SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Aula Mathematik Der Studienkompass (6/11) Von Albrecht Beutelspacher Sendung: Sonntag, 22. Mai 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Aula können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml Die Manuskripte von SWR2 Aula gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. 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Elf AULA-Autorinnen und -Autoren geben jeweils Auskunft über ihr Fach, zeigen, was man mitbringen muss, um es zu studieren, was man mit dem Bachelor oder Master anfangen kann, wie das Studium genau aufgebaut ist. Es geht um Grundlagenfächer, um Chemie, Mathematik, Germanistik oder Physik. Alle Vorträge sind seit Ende April auch online erhältlich. Infos dazu finden Sie der Internetseite www.swr2.de/studienkompass. Heute also geht es um die Mathematik, Autor ist Professor Albrecht Beutelspacher von der Universität Gießen. Albrecht Beutelspacher: Warum ich mich für ein Studium der Mathematik entschieden habe, weiß ich eigentlich nicht. Aber es war die richtige Entscheidung. Als junger Mensch kann man gerade die eigenen Stärken nur schwer wahrnehmen. Man nimmt Gebiete besser wahr, in denen man gut ist, aber noch besser werden möchte. Bei mir waren das Sport und Musik. In Sport kam ich, in Schulnoten gesprochen, durch viel Training von einer 3 auf eine 2-, in Musik sogar in die Nähe einer 1. Aber für Mathematik tat ich fast nichts, war aber trotzdem ziemlich gut. Das merkten auch meine Mitschüler, die sich regelmäßig von mir bei ihren Hausaufgaben beraten ließen. Wenn ich mich an Mathematikstunden erinnere, die mich begeisterten, dann waren das die wenigen Stunden, in denen es um etwas Besonderes ging, in denen etwas bewiesen wurde, in denen komplizierte gedankliche Probleme ganz klar wurden. Mathematik ist, zusammen mit der Astronomie, die älteste Wissenschaft. Vor über 2.500 Jahren wurde sie von Wissenschaftlern wie Thales und Pythagoras begründet. Und von Anfang an waren es drei Aspekte, die die Mathematik auszeichneten. Das ist zum einen das Verhältnis von Mathematik zur uns umgebenden Welt. Schon der erste Tag der Mathematik kündet davon. Der erste Tag der Mathematik war der 28. Mai des Jahres 585 v. Chr. Und zwar deswegen, weil der große Thales von Milet, einer der sieben Weisen Griechenlands, für diesen Tag eine Sonnenfinsternis vorhergesagt hatte. Deswegen wissen wir den Tag auch heute noch ganz genau. Er hat ihn vorhergesagt, d. h. er muss ein Weltmodell gehabt haben und er muss Berechnungen gemacht haben, die sagten, an diesem Tag passiert eine Sonnenfinsternis. Mathematik war von Anfang an auch eine Anwendungswissenschaft. Man braucht sie zur Feldvermessung, zur Berechnung von Mengen, von Gütern und Preisen, zur Währungsumrechnung, um Flugbahnen zu berechnen, um perspektivisch zu 2 zeichnen, um Physik machen zu können, um Wachstumsprozesse zu berechnen, um Fahrpläne zu machen, um Produktionsprozesse zu optimieren, um Nachrichten zu verschlüsseln, um Finanzprodukte zu bewerten usw. Mathematik ist eine Schlüsselwissenschaft, die uns die Sicherung des wirtschaftlichen und sozialen Wohlstands ermöglicht. Das ist beeindruckend und wichtig, aber das ist nicht alles. Schon in der Antike kommt auch ein anderer Aspekt der Mathematik zum Vorschein. Das erste Buch der Mathematik sind die Elemente des Euklid, etwa 300 v. Ch., das wichtigste und erfolgreichste Buch über Mathematik. In diesem Buch wird Mathematik definiert. Alles basiert auf präzise definierten Begriffen, diese werden durch Axiome und Postulate in Verbindung gebracht, und dann werden daraus durch rein logische Operationen, die sogenannten Beweise, Sätze bewiesen. Diese Sätze sind die Erkenntnisse der Mathematik. In diesem Buch gibt es aber keine Anwendungen. Sie werden nicht einmal erwähnt. Es wird so getan, als ob es gar keine Anwendungen gäbe. Vielmehr wird die Welt der Mathematik aufgebaut. Eine faszinierende geistige Welt eigener Art, in der man die unglaublichsten geistigen Abenteuer erleben kann. Neben diesen beiden Aspekten, den Bezug zur Welt und der innermathematischen Welt, ist noch ein dritter Aspekt wichtig. Ich kann zwar sagen, Mathematik ist wichtig und Mathematik ist schön, aber irgendwann muss sie mich packen. Und ich merke dann, das ist mein Ding. Das erlebten schon die Schüler des Pythagoras vor 2.500 Jahren, weil er sie begeisterte, und das erleben bis heute alle Mathematikerinnen und Mathematiker. Was muss man mitbringen, wenn man Mathematik studieren möchte? Leider ist die Mathematik-Note nur ein schlechter Indikator für den Erfolg im Mathematik-Studium. Das kann man auch positiv sehen: Selbst wenn man in Mathematik nicht mehr alles weiß, was man in der Schule gelernt hat, kann man immer noch gut studieren. Ich selbst z. B. wusste durch verschiedene Ursachen längst nicht so viel wie die heutigen Abiturienten, trotzdem konnte ich Mathematik studieren. Die Tatsache, dass die Mathematik-Note wenig über den Studienerfolg aussagt, liegt daran, dass sich der Mathematik-Unterricht in der Schule und das Mathematik-Studium grundlegend unterscheiden. Zunächst mal ist es so, dass an der Universität alles nochmal von vorne anfängt. Prinzipiell wird einem alles erklärt, aber in der Regel nur einmal. Und dann steht an der Universität eindeutig die Methode der Mathematik im Vordergrund, nämlich die Beweise. Alles wird bewiesen, von der vermeintlichen klaren Aussage bis zu den Hauptsätzen. Und das ist eine echte Hürde für die meisten Studierenden. Aber das bedeutet auch: Gut ist es, wenn man Lust am Knobeln hat. Wer gerne Denksportaufgaben löst, Sudokus austüftelt oder von geometrischen Knobeleien fasziniert ist, der hat gute Chancen. Noch besser ist es, wenn man auch schwierige Knobeleien mag, wenn man denkt, je schwieriger ein Problem ist, desto besser, wenn man bereit ist, lange für den Erfolg, für das Aha-Erlebnis zu arbeiten, dann hat man gute Voraussetzungen für das Mathe-Studium. Und noch eins: Mathematik ist eine abstrakte Wissenschaft. Es geht um geistige Objekte und deren Beziehung. Darauf muss man sich einlassen. Wer nur dann glücklich ist, wenn er mit ganz konkreten Objekten hantiert, der ist vielleicht doch nicht so gut geeignet fürs Mathematik-Studium. 3 Das Studium der Mathematik ist so organisiert, dass der Beginn eigentlich an allen deutschen Universitäten ähnlich ist. Die ersten Semester sind von zwei Veranstaltungen geprägt. Zum einen von der Analysis. Das ist ähnlich der Analysis in der Schule, aber besonders stark von präzise formulierten mathematischen Begriffen und scharfsinnigen Argumentationen geprägt, ein Gebiet, in dem man wirklich lernen kann, zu welch großartigen Gedanken Mathematik fähig ist. Zum anderen geht es um die lineare Algebra. Diese Veranstaltung unterscheidet sich stark von der analytischen Geometrie in der Schule. Hier werden algebraische Grundbegriffe bereitgestellt und dann in engdimensionalen Räumen gearbeitet. Dazu kommt bald die Stochastik, die Lehre vom Zufall, und als weiteres angewandtes Gebiet die numerische Mathematik. Wie sieht das Studium nun real aus? Die nach wie vor beherrschende Form im Mathematik-Studium ist die Vorlesung. In der Regel sind das zwei Doppelstunden pro Woche und Fach. Und die meisten Professoren machen es auch noch ganz traditionell. Sie haben sich perfekt vorbereitet und ein ebenso perfektes Skript verfasst, das sie in der Vorlesung Wort für Wort an die Tafel schreiben. Dabei denken sie die Argumente mit und sprechen den Text nach. Von den Studierenden erwarten die Professoren, dass diese den Text von der Tafel in ihre Hefte abschreiben, und sie hoffen, dass die Studierenden dabei auch versuchen zu verstehen und dass sie mindestens so viel Zeit in die Nacharbeit investieren, wie die Professoren in die Vorbereitung gesteckt haben. Daran ist etwas Richtiges. Auch wenn eine Vorlesung mit Folien arbeitet oder der Dozent ein Skript herausgibt, wichtig ist die Nacharbeit. Kaum jemand versteht die Mathematik allein durch Hören einer Vorlesung. Man muss alleine oder besser in einer Gruppe nacharbeiten, man muss die Mathematik selbst machen, man muss sozusagen den Stoff auch selbst verdauen. Dazu verhilft das zweite Format, die Übungen. Zu fast jeder Vorlesung werden Übungen angeboten. Diese bestehen aus Hausaufgaben, die man selbständig zuhause zu lösen versuchen sollte und die dann in der Übungsgruppe besprochen werden. Diese Hausaufgaben werden den Studierenden oft nicht leicht fallen. Aber man sollte dranbleiben. Nur so lernt man Mathematik. Im weiteren Verlauf des Studiums werden die Studierenden Seminare besuchen. Diese funktionieren in der Mathematik häufig so, dass jeder einen mathematischen Text, oft eine relativ junge Veröffentlichung erhält, und die Aufgabe dann darin besteht, diesen Text durchzuarbeiten, und zwar so lange und so gut, dass man ihn irgendwann versteht und darüber einen Vortrag halten kann. Wenn Sie jetzt den Eindruck haben, das Mathematik-Studium sei verschult und in seinen Lehrformen nicht gerade innovativ, dann ist das richtig. Aber einerseits hat sich das bewährt; und zum anderen sollten Sie sich in jedem Fall vornehmen, sich selbständig, auch unabhängig von den Vorlesungen, Übungen und Seminaren, um Mathematik zu kümmern, und zwar um solche Mathematik, die Sie interessiert. Dieser Schritt muss irgendwann erfolgen, wenn Sie eine gute Mathematikerin oder ein guter Mathematiker werden wollen. Was bringt ein Mathematik-Studium, wenn man nicht an einer Universität bleiben möchte? Mathematiker haben schon immer hervorragende Berufschancen gehabt. Ich könnte viel mehr Mathematikerinnen und Mathematiker in der Wirtschaft unterbringen, als ich je produzieren kann. Wer erfolgreich ein Mathematik-Studium 4 abschließt, hat allerbeste Aussichten. Dabei kommt es nur zu einem geringen Teil auf vermeintlich angewandte Teilgebiete oder Zusatzstudien an. Das schadet nicht, aber machen Sie das, was Sie gerne machen und womit Sie sich identifizieren können. Das ist viel mehr wert als das taktische Umsteigen auf ein vermeintlich günstiges Gebiet. Was arbeiten Mathematikerinnen und Mathematiker in der freien Wirtschaft? Es gibt Berufsfelder, in denen wirklich substantielle Mathematik eingesetzt wird. Dazu gehören u. a. die Finanzmathematik, die Versicherungsmathematik, der Bereich der Optimierung und die Sicherheitstechnik, also die Kryptografie. Zum anderen nutzen die meisten Mathematikerinnen und Mathematiker in der Industrie und Wirtschaft kaum Inhalte der Universitätsmathematik. Trotzdem werden sie eingestellt und sind wertvolle Mitarbeiter. Und zwar weil sie im Mathematik-Studium drei essentielle Eigenschaften erworben und trainiert haben. Erstens: Sie können das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden. Im Mathematik-Studium trainiert man andauernd, bei einem zu lösenden Problem, bei einer Aufgabe das herauszufinden, auf das es wirklich ankommt und von dem zu unterscheiden, was nur akzidentiell, also oberflächlich ist. Zweitens geht es um das analytische, systematische Denken. Auch das wird hart trainiert. Wir müssen uns stets fragen: Ist die Argumentation lückenlos? Wurden die Voraussetzungen richtig eingesetzt? Wurde kein Fall vergessen? Und schließlich lernt man Durchhaltevermögen oder auch Frustrationstoleranz. Wenn eine Mathematikerin oder ein Mathematiker ein Problem nach einer Woche noch nicht gelöst hat, dann sitzt sie oder er nicht weinend in der Ecke, sondern freut sich, ein wirklich schwieriges Problem lösen zu dürfen. Wie sieht es aus, wenn man an der Universität bleiben möchte? Irgendwann merkt man es selbst - oder eine Professorin, ein Professor kommt auf einen zu und sagt, dass man zu denen gehört, die vielleicht weitermachen sollten. Vielleicht bekommt man dann schon als Thema der Master-Thesis ein forschungsorientiertes Thema und hat dann vielleicht die Chance, eine Doktor-Arbeit zu schreiben. Das Ziel einer Doktor-Arbeit ist, etwas Neues herauszubekommen, einen neuen mathematischen Satz zu beweisen, also eine echte Neu-Entdeckung zu machen. Das ist ein großartiges Abenteuer. Aber bei jeder Doktor-Arbeit, die am Ende wirklich gut ist, gibt es irgendwann Strecken des Frustes und der Verzweiflung. Man versucht, sich im Nebel zu orientieren, weiß aber weder, in welche Richtung man gehen soll, noch ob und wann der Nebel aufhört. Aber wenn man irgendwann den Durchblick gewonnen hat, dann ist die Freude umso größer. Wenn Sie die Chance haben, an einer Dissertation zu arbeiten und Sie Lust dazu haben, dann sollten Sie das auf jeden Fall versuchen. Nach der Doktor-Arbeit kommt sozusagen die Soll-Bruchstelle in der wissenschaftlichen Karriere. Jetzt können Sie noch gut auf einen anderen KarriereZweig umsteigen und z. B. einen Job in der Wirtschaft suchen. Wenn Sie an der Universität bleiben wollen, beginnt jetzt eine in der Regel z. T. unangenehme Ochsentour. Diese Zeit ist vor allem deswegen so nervig, weil man nicht weiß, ob man bei dem dauernden Wechsel von einer kurzfristigen Stelle zu einer anderen je ans Ziel kommen wird. 5 Im Idealfall führt das eventuelle lange Warten und Arbeiten aber zu einem der schönsten Berufe, den man sich vorstellen kann. Dieser ist gekennzeichnet durch enorme Freiheit, wunderbare Arbeit mit jungen Menschen, Teilhabe an den großartigen Erkenntnissen der großen Mathematiker der Vergangenheit und nicht zuletzt der Möglichkeit, großartige geistige Abenteuer zu erleben. Die meisten Studierenden, die auf Lehramt studieren, wollen nicht primär Mathematikerinnen oder Mathematiker werden, sondern die wollen Lehrerinnen oder Lehrer werden. Deswegen haben sie in der Regel auch zwei Fächer und einen ganz substantiellen Anteil an Didaktik und Erziehungswissenschaften auf dem Stundenplan. Vor allem die Fachdidaktik und das Fach sollten sehr eng miteinander kooperieren, und als Studierende sollte man auch die Chance nutzen, die Verbindung zwischen beiden Disziplinen zu suchen. Denn die Mathematik, die man im Studium lernt, soll ja später letztlich nützen für die Arbeit als Lehrerin oder Lehrer. Nicht jede Mathematik, die man an der Universität lernt, ist Schul-Mathematik, bei weitem nicht. Aber sie behandelt die Schul-Mathematik von einem höheren Standpunkt aus. Und die Didaktik gibt uns Hinweise, wie diese großartigen mathematischen Gedanken in den Schülerköpfen entstehen und wie man damit umgehen kann, die in den Schülerköpfen zu entwickeln. Wir sagen ja heute nicht mehr, dass wir alles wissen und dieses Wissen in die Köpfe der Schüler eintrichtern müssen, sondern wir sind der Überzeugung, dass alle Schüler individuell sind und jeweils auch schon ganz viel Entwicklungspotential mitbringen, das wir durch Impulse, durch Interaktionen noch fördern können. Das hat sich in den letzten Jahren grundsätzlich neu entwickelt, dass wir die Didaktik ernstnehmen, dass sie von den Studierenden ernstgenommen wird und dass sie auch im Zusammenhang mit dem Fach ernstgenommen wird. Das heißt, man bringt heute eine viel bessere Voraussetzung mit, um Lehrerin oder Lehrer zu werden, als noch vor einigen Jahren. Aus Sicht der Forschung hat Mathematik heute eine Spezialisierung erreicht, wie sie nie zuvor in der Geschichte realisiert war. Auf den internationalen Kongressen ist es so, dass man auch als Fachwissenschaftler nur sein engstes Fachgebiet in Vorträgen versteht und bei allen anderen Vorträgen eigentlich keine Chance hat mitzukommen. Die analytischen Gebiete haben sich diversifiziert, die algebraischen, aber auch die geometrischen, all diese Grundgebiete der Mathematik haben sich verästelt in einer sehr differenzierten Weise. Ich kann das vielleicht an meinem Gebiet, der sogenannten diskreten Mathematik, klarmachen. Diskrete Mathematik ist zunächst das Gegenteil von kontinuierlicher Mathematik. Kontinuierliche Mathematik ist so etwas wie Analysis, in der wir gleichmäßige, stetige Bewegungen beschreiben. Diskrete Mathematik heißt, wir beschreiben diskrete Zustände, wohl unterscheidbare Zustände, also etwa endlich viele Punkte oder endlich viele Zustände – eine Schlüsselwissenschaft, um z. B. den Computer zu programmieren. Man denkt, das ist ein Gebiet, aber in Wirklichkeit ist es eine ganze Palette von Gebieten. Da fängt es an mit der Kombinatorik, also mit dem Abzählen verschiedener Mengen. Es geht über in die Grafentheorie, wo man Zusammenhänge darstellt von verschiedenen Objekten. Es geht über in die Netzplantechnik, in die Optimierung. Dazu gehört auch die Codierungstheorie, also die Wissenschaft davon, wie man mit Fehlern, die zufällig entstehen, umgehen kann. Beispiel ist der Strichcode, aber auch viele andere 6 Codes, die wir sehen, und nicht zuletzt die Kryptografie, also die Wissenschaft von der Verschlüsselung und der Signatur von Nachrichten. All diese sehr unterschiedlichen Bereiche sind in einem Gebiet zusammengefasst oder umgekehrt: dieses Gebiet hat sich ausgebreitet in so viele verschiedene Branchen, die z. T. miteinander interagieren, aber auch z. T. mit ganz anderen mathematischen Wissenschaften, wie etwa der Algebra, zusammenarbeiten und dann letztlich auch dazu dienen, dass wir den Computer mit wunderbar effizienten Algorithmen füttern können, damit der wirklich Dinge ausrechnen kann, die wir theoretisch vorher entwickelt haben. Noch vor 50 Jahren gab es kaum Frauen in der Mathematik. Es gab einzelne Professorinnen, auch berühmte Professorinnen, aber das waren singuläre Personen. Seitdem hat sich viel geändert. Wir haben nicht nur viele weibliche Studierende, insbesondere in den Lehramtsstudiengängen, aber nicht nur, sondern die haben weitere Gebiete erobert. Es gibt ganz viele auf dem Niveau der Doktor-Arbeiten, aber auch auf höherem Niveau, so dass wir heute schon einen substantiellen Anteil von Frauen in der Mathematik haben. Es sind noch längst nicht 50 %, daran müssen wir noch arbeiten. Aber es ist keine Sensation mehr, wenn eine Frau berufen wird. Auch in den Hochleistungswettbewerben, die immer noch männlich dominiert sind, gibt es ganz herausragende Frauen. Bei der Internationalen Mathematik-Olympiade etwa ist es oft so, dass die Mannschaften – es kommen fünf oder sechs aus einem Land zusammen – von jungen Männern bestimmt sind, aber eine der erfolgreichsten Teilnehmerinnen ist eine junge deutsche Frau, Lisa Sauermann, die einfach alle Goldmedaillen in jedem Jahr abgeräumt hat, eine sehr sympathische, nette, normale, junge Frau. Den einzigen Spleen, den sie hat, ist, dass sie diese unglaublich komplizierten Aufgaben lösen möchte. Sie ist natürlich ein Vorbild für andere, und insofern ist auch in diesen Wettbewerben jetzt ein größerer Anteil von Frauen dabei. Ich finde das sehr gut. Es ist überhaupt nicht so, dass Frauen weniger für Mathematik begabt wären als Männer, das ist eine Legende, sondern sie sind genau gleich begabt. Aber mein persönlicher Eindruck ist, dass Frauen sich eher die Frage stellen: Will ich mir dieses abstrakte Zeug antun. Und sie geben sich darauf eine bewusste Antwort. Viele Männer stellen sich die Frage nicht, und wenn sie dann mal länger dabei sind, gibt es auch keinen Ausweg, dann muss man einfach weitermachen. Aber ich glaube, Frauen brechen auch am Anfang des Studiums ab, weil sie bewusst diese Entscheidung treffen. Wir leben heute in einer Zeit, in der wir von so viel Mathematik umgeben sind wie nie zuvor in der Geschichte. In jedem modernen Produkt steckt Mathematik, ja noch mehr: Die allermeisten modernen Produkte würden ohne Mathematik überhaupt nicht funktionieren. Sie funktionieren natürlich auch nur, weil Technik und Physik usw. drinstecken, aber auch Mathematik. Und ohne Mathematik würde es nicht gehen. Keine CD, kein Handy, kein GPS würde funktionieren, Suchanfragen bei google würden nicht funktionieren usw. Alles, was wir uns denken können, geht nur mit Mathematik. Überall in der Welt sehen wir Mathematik.Das ist ein ganz grundlegendes Phänomen, das es auch schon immer gibt. Letztlich liegt das daran, dass wir die Welt nur so wahrnehmen, weil wir sie als Muster, als Vereinfachung sehen. Ich kann unmöglich jede Person, der ich begegne, erstmal Pixel für Pixel abrastern und dann 7 zu einem Schluss kommen, welche Person das sein könnte. Sondern ich erkenne die Person auf einen Blick. Und dieser eine Blick sagt mir, das ist ein Muster, eine Vereinfachung, eine Abstraktion, könnte man auch sagen. Deswegen ist überall dort, wo Musteranteile sind, Mathematik drin. Das beginnt bei den Pflasterungen in den Fußgängerzonen oder bei den Zebrastreifen, das geht über in die Kacheln in meinem Badezimmer. Das sind ganz offensichtliche Muster. Aber auch die Schilder, die der Feuerwehr sagen, wo der nächste Wasseranschluss ist, sind so etwas. Stapelware ist ein ganz klares Muster oder die aufeinander gestapelten Orangen beim Obsthändler. Das sind Muster. Wir sehen natürlich auch überall Formen, Dreiecke, Vierecke, Kreise. Ein Kreis ist eine ganz grundlegende mathematische Form, und das heißt, wenn man durch die Welt geht und sozusagen den mathematischen Blick hat, dann sieht man viel mehr. Dann sieht man auch an Schönheit der Welt. Das heißt, Mathematik ist auch eine Art und Weise, die Schönheiten der Welt zu entdecken, wenn auch nicht die einzige. Das Verhältnis von Mathematik und Informatik ist ein spannendes Verhältnis. Am Anfang war die Informatik sozusagen ein Teil der Mathematik. Es waren Mathematiker, die die Informatik begründet haben. Später hat sich die Informatik emanzipiert und ist eine eigene Wissenschaft geworden, mit vielen Anteilen, die nicht direkt mit Mathematik zu tun haben. Aber immer noch gibt es wesentliche Teile der Informatik und vor allen Dingen der Programmierung, die eng mit Mathematik zusammenhängen und ohne sie gar nicht funktionieren würden. Die Theoretische Informatik ist ganz eng mit Mathematik verbunden, da wird mit Mathematik argumentiert, es werden Sätze bewiesen und die Beweismethoden sind genau dieselben wie in der Mathematik. Aber auch viele Verfahren, mit denen wir die Computer überhaupt dazu bringen, das zu leisten, was sie leisten, sind mathematischer Art. Das fängt an bei der Geometrie, bei der optischen Oberfläche. Wenn ich mich bei einem Computerspiel durch enge Gänge oder durch Landschaften durchlaviere, ist das analytische Geometrie. Das geht zurück auf Descartes, wenn es ihn nicht gegeben hätte, gäbe es keine Computerspiele, könnte man sagen. Aber auch Suchalgorithmen sind substantielle Mathematik. Oder Ordnungsalgorithmen, wenn ich irgendwelche Dinge ordnen muss, das ist Mathematik. Auch der Umgang mit sogenannten Big Data ist ohne Mathematik nicht denkbar. D. h., Mathematik und Informatik sind zwei Geschwister, die ihren Weg gehen, die sich aber immer wieder treffen und ein tolles gemeinsames Leben haben. Wenn Sie mich fragen würden, ob ich noch einmal Mathematik studieren würde, ob ich nochmal Mathematiker werden würde, dann ist meine Antwort ein sehr klares Ja. Und zwar deswegen, weil Mathematik eine Wissenschaft ist, die – so paradox es klingt – komplett positive Gefühle erzeugt. Sie erzeugt positive Gefühle durch die Erkenntnismomente, durch die Klarheitsmomente, die sie uns bietet. Manchmal gibt es Zeiten frustiger, nerviger, schwieriger Pfade und Suchoperationen, wenn ich irgendein Problem versuche zu verstehen. Aber irgendwann sehe ich es von einem richtigen Standpunkt aus, und dann erkenne ich, wie einfach, wie klar, wie schön das eigentlich ist. Und für diese Momente lohnt es sich, Mathematik zu machen. ***** 8 Albrecht Beutelspacher, Jahrgang 1950, ist ein Unikum. Er ist Professor für Mathematik an der Universität Gießen, hat mehrere Bücher geschrieben, die wahrscheinlich nur eine Handvoll Experten verstehen; zugleich hat er schon lange den universitären Elfenbeinturm verlassen. Beutelspacher ist Leiter und Initiator des einzigen Mathematik-Mitmach-Museums in Deutschland; Jung und Alt besuchen das Museum, weil hier auf spannende und unterhaltsame Weise Einsichten in die Welt der Mathematik vermittelt und gängige Vorurteile konterkariert werden. Bücher (Auswahl): - Wie man in eine Seifenblase schlüpft. Die Welt der Mathematik in 100 Experimenten. C. H. Beck. 2015. - Beutelspachers kleines Mathematikum: Die 101 wichtigsten Fragen und Antworten zur Mathematik. C.H. Beck. 2010. - Warum Kühe gern im Halbkreis grasen: … und andere mathematische Knobeleien. Zus. mit Marcus Wagner und Frank Wowra. Herder-Verlag. 2010. 9
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