Lebenszeichen vom 26.05.2016

Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien
-
zwischen
Glauben
und
Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
Sprecher:
Das Ende der Welt, so mag er gedacht haben, hätte nicht weiter weg sein können.
Seit Wochen ist er unterwegs: von seiner böhmischen Heimat bis hierher an die Via Cassia,
der alten Römerstraße, auf der die Pilger aus Mittel- und Nordeuropa bis nach Rom ziehen.
Müde, hungrig, staubbedeckt, mit durchgelaufenen Sandalen und Blasen an den Füßen
erreicht der Priester Petrus von Prag an einem Sommertag des Jahres 1263 den
italienischen Marktflecken Bolsena in der Region Latium.
Aus dem lärmenden Trubel enger, überfüllter Pilgerherbergen flieht er in die kühle Stille der
Kirche Santa Christina, um dort die Messe zu lesen.
Und dann geschieht es! Bei der Wandlung bricht ihm aus Versehen die Hostie entzwei.
Blutstropfen fließen aus der Bruchstelle. Sie sickern durch das Altartuch bis auf den
Marmorboden. Den Priester durchfährt ein eisiger Schreck. Kann das die Strafe dafür sein,
dass er die Lehre von der Transsubstantiation angezweifelt hat? Dass er nicht glauben
wollte, dass sich in der Messe Brot und Wein in Leib und Blut Jesu Christi verwandeln?
Denn genau diese Frage hatte ihn ja überhaupt erst zu der Pilgerfahrt aufbrechen lassen. Er
hatte gehofft, auf seinem langen und beschwerlichen Pilgerweg, eine Antwort zu finden.
Sprecherin:
Das „Wunder von Bolsena“ sorgt für europaweite Aufregung:
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
O-Ton Dr. Peter Egger:
Das hat sofort die Runde gemacht und da war Papst Urban IV. in Orvieto… und der
Papst hat sich die Hostie bringen lassen und verehrte sie knieend mit seinen
Kardinälen.
Sprecherin:
Der österreichische Theologe Peter Egger:
O-Ton Dr. Peter Egger:
Und wenn man heute in die Vatikanischen Museen geht, kommt man auch zu einem
Bild von Raffael. Und auf diesem Bild… ist das eucharistische Wunder von Bolsena
dargestellt. Der Papst wollte, dass die Erinnerung an dieses Wunder erhalten bleibt.
Sprecherin:
Weshalb er unter dem Eindruck dieses „Wunders“ das Fest Fronleichnam, also das Hochfest
der Eucharistie in den Kirchenkalender aufnimmt.
Sprecher:
Bis heute gilt diese alte Legende um Petrus von Prag als die erste „Dokumentation“ einer
sogenannten „blutenden“ Hostie.
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
O-Ton aus Berichterstattung des US-Lokalsenders KUTV „Eucharist Bleeding at a Church in Utah“:
Eine blutende Hostie wird in einer Kirche in Utah als Wunder bejubelt. Die Gläubigen
geben zu Protokoll, dass das Hostienblut im Anschluss an die Heilige Kommunion in
der Kirche des Heiligen Franz Xaver in Kearns, nahe Salt Lake City drei Tage lang
nicht aufhörte zu fließen.
Sprecherin:
Diese Nachricht von einer „blutenden“ Hostie erhitzt im November 2015 die
Gemüter. Das Bistum Salt Lake City beruft eine Kommission aus Theologen, Kirchenjuristen
und Molekularbiologen ein. Die Hostie wird beim Generalvikar
des Bistums unter Verschluss gehalten.
Sprecher:
Es ist nicht die letzte Dokumentation einer „blutenden“ Hostie.
Sprecherin:
Über 750 Jahre liegen zwischen dem Blutwunder in Bolsena und dem im amerikanischen
Bundesstaat Utah. Und ebenso lange beflügeln solche Ereignisse die Fantasie der
Frommen, schlagen Geschichten und Legenden rund um die Hostie - ob sie nun blutet oder
nicht - die Gläubigen in ihren Bann. Aus vielerlei Gründen:
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
O-Ton Collage:
Markus Schlüter:
Das ist natürlich für uns Christen von zentraler Bedeutung, dass Jesus im
Rahmen der Abendmahlsfeier die beiden Zeichen Brot und Wein genommen
hat.
Dr. Oliver Seifert:
Das ist dann die berühmte Transsubstantiationslehre, die besagt, dass
nachdem der Priester die Wandlungsworte gesprochen hat, unter der äußeren
Erscheinung des Brotes sich das Wesen des Brotes wandelt zu dem Wesen
des Leibes Christi.
Professor Olaf Rader:
Die Hostie soll Fleisch sein. Und wenn die Hostie Fleisch ist, dann blutet sie ja
auch.
Sprecherin:
Mit „Hostien“ - das Wort bedeutet „Opfergabe” - werden die zur Eucharistie oder zum
Abendmahl verwendeten flachen ungesäuerten Weizenbrotscheiben bezeichnet. Es sind, so
der Historiker Olaf Rader:
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
O-Ton Professor Olaf Rader:
Kleine gebackene, ein bisschen pappig schmeckende, völlig salzlose, Oblaten.
Sprecherin:
Und dennoch sind sie viel, viel mehr als das:
O-Ton Markus Schlüter:
Hier ist die Mitte unseres Glaubens, das Kostbarste der Kirche.
Sprecherin:
Der Siegburger Pastoralreferent Markus Schlüter:
O-Ton Markus Schlüter:
Ein kleines Stück Brot, das für einen speziellen Zweck gebacken wird: nämlich für die
Verwendung im Gottesdienst… Ewas Besonderes wird es erst durch das, was im
Gottesdienst geschieht. Dabei ist es nicht so ganz einfach, zu sagen, was es nun
genau ist, denn… es ist ein Sakrament, ein Mysterium, also ein Geheimnis, das sich
letztlich, wenn überhaupt nur dem Menschen erschließen kann, der mit Gottesdienst
feiert... Es ist die Erfahrung: Gott gibt sich mir selbst in diesem Stück Brot; ich
verstehe es nicht - aber es ist großartig!
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
Zitator:
„Mit der Hostie verbinden sich einige der wesentlichsten Inhalte der christlichen
Glaubenslehre. Wenn der Priester in Stellvertretung Christi die Einsetzungsworte spricht,
wird die Oblate in den Leib Christi gewandelt. Im „heiligsten Sakrament des Altars“
kulminieren Menschwerdung und Opfertod des Gottessohnes und das Dankopfer der Kirche
für dieses Opfer, in dem die Vergebung der Sünden und die Überwindung des Todes erlangt
wurden.“
Sprecherin:
Notiert der Kunsthistoriker Oliver Seifert in seinem Buch „Panis Angelorum - Eine
Kulturgeschichte der Hostie“.
Sprecher:
Im Christentum kehrt sich die bis dahin geltende „Richtung“ des Opfers, das
Gott von den Menschen dargebracht wird, um. In Christus gibt Gott den
Menschen seinen Sohn. Und seit dem letzten Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern
gehalten hat, wird dieses Opfer im Brot der Hostie jedes Mal neu verdeutlicht:
Zitator:
„Da sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s den Jüngern
und sprach: Nehmet und esset, das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und
dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus, das ist mein Blut… welches
vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
Sprecherin:
Der Evangelist Matthäus.
Zitator:
„Ecce panis angelorum,
factus cibus viatorum…
vere panis filiorum…“
„Seht das Brot,
Der Engel Speise...
Das den Hunger wahrhaft stillt…“
O-Ton Dr. Oliver Seifert:
In der Form, in der man es heute kennt, als Oblate, ist das eine Entwicklung des
Mittelalters… Und zwar ist wahrscheinlich am Hof der Merowinger im 7. Jahrhundert
das Waffeleisen entstanden; zumindest berichten die Quellen in diesem Raum und in
dieser Zeit von diesen Waffeleisen. Und die sind jetzt die technische Voraussetzung
dafür, dass man überhaupt diese flachen, papierartigen Oblaten herstellen kann.
Sprecher:
Im 13. Jahrhundert erlebt die Hostienverehrung eine Hochblüte. Denn neben den
Ereignissen von Bolsena haben auch die Bitten der frommen Visionärin Juliana von Mont
Cornillon den Papst bewogen, ein spezielles „Fest des Leibes und Blutes Christi“, nämlich
das Fronleichnamsfest einzuführen:
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
O-Ton Dr. Oliver Seifert:
Jetzt hatte um 1250 eine Äbtissin in einem Lütticher Kloster eine Vision, in der ihr
bedeutet wurde, dass eben noch dieses eine Fest im christlichen Jahreskreis fehlte…
(14:48)
Es ist ein Fest, in dem, wie der Name… ja schon sagt, der Leib des Herrn in
Gestalt des Brotes gefeiert wird.
O-Ton Professor Olaf Rader:
Und dieses Fest „Corpus Christi“, wie es ja eigentlich heißt, ist eine Art
Jubelveranstaltung für die Offenbarung dieser tatsächlichen Verwandlung. Man kann
sehr deutlich sehen, dass das… eine europaweite Verbreitung gefunden hat.
Sprecherin:
Die Verkündung des Dogmas der Transsubstantiation 1215, so Olaf Rader, Autor eines Buches über „Bluthostien“, hat weitreichende Folgen für die europäische
Geschichte. Die Akzeptanz dieser Lehre wird zu einer Art Lackmustest für
Rechtgläubigkeit und - Ketzerbekämpfung. Und die Hostie selber besitzt durchaus eine Art
Machtfunktion. In Raders Buch heißt es dazu:
Zitator:
„Indem die Hostie eigentlich Gleichheit symbolisiert, verkörpert sie aber auch Ungleichheit in
der Welt. Denn tagtäglich wird durch sie rituell klargestellt, wer nimmt und wer empfängt. Sie
ist damit eines jener subtilen Herrschaftsinstrumente, das zwar auf den ersten Blick als
einfache Gabe erscheint, auf den zweiten jedoch Hierarchie und Autorität offenbart.“
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
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Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
Sprecherin:
Verstöße gegen diese Hierarchie und Autorität und Zweifel an der Realpräsenz Christi in der
Eucharistie tragen folglich immer öfter den Keim der Häresie in sich.
Erfahren muss das im 11. Jahrhundert der Kanonikus Berengar von Tours:
Sprecher:
Der nämlich gerät in heftigen Widerspruch zur eucharistischen Lehre, die er als
gegen die Vernunft gerichtet empfindet. Nach seiner Interpretation bleiben Brot und Wein
der Substanz nach was sie waren; und nur eine geistige Bedeutung tritt hinzu, so dass
Christus „realpräsent“, aber nicht physisch anwesend ist.
Und der fromme Mann treibt das Gedankenspiel noch weiter, wenn er fragt:
O-Ton Professor Olaf Rader:
Wenn jetzt da Fleisch entsteht, beißen wir dann tatsächlich auf den Herrn?
Sprecherin:
Unbequeme Fragen stellt auch Thomas von Aquin:
O-Ton Professor Olaf Rader:
Der ist ja nun praktisch der bedeutendste Denker zu diesem Phänomen, also
der „Magister Eucharisticus“.
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
Der hat in seiner „Summa Theologiae“ ganz fein zergliedert und kam eben zu den
Fragen: wenn sich die Hostie verwandelt, ist da denn der gesamte Herr drin enthalten.
Sind die Knochen und die Nerven mit dabei? Kann der Herr an verschiedenen Orten
sein? Und das geht dann bis zu amüsant erscheinenden Fragen: was frisst eigentlich
die Maus, wenn sie eine konsekrierte Hostie anknabbert? Müsste die denn dann nicht
auch des Gnadenschatzes teilhaftig werden?
Sprecherin:
Ganz offenbar, denn:
O-Ton Professor Olaf Rader:
Thomas sagt: verwandelt bleibt verwandelt! Also auch eine Maus würde das
verwandelte Fleisch Christi anknabbern.
Sprecherin:
Spitzfindigkeiten dieser Art sind dem Dichter Johann Fischart im 16. Jahrhundert herzlich
gleichgültig. Er hält die Eucharistie schlicht für:
Zitator:
„Brotvergaukelung!“
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
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Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
Sprecherin:
Und befindet sich damit in einigermaßen illustrer Gesellschaft. Denn 1787 schreibt Johann
Wolfgang v. Goethe während einer Romreise an Frau v. Stein
über die Mariä-Lichtmess-Feier in der Sixtina:
Zitator:
„In der Sixtinischen Kapelle war Amt. Ich war einen Augenblick drinnen und
bin, wie ich schon schrieb, für diesen Hokuspokus ganz verdorben.“
O-Ton Professor Olaf Rader:
Nur wenige Menschen wissen, dass das Wort „Hokuspokus“ eigentlich eine
Verballhornung der Worte „hoc est corpus“ oder vollständig „hoc est corpus meum“
bedeutet… das war sozusagen für Leute in der Messe, die das Lateinische nicht
richtig verstanden haben: was machen die denn da vorne für einen Hokuspokus? So
entsteht das Wort eigentlich.
Sprecher:
Ein beschauliches, fast verschlafenes Städtchen in dörflicher Abgeschiedenheit. Ein kleiner
Fluss, ein altes Rathaus, säuberlich aufgereihte Fachwerkhäuser. Nur der mächtige Turm
der St. Nikolai-Kirche scheint viel zu groß für diesen kleinen Ort - Wilsnack im Landkreis
Prignitz im Nordwesten Brandenburgs:
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
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Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
O-Ton Professor Olaf Rader:
Ich fragte mich, warum hat dieser Ort diese große Kirche? Und es stellte sich heraus:
das war ursprünglich mal ein Wallfahrtsort und der war so berühmt wie Rom, wie
Santiago de Compostela, Jerusalem und Aachen… Und dann entdeckte ich, dass
man
anhand
der
Geschichte
von
Wilsnack
verschiedenste
Aspekte
der
Kulturgeschichte des Mittelalters entrollen kann.
Sprecher:
Sie kommen an einem Sommertag des Jahres 1383. Ihre Schwerter und Lanzen blitzen im
Sonnenlicht. Ihr Anführer Hinrich v. Bülow will nach einer Fehde mit dem Bischof von
Havelberg grausame Rache an dem kleinen Ort und seinen Bewohnern nehmen. Und so
legen sie Feuer an die kleine Wilsnacker Dorfkirche, die im Nu lichterloh brennt.
In den ausgebrannten Trümmern des Gotteshauses findet der Pfarrer später
drei völlig unversehrt gebliebene Hostien. Und auf jeder glänzen Blutstropfen.
Da die Hostien den Brand unbeschädigt überstanden haben, kann es sich - so folgert das
fromme Volk - nur um das Blut Christi handeln.
Sprecherin:
Die Legende vom Wilsnacker „Blutwunder“ ist geboren!
Und sie verbreitet sich blitzschnell in ganz Europa. Schon im folgenden Jahr kommen die
ersten Pilger. Die bis dahin eher ärmlichen Bewohner des Ortes nutzen die Gunst der
Stunde und bauen eine neue, große Kirche mit einem fast 60 Meter hohen Turm:
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Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
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26.05.2016
O-Ton Professor Olaf Rader:
Man kann ganz deutlich sehen: Wilsnack nimmt einen enormen Aufschwung: da
sprießen Herbergen… da sind Hunderttausende an euphorisierten Leuten, die jedes
Jahr hauptsächlich zu St. Bartholomäus, das ist der 24. August, zusammenströmen,
um dann durch das Betrachten der blutenden Hostie… selber in den Genuss von
Ablass zu kommen.
Sprecher:
Die hoch- und spätmittelalterliche Eucharistiefrömmigkeit ist überreich an solchen
Wundergeschichten. In ihnen bluten die Hostien nicht nur, sondern manchmal verwandeln
sie sich am Altar in blutige Fleischstücke oder auch, wie in den Darstellungen der
Gregorsmessen, in das - oftmals blutüberströmte -Christuskind selber.
Das Interesse, das hinter diesen „Wundern“ steht, ist immer der Wunsch nach einem
handgreiflichen Beweis für die reale Gegenwart des Leibes Christi in der Hostie.
Sprecherin:
Doch wo Verehrung ist, da ist auch Frevel!
Zitator:
„Die Juden das sind Sünder,
Sie schlachten Christenkinder.
Schneiden ihnen die Hälse ab,
Das verdammte Judenpack.“
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26.05.2016
Sprecher:
Am Gründonnerstag des Jahres 1287, so berichten die Heiligenlegenden, nehmen die Juden
aus dem Rheinort Bacharach den kleinen Werner, Sohn eines Winzers gefangen, um ihn
zum Erbrechen der Hostie zu bringen. Als der Junge sich weigert, die Hostie auszuspucken,
foltern die Juden ihn aufs grausamste und bringen ihn anschließend um.
Sprecherin:
Eine von unzähligen solcher Geschichten. Ihren Hintergrund bildet die Vorstellung, dass die
Juden, die angeblichen „Gottesmörder“ mit dem Hostienfrevel zynisch die Tötung Jesu
wiederholen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht fast immer eine Hostie, die zu bluten
beginnt, nachdem die Juden sie „geschändet“ haben:
O-Ton Dr. Oliver Seifert:
Hostienschändung ist ja in gewisser Weise, wenn man das ernst nimmt, was die
Hostie ist: nämlich der Leib Christi, die Tötung Christi - möglich, indem man die
konsekrierte Hostie tötet, die zersticht oder zerbricht und eben nicht gläubig
konsumiert. Und das hat man dann tatsächlich den Juden in der Regel vorgeworfen.
Sprecherin:
Bildliche Darstellungen von Rabbinern, die eine bluttriefende Hostie mit infernalischem Hass
schänden, finden große Verbreitung. Geschichten von Hostienfrevel werden in die Welt
gesetzt, um anschließend Pogrome gegen die jüdischen Gemeinden zu inszenieren und zu
rechtfertigen. Diese infame Lügenpropaganda hält sich bis ins 19. Jahrhundert:
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26.05.2016
O-Ton Professor Olaf Rader:
Und das böse Ende ist dann immer so, dass die Juden auf dem Scheiterhaufen
enden und…oft sogar ein Wunderblutort entsteht. Von den rund 60 Wunderblutorten
im deutschsprachigen Raum haben etwa 30 eine Judenfrevel-Legende als
Hintergrund.
Sprecherin:
In den 1960er Jahren untersucht der Dominikanerpater Willehad Paul Eckert im Auftrag der
Ritenkongregation des Vatikans diese Hostienfrevel- und Ritualmordvorwürfe:
O-Ton Pater Dr. Willehad Paul Eckert:
Im Fall dieses Winzerjungen, der an einem Gründonnerstag von Juden ermordet sein
soll und dessen Leiche rheinaufwärts bis Bacharach getrieben sein soll - diese
Geschichte des Werner von Bacharach ist legendenverbrämt… wo von einem
einfachen Mord am Gründonnerstag die Rede ist bis zu der späteren Fassung, in der
berichtet wird, dass der Werner von Bacharach kommuniziert hat und dass die Juden
ihn zum Erbrechen der Hostie bringen wollten, sodass sich also das Motiv
Hostienschändung mit Ritualmord verknüpft.
Bei dieser Geschichte haben wir es mit einem Legendengut zu tun, das als spätere
Rationalisierung einer Mordgeschichte verstanden werden darf.
Zitator:
„Berlin, 30. Oktober 1848“
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26.05.2016
Sprecherin:
Der Mikrobiologe Christian Gottfried Ehrenberg schreibt an seinen Freund, den
Gelehrten und Naturforscher Alexander v. Humboldt:
Zitator:
„Ich scheue mich fast, Ihnen schon wieder Neues zu vermelden und doch sind es
Tatsachen, die anschaulich vorliegen, wunderbar erregende Tatsachen. Stellen Sie sich vor:
Die dunkel-blutroten Flecken bilden eine Gallerte auf den Speisen, die wohl auch abtropfen
kann. Es ist nicht wie Schimmel, sondern ein Haufen kleiner roter Tierchen. Feuchte Orte,
Mehlteig, warme Luft im Sommer begünstigen ihren Aufenthalt auf Hostien. Wieviele Juden
sollen Hostien gemartert haben?“
Sprecherin:
Es ist eine kleine Sensation!
Sprecher:
Ehrenberg ist die Enthüllung der Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen „blutender“
Hostien und den dafür verantwortlichen Erregern gelungen. Er weist nach, dass im
gallertartigen Stoffwechselprodukt des „Bacteriums Prodigiosum“ - des „Wunderbakteriums“,
wie er es nennt - der rote Farbstoff Anilin enthalten ist, der jahrhundertelang für Blut gehalten
wurde:
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26.05.2016
O-Ton Professor Olaf Rader:
Man wusste über Jahrhunderte nicht, dass wenn rote Blutflecken überhaupt natürlich
entstanden sind, die mit einem Mikrobenbefall zu tun haben.
Sprecher:
Das Geheimnis der „blutenden“ Hostien ist wissenschaftlich geklärt:
Sprecherin:
Zwischen 1848 und 1850 legt Ehrenberg in mehreren Sitzungen der „Preußischen Akademie
der
Wissenschaften“
seine
Untersuchungsergebnisse
zu
dem
„Phänomen
der
ungewöhnlichen Blutbildung“ vor:
Zitator:
Auf Oblaten habe ich die Erscheinung sehr leicht fortpflanzen können. Am schönsten
erscheint sie auf gekochtem Reis. In zugedeckten Gefäßen und Tellern entwickelt sie sich in
warmer Luft auffallend leicht.
Sprecherin:
In Olaf Raders Buch heißt es dazu:
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26.05.2016
Zitator:
Auf jedem Stück herzhaftem französischem Weichkäse - St. Albray oder dem noch
herzhafterem Munster - wird die rötlich-schimmelige Rinde von einer Pilzart erzeugt.
Micrococcus Prodigiosus, Bacterium Prodigiosum, Serratia Marcescens - so nennen
Mikrobiologen jene Spaltpilze, die auf geeignetem kohlehydrathaltigem Nährboden wie etwa
feuchtem ungesäuertem Brot oder Maismehlbrei in kürzester Zeit schleimige oder blutrote
Flecken erzeugen können. Diese „Wunderpilze“, die Mitte des 19. Jahrhunderts dank
verbesserter Mikroskoptechnik erstmals auch gesehen werden konnten, leisteten einen
entscheidenden
Beitrag
zu
einem
Phänomen
von
immenser
kulturgeschichtlicher
Bedeutung.
Sprecherin:
Also, ein Spaltpilz - so die historische Bezeichnung für ein Bakterium - zieht seine Spur
durch die Geschichte? Den ersten weltgeschichtlich bedeutenden Auftritt hatte er bereits im
Heer des Welteroberers Alexander des Großen. Jedenfalls berichten die Chronisten von
blutverschmierten Broten bei der Belagerung der phönizischen Hafenstadt Tyrus.
Sprecher:
Ein Bakterium setzt fromme Pilgerzüge und Wallfahrten in Bewegung, rührt Gläubige zu
Tränen, lässt Gelehrte sich das Hirn zermartern, löst theologische Kontroversen aus, bewirkt
den Bau von Kapellen und Kathedralen, verursacht mörderische Pogrome?
Und dann dauert es über zwei Jahrtausende, bis die Wissenschaft das Geflecht aus
Theologie, Kulturgeschichte, Philosophie und Biologie entwirrt und das Rätsel löst:
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26.05.2016
O-Ton Professor Olaf Rader:
Und dann war man also felsenfest davon überzeugt: nun haben wir ja die Sache
geklärt und damit ist jeglicher Wunderglaube auch aus der Welt.
Sprecherin:
Doch ist er das wirklich?
Sprecher:
Ist man denn jahrhundertelang zu einem Bakterium gewallfahrtet?
Sprecherin:
War alles nur „Hokuspokus“?
Zitator:
„Salt Lake City. Bei einer vermeintlich blutenden Hostie in den USA handelt es sich nicht um
ein Wunder. Die Ursache der Verfärbung sei ein roter Brotschimmel des Typs „Neurospora
Crassa“, teilte das katholische Bistum Salt Lake City mit.
Sprecherin:
KNA, die „Katholische Nachrichtenagentur“ am 18. Dezember 2015:
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Zitator:
„Die Kirche geht davon aus, dass die meisten Vorgänge, die als außergewöhnliche
Phänomene erscheinen, in Wirklichkeit das Ergebnis natürlicher Ursachen sind, heißt es in
der Stellungnahme des Bistums. Deshalb liege die Prüflatte für Wunder hoch. In dem Sinn
sei die Ad-hoc-Kommission zur Untersuchung des Vorgangs zu dem Schluss gekommen,
dass es sich bei den Veränderungen an der Hostie nicht um ein Wunder handle.“
Sprecherin:
Sondern?
Zitator:
„Um eine emotional aufgeladene, kirchliche Inszenierung für katholische Menschen.“
Sprecherin:
Schreibt der Kölner Kriminalbiologe Mark Benecke, der sich vor einigen Jahren unter die
Gläubigen in Neapel mischte, um dort Zeuge des berühmten „Blutwunders des Heiligen
Januarius“ zu werden. Jedes Jahr im Mai und im September findet im Dom von Neapel eine
Prozession und dann die feierliche Zeremonie der Blutverflüssigung statt. In einer Ampulle
befindet sich eine rötliche, normalerweise kompakte Substanz, bei der es sich um das Blut
des im 4. Jahrhundert enthaupteten Heiligen Januarius handeln soll. Nach dem
Volksglauben verflüssigt sich diese Substanz zweimal im Jahr- wenn kein Unglück für die
Stadt zu erwarten ist. Ein Wunder? Für Mark Benecke nicht:
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
O-Ton Dr. Mark Benecke:
Das angebliche Blut muss nur genügend bewegt werden und schon wird es flüssig.
Stoffe, die durch Bewegung ihren Aggregatszustand ändern sind in der Chemie nichts
Ungewöhnliches und werden als thixotrop bezeichnet. Eine thixotrope Substanz, die
wie Blut aussieht, ist mit in Neapel problemlos herstellbaren Chemikalien schon seit
Jahrhunderten herstellbar.
Sprecher:
Dennoch hält der Wissenschaftler Benecke dieses „Blutwunder“ weder für Betrug noch für
irgendeinen sonstigen „Hokuspokus“. Nach seinem Besuch in Neapel notiert er:
Zitator:
„Insgesamt habe ich das „Blutwunder von Neapel“ als etwas im Grunde Schönes
wahrgenommen, das den vorwiegend älteren Katholiken helfen soll, ihren Glauben
aufrechtzuerhalten. Einen bösartigen Betrug der Kleriker kann ich nicht erkennen, da
mehrere Theologen heute argumentieren, dass Wunder nicht deshalb so bedeutsam sind,
weil sie echt seien, sondern weil sie als subjektiver Glaubensbeweis dienen.“
Sprecher:
Ähnlich sieht das Oliver Seifert, wenn er schreibt:
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
Zitator:
„Die Reduzierung des „Wunders“ auf die Natur, eine Reduzierung, die immerhin erst mit
Hilfe des Mikroskops und der Kenntnis der chemischen Struktur des Anilins möglich war,
berührt die Bedeutung des Phänomens im Grunde nicht.
Dem Gläubigen wird es allein darauf ankommen, wofür die veränderte Hostie steht. Die
Mikrobiologie reicht in diese Sphäre nicht hinein. Sie beschreibt lediglich die Wirkung
chemischer Substanzen, deutet diesen Prozess aber nicht im Hinblick auf ein religiöses
Heilsgeschehen.“
Sprecherin:
Hochmut gegenüber dem vermeintlichen „Aberglauben“ vergangener Zeiten ist
also nicht angebracht. Und zu fragen bleibt auch, wo sich die Schnittstelle zwischen einem
schlichten Wissensdefizit, Wunder- und Aberglauben befindet?
O-Ton Dr. Peter Egger:
Obwohl wir nicht die Möglichkeit haben, die Eucharistie mit Hilfe der Vernunft
zu erklären, haben wir durch die Erfahrung gewisser Zeichen und Wunder einen
Zugang zum Geheimnis der Eucharistie. Wenn wir auch nicht imstande sind, zu
erklären, wie es zur Realpräsenz Jesu in den Gestalten von Brot und Wein kommt, so
können wir doch feststellen, dass es diese Realpräsenz offensichtlich gibt… Der
eigentliche Sinn… ist die Begegnung mit Jesus Christus, der uns durch seine
Anwesenheit stärkt, heilt und erlöst.
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Wunderblut und „Hokuspokus“
Bluthostien - zwischen Glauben und Aberglauben
Lebenszeichen
Von Kirsten Serup-Bilfeldt
26.05.2016
Sprecher:
Ein Stückchen Brot…Und doch - seit diesem einen Abend vor 2000 Jahren viel mehr als nur
ein Stückchen Brot.
Zitator:
„Da sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s den Jüngern und
sprach: Nehmet und esset, das ist mein Leib.“
O-Ton Markus Schlüter:
Jesus Christus ist es, der in unserer Mitte ist und mit uns in diesem Bild, wenn man so
will, durch die Zeiten zieht.
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