet gen Himmel. Spuren und Richtungen auf der Hauptstraße
haben sich längst aufgelöst, die Situation ist vollkommen außer Kontrolle. Dass
ich bereits für die ganze Strecke bezahlt habe, davon will der Fahrer nichts
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mehr wissen. Nun bin ich auf mich alleine gestellt, auf dem Weg zum großen
Krishna-Tempel. Obwohl: ich bin gar nicht alleine, ich bin längst Gefangener
eines stetig wachsenden Schwarmes. Ob Schicksal oder Zufall, ein
unsichtbares Band verbindet uns. Wir - das sind: schwitzende Menschen,
schlafende Kühe und stotternde Rikschas. Blinde Musiker singen
hingebungsvoll für Lord Krishna, und rollen ihre trüben Augen dabei.
Atmo
Hochziehen, steht kurz alleine, dann wieder unterlegen
Erzähler
Vor dem Tempel dann sitzen Witwen in weißen Saris auf dem staubigen
Boden. Den Kopf nach unten gebeugt, fragen sie stumm nach Almosen. Den
prunkvollen Tempel mit den goldenen Krishna-Statuen betreten sie nicht. Es
steht ihnen nicht frei, in der Öffentlichkeit zu tanzen und zu singen.
Atmo
Steht 5 Sekunden frei, dann leiser unterlegen
Krishna-Gesänge lauter, über Teppich aus Autos, hupen, schimpfen.
Erzähler
Im Herzen des Tempels wiegen sich die Körper zu der live gespielten Musik.
Der festlich geschmückte Raum ist gefüllt mit Krishna–Anhängern aus aller
Welt. Sie feiern einen Moment der Selbstvergessenheit, der Hingabe an etwas
Größeres.
O-Ton Krishna Das
Wenn du stirbst, musst du an Krishna denken, dann kannst du in seine Arme
zurückkehren. Wenn du aber an jemand anderen denkst, dann wirst du so
werden wie der andere. Wenn du von Kindheit an immerzu an Krishna denkst,
dann wirst du ihn im Moment deines Todes nicht vergessen.
Erzähler
Krishna Bhakti Das ist klein und drahtig, und sich seiner Sache ziemlich sicher.
Sein Kopf ist rasiert, um die Lenden hat er sich ein Küchentuch gebunden, so
wie viele Inder. Seine Familie folgt der Krishna-Linie seit Generationen, deshalb
haben sie ihm diesen Namen gegeben: Hingebungsvoller Diener Krishnas.
Hingebungsvoll singen viele andere Diener Krishnas, überall in dem großen
Tempel.
Atmo
Steht 5 Sekunden frei, dann leise unterlegen
5
Krishna-Gesänge, jetzt ekstatischer.
Erzähler
Lord Krishna gehört zu den populärsten Göttern auf dem Subkontinent, für
seine Anhänger ist er die Menschwerdung des Höchsten. Er soll in der Region
Vrindavan geboren und aufgewachsen sein. Dorthin ziehen sich seit mehr als
500 Jahren Krishna-Gläubige Witwen aus ganz Indien zurück. Von ihren
Familien verstoßen, kommen sie zu dem heiligen Platz, um sich mit Krishna zu
vermählen. So hoffen sie auf Trost an ihrem Lebensabend, und auf Erlösung
von dem Unglück, dass Witwen mit sich bringen sollen.
O-Ton Krishna Das
Krishna-Bewusstsein bedeutet, dass du immer mit dem Lord verbunden bist.
Was auch immer du tust, denk’ an ihn, tu’ etwas für ihn, und warte nicht auf
die Früchte der Belohnung, er wird sie dir sowieso zukommen lassen.
Erzähler
Der 50-jährige Krishna Bhakti Das hat 37 Jahre in diesem großen KrishnaTempel gelebt. Mit sieben hatten seine Eltern ihn im 1.300 Kilometer entfernten
Kalkutta in den Zug gesetzt, damit er hier die Tempelschule besuchen konnte.
– Kalkutta ist die Hauptstadt des Bundesstaates Westbengalen, aus dem die
meisten der Witwen stammen, die nun in Vrindavan leben.
Atmo
Steht 4 Sekunden frei, dann leise unterlegen
Menschen, Glocken, Stimmen
O-Ton Krishna Das
Wenn du aufhören willst zu leiden, wenn du es wirklich willst, dann denk’ an
Krishna, er wird dich zurückbringen zu seinem Platz, dem spirituellen Planeten
weit entfernt dort oben. Von dort wirst du niemals zurück müssen, um hier
unten wieder zu leiden.
Erzähler
Immerhin die Betreiber des großen Krishna-Tempels können dem weltlichen
Leben augenscheinlich etwas abgewinnen. Aufregend schöne Frauen
werben bei den Hunderten Besuchern großzügige Spenden ein;
Devotionalien und Bücher werden verkauft, ja, ganze Eigentumswohnungen
wechseln den Besitzer; das Reisebüro »Krishna Travels« bietet Luxusreisen an.
Ihm gegenüber sitzen Gläubige auf dem Marmorboden und chanten, Stunde
um Stunde.
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Atmo
Steht 5 Sekunden frei, dann leise unterlegen
Die Krishna-Gesänge der Frau
Erzähler
Krishna ist ein fordernder Gott, er verlangt von seinen Anhängern eine
symbiotische Beziehung. Dafür verspricht er ihnen nicht weniger als Erlösung
und einen Platz im Paradies. Letzter Halt Vrindavan – diese pulsierende kleine,
verschlafene Stadt, deren Name in Indien wirklich jeder kennt, ist eine TransitStation für Witwen, die den Planeten Erde verlassen wollen, um für immer zum
Planeten Goloka zu reisen. Jenem mythischen Ort im Weltall, an dem Krishna
und seine Geliebte Radhe der Legende nach leben.
Atmo
Steht 5 Sekunden frei, dann leiser unterlegen
Mehrere Lautsprechersounds nacheinander, übereinander, dann Autobahn
Erzähler
Krishna ist überall in Vrindavan, seine märchenhaften Abbildungen und die
Blumengaben davor; auf jedem Platz und an jeder Straßenecke klingen seine
Worte, nun ja, meist schnarren sie aus den betagten Lautsprechern, die in der
ganzen Stadt aufgehangen sind. Doch auch im mystischen Vrindavan hat
die Moderne längst Einzug gehalten. Neben zeitlosen Tempeln werden
umzäunte Siedlungen für Superreiche aus dem Boden gestampft, sie tragen
Namen wie Krishna-Tower oder Krishna-Park. Was wohl der Namensgeber
dazu sagen würde? Den vielen Affen jedenfalls gefällt’s, sie turnen munter in
den Rohbauten, mit dem erbeuteten Mittagessen einiger Bauarbeiter.
Atmo
Hochziehen, dann wieder unterlegen
Steht 5 Sekunden frei, dann leiser unterlegen
Ich bin auf dem Weg in die indische Hauptstadt New Delhi, um Doktor
Bindeshwar Pathak zu treffen, den Gründer von Sulabh International. Er ist
eine der einflussreichsten Stimmen der indischen Zivilgesellschaft.
Atmo
Steht 5 Sekunden frei, dann leiser unterlegen
Mehrere Lautsprechersounds nacheinander, übereinander, dann Autobahn
Erzähler
»Lächle, du bist im Hauptquartier von Sulabh International!«, lese ich auf einer
weißgetünchten Mauer. Rasen und Blumen sind penibel geschnitten, es ist
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unglaublich sauber für indische Verhältnisse. Die Pressesprecherin führt mich in
einen großen Saal. Verwaltungsbeamte aus ganz Indien warten dort in Reihe
und Glied auf die Auszeichnung, dass sie an einem Hygiene-Kurs von Sulabh
teilgenommen haben. Vor ihnen auf der Bühne stehen ausländische
Wissenschaftler, alle kämpfen mit der tropischen Hitze.
Atmo
Steht kurz alleine, dann leise unterlegen
Stimmen von der Zeremonie, Vizepräsident redet
Erzähler
Ehe ich mich versehe, stehe auch ich auf der Bühne, mit einem Blumenkranz
um meinen rot-fleckigen Hals, über meiner Schulter ein farbenfrohes
Baumwolltuch. Der warme Applaus verschluckt die Worte des
Vizepräsidenten von Sulabh, der mich als Ehrengast aus Deutschland
ankündigt. Mein Gott, denke ich, wie unangenehm, lächele artig, und
versuche zu verbergen, dass von meinem Rücken der Schweiß auf den
Bühnenboden tropft. Eine gefühlte Ewigkeit beobachte ich erstarrt, wie fünfzig
Absolventen des Sulabh-Hygiene-Kurses einen feuchten Händedruck und
eine Urkunde bekommen. Dann betritt Doktor Bindeshwar Pathak die Bühne,
und stimmt die von ihm höchstpersönlich komponierte Hymne von Sulabh
International an, alleine.
Atmo
Steht sechs Sekunden frei (dann unterlegen?)
Bindeshwar Pathak singt die Sulabh-Hymne
Erzähler
Nach dem Ende dieser bemerkenswerten Zeremonie schwärmt die
Pressesprecherin von der Musikalität ihres 73-jährigen Chefs; dann bedeutet
sie mir, sein Büro zu betreten. Bindeshwar Pathak sitzt eingerahmt von
hunderten von Büchern. Ein hochtouriger Ventilator auf dem großen
Schreibtisch droht seine Gedanken und Ideen zu verwehen, die er auf Zetteln
und Skizzen festgehalten hat.
Atmo
Geräusche aus der Sulabh-Zentrale
Erzähler
Kulturell? Sozial? Oder doch eher religiös? Wie lässt sich die Ächtung und
Degradierung von Witwen in Indien erklären?
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O-Ton Bindeshwar Pathak
Letztlich ist es eine Kombination. Wenn man das Phänomen psychologisch
betrachtet, dann ist das Problem unsere Männer-dominierte Gesellschaft. Sie
will nicht, dass die Witwen nach dem Tod ihrer Ehemänner wieder heiraten,
dass sie wieder Sex haben. Sie will, dass die Witwen ihre Reinheit wahren.
Erzähler
An den Wänden hängen Auszeichnungen aus aller Welt. Für den
Sozialreformer Pathak, für Pathak, den Erfinder von bahnbrechenden
Biogastoiletten, für Pathak und seine Sulabh-Projekte in Sachen Hygiene,
Trinkwasser und Menschenrechte. Mittendrin hängt ein Foto, auf dem der
Hindu Pathak die Hand des Katholiken Johannes Paul II. schüttelt. Doch damit
der Vielseitigkeit nicht genug: Als Angehöriger der höchsten BrahmanenKaste gibt Bindeshwar Pathak denen eine Stimme, die keine haben: den
sogenannten Unberührbaren und den Witwen. Beide sind für ihn Opfer einer
zutiefst patriarchalen und religiösen Gesellschaft.
Atmo
Geräusche aus der Sulabh-Zentrale wieder hochziehen, dann unterlegen
Erzähler
Warum eigentlich müssen sich in Indien Frauen nach dem Tod ihres
Ehemannes den Kopf rasieren?, fragt Bindeshwar Pathak, um sich dann selbst
zu antworten.
O-Ton Bindeshwar Pathak
Einzig deshalb, damit sich kein Mann von ihnen angezogen fühlt. Warum
müssen sie weiße Kleidung tragen, dürfen nicht singen, nicht tanzen? Weil von
ihnen erwartet wird, dass sie mit ihrem Verhalten nicht einen einzigen Mann
anziehen, nicht mit ihrer Kleidung, nicht beim Essen, nicht beim Singen.
Atmo
Geräusche aus der Sulabh-Zentrale wieder hochziehen, dann unterlegen
Erzähler
Der Wert einer Frau bemisst sich im traditionellen Indien an ihrem Ehemann.
Stirbt dieser, erlischt ihr Wert. Was nicht erlischt, ist die Forderung an die Witwe,
keine neue Verbindung einzugehen: Die Loyalität zu ihrem verstorbenen
Ehemann also über den Tod hinaus zu garantieren. – Bindeshwar Pathak
vergleicht die Lage der Witwen mit der der »Unberührbaren«; beide werden
aus der Gesellschaft verbannt, unsichtbar gemacht. Seine Hoffnung legt er in
eine »soziale Revolution«.
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O-Ton Bindeshwar Pathak
Am wichtigsten ist, dass wir das Verhalten der Menschen in Indien gegenüber
den Witwen ändern, ihre Gedanken und ihre Einstellungen. So wie das
langsam bei den Unberührbaren geschieht, mit denen ich seit 47 Jahren
arbeite. Ihnen ist nicht erlaubt, Angehörige andere Kasten anzufassen, oder
von ihnen angefasst zu werden, weder mit ihnen Zeit zu verbringen, noch mit
ihnen zu essen. Wie bei den Unberührbaren wird die Zeit kommen, dass wir
die Ehre und das Prestige der Witwen in diesem Land wiederherstellen. Das
wünsche ich mir sehr.
Atmo-Collage
Die markanten Atmos, mit denen das Stück begonnen hat.
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