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25. MAI 2016 No 23
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Die rechte
Internationale
Norbert Hofer hat sein Ziel knapp
verfehlt. Doch Rechtspopulisten
in ganz Europa kämpfen inzwischen
gemeinsam um die Gunst des
»kleinen Mannes«. Er soll sie an
die Macht bringen
DOSSIER
Titelfotos: Magdalena Lutek [M]; Teresa Zötl/ASAblanca (r.)
Medikament:
Zuwendung
Wird ein Mensch krank, braucht er nichts
so sehr wie seine Angehörigen. Aber auch
die können nur helfen, wenn sie nicht
alleingelassen sind IM NEUEN MAGAZIN ZEIT DOCTOR
BOTSCHAFT AUS WIEN
KATHOLIKENTAG IN SACHSEN
Letzter Weckruf
Wer vermisst Gott?
Norbert Hofers Beinahesieg war kein Ausrutscher. Erstmals müssen
die Liberalen Europas für ihre Werte kämpfen VON HEINRICH WEFING
W
enn im reichen Österreich
ein Rechtsnationalist wie
Norbert Hofer fast die Hälfte der Stimmen gewinnt,
dann ist das kein Ausrutscher
mehr, keine Protestwahl,
auch kein Aufbegehren der Verängstigten. Der
Beinahesieg von Hofer ist ein Einschnitt, an den
wir uns noch lange erinnern werden.
Zum ersten Mal stimmt in einem Herzland
Europas die Hälfte der Bevölkerung, minus ein
paar Tausend, für einen Rechtspopulisten. Das
einen glimpflichen Wahlausgang zu nennen wäre
trotz des Sieges von Alexander Van der Bellen
stark übertrieben.
Das Autoritäre marschiert, in Ungarn, in Polen, der Türkei. Und jede der drei großen kommenden Wahlen kann den Konflikt exponentiell
verschärfen: die Abstimmung über den Brexit in
Großbritannien Ende Juni, die US-Wahl im November, schließlich die Präsidentschaftswahlen
in Frankreich im April 2017. Nur mal angenommen, die Briten würden gegen die EU stimmen,
die Amerikaner für Trump und die Franzosen für
Marine Le Pen – mit drei Schlägen sähe die Welt
in weniger als einem Jahr grundstürzend anders
aus als heute: düsterer, nationalistischer, autoritärer. Und Österreich wäre dann kaum mehr als
ein allerletzter Weckruf gewesen.
Nur: Wer hört ihn? Wer wird jetzt wach?
Die Wahl in Österreich beweist: Auch die
Mitte kann mobilisieren
Spätestens seit 1989 ging der Westen wie selbstverständlich davon aus, dass liberale Demokratie und
soziale Marktwirtschaft nicht nur die überlegenen
Systeme seien, sondern mehr noch, dass sie sich
gleichsam von selbst ausbreiten würden, wenn man
den Menschen nur die Wahl ließe.
Jetzt aber sehen wir, dass nicht nur die Ausbreitung der Demokratie in vielen Teilen der
Erde ins Stocken gerät, wir erleben das Gegenteil, ein Rollback, eine Ausbreitung des Autoritären mitten in Europa, in einem Ausmaß, das
noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen wäre.
Das lässt sich nicht mehr sozialökonomisch
erklären oder bloß wahltaktisch, sondern nur
noch kulturell. In Hofers Erfolg wie im Aufstieg
des Front National und den Triumphen Trumps
bricht sich ein aufgestauter Widerwille gegen die
Eliten Bahn, eine Verachtung gegen alles Eta­
blier­te, untrennbar verschmolzen mit dem Gefühl einer diffusen Kränkung, dem sogenannten
Mainstream, seinen vermeintlichen Schweige­
geboten und kulturellen Verfeinerungen ausgeliefert zu sein. Nicht für alle ist politische Korrektheit das neue Vornehm, nicht jeder sieht im liberalen Großstädter den Adel der Globalisierung.
Dieser Angriff auf das Hergebrachte ist derart
massiv, dass man der Herausforderung nicht allein durch Schweigen und rechtschaffenes Verwalten begegnen kann. Es wird, nur zum Beispiel, nicht genügen, im Ringen mit Erdoğan auf
dem Ausgleich von Interessen zu beharren wie
zuletzt die Kanzlerin. Um es pathetisch zu sagen:
Wohl zum ersten Mal seit Langem müssen die
Liberalen kämpfen. Es geht jetzt nicht mehr um
die subtilsten Verästelungen individueller Freiheiten, es geht wieder um die Freiheit selbst.
Dazu gehört schonungslose Selbstkritik. Dass
die Weltfinanzkrise Millionen Menschen in den
Bankrott getrieben hat, aber kein einziger Banker dafür zur Verantwortung gezogen wurde, ist
ein Systemversagen, das bis heute verheerend
nachwirkt. Dass die EU ihre eigenen Regeln
immer wieder dehnt und verdreht, macht es den
Feinden der Freiheit leicht, die eigene Verachtung für Prozesse und Paragrafen zu legitimieren.
Und dass in der Flüchtlingskrise behauptet wurde,
Grenzen ließen sich gar nicht schließen, hat den
Argwohn vieler Menschen geschürt.
Österreich zeigt aber auch: Mobilisierung ist
möglich. Die Mitte ist, jedenfalls in der Bedrängnis, fähig, einen gemeinsamen Kandidaten zu
stützen. In diesem Bündnis jedoch liegt auch­
etwas extrem Gefährliches: Es kommt zu einer
Mehrheit gegen die Populisten, doch die große
Koa­
li­
tion wird zum Dauerzustand, die Mitte
verklumpt, die Ränder werden immer stärker. In
Österreich hat das die Volksparteien verzwergen
lassen, und in Deutschland droht längst Ähn­
liches. In der Euro-Krise wie in der Flüchtlingskrise gab es im Bundestag nominell keine Partei
mehr, die den Kurs der Kanzlerin infrage stellte.
Anders gesagt: Die Mitte muss heraus aus ihrem
konsensualen Gemurmel, sie muss wieder miteinander streiten, statt bloß in routinierter Empörung auf die AfD einzudreschen. Auch das
gehört zu den Paradoxien, die wir aushalten
müssen: Übergroße Einigkeit der Demokraten
kann die Demokratie gefährden.
www.zeit.de/audio
Die Entchristlichung Europas schreitet voran. Wollen die Kirchen
das stoppen, müssen sie aufhören zu jammern VON EVELYN FINGER
E
iner der charmantesten Atheisten,
der britische Schriftsteller Julian
Barnes, sagte einmal: »Ich glaube
nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.«
Da hat er das Glaubensproblem
unserer Zeit, die Ambivalenz vieler
Nichtgläubiger, auf den Punkt gebracht. Denn die
wenigsten sind heute echte Religionsfeinde, auch
wenn Kirchenfromme das behaupten. Tatsächlich
ist der europäische Säkularismus selbstbewusst, aber
auch melancholisch. Er hasst die Kirchen nicht,
sondern pflegt zum Christentum als Tradition, zu
Gott als Idee ein fast sentimentales Verhältnis.
Vorige Woche zum Beispiel. Da besuchte der
Chor der Sixtinischen Kapelle die Predigtkirche
Martin Luthers in Wittenberg, ein riskanter Termin. Denn Sachsen-Anhalt hat nur 18 Prozent
Christen, vier Prozent Katholiken. Wer also würde
sich in der Lutherstadt aufraffen, um alte römische Choräle zu hören? Nun – es quetschten sich
1500 Zuhörer in die kleine Kirche, auch die­
Stehplätze auf der Empore waren besetzt, und
200 mussten draußen stehen. Ministerpräsident
Reiner Haseloff (katholisch, ostdeutsch, in Witten­
berg geboren) rief stolz: So voll sei es zuletzt im
Mauerfalljahr 1989 gewesen! Mit anderen Worten: Die Ossis glauben vielleicht nicht an Gott,
doch offenbar vermissen sie ihn.
So wird es auch jetzt beim Katholikentag in
Leipzig sein. Sie feiern das 100-jährige Jubiläum
der Laienveranstaltung, eine große Christen­
party mit Erfolgsmönchen, Politikpromis und
volksnahen Kardinälen. Das Ganze findet in
Sachsen statt, in der katholischen Diaspora, im
entkirchlichten Ostdeutschland. Vier Prozent
Katholiken und 21 Prozent Protestanten! Bald
soll hier die Gesamtquote christlicher Taufen
unter zehn Prozent liegen. Das heißt, auch wenn
Pegida so tut, als sei Mitteldeutschland allerchristlichstes Abendland: Die Christen sind
längst die Minderheit. Sie sterben aus.
Deshalb ist es richtig, den Katholikentag hier
zu feiern. Leipzig ist bloß der Extremfall eines in
Westeuropa anhaltenden Trends der Entkirchlichung. Hier können die tapfersten Pfarrer und
optimistischsten Bischöfe der Zukunftsfrage
nicht ausweichen, wie die Glaubensversteppung
aufzuhalten sei. Wie überzeugen wir die Leute?
Warum sind wir relevant? Eine Kirche, die auf
solche Fragen keine Antwort findet, wird in einer
freiheitlichen Gesellschaft schwer Mitglieder gewinnen. Und Kirchenaustritte sind aus zwei
München neu
entdecken
Die unbekannten
Seiten der schönsten
Landeshauptstadt
Deutschlands
ZEITmagazin
PROMINENT IGNORIERT
Gründen sehr leicht geworden. Erstens werden
sie sozial kaum noch sanktioniert. Zweitens
fürchten Getaufte, die mit ihrer Kirche hadern,
keine Höllenstrafen mehr, wenn sie ihr den Rücken kehren. Hilfreich wäre, den Unglauben als
Option anzuerkennen und ihm offensiv zu begegnen. Zum Beispiel so wie jener evangelische
Pfarrer, der bei einer freien Trauung (katholische
Braut, atheistischer Bräutigam) die Festrede fol­
gen­­dermaßen begann: »Liebe Freunde! Warum
Religion, wenn es auch ohne geht?«
Das Abendland ist immer noch
Avantgarde – bloß anders, als Pegida denkt
Auf diese Frage müssen die Kirchen antworten.
Alte Tautologien genügen nicht mehr: Wir glauben, weil wir glauben. Gott ist, weil er ist. Es
hilft nicht die katholische Retro-Variante: auf
die Moderne schimpfen und die Abtrünnigen
verteufeln. Es hilft auch nicht die evangelische
Flucht-nach-vorn-Variante: sich anbiedern. Die
Kirchen müssen raus aus der Schmollecke!
Sie sollten auf die Kirchenmitgliedszahlen
pfeifen und selbstbewusst erklären: Das Christentum gehört zur Freiheits- und Aufklärungstradition Europas. Seine Modernität ist keine
Schwäche, sondern macht es pluralitäts- und
demokratiefähig. Gerade hier, im skeptischen
Europa, in den Kirchen Hans Küngs und Eugen
Drewermanns, Karl Barths und Rudolf Bultmanns, kann man lernen, wie Frieden der Religionen geht. Wie man zusammenleben kann,
obwohl man nicht dasselbe glaubt. Die schrillen,
populären Christengemeinden Afrikas, Asiens
oder Amerikas wissen das eben nicht besser. Da
ist das »Abendland« immer noch Avantgarde.
Nur anders, als Pegida denkt.
Nein, Deutschlands Kirchen, die derzeit so
viel karitative Arbeit für Flüchtlinge tun, müssen
sich nicht verstecken. Sie dürften ruhig anecken:
zum Beispiel die Türkei kritisieren, wenn die
Christen kujoniert. Sie müssen sich nicht entschuldigen, wenn es am Sonntag im Gottesdienst
leer ist und nur Omas gekommen sind. Sie sollen
den Jungen ins Gesicht sagen, warum das Christentum wichtig ist – gerade für die, die nicht an
Gott glauben und ihn bloß vermissen.
Godspot
Die Landeskirche Berlin und Brandenburg will in ihren Gotteshäusern freies WLAN einrichten und
es Godspot nennen. Der Fortschritt wird Gott die Arbeit erleichtern. Man erinnere sich an die in
der Bibel geschilderte aufwendige
Kommunikation mithilfe von Engeln und Feuerzeichen. Hinfort
kann Gott eine E-Mail schicken.
Es besteht das Risiko, dass Satan
die Firewall überwindet und die
digitale Gottespost abfängt. GRN.
Kleines Foto: Rainer Weisflog
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail:
[email protected], [email protected]
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PREISE IM AUSLAND:
DK 49,00/FIN 7,50/N 66,00/E 6,10/
CAN 6,30/F 6,10/NL 5,30/
A 5,00/CH 7.30/I 6,10/GR 6,70/
B 5,30/P 6,30/L 5,30/H 2090,00
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Zum Katholikentag siehe auch Seite 25 und 54
www.zeit.de/audio
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