PREIS DEUTSCHLAND 4,90 € 101158_ANZ_10115800005367 [P].indd 1 DIEZEIT 15.01.16 09:12 WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR DIE ZEIT im Taschenformat. Jetzt für Ihr Smartphone! www.zeit.de/apps 25. MAI 2016 No 23 15.01.16 09:11 101159_ANZ_10115900005368 [P].indd 1 Die rechte Internationale Norbert Hofer hat sein Ziel knapp verfehlt. Doch Rechtspopulisten in ganz Europa kämpfen inzwischen gemeinsam um die Gunst des »kleinen Mannes«. Er soll sie an die Macht bringen DOSSIER Titelfotos: Magdalena Lutek [M]; Teresa Zötl/ASAblanca (r.) Medikament: Zuwendung Wird ein Mensch krank, braucht er nichts so sehr wie seine Angehörigen. Aber auch die können nur helfen, wenn sie nicht alleingelassen sind IM NEUEN MAGAZIN ZEIT DOCTOR BOTSCHAFT AUS WIEN KATHOLIKENTAG IN SACHSEN Letzter Weckruf Wer vermisst Gott? Norbert Hofers Beinahesieg war kein Ausrutscher. Erstmals müssen die Liberalen Europas für ihre Werte kämpfen VON HEINRICH WEFING W enn im reichen Österreich ein Rechtsnationalist wie Norbert Hofer fast die Hälfte der Stimmen gewinnt, dann ist das kein Ausrutscher mehr, keine Protestwahl, auch kein Aufbegehren der Verängstigten. Der Beinahesieg von Hofer ist ein Einschnitt, an den wir uns noch lange erinnern werden. Zum ersten Mal stimmt in einem Herzland Europas die Hälfte der Bevölkerung, minus ein paar Tausend, für einen Rechtspopulisten. Das einen glimpflichen Wahlausgang zu nennen wäre trotz des Sieges von Alexander Van der Bellen stark übertrieben. Das Autoritäre marschiert, in Ungarn, in Polen, der Türkei. Und jede der drei großen kommenden Wahlen kann den Konflikt exponentiell verschärfen: die Abstimmung über den Brexit in Großbritannien Ende Juni, die US-Wahl im November, schließlich die Präsidentschaftswahlen in Frankreich im April 2017. Nur mal angenommen, die Briten würden gegen die EU stimmen, die Amerikaner für Trump und die Franzosen für Marine Le Pen – mit drei Schlägen sähe die Welt in weniger als einem Jahr grundstürzend anders aus als heute: düsterer, nationalistischer, autoritärer. Und Österreich wäre dann kaum mehr als ein allerletzter Weckruf gewesen. Nur: Wer hört ihn? Wer wird jetzt wach? Die Wahl in Österreich beweist: Auch die Mitte kann mobilisieren Spätestens seit 1989 ging der Westen wie selbstverständlich davon aus, dass liberale Demokratie und soziale Marktwirtschaft nicht nur die überlegenen Systeme seien, sondern mehr noch, dass sie sich gleichsam von selbst ausbreiten würden, wenn man den Menschen nur die Wahl ließe. Jetzt aber sehen wir, dass nicht nur die Ausbreitung der Demokratie in vielen Teilen der Erde ins Stocken gerät, wir erleben das Gegenteil, ein Rollback, eine Ausbreitung des Autoritären mitten in Europa, in einem Ausmaß, das noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen wäre. Das lässt sich nicht mehr sozialökonomisch erklären oder bloß wahltaktisch, sondern nur noch kulturell. In Hofers Erfolg wie im Aufstieg des Front National und den Triumphen Trumps bricht sich ein aufgestauter Widerwille gegen die Eliten Bahn, eine Verachtung gegen alles Eta blierte, untrennbar verschmolzen mit dem Gefühl einer diffusen Kränkung, dem sogenannten Mainstream, seinen vermeintlichen Schweige geboten und kulturellen Verfeinerungen ausgeliefert zu sein. Nicht für alle ist politische Korrektheit das neue Vornehm, nicht jeder sieht im liberalen Großstädter den Adel der Globalisierung. Dieser Angriff auf das Hergebrachte ist derart massiv, dass man der Herausforderung nicht allein durch Schweigen und rechtschaffenes Verwalten begegnen kann. Es wird, nur zum Beispiel, nicht genügen, im Ringen mit Erdoğan auf dem Ausgleich von Interessen zu beharren wie zuletzt die Kanzlerin. Um es pathetisch zu sagen: Wohl zum ersten Mal seit Langem müssen die Liberalen kämpfen. Es geht jetzt nicht mehr um die subtilsten Verästelungen individueller Freiheiten, es geht wieder um die Freiheit selbst. Dazu gehört schonungslose Selbstkritik. Dass die Weltfinanzkrise Millionen Menschen in den Bankrott getrieben hat, aber kein einziger Banker dafür zur Verantwortung gezogen wurde, ist ein Systemversagen, das bis heute verheerend nachwirkt. Dass die EU ihre eigenen Regeln immer wieder dehnt und verdreht, macht es den Feinden der Freiheit leicht, die eigene Verachtung für Prozesse und Paragrafen zu legitimieren. Und dass in der Flüchtlingskrise behauptet wurde, Grenzen ließen sich gar nicht schließen, hat den Argwohn vieler Menschen geschürt. Österreich zeigt aber auch: Mobilisierung ist möglich. Die Mitte ist, jedenfalls in der Bedrängnis, fähig, einen gemeinsamen Kandidaten zu stützen. In diesem Bündnis jedoch liegt auch etwas extrem Gefährliches: Es kommt zu einer Mehrheit gegen die Populisten, doch die große Koa li tion wird zum Dauerzustand, die Mitte verklumpt, die Ränder werden immer stärker. In Österreich hat das die Volksparteien verzwergen lassen, und in Deutschland droht längst Ähn liches. In der Euro-Krise wie in der Flüchtlingskrise gab es im Bundestag nominell keine Partei mehr, die den Kurs der Kanzlerin infrage stellte. Anders gesagt: Die Mitte muss heraus aus ihrem konsensualen Gemurmel, sie muss wieder miteinander streiten, statt bloß in routinierter Empörung auf die AfD einzudreschen. Auch das gehört zu den Paradoxien, die wir aushalten müssen: Übergroße Einigkeit der Demokraten kann die Demokratie gefährden. www.zeit.de/audio Die Entchristlichung Europas schreitet voran. Wollen die Kirchen das stoppen, müssen sie aufhören zu jammern VON EVELYN FINGER E iner der charmantesten Atheisten, der britische Schriftsteller Julian Barnes, sagte einmal: »Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.« Da hat er das Glaubensproblem unserer Zeit, die Ambivalenz vieler Nichtgläubiger, auf den Punkt gebracht. Denn die wenigsten sind heute echte Religionsfeinde, auch wenn Kirchenfromme das behaupten. Tatsächlich ist der europäische Säkularismus selbstbewusst, aber auch melancholisch. Er hasst die Kirchen nicht, sondern pflegt zum Christentum als Tradition, zu Gott als Idee ein fast sentimentales Verhältnis. Vorige Woche zum Beispiel. Da besuchte der Chor der Sixtinischen Kapelle die Predigtkirche Martin Luthers in Wittenberg, ein riskanter Termin. Denn Sachsen-Anhalt hat nur 18 Prozent Christen, vier Prozent Katholiken. Wer also würde sich in der Lutherstadt aufraffen, um alte römische Choräle zu hören? Nun – es quetschten sich 1500 Zuhörer in die kleine Kirche, auch die Stehplätze auf der Empore waren besetzt, und 200 mussten draußen stehen. Ministerpräsident Reiner Haseloff (katholisch, ostdeutsch, in Witten berg geboren) rief stolz: So voll sei es zuletzt im Mauerfalljahr 1989 gewesen! Mit anderen Worten: Die Ossis glauben vielleicht nicht an Gott, doch offenbar vermissen sie ihn. So wird es auch jetzt beim Katholikentag in Leipzig sein. Sie feiern das 100-jährige Jubiläum der Laienveranstaltung, eine große Christen party mit Erfolgsmönchen, Politikpromis und volksnahen Kardinälen. Das Ganze findet in Sachsen statt, in der katholischen Diaspora, im entkirchlichten Ostdeutschland. Vier Prozent Katholiken und 21 Prozent Protestanten! Bald soll hier die Gesamtquote christlicher Taufen unter zehn Prozent liegen. Das heißt, auch wenn Pegida so tut, als sei Mitteldeutschland allerchristlichstes Abendland: Die Christen sind längst die Minderheit. Sie sterben aus. Deshalb ist es richtig, den Katholikentag hier zu feiern. Leipzig ist bloß der Extremfall eines in Westeuropa anhaltenden Trends der Entkirchlichung. Hier können die tapfersten Pfarrer und optimistischsten Bischöfe der Zukunftsfrage nicht ausweichen, wie die Glaubensversteppung aufzuhalten sei. Wie überzeugen wir die Leute? Warum sind wir relevant? Eine Kirche, die auf solche Fragen keine Antwort findet, wird in einer freiheitlichen Gesellschaft schwer Mitglieder gewinnen. Und Kirchenaustritte sind aus zwei München neu entdecken Die unbekannten Seiten der schönsten Landeshauptstadt Deutschlands ZEITmagazin PROMINENT IGNORIERT Gründen sehr leicht geworden. Erstens werden sie sozial kaum noch sanktioniert. Zweitens fürchten Getaufte, die mit ihrer Kirche hadern, keine Höllenstrafen mehr, wenn sie ihr den Rücken kehren. Hilfreich wäre, den Unglauben als Option anzuerkennen und ihm offensiv zu begegnen. Zum Beispiel so wie jener evangelische Pfarrer, der bei einer freien Trauung (katholische Braut, atheistischer Bräutigam) die Festrede fol gendermaßen begann: »Liebe Freunde! Warum Religion, wenn es auch ohne geht?« Das Abendland ist immer noch Avantgarde – bloß anders, als Pegida denkt Auf diese Frage müssen die Kirchen antworten. Alte Tautologien genügen nicht mehr: Wir glauben, weil wir glauben. Gott ist, weil er ist. Es hilft nicht die katholische Retro-Variante: auf die Moderne schimpfen und die Abtrünnigen verteufeln. Es hilft auch nicht die evangelische Flucht-nach-vorn-Variante: sich anbiedern. Die Kirchen müssen raus aus der Schmollecke! Sie sollten auf die Kirchenmitgliedszahlen pfeifen und selbstbewusst erklären: Das Christentum gehört zur Freiheits- und Aufklärungstradition Europas. Seine Modernität ist keine Schwäche, sondern macht es pluralitäts- und demokratiefähig. Gerade hier, im skeptischen Europa, in den Kirchen Hans Küngs und Eugen Drewermanns, Karl Barths und Rudolf Bultmanns, kann man lernen, wie Frieden der Religionen geht. Wie man zusammenleben kann, obwohl man nicht dasselbe glaubt. Die schrillen, populären Christengemeinden Afrikas, Asiens oder Amerikas wissen das eben nicht besser. Da ist das »Abendland« immer noch Avantgarde. Nur anders, als Pegida denkt. Nein, Deutschlands Kirchen, die derzeit so viel karitative Arbeit für Flüchtlinge tun, müssen sich nicht verstecken. Sie dürften ruhig anecken: zum Beispiel die Türkei kritisieren, wenn die Christen kujoniert. Sie müssen sich nicht entschuldigen, wenn es am Sonntag im Gottesdienst leer ist und nur Omas gekommen sind. Sie sollen den Jungen ins Gesicht sagen, warum das Christentum wichtig ist – gerade für die, die nicht an Gott glauben und ihn bloß vermissen. Godspot Die Landeskirche Berlin und Brandenburg will in ihren Gotteshäusern freies WLAN einrichten und es Godspot nennen. Der Fortschritt wird Gott die Arbeit erleichtern. Man erinnere sich an die in der Bibel geschilderte aufwendige Kommunikation mithilfe von Engeln und Feuerzeichen. Hinfort kann Gott eine E-Mail schicken. Es besteht das Risiko, dass Satan die Firewall überwindet und die digitale Gottespost abfängt. GRN. Kleines Foto: Rainer Weisflog Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DK 49,00/FIN 7,50/N 66,00/E 6,10/ CAN 6,30/F 6,10/NL 5,30/ A 5,00/CH 7.30/I 6,10/GR 6,70/ B 5,30/P 6,30/L 5,30/H 2090,00 o N 23 7 1. J A H RG A N G C 7451 C 23 Zum Katholikentag siehe auch Seite 25 und 54 www.zeit.de/audio 4 190745 104906
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