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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Anhang/Danksagungen
The sound of your soul - Eine HochsensiblenLovestory
Impressum
Text: © Copyright by Isabella Kniest, 9184 St. Jakob im Rosental, Österreich
Cover: © Copyright by Isabella Kniest
E-Mail: [email protected]
1. Auflage 2016
Nun, hier noch der übliche rechtliche Mist:
Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Ereignisse und Handlungen sind
frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder
Ereignissen sind rein zufällig.
Markennamen, die von der Autorin benutzt wurden, sind Eigentum ihrer jeweiligen
Inhaber und wurden rein zu schriftstellerischen Zwecken benutzt.
Weitere Informationen entnehmen sie bitte dem Anhang und den Danksagungen am
Ende des Buches.
Ich sagte es früher schon und ich sage es jetzt auch wieder: Akzeptiert eure
Mitmenschen, so wie sie sind. Versucht euch wenigstens manchmal in die Lage
anderer zu versetzen.
Nicht das Aussehen, nicht die Statussymbole, nicht der Bekanntheitsgrad oder das
Talent zählt. Was wirklich zählt, ist das Herz, das Miteinander, die Nächstenliebe, die
Wertschätzung, der Respekt.
Denkt ab und zu daran, wenn ihr wieder mit euren Fingern auf eine Person zeigt,
die keine Markenklamotten trägt.
Und das Allerwichtigste: Hört endlich mit dem verfluchten Getratsche auf! Es gibt
bedeutend wichtigere Dinge, über die man sich den Kopf zerbrechen sollte, anstatt
darüber zu munkeln, wer mit wem was wann und wo getrieben hat.
Nun, genug gejammert. Jetzt kann es losgehen!
Ach ja, there will be smut - again.
Für alle Hochsensiblen
Prolog
Das kalte Licht des Neumondes und das der fahlen Sterne beschien die mit einer
dicken weißen Raureifschicht überzogenen Wiese, auf der eine schlanke Gestalt,
deren Mantel im eisigen Wind flatterte, fröstelnd durch die Nacht irrte.
›Es ist so kalt‹, ging es ihr durch den Sinn. ›So verdammt eisig kalt.‹
Ein Hund bellte irgendwo, woraufhin sich ihr Kopf Richtung Stadt drehte.
Sie war hell erleuchtet. Sogar von hier aus konnte man noch die fröhlich blinkende
Weihnachtsbeleuchtung erkennen.
›Weihnachten mit meinen Großeltern.‹ Kopfschüttelnd versuchte die Person, den
Gedanken wieder loszuwerden. ›Das ist vergangen. Und über Vergangenes brauche
ich nicht mehr nachzudenken.‹
Das gefrorene Gras raschelte unter ihren schwarzen Schuhen. Die Luft war getränkt
vom Duft der schneebedeckten Berge.
›Ein warmes Bett‹, schoss es ihr durch den Kopf. Wie lange war es nun her, seitdem
sie ein warmes Bett gespürt hatte?
Ein warmes Bett. Aber nicht bloß warm in Sinne von einer temperierten Wohnung
- sondern gewärmt von Liebe, Geborgenheit, Nähe und Vertrauen.
Liebe.
Wie gerne würde sie noch einmal Liebe spüren! Einmal noch. Und mit dieser
geliebten Person bis zum Ende ihrer Tage verweilen. Sie wollte bloß mehr eine
Beziehung. Die Richtige finden. Wenn es mit der eigenen Familie schon nicht
funktionierte, dann wenigstens mit der richtigen Frau.
Die Gestalt stemmte sich gegen den immer stärker werdenden Wind, von dem ihre
Augen zu tränen anfingen. Ein leises Schluchzen war es, welches ihr bewies, dass
nicht der Dezemberatem daran Schuld hatte.
Ein Heuschuppen tauchte vor der heftig zitternden Person auf.
›Endlich!‹
Leise öffnete sie die Gott sei Dank nicht versperrte knarrende Holztür, glitt lautlos
hinein und schloss sie wieder. Gerüche von altem Holz und Stroh stieg ihr in die
Nase. Bis auf ein paar wenige Lichtstrahlen der Stadt, die durch die Ritze der alten
Holzbalken fielen, lag der Raum in völliger Dunkelheit.
Der Person reichte es aus. Hatten sich ihre Augen doch längst an die Finsternis
gewöhnt - schließlich war es nicht das erste Mal, dass sie in dieser Dunkelheit
herumzuirren verdammt war. Auch war es nicht das erste Mal, dass sie hier ihre
Nacht verbringen musste.
Sie trat zu der langen Leiter, erklomm diese mit unsicheren wie bebenden Armen
und Beinen und krabbelte dann auf allen vieren - der ›Dachboden‹ maß keine
eineinhalb Meter - zum großen goldenen und schon so vertrauten Strohhaufen, der
sich still, ja beinahe würdevoll, vor ihr auftürmte.
Sie kuschelte sich in das getrocknete, kratzende Gras.
Zitternd wischte sie sich die kalten Tränen aus dem Gesicht. Dabei ertappte sie sich,
wie sie daran dachte, vielleicht doch einfach den Mantel auszuziehen, sich in die
Wiese zu legen, einzuschlafen und letztlich nie wieder aufzuwachen.
›Nein! Es würde wieder besser werden. Bald habe ich alles bezahlt, dann muss er
mich wieder in meine Wohnung lassen.‹
Die Gestalt schloss die Augen. ›Ja, es wird besser. Es wird besser. Ganz bestimmt.
Irgendwo ist jemand ... es wird besser werden.‹
Schließlich überkam sie ein leichter wie unruhiger Schlaf. Aber wenigstens waren
die Sorgen damit, wenn auch bloß für eine kurze Zeit, vergessen.
Kapitel 1
Freitagabend.
Überall Menschen. Auf den Straßen, in Lokalen, Restaurants, Kinos.
Das blühende Leben.
Und eine typische verfluchte Drecks-Januarkälte. Die minus zehn Grad fraßen sich
förmlich durch meinen grünen Mantel - und das schwarze hautenge Wickelkleid mit
den schwarzen Strumpfhosen war auch nicht eben hilfreich dabei, mich
warmzuhalten.
Ich war dumm gewesen. So dumm! Hatte ich mir schließlich dieses Outfit
ausgesucht, weil ich einmal wieder bemerkt werden wollte - von der männlichen
Gattung Mensch.
Aber so wie immer hatte sich niemand die Mühe gemacht, mich anzusprechen.
Andererseits musste ich mir eingestehen: Dieser ganze Schrott, der hier durch die
Gegend lief, hatte mich sowieso nicht interessiert. Die Männer von heute waren
komplette Idioten. Eierlos und gefühlskalt.
Ich schüttelte den Kopf. Wieso wollte ich überhaupt bemerkt werden? Ich hatte es
mir doch geschworen: keine Männer mehr. Nie mehr!
War das etwa der letzte Aufschrei meiner weiblichen Hormone?
Eine Gruppe junger Leute, die lachend an mir vorbeimarschierten, brachte meine
Gedanken zurück ins Hier und Jetzt und erinnerten mich, wo ich überhaupt stand:
Vor einer Jazz-Bar, deren Namen ich nicht einmal kannte. Bloß ihre alte Holztür
trennte mich von einer hoffentlich warmen Stube.
Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick durch die dunkle Gasse gleiten, dann trat ich
zögerlich ein.
Ich wusste nicht, was mich hierher bewegt hatte. Ich hatte mir einen Actionfilm im
Kino angesehen - und normalerweise wäre ich dann wieder nach Hause gefahren - so
wie immer. Doch dieses Mal war es, als hätte mich etwas oder jemand direkt hierher
gezogen. Schließlich war ich noch nie in einer Jazz-Bar gewesen. Ich ging im
Allgemeinen nicht gerne aus. Das höchste der Gefühle waren ein Kinobesuch oder
ein Abendessen.
Was sollte ich auch schon großartig alleine unternehmen? Ich hatte keine Freunde,
mit welchen ich mich hätte treffen können - und Discos hatten mir noch nie
zugesagt.
Nun, jetzt war ich hier. Also konnte ich dem Lokal auch eine Chance geben, oder?
Eine angenehme Wärme schlug mir entgegen. Es war voll. Auf den ersten Blick sah
ich keinen einzigen freien Platz. Nachdem ich den mit dunklem Holz verkleideten
Raum einer zweiten Prüfung unterzogen hatte, entdeckte ich jedoch einen noch
kleinen leeren Tisch im hinter gelegenen Teil. Dort, wo sich sonst wohl die schwer
verliebten Pärchen verdrückten - um wild herumzuknutschen- oder zu fummeln.
Oder beides.
Wie mich das ankotzte! Die lieblichen Blicke, die sie sich zuwarfen, das
Händchenhalten, die schrecklichen Kosenamen.
›Ja, Schatzi, ja Schnucki.‹
Wie konnte man so etwas nur als lieb oder niedlich empfinden? Das war doch
bestenfalls peinlich! Ich würde mich in Grund und Boden schämen, würde mich
jemand so nennen. Ganz ehrlich.
Überhaupt alles drumherum war peinlich, ja infantil. Die Gedanken, die
körperlichen Reaktionen, die Tagträume. Alles. Einfach alles! Aber am schlimmsten ist
doch der Glaube, der oder die Auserwählte würde das Gleiche empfinden! Denn das
taten sie nicht! Ich kannte niemand in meinem spärlichen Bekanntenkreis, der jemals
die »wahre Liebe« getroffen hat. Also, warum taten sich die Leute das überhaupt noch
an? Ehen hielten sowieso nur mehr durchschnittlich zehn Jahre oder weniger. Und
Männer bevorzugten seit jeher One-Night-Stands gegenüber einer fixen Beziehung.
...
Jetzt stellte sich bloß wieder die Frage: Weshalb war ich dann hierher gekommen?
Ich suchte kein sexuelles Abenteuer. Wenn ich es nötig hatte, machte ich es mir
selbst. Erstens kam ich und zweitens konnte ich es machen, wann und wie oft ich
Lust dazu hatte. Darüber hinaus wollte ich keine Beziehung mehr. Nie, nie mehr.
Schließlich waren Männer das Allerletzte, das die Schöpfung hervorgebracht hatte.
›Wieso hast du dann dieses Kleid angezogen?‹, schoss es mir ein weiteres Mal durch
den Kopf.
Bloß, damit mich jemand angaffte? Nein. Ich brauchte keine Aufmerksamkeit. Ich
bekam keine Aufmerksamkeit. Also, was tat ich hier? Verdammt nochmal!
Scheinbar war ich einfach frustriert oder dumm oder beides zusammen.
Während ich mich auf den Weg zu dem freien Tisch machte - und mich gedanklich
ein paar Mal mehr verteufelte - blickte ich zur kleinen Bühne, auf der eine junge,
unglaublich hübsch anzusehende afrikanische Frau ein altes Frank Sinatra Lied zum
Besten gab. Ihre volle, kräftige Stimme hallte durch den Raum, ließ die Besucher
schweigend zum Takt wippen und wurde von einem Saxophon, einer spanischen
Gitarre und einer Bass-Gitarre begleitet.
Es klang herrlich.
Die Bühne selbst war unglaublich klein. Die Musiker hatten eben genügend Platz,
um sich nicht gegenseitig im Weg zu stehen. Die Wand dahinter war mit einem
schwarzen Samtvorhang ausgeschmückt und der dunkle Bühnenboden aus Holz war
derselbe, welcher im restlichen Lokal verlegt worden war.
Nochmals ließ ich meine Augen durch den kompletten Raum gleiten. Er fasste so
um die hundertzwanzig Personen. Von der vertäfelten Holzdecke hingen schummrige
Lampen, die ein gelbliches Licht ausschickten, welches vom dunklen Holz jedoch
vollends verschluckt wurde. Es wurde geraucht. Ziemlich stark. Dementsprechend
stickig war die Luft - doch störte es mich nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Es
bildete eine Harmonie: Die Musik, die Leute, der Rauch, der Geruch, das Licht alles passte irgendwie zusammen, nein, gehörte zusammen. Hätte nur eine
Komponente gefehlt, hätte dies die gesamte Stimmung verändert.
Langsam ließ ich mich auf den dunkelbraunen gepolsterten Holzstuhl nieder,
stellte meine schwarze Tasche neben mich auf den Boden und nahm die
Getränkekarte aus der Halterung.
Nach ein paar Minuten bestellte ich bei einer blonden Kellnerin einen Kakao mit
viel Schlag.
Eben nahm ich den dritten Schluck des köstlich süßen Getränks, als mich eine
Männerstimme fragte: »Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
Mein Blick glitt nach links - und für eine Sekunde blieb mir die Luft weg.
Diese Augen.
Irgendwie kamen sie mir so vertraut vor - und strahlender hätten sie nicht sein
können, doch konnte ich die Farbe beim besten Willen nicht erkennen - Blau? Grün?
Grau?
Der Ausdruck in ihnen wurde sekündlich intensiver. Sie durchbohrten mich
regelrecht. Beinahe fühlte ich mich wie nackt - als hätten sie bereits jeden Zentimeter
meines Körpers gesehen.
Ich räusperte mich. »Nein, keine Sorge. Setzen Sie sich ruhig.« Ein Wunder, dass
ich diesen Satz vernünftig herausgebracht hatte.
Während ich das Outfit des jungen Mannes begutachtete, welches aus einem
schwarzen teuer aussehenden Anzug bestand, hatte er sich mit einer unerwartet
eleganten Bewegung mir gegenüber hingesetzt.
»Vielen Dank. Heute ist es ungewöhnlich voll. Normalerweise sind die Tische nicht
einmal zur Hälfte besetzt.«
»Ja?«
Er nickte, ein aufgeschlossenes Lächeln seine Lippen zierend. »Ja. Wahrscheinlich
liegt es an der Sängerin. Sie ist ein aufsteigender Stern. Wenn Sie mich fragen - auch
wenn Sie das jetzt nicht getan haben-«, ein scheinbar nervöses Kichern drang aus
seiner Kehle. »Ich glaube, sie wird noch einmal Weltruhm erlangen.« Darauf senkte
sich sein Blick, doch zeigte er weiterhin dieses süße Lächeln, von welchem mir ein
wenig warm wurde.
Obgleich das schummrige Licht ein Großteil seines Aussehens verbarg, schaffte es
doch nicht alles, zu verstecken. Das wahrscheinlich braune Haar - langsam begann
mich dieses dumpfe Licht zu stören - hatte er leicht nach hinten gekämmt, dennoch
hatten sich einige Strähnen gelöst, welche nun zärtlich über seine Stirn fielen. Seine
Lippen waren nicht voll doch ebenso wenig schmal - genau richtig für meinen
Geschmack. Die Augen zeigten eine leicht ovale Form und wurden von langen
dichten Wimpern umsäumt. Eine kleine elegant geformte Nase rundete sein
jugendliches Gesicht ab. Die Hände hatte er auf dem Tisch - die Finger ineinander
verschränkt - und sahen gepflegt, beinahe zerbrechlich aus. Ja, seine gesamte Statur
wirkte so filigran, ätherisch.
Kurzum: Er sah einfach umwerfend aus.
»Sind Sie hier das erste Mal?«, riss er mich aus meinen Gedanken.
Ich nickte. »Und muss ich sagen, dass es mir sehr gut gefällt - bisher jedenfalls.«
Ein glückliches Lächeln enthüllte strahlend weiße Zähne. »Das freut mich aber!
Hübsche junge Frauen sieht man hier nicht sehr oft.«
Eine unangenehme Wärme stieg mir in die Wangen. Der ging wohl sofort in die
Vollen. »Also, soviel ich gesehen habe, gibt es hier einige junge Frauen.«
Sein Blick wurde intensiver. »Nun, die Betonung lag ja auch auf hübsch.«
Ich räusperte mich erneut - und er warf mir ein wissendes Lächeln zu.
Wie viele Frauen riss er wohl mit der Masche auf? Nun, egal wie viele. Mich
jedenfalls nicht. »Ich glaube, es gibt sehr viele hübsche Frauen hier.«
»Wirklich?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ist mir bisher nicht aufgefallen.«
Das machte mich stutzig. So angeflirtet hatte mich bisher noch niemand. »Dann
sind Sie wohl auch nicht so oft hier?« Während ich meinen Kakao trank, beobachtete
ich über den Tassenrand hinweg, wie er mich durchwegs interessiert musterte.
»Oh doch! Jeden Tag.«
Jeden Tag? Was machte er denn jeden Tag hier? Hatte er nichts Besseres zu tun?
Oder war er bloß so notgeil? »Dann haben Sie die anderen Damen wohl nicht genau
genug angesehen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte so etwas wie ein Schatten über sein
Gesicht - eine Art Verzweiflung. Doch kurz darauf wuchs sein Lächeln wieder an.
»Da muss ich wieder widersprechen! Sehr sogar. Also nehmen Sie das Kompliment
doch einfach an.«
Laut ausatmend warf ich ihm einen zwiespältigen Blick zu. »Schön.«
»Na endlich!«, rief er kichernd. »Ich dachte schon, das ginge jetzt ewig so weiter.«
Echt jetzt? Kopfschüttelnd fasste ich nach der Tasse. »Flirten Sie immer so?«
»Flirten?« Er schien erschrocken. »Das war doch kein Flirtversuch.«
Nachdem ich einen neuen Schluck genommen hatte, antwortete ich: »Oh doch.
Das war ein ziemlich billiger und alter Anmachspruch.« ›der nicht gerade zu deiner
eleganten, gentleman-mäßigen Ausstrahlung passt‹, vervollständigte ich meinen Satz
im Gedanken.
Darauf folgte ein flehender Blick seinerseits. »Das tut mir leid. Ehrlich. So sollte das
nicht rüberkommen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Habe ich mir jetzt
alles verdorben?«
Meinte er das jetzt wahrhaftig ernst? Oder gehörte das genauso zu seiner Anmache?
Jemand mit seinem Aussehen brauchte sich doch überhaupt keine Sorgen machen!
Der bekam schließlich eine jede Frau ab.
Ich zuckte die Achseln. »Nein, keine Sorge.«
Er seufzte oder atmete scheinbar erleichtert aus - genau konnte ich das nicht sagen,
war die Musik doch sehr laut. »Dann bin ich beruhigt. Schließlich will ich mich noch
etwas länger mit Ihnen unterhalten ... Ist das in Ordnung?«
Das verblüffte mich. Mit dieser Aussage hatte ich noch um einiges weniger
gerechnet. »Ja, sicher doch.«
Das musste seine typische Masche sein. Etwas anderes konnte ich mir beim besten
Willen nicht vorstellen! Letztlich hatte mich noch nie zuvor auf diese Weise
angeflirtet. Überhaupt hatte mich noch niemand derart respektvoll behandelt.
Bei der jungen Kellnerin, die ihm ein seltsames Grinsen zuwarf, bestellt er ein stilles
Mineralwasser, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtete. »Also, erzählen
Sie doch etwas über sich. Ich bin neugierig.«
»Erzählen Sie mir lieber, warum Sie jeden Tag hier sind. Ist Ihnen zu Hause so
langweilig?«
Er legte den Kopf etwas schief. »Nein, ich arbeite hier.«
Oh. Na jetzt wurde mir alles klar. »Darum also das Outfit? Sind Sie Kellner?«
»Gefällt es Ihnen?«, warf er sofort ein - ein frecher Unterton schwang in seiner
Stimme mit.
»Sollte es?«, konterte ich.
Damit setzte er wieder diesen unschuldigen Blick auf, ehe er kichernd antwortete:
»Es würde mich sehr freuen.«
Noch so eine vornehme, süße Anspielung. Zwar wollte ich wirklich nicht flirten
oder neue Bekanntschaften aufbauen - doch so wie er sich verhielt, würde es ziemlich
schwer fallen, ihn zu ignorieren.
Vielleicht sollte ich es einfach als das betrachten, was es war: der Versuch eines
One-Night-Stands. Obgleich ich mir nie hätte vorstellen können, dass ein derart
gutaussehender Mann wie er sich für mich überhaupt interessieren würde. Das alleine
sollte eigentlich schon reichen, um ihm wenigstens ein Kompliment zurückzugeben.
Nach einem weiteren Schluck des süßen Kakaos - und nur am Rande bemerkend,
dass die Sängerin eine Pause eingelegt hatte - antwortete ich: »Ja, es sieht toll aus.
Wirklich. Der Anzug steht Ihnen.«
Das Lächeln, welches sich bisher nur auf seine Lippen beschränkt hatte, spiegelte
sich nun genauso stark in seinen leuchtenden Augen wider. Irgendwie erinnerte er
mich damit an mich selbst. Als ich meinen Glauben an die Gesellschaft noch nicht
verloren hatte. Er hatte etwas Reines an sich. Etwas, das man normalerweise nicht
mehr in den Augen von Erwachsenen sieht. Bloß Kinder zeigen diese Unschuld,
diesen Glauben an Magie und Wunder.
»Ist Ihre Schicht zu Ende?«
Er nickte - das Strahlen in seinen Augen weiterhin anhaltend. »Ja.«
Da fiel mir etwas ein. »Aber wenn Sie hier als Kellner arbeiten, müssen Sie doch
wohl einige hübsche Frauen angetroffen haben.«
»Jetzt fangen Sie wieder damit an?« Er blickte mich aus verständnislosen Augen an.
»Sie können wirklich kein Kompliment annehmen, oder?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Männer machen mir keine Komplimente.« ›Keine
Ehrlichen.‹
»Sollten sie aber«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.
Und nun wurde es mir wirklich etwas zu warm. Deshalb versuchte ich, abzulenken.
»Also, wie ist das so, hier Getränke auszuteilen? Können Sie sich auch mit den
Sängern unterhalten? Lernen Sie sie kennen? Oder verschwinden diese nach dem
Auftritt sofort?«
»Was faselst du da schon wieder?«, kam es von der jungen Kellnerin, die ihm das
Wasser auf den Tisch stellte. Sie blickte zu mir. »Er hilft nur ab und zu aus.
Normalerweise-«
»Du musst das nicht immer so an die große Glocke hängen!«, unterbrach er sie mit
unsicherer Stimme. »Das mag ich nicht - und das weißt du ganz genau!«
Was ging denn jetzt ab?
Sie zeigte ein freches Lächeln. »Ja, darum tue ich es auch!« Ihre Züge härteten sich,
während sie das dunkelbraune Tablett auf den Tisch legte. »Du kannst so viel mehr
von dir halten! Du hast großes Talent und du spielst es immer so herunter, als wärest
du irgendein drittklassiger Amateur.« Um ihren Standpunkt klarer zu machen,
stemmte sie die Hände gegen ihre Hüften.
»Aber ich bin nicht besser, als der Durchschnitt!«, gab er zurück.
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist hoffnungslos mit dir!«
»Um was geht es überhaupt?«, fragte ich neugierig.
Sie lächelte mich an. »Er spielt Sax. Wie ein Gott!«
Er war Musiker? Na ganz fein! Dann ging es ihm tatsächlich bloß um ein sexuelles
Abenteuer! Warum hatte ich mir überhaupt etwas Anderes erhofft? Nach so vielen
Jahren musste ich es doch längst besser wissen! Himmelherrgott! Ich hätte mich am
liebsten selbst geohrfeigt.
»Übertreib nicht so!« Seine Stimme klang beinahe hysterisch - und ein beginnendes
Rot zierte seine Wangen. Diese Reaktion seinerseits riss mich aus meinem
Selbstmitleid.
»Ich habe noch nie jemanden so erotisch spielen gehört«, meinte sie - und brachte
ihn damit völlig aus der Fassung.
»Du bist unmöglich!«, presste er hervor. »Das gibt’s doch gar nicht!« Seine Wangen
zeigten ein dunkles Rot, welches seine Augen nochmals stärker zum Strahlen brachte.
Meine Güte! Wie niedlich er damit aussah.
»Und es klingt wie reiner, heißer Sex in einer ebenso heißen Sommernacht«,
stichelte sie weiter.
Die Augen des Musikers wuchsen an. »Hast du jetzt komplett den Verstand
verloren?! Wie kommst du nur auf so was?«
Sie kicherte. »Ich sage nur, was stimmt. Und dass du dich hier zu ihr gesessen hast,
bedeutet, dass du heute einmal etwas extrovertierter bist, als sonst.«
Das klang aber mal sehr interessant! War er normalerweise etwa scheu? Und das als
Musiker? Konnte doch gar nicht sein, oder?
»Flirtet er sonst nicht?«
Sie schüttelte den Kopf - und der Saxophonspieler versteifte sich. »Ich habe dich
schon lange nicht mehr an einem besetzten Tisch gesehen.« Ihr Blick durchbohrte
ihn förmlich. »Gefällt sie dir?«
Sein Gesicht fing regelrecht zu glühen an. Es war ein köstlicher Anblick. Dennoch
tat er mir ebenso ein wenig leid, wusste ich immerhin, wie es ist, wenn man neben
fremden Leuten bloßgestellt wird. »Ich glaube, Sie haben ihn genug in Verlegenheit
gebracht, oder?«
Er warf mir einen komplett verunsicherten Blick zu, in dem sich jedoch eine
gewaltige Portion Dankbarkeit spiegelte, ehe er zur Kellnerin sagte: »Ich glaube, es
wäre doch besser, wenn ich noch etwas aushelfe. Du hast mir jetzt die ganze Tour
vermasselt.«
Das brachte nicht nur die Kellnerin, sondern sogar mich zum Lachen.
Sie antwortete: »Nein, du bleibst schön brav hier und unterhältst dich mal mit ihr.
Ich habe dich schon seit Ewigkeiten nicht mehr mit anderen reden gesehen.
Außerdem hast du die letzten Wochen durchgemacht. Erhole dich einmal ein wenig.«
Seine Miene härtete sich schlagartig. »Aber, du weißt doch ...«
Sie nickte. »Ja, aber jetzt geht das nicht mehr. Du hast die Chefin doch gehört.
Und ich würde ja, wenn mein Freund nicht so durchgeknallt wäre. Du weißt ja, wie
er ist.«
Er nickte.
Um was ging es jetzt bloß wieder?
Sie griff nach dem Tablett. »Also, bis Ladenschluss ist es kein Problem, nur
dann ...«
Ein neues Nicken seinerseits.
»Genieße es.« Damit verließ sie uns. Und meine Neugier war geweckt. Was meinte
sie wohl mit dem Gesagten?
Ich nahm den letzten Schluck Kakao. »Um was geht es?«
Er schüttelte den Kopf. »Nur etwas Dienstliches. Also, erzählen Sie mir jetzt noch
etwas über sich? Über mich wissen Sie ja nun sowieso schon Bescheid.«
»Ich kenne nicht einmal Ihren Namen.«
Dies nahm er sofort zum Anlass, um mir seine Hand entgegenzustrecken. »Ich
heiße Tom.«
Ich zögerte. Doch letztlich schüttelte ich sie. »Sara.«
Seine Augen zeigten Freude. »Mit oder ohne stummes H?«
Ich kicherte. »Ohne.«
Verfluchter Hund! Mit seiner charmanten Art schaffte er es nun schon zum zweiten
Mal, mich zu erreichen.
»Also, Sara. Jetzt wissen Sie aber wirklich genug über mich. Dann können Sie mir
doch etwas über sich erzählen.«
Ich atmete hörbar ein. »Was möchten Sie denn wissen?«
»Überraschen Sie mich.«
Dieser Mann wurde minütlich mysteriöser. Wie sollte ich denn jemanden
überraschen? Mein Leben war langweilig. Da passierte nichts. Ein Tag reihte sich an
den nächsten.
»Ich muss Sie leider enttäuschen. Ich kann Sie nicht überraschen. Es gibt nichts
Interessantes über mich zu erzählen. Deshalb sitze ich auch hier.« Etwas leiser fügte
ich hinzu. »Oder gehe überhaupt nicht außer Haus, weil ich sowieso nicht weiß, was
ich tun soll.«
»Und Freunde? Sie müssen doch nicht alleine weggehen.«
»Die gibt es nicht.«
Er zog die Augenbrauen in Verwunderung hoch. »Gar keine? Ich meine, es gibt
doch auch Arbeitskollegen, Nachbarn, Schulfreunde.« Beim letzten Wort verzog er
ein wenig das Gesicht. »Okay, Schulfreunde sind wohl doch wieder eine eigene
Sache.«
Ich musste schmunzeln. »Ich glaube, ich brauche nichts mehr zu sagen. Wie es
scheint, haben Sie ähnlich schlechte Erfahrungen gemacht, wie ich.«
Er nickte unmerklich. »Was die Schule anbelangt: ja wahrscheinlich. Aber sonst.«
Er schaute mir tief in die Augen. »Haben Sie keine Arbeit?«
»Doch. Aber mag ich es nicht, Arbeit und Privates zu vermischen.«
»Oh.« Er hielt inne - bedachte mich mit einem mir unmöglich zu deutenden Blick.
»Ich verstehe.«
Weiterhin mir tief in die Augen schauend, schien es, als suchte er etwas. Vielleicht
eine Bestätigung? Ein Zeichen, ob ich Interesse an ihm hatte? Das jedoch würde er
nie bekommen!
Vielleicht war es besser, zu gehen. So lange hatte ich schon seit über vier Jahren
nicht mehr mit einem Fremden gesprochen. Ja, das Beste wäre es, abzuhauen.
Ich wollte mich eben erheben, da begann die zweite Hälfte des Auftritts. Und das
Lied, welches die Frau nun sang, war einer meiner Lieblingssongs. »Hallelujah« von
Leonard Cohen, doch sang sie alle Verse: die aus seiner erster Version, und die aus
den späteren.
Ich liebte die Melodie, doch der Text war ein Hohn. Wie von so vielen männlichen
Künstlern! Er sang von Frauen, die die Männer mit ihrer Macht unterdrückten.
Dabei waren doch die Männer es, welche Frauen die große Liebe vorspielten, bloß
um sie dann stehen zu lassen - nein, fallen zu lassen. In einen dunklen Abgrund.
Immer schon wurden Männer als die Armen dargestellt. Betrogen und ausgenutzt
von den Frauen, von der Arbeit, von den Kollegen.
Aber am schlimmsten waren die Mütter! Hatte eine Frau mehrer Kinder und
darunter war ein Sohn, wurde der verhätschelt bis zum Geht-nicht-mehr. Der Sohn
bekam Geld zugesteckt, erbte später alles ... und die Töchter mussten schauen, wo sie
blieben.
Ach ja, die armen Männer! Mein Mitleid hielt sich in Grenzen.
»Gefällt Ihnen das Lied?«
Mein Blick wanderte zu Tom. Ich musste ehrlich gestehen, ich hatte ihn bereits
vergessen. Meine gedanklichen Ausschweifungen wurden von Jahr zu Jahr schlimmer.
Sein durchdringender wie fragender Blick brachte mich schließlich komplett
zurück in die Realität.
Ich wollte doch längst gehen! Verfluchte Musik! Immer dasselbe! Hörte ich ein
Lied, das mir gefiel, konnte ich einfach nicht weggehen.
Innerlich seufzend lehnte ich mich zurück. Gut! Dieser Song noch, aber dann war
Schluss.
»Sara?« Tom blickte mich nach wie vor fragend an.
»Ja?«
»Gefällt Ihnen dieses Lied?«
»Ja.«
Er zeigte mir ein vergnügtes Lächeln. »Dann erzählen Sie mir doch, warum.«
Langsam wurde mir dieser Typ zu aufdringlich. Und in exakt diesem Moment
endete ebenfalls der Song. Wahrhaftig, Halleluja! »Tut mir leid, aber ich muss jetzt
gehen. Ich habe morgen noch einiges zu tun.«
Ein neuer Schatten huschte nahezu unmerklich über sein Gesicht, ehe er mir ein
weiteres einladendes Lächeln schenkte. »Kann ich Sie irgendwie überreden, noch
etwas länger zu bleiben?«
Ich schüttelte bloß stumm den Kopf. Jetzt musste er doch endlich begriffen haben,
dass ich kein Interesse an einem One-Night-Stand hatte.
Toms Blick wurde verzweifelt. Nach einer längeren Pause, die ich nutzte, um nach
meiner Tasche zu fassen und aufzustehen, fragte er mit trauriger Stimme. »Kommen
Sie wieder einmal vorbei?«
›Ein guter Schauspieler. Will er mich warmhalten?‹ Ich schaute in seine schönen
Augen. »Das weiß ich noch nicht. Wie gesagt, gehe ich nicht gerne aus, weil ich
alleine nicht weiß, was ich machen soll.«
»Aber nun können Sie mit mir reden! Sie können herkommen - und dann können
wir uns unterhalten.«
Für eine Sekunde schloss ich die Augen. So wie er mir auf die Nerven ging, fand
ich es auch genauso nett, wie er sich um mich bemühte. Obgleich sein Interesse
ohnehin bloß sexueller Natur war. Ich atmete tief ein. »Wir werden sehen.«
»Nein, Sie müssen es mir versprechen.« Dabei erhob er sich - langsam, elegant,
selbstsicher. Da war keine Schüchternheit mehr. Keine Unsicherheit. Plötzlich
verhielt er sich wieder, als gehörte ihm die Welt.
Entweder hatte er eine gespaltene Persönlichkeit oder aber versuchte er nur, seine
Unsicherheit zu überspielen. Aber am wahrscheinlichsten war es wohl, dass er den
Schüchternen bloß mimte. Viele Frauen standen darauf. Und als er bemerkt hatte,
dass er mit dieser Masche bei mir nicht mehr weiter zu kommen schien, versuchte er
es eben mit etwas anderem.
Und damit war für mich alles klar. Scheiß Männer! Er dachte ernsthaft, ich wäre so
leicht rumzukriegen?! Bloß, weil er gut aussah? ›Gutes Aussehen ist nicht alles, mein
Freund.‹
»Auf Wiedersehen.«
Damit ging ich zur Garderobe, griff nach meinem Mantel und trat, ohne mich
noch einmal umzudrehen, hinaus in die eisige Nacht.
Kapitel 2
Es war Samstag.
Früher hatte ich diesen Tag geliebt. Traditionell gesehen ist er der letzte Wochentag
und somit ein Feiertag. Die standardisierte Zählung des ISO 8601 machte Schluss
mit dieser Gepflogenheit.
Vor einigen Jahren verlor ich die Freude über diesen Wochentag. Zwar konnte ich
nach wie vor ausschlafen - meine Arbeitswoche ging nur von montags bis freitags aber das pricklige Gefühl war verschwunden. Das Gefühl, welches einem
überkommt, wenn man am Donnerstag bemerkt, dass das Wochenende bereits in
greifbarer Nähe ist. Im jetzigen Fall empfand ich bloß noch Leere oder, wenn ich
ganz viel Glück hatte, Trauer. Einsamkeit und Alleinsein war ich seit jeher gewöhnt,
doch nachdem mich mein Freund verlassen hatte, hatte mich damit auch meine
Heiterkeit verlassen. Einfach alles hatte mich verlassen: Glück, Hoffnung,
Lebensfreude. Obgleich Letztes noch nie so richtig zu meinen charakterlichen
Eigenschaften gezählt hatte.
Ich streckte mich.
Tom.
Ein leichter Adrenalinausstoß jagte durch meine Blutbahn. Alsbald mein Gehirn
diesen Namen hervorgebracht hatte, sah ich seine Augen vor mir. Gerne hätte ich
gewusst, welche Farbe sie hatten. Wie sahen sie wohl aus, wenn die Strahlen der
Sonne sie bescheinen würden?
Ich schüttelte den Kopf. Welche Dinge kamen mir da denn bloß in den Sinn?! Es
wurde immer schlimmer!
Geschmeidig schwang ich mich aus dem Bett, ging ins Bad und genehmigte mir
eine heiße Dusche. Nach einem ausgiebigen Frühstück, das aus einem feinen
Dinkeltoast mit Tomaten, Mozzarella, ein wenig Ketchup und einer heißen Tasse
Kakao bestand, fuhr ich ins Einkaufszentrum. Mein Kühlschrank musste wieder
einmal befüllt werden. Außerdem ging das Mehl zur Neige. Und es gab nichts
Schlimmeres, als eine leere Vorratskammer! Vielleicht konnte man heute jeden Tag
einkaufen gehen, aber das Gefühl, zu wenig oder gar keine Lebensmittel zu Hause zu
haben, kann ich schlichtweg nicht ertragen. Speziell im Winter ist es mir wichtig,
einen Vorrat für mindestens zwei Wochen an Lebensmitteln zu Hause zu haben.
Ich parkte auf dem Dach des großen Einkaufszentrums. Von hier aus hatte man
einen tollen Ausblick auf die Stadt. Obwohl die Sonne von einem stahlblauen
Himmel schien, fror es und ein eisiger Wind wehte. Außer mir waren noch ein paar
Familien unterwegs. Und selbstverständlich ein verliebtes Pärchen, das sich wärmeund nähesuchend an den jeweils anderen klammerten.
Idioten.
Wusste ich es doch besser. Die Frau fühlte sich geborgen, glaubte, das Lächeln ihres
Freundes bedeutete, dass es ihm gefiel, wie sie sich so an ihn krallte. Dabei freute er
sich bloß darauf, das warme Gebäude zu betreten, weil sie ihn damit wieder loslassen
würde.
Leicht kopfschüttelnd folgte ich dem Pseudo-Pärchen, bog dann aber links ab, um
zur Treppe zu gelangen. Den Lift vermied ich, so oft es ging. Zwar hatte ich keine
Platzangst, aber der Gedanke, mit fremden Leuten womöglich für Stunden auf
engem Raum eingeschlossen zu sein, behagte mir so gar nicht. Man wusste ja nie,
wann vielleicht der Strom ausging oder die Elektronik ihren Geist aufgab. Stufen
waren mir da weitaus sympathischer.
Nachdem ich im ersten Stock gelandet war, hielt ich mich weiter links. Das
Gebäude selbst sah ein wenig wie ein überdachtes Footballfeld aus. Kleine Geschäfte
reihten sich nebeneinander an. Nur das Lebensmittelgeschäft im Erdgeschoss nahm
einen breiteren Platz ein. Die gewaltige Fläche in der Mitte des Komplexes blieb
meistens frei. Bloß zu Ostern oder Weihnachten wurden kleine aus Holz gemachte
Markthäuschen aufgestellt.
Einmal war der Platz für eine Buchpräsentation genutzt worden. Heute jedoch
präsentierte sich die Fläche aufgeräumt und leer - wenn man einmal die
einkaufenden Leute außer Acht ließ.
Ich nahm die Rolltreppe nach unten, um mich dann durch die Menschenmengen
zum großen Lebensmittelgeschäft durchzuschlagen.
Wie ich das hasse! Dermaßen viele Leute auf einem Haufen, laut tratschend und
lachend - der reinste Horror! Wie lieb war mir da meine ruhige, warme Wohnung.
Eine Oase in der hektischen Welt.