SWR2 Aula

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Der Studienkompass (5/11):
Chemie / Tissue Engineering
Von Svenja Hinderer
Sendung: Montag, 16. Mai 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
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Ansage:
Mit dem Thema: „Der Studienkompass, Folge 5: Chemie“
Wir bringen in der SWR2 Aula eine Reihe, gedacht für Schülerinnen und Schüler, die
das Abitur hinter sich haben und die sich nun fragen: Was kommt jetzt? Was soll ich,
wenn es auf die Universität geht, studieren?
Wir wollen bei der Beantwortung dieser Frage helfen. Elf Aula-Autorinnen
und -Autoren geben jeweils Auskunft über ihr Fach, zeigen, was man mitbringen
muss, um es zu studieren, was man mit dem Bachelor oder Master anfangen kann,
wie das Studium genau aufgebaut ist. Es geht um Grundlagenfächer, um
Mathematik, Germanistik oder, wie heute, um Chemie.
Alle Vorträge sind seit Ende April auch online erhältlich. Infos dazu finden Sie auf der
Internetseite swr2.de/studienkompass.
Heute also geht es um die Chemie und um Dr. Svenje Hinderer,
Materialwissenschaftlerin, Chemikerin am Fraunhofer Institut Stuttgart.
Svenja Hinderer:
Mein Name ist Svenja Hinderer und ich bin Gruppenleiterin und stellvertretende
Abteilungsleiterin am Fraunhofer Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik
in der Abteilung Zell- und Tissue Engineering. Zusammen mit Biologen, Ingenieuren,
Medizinern, Verfahrenstechnikern und Physikern arbeite ich als Chemikerin an
Implantaten und Testsystemen für den Einsatz in der regenerativen Medizin.
Trotz des enormen Regenerationspotenzials des menschlichen Körpers kann die
vollständige Funktion der Organe oder Gewebe nach Schädigung oft nicht wieder
hergestellt werden. Entsteht eine kleine Schädigung oder Verletzung, ist der Körper
durchaus in der Lage, diese selbst zu heilen. Bei größeren Verletzungen –
beispielsweise aufgrund eines Unfalls oder als Folge einer Erkrankung – kommt das
Regenerationspotenzial des Körpers jedoch an seine Grenzen. Es sind also
Lösungen oder Implantate gefragt, die es ermöglichen, das geschädigte Organ zu
unterstützen, es zur Regeneration anzuregen oder es gar komplett zu ersetzen.
Heutzutage gibt es viele Implantate wie zum Beispiel künstliche Gelenke, Zähne,
Blutgefäße oder Herzklappen, die in den Körper eingesetzt werden. Jedoch haben
diese alle auch Nachteile, denn sie werden im Körper als fremd angesehen und
können somit nicht voll funktional in den Körper integrieren. Häufig kommt es zu
starken Entzündungen, Immunreaktionen, Abnutzungen des Materials und im
schlimmsten Fall stößt der Körper das Material komplett ab. Am besten eignen sich
Spenderorgane als Ersatz, jedoch gibt es davon nicht genug und viele Patienten
sterben, bevor ein geeignetes Spenderorgan gefunden wird. Ein weiterer Nachteil
der bisher eingesetzten Implantate ist, dass keines im Kindeskörper mitwächst. Das
bedeutet, dass das Implantat immer wieder durch aufwendige Operationen
ausgetauscht werden muss.
Und genau hier setzt unsere Forschung an. Wir wollen Materialien und
Ersatzsysteme entwickeln, die funktional sind und somit eine Langzeitlösung
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darstellen. Ein Ansatz ist das sogenannte Tissue Engineering – die Gewebezucht.
Das Prinzip des Tissue Engineerings möchte ich im Folgenden kurz erklären. Dem
Patienten wird eine Biopsie des gesunden Gewebes entnommen, aus welcher dann
die darin enthaltenen Zellen isoliert werden. Diese Zellen werden im Labor so
kultiviert, dass sie sich vermehren. Sobald eine bestimmte Anzahl an Zellen
vorhanden ist, werden diese auf dreidimensionale faserförmige oder poröse
Materialien, die sogenannten Trägersubstrate aufgebracht und dann entweder
statisch im Reagenzglas oder dynamisch in speziell entwickelten Bioreaktoren
kultiviert. Das neu-gezüchtete Gewebe kann nun dem Patienten an die defekte Stelle
implantiert werden und mit dem umliegenden Gewebe verwachsen.
Der große Vorteil gegenüber herkömmlichen Implantaten: Der Patient erhält ein
Implantat aus seinen eigenen Zellen, welches vom Körper nicht als Fremdkörper
angesehen wird. Bisher gibt es jedoch noch nicht viele tissue-engineerte Produkte
auf dem Markt. Das bekannteste ist der Ersatz des Knorpels im Knie nach einem
Unfall. Ein Stück des noch gesunden Knorpels wird entnommen, aus welchem dann
die Zellen isoliert, angezüchtet und auf ein schwammartiges Trägersubstrat ausgesät
werden. Nach Kultur im Labor wird dann das neue Gewebe an die defekte Stelle
implantiert.
Optimierungs- und Forschungsbedarf gibt es hier auf jeden Fall noch jede Menge.
Was sind die optimalen Kulturbedingungen? Ist vielleicht eine dynamische Kultur in
Bioreaktoren unter definierten mechanischen Beanspruchungen besser? Und wenn
ja, welches sind die richtigen Parameter, die die Zellen brauchen, damit sie ihre
Funktion erfüllen? Was für ein Material soll als Trägersubstrat verwendet werden und
wie stellt man ein Trägersubstrat her, das den Zellen die optimale Umgebung liefert?
Fragen über Fragen, von deren Beantwortung wir teilweise noch weit entfernt sind.
Als Chemikerin beschäftige ich mich mit der Materialentwicklung, Materialoptimierung
und Materialmodifikation. Je nach Organ sind die Anforderungen an ein Material oder
Trägersubstrat sehr unterschiedlich. Ein Knochenmaterial muss hart sein, sehr porös
und nicht verformbar. Ein Blutgefäß hingegen sollte nicht starr, sondern biegbar
beziehungsweise elastisch sein und darf keine Flüssigkeit durchlassen. Zudem sollte
es dem Blutdruck standhalten. Ich verwende unter anderem eine Methode namens
Elektrospinning, um faserförmige Trägersubstrate herzustellen. Mittels einer
Spannung von zehn- bis dreißigtausend Volt können synthetische Polymere oder
natürliche, im Körper vorkommende Proteine aus einer Lösung zu hauchdünnen
Fasermatten versponnen werden. Trägersubstrate können aber auch aus
Hydrogelen gefertigt werden oder mittels eines 3D-Druckers direkt gedruckt werden.
Egal welches Verfahren man verwendet, es ist wichtig, dass das daraus entstandene
Trägersubstrat biokompatibel ist. Es muss also verträglich mit dem Körper sein und
darf keine toxischen oder gar erbgutverändernden Eigenschaften haben. Für die
spätere Zulassung als Medizinprodukt muss diese Unbedenklichkeit auch
nachgewiesen werden. Es ist wirklich sehr faszinierend, was bereits kleine
Veränderungen am Material für Auswirkungen auf das Verhalten von Zellen haben
kann, die man ja für den Tissue Engineering-Ansatz auf diesen Materialien wachsen
sollen und sich heimisch fühlen müssen.
Doch nicht aus jedem Organ können so einfach Biopsien für die Gewinnung von
Zellen genommen werden. Nehmen wir das Beispiel Herzmuskel. Bei einem Defekt
kann nicht einfach ein Stück des Herzens entfernt werden, um Zellen zu isolieren
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und anzuzüchten. In diesem Fall kann auf patienteneigene Stammzellen aus
beispielsweise dem Knochenmark oder dem Fett zurückgegriffen werden.
Stammzellen haben noch das Potenzial, sich in unterschiedliche Gewebezellen zu
entwickeln. So kann aus einer Stammzelle aus dem Knochenmark eine
Knochenzelle, aber auch eine Fettzelle oder gar eine Knorpelzelle werden. Die
Herausforderung hinsichtlich des Tissue Engineerings ist es jedoch, ein Material oder
eine Materialkombination zu generieren, welche die Stammzellen zu den
gewünschten gewebespezifischen Zellen reifen lässt.
Neben tissue-enginieerten Ersatzmaterialien fokussieren wir auch auf Materialien,
die zur Regeneration beitragen können. Diesen Ansatz möchte ich beispielhaft am
Herzen erklären. Nach einem Herzinfarkt zum Beispiel ist ein Teil des Herzmuskels
geschädigt, was die Leistung des gesamten Herzens beeinflusst. Es ist sozusagen
eine Art Narbe am Herzen entstanden, die schlichtweg nicht mehr pumpt. Die volle
Funktionalität des Narbengewebes kann durch den Körper alleine auch nicht mehr
hergestellt werden. Es wurden bereits einige Moleküle wie Proteine,
Wachstumsfaktoren oder auch Wirkstoffe oder Stammzellen identifiziert, die eine
Regeneration des geschädigten Teils des Herzmuskels bewirken.
Aber wie fixiert man diese Moleküle im Infarktbereich, so dass sie nicht direkt mit
dem nächsten Herzschlag ausgewaschen werden? – Sogenannte Drug Release
Systeme, also Medikamente freisetzende Materialien, können dafür eine Lösung
sein. In einem Material, das sich im Körper abbauen kann, werden Moleküle
verkapselt. Diese werden dann über einen bestimmten Zeitraum im Körper
freigesetzt und unterstützen dadurch die Regeneration. Diese Wiederherstellung des
defekten Herzmuskelgewebes ist auch das Ziel eines großen EU-Projektes, in dem
ich involviert bin. Im sogenannten AMCARE-Projekt arbeiten zehn europäische
Partner, darunter das Fraunhofer IGB, an der Entwicklung von Materialien zur
Regeneration des Herzmuskels nach einem Herzinfarkt. Ein Cardiogel, das in den
Muskel gespritzt werden kann, für den Innenwandinfarkt und ein Cardiopatch, der
wie eine Membran auf das Herz nach einem Außenwandinfarkt aufgebracht werden
kann. Cardiopatch und auch Cardiogel sollen beide mit spezifischen Molekülen
ausgestattet sein, die langsam freigesetzt werden und somit die volle Funktionalität
des Herzmuskels wieder herstellen.
Neben den Implantaten forschen wir auch an Testsystemen auf menschlicher Basis.
Dafür bauen wir im Reagenzglas ein menschliches Gewebe, wie beim Tissue
Engineering, aus speziellen Materialien und menschlichen Zellen aus Biopsien, auf.
Dieses Gewebe kann nun verwendet werden, um Medikamente zu testen oder an
Krankheiten zu forschen. Das Tolle an der Sache ist, dass diese Systeme in Zukunft
einmal Tierversuche ersetzen können. Viele Wirkstoffe werden heutzutage an Tieren
getestet, was zwei große Nachteile hat. Zum einen sind Ergebnisse aus dem Tier
nicht immer zu 100 % auf den Menschen übertragbar und zum anderen müssen
dafür viele Tiere ihr Leben lassen.
Ich möchte das Prinzip des tissue-engineerten Testsystems kurz an einem Beispiel,
nämlich der Haut erklären. Aus einer Hautbiopsie können Zellen gewonnen und
mittels eines geeigneten Materials zu einem Hautmodel gezüchtet werden. Dieses
Modell kann nun verletzt oder mit einem Erreger infiziert und diese Verletzung oder
Infektion mit Medikamenten behandelt werden. Die Wirksamkeit von Medikamenten
oder Kosmetika, aber auch medizinische Prozesse wie Wundheilung können somit
an solchen menschlichen Systemen untersucht werden. Ein ganz aktuelles Thema,
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an dem gerade gearbeitet wird ist das Einbringen von Blutgefäßen in Modelle und
Implantate, die das Organ oder Gewebe mit Nährstoffen versorgen können. Denn
das Fehlen dieser Blutgefäße ist eine der größten Limitation von tissue-engineerten
Implantaten und Testsystemen. Testsysteme oder Organmodelle haben ein sehr
sehr großes Potenzial, jedoch sind sie zum Großteil noch in den Kinderschuhen und
noch viel Forschung ist nötig, um irgendwann einmal auch komplexere Organe wie
ein ganzes Herz oder die ganze Leber nachbauen zu können. Ein großer Traum in
dieser Szene ist auch die Kopplung oder Reihenschaltung von mehreren Organen,
so dass es eines Tages möglich ist, komplett auf das Tier verzichten zu können. Ich
gebe zu, das klingt sehr visionär, aber es ist nicht unmöglich.
Solche Visionen oder Ziele sind ein wichtiger Bestandteil eines Wissenschaftlers,
denn genau solche Ziele motivieren einen trotz des einen oder anderen Rückschlags
weiter zu machen und immer wieder aufzustehen. Wenn man nicht weiß, wo man
hinmöchte, trottet man schlicht vor sich hin und man tut sich nicht nur in der
Wissenschaft, sondern generell in der Arbeitswelt schwer. Ein weiterer großer
Motivator für meine Arbeit ist, dass wir mit unserer Forschung einen Beitrag dazu
leisten können, die Lebensqualität der betroffenen Patienten zu verbessern. Neben
den gesellschaftlichen Gesundheitsproblemen, die man angeht, motiviert mich auch
die Vielfältigkeit der Projekte, die wir bearbeiten. Langweilig wird einem ganz sicher
nicht und man lernt auch ständig neues dazu. Das macht wirklich Spaß und Spaß an
der Arbeit ist das A und O.
Ich habe mich in meiner Forschung auf die Materialentwicklung und
Materialmodifikation spezialisiert. Studiert habe ich Angewandte Chemie an der
Hochschule Reutlingen. Meine Promotion habe ich an der Universität Stuttgart am
Institut für Grenzflächenverfahrenstechnik und Plasmatechnologie durchgeführt. Im
Rahmen des Chemiestudiums beschäftigt man sich natürlich auch mit vielen
Themen, die teilweise sehr weit weg sind von dem, was ich jetzt mache, was aber
nicht bedeutet, dass diese weniger interessant sind. Was ich damit sagen möchte ist
eher, dass man mit einem Chemiestudium sehr viele Möglichkeiten in der Forschung
oder der Industrie hat.
Fast überall spielt die Chemie eine Rolle. In der Medizintechnik, in sämtlichen
Zweigen der Automobilindustrie, in der Pharma- und Lebensmittelindustrie, in der
Kosmetikbranche, in der Umwelttechnik und natürlich auch in der klassischen
chemischen Industrie, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und genau das macht
dieses Feld auch so spannend. Es ist sehr interessant zu sehen, was alles möglich
ist. Wenn ich mich mal unter meinen ehemaligen Studienkollegen umschaue, macht
wirklich jeder etwas anderes und jeder ist in einer anderen Branche tätig. Auch
innerhalb einer Branche gibt es die unterschiedlichsten Möglichkeiten, als Chemiker
oder Chemikerin tätig zu sein.
Ich entwickle dreidimensionale Materialien, die als Implantate oder Testsysteme
dienen und mit dem Körper und dem Gewebe interagieren. Andere Chemiker in der
Medizintechnikbranche beschäftigen sich mit der Synthese neuer Kunststoffe oder
neuer Metalllegierungen für sämtliche Medizinprodukte. Dazu zählen nicht nur
Implantate, sondern auch Spritzen, Blutbeutel, OP-Besteck oder Krankenbetten. Eine
andere Möglichkeit als Chemiker in der Medizintechnik ist die Entwicklung von
Diagnose- oder Messtechniken auf Basis von beispielsweise unterschiedlichen
Spektroskopiearten. Auch in der Produktion von Medizinprodukten sind Chemiker
gefragt. Hierzu zählen Tätigkeiten wie Qualitätskontrolle, Durchführung von
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Analysen, Up-scaling von Laborprozessen um großtechnisch produzieren zu können,
Management und/ oder Aufbereitung von Abfällen und Abwässern sowie die
Gewährleistung der Sicherheit im Betrieb. Ich könnte diese Auflistung nun
unglaublich lange weiterführen – kurz gesagt, der Beruf „Chemiker“ ist extrem
vielseitig.
Im Studium der Chemie lernt man die Grundlagen der organischen und
anorganischen Chemie, der physikalischen Chemie, der Polymerchemie und auch
der Analytik; für die spätere Spezialisierung ist jeder selbst verantwortlich. Und diese
Spezialisierung ist sehr wichtig. Man wird später nie alles brauchen, was man im
Studium lernt, aber in dem, was man braucht, sollte man Experte sein. Natürlich
müssen im Grundstudium auch Grundlagen über die Chemie heraus gelernt und
gelehrt werden. Fächer wie Mathematik, Physik und Statistik bleiben auch einem
Chemiker nicht erspart und müssen als Nebenfächer belegt werden. Es gibt noch
viele weitere Fächer, die belegt werden müssen, diese variieren jedoch von
Universität zu Universität oder von Hochschule zu Hochschule. Neben den, ich
nenne sie mal „chemie-nahen“, Fächern wie Toxikologie und Sicherheit,
Umwelttechnologie, Verfahrenstechnik, Qualitätsmanagement und Biochemie gibt es
auch Nebenfächer, die über die Chemie hinausgehen und sehr hilfreich und nützlich
für das spätere Überleben in der Arbeitswelt sein können. Hierzu zählen Fächer wie
Englisch, Projektmanagement, BWL und Marketing. Weitere Vertiefungen waren in
meinem Studiengang dann zum Beispiel in der Biotechnologie und in der
Polymerchemie möglich. Einige Studiengänge bieten heutzutage auch Nebenfächer
oder Vertiefungen wie Biomaterialien oder Medizintechnik.
Ein sehr spannender Bestandteil des Chemiestudiums sind die Laborpraktika. Hier
lernt man nicht nur die Basics der Laborarbeit wie Pipettieren, sondern es werden
einem auch einige Dinge, die man zuvor in den Vorlesungen gehört hat, auf einmal
ganz klar. Die Theorie wird also greifbar, und das hat mir persönlich das Lernen
wirklich erleichtert. Hier ist meist auch ein Unterschied zwischen einer Hochschule
und einer Universität. Der Umfang der Laborpraktika ist an Hochschulen in der Regel
größer.
Ich werde oft gefragt, wie ich darauf gekommen bin, Chemie zu studieren. Als Kind
oder auch als Jugendliche wollte ich immer Ärztin werden, wobei ich dabei immer
geschwankt habe zwischen Tierärztin oder Humanmedizinerin. Die
Zulassungskriterien für ein Medizinstudium waren jedoch nicht einfach zu erfüllen
und warten wollte ich nicht. Interesse an Naturwissenschaften, vor allem an Chemie
und Biologie, hatte ich schon immer, was neben dem Sport in der Familie auch
immer eine große Rolle spielte. In der Schule hatte ich Chemie als Neigungsfach
gewählt und darin meine schriftliche Abiturprüfung abgelegt. Nach dem Abitur habe
ich erstmal eine Zeit in den USA verbracht. Eine echt ganz tolle Erfahrung, die ich
auch jedem empfehlen würde, entweder vor dem Studium oder auch währenddessen
als Auslandssemester. Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, die Bachelorarbeit
oder Masterarbeit im Ausland anzufertigen. Nach meinem Aufenthalt im Ausland war
für mich klar, dass ich einen Studiengang wählen möchte, der in Englisch ist. Ich
habe dann den Studiengang in Reutlingen entdeckt. Die Puzzleteile haben sich hier
für mich zusammengesetzt: ein Chemiestudium auf Englisch mit der Aussicht oder
der Option auf einen Job im medizinischen Bereich.
"Oje, Chemie und dann auch noch auf Englisch", das habe ich des Öfteren gehört,
wenn ich erzählt habe, was ich mache. Ich denke, das Wichtigste, was man für solch
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ein Studium mitbringen muss, ist Interesse am Thema und Neugierde. Im Nachhinein
betrachtet war die Wahl eines englischsprachigen Studienganges sehr gut. Die
Wissenschaftssprache ist nun mal Englisch und somit ist es von enormem Vorteil,
wenn man damit früh anfängt. Ich kann meine Wissenschaft mittlerweile besser auf
Englisch als auf Deutsch beschreiben. Das liegt vor allem auch an der Situation im
Institut. Wir haben internationale Projektpartner, Gastwissenschaftler aus dem
Ausland und Angestellte aus aller Welt. Englisch ist somit absolut notwendig und
wird auch täglich benötigt.
Natürlich muss man während des Studiums auch durch Fächer, für die man sich
nicht unbedingt begeistern kann. Das waren bei mir zum Beispiel Physik und
physikalische Chemie. Aber wo ein Wille da ein Weg! Ich denke zu erfahren oder
herauszufinden, was man definitiv nicht machen möchte oder was man eben absolut
nicht mag, ist ein ganz wichtiger Schritt bei der Klärung, was die richtige Ausrichtung
für einen ist. Wie bereits erwähnt ist das Feld der Chemie unheimlich weitläufig, da
muss man nicht alles mögen. Wer sich wirklich für das Fach Chemie oder
Naturwissenschaften im Allgemeinen interessiert, der wird sich auch durch die
unangenehmen Fächer durchboxen können. Ich erlebe es leider immer wieder, dass
Studenten unentschlossen sind und einfach nur studieren, dass man studiert hat.
Wenn man fragt, warum sie einen bestimmten Studiengang gewählt haben, dann
kommt als Antwort: "Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte" ider "Das hat sich
halt so ergeben". Ich denke nicht, dass das der richtige Weg ist. Ich habe das
Studium nicht nur mit viel Kaffee überlebt, sondern es war auch wichtig, ein klares
Ziel vor Augen zu haben, sonst wird es mit der Motivation manchmal ganz schön
schwer. Nur studieren, damit man studiert hat, ist definitiv nicht der Weg, der zur
Exzellenz führt.
Wer in den Bereich der Medizintechnik oder der regenerativen Medizin möchte, hat
außer dem Chemiestudium auch noch viele andere Möglichkeiten. Wie bereits
erwähnt ist das Gebiet interdisziplinär. Auch Physiker zum Beispiel sind involviert.
Bei uns am Institut beschäftigen die sich vor allem mit Fluidik oder
Bioreaktorentwicklung, Oberflächenphysik von Materialien oder mit den
unterschiedlichsten, ich nenn es mal "physikalischen Messtechniken zur Bildgebung"
für Analyse- oder Diagnosezwecke. Oder eben die Biologen, die sich mit der
Zellbiologie oder der Entwicklungsbiologie auseinandersetzen. Auch IT-ler finden ein
Plätzchen in der Medizintechnikbranche. Dann gibt es noch viele interdisziplinäre
Studiengänge wie Medizintechnik, Biomedical Engineering oder Biomedizinische
Wissenschaften. In diesen Studiengängen wird das Feld sehr breit vermittelt. Das
Schöne ist, dass man hier auch einen tollen Einblick in die Medizin selbst bekommt.
Nachteilig ist jedoch, dass aufgrund der vielen Themen die Tiefe in diesen fehlt. Hier
ist also Eigeninitiative gefragt. Mein Tipp: Sucht Euch das Themengebiet aus, das
Euch interessiert, und werdet darin Experte. In vielen, wenn nicht sogar in den
meisten Laboren gibt es die Möglichkeit, als Hilfswissenschaftler neben dem Studium
zu arbeiten. Bei uns arbeiten die sogenannten HiWis an den unterschiedlichsten
Projekten mit. Einerseits lässt sich auf diese Weise etwas Geld dazu verdienen, auf
der anderen Seite ist das auch eine optimale Chance, in unterschiedliche
Aufgabenbereiche und Themenfelder reinzuschnuppern. Man lernt die Wissenschaft
kennen und bekommt auch sehr schnell ein Gefühl dafür, was einem liegt und was
nicht. Ich kann nur raten, einfach mal anzufragen und diese Möglichkeit zu nutzen,
um sich zu orientieren.
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Kaum hat man sich für einen Studiengang entschieden und mit dem Bachelor
angefangen, steht schneller, als man schauen kann, die nächste Entscheidung vor
der Tür. Wie soll es nach dem Abschluss als Bachelor of Science weitergehen? In
der Chemie oder ich möchte fast behaupten in allen Naturwissenschaften darf mit
dem Bachelor nicht Schluss sein. Mit einem sechs- oder siebensemestrigen Studium
hat man die Grundlagen erlernt und etwas in die Szene einblicken können. Aber
tiefgründig ausgebildet oder gar spezialisiert ist man nach dem Bachelorstudium
nicht. Wer vorhat, nur einen Bachelor in Chemie zu machen, dem würde ich
empfehlen, erst gar kein Studium anzufangen, sondern direkt eine Ausbildung als
Chemielaborant oder als technischer Assistent zu machen. Denn der
Aufgabenbereich, den man als Bachelor of Science später bearbeiten wird, ist
derselbe wie der eines Laboranten, nur dass der Laborant nach 3 Jahren Ausbildung
bereits ausgiebige Erfahrung im Labor sammeln konnte, der Student jedoch nicht.
Ich habe auch schon viele Studenten erlebt, die nach dem Bachelorabschluss
aufhören wollten. Nachdem sie jedoch keinen Job gefunden haben, haben sie
entschlossen, doch ein Masterstudium anzuschließen. Zumindest in den
Naturwissenschaften gehören Bachelor und Master zusammen und ich empfehle
wirklich dringend, auch beides zu machen.
Ob der Master an der gleichen oder einer anderen Universität oder Hochschule
gemacht wird, bleibt jedem selbst überlassen. Viele Universitäten oder Hochschulen
bieten ihren eigenen Bachelorabsolventen eine Garantie auf einen Platz im
Masterstudium, was aber nicht bedeutet, dass man nicht auch wechseln kann.
Ähnlich wie im Bachelor schließt sich ans Ende des Studiums dann eine
Abschlussarbeit an. Über diese Arbeit kann man bereits einen Fuß in eine Firma
oder ein Forschungsinstitut bekommen. Von daher sollte man sich schon gut
überlegen, wo man die Arbeit anfertigen möchte, und sich frühzeitig um eine Stelle
kümmern. Mit einem Masterabschluss in Chemie ist ein Einstieg in ein Unternehmen
problemlos möglich. Je nach Firma können das auch bereits Projektleiterpositionen
sein.
Ob eine Promotion Sinn macht, ist wirklich im Einzelfall zu entscheiden und stark
abhängig von den Interessen, die man hat, und dem Arbeitsgebiet. Mit einem
Masterabschluss kann in Deutschland ein Promotionsverfahren begonnen werden. In
Ländern wie den USA oder auch Irland ist es typisch, die Promotion direkt nach dem
Bachelor zu beginnen. Im Schnitt geht diese dann aber auch zwei Jahre, also die
Zeit, die man bei uns den Master macht, länger. Mit der Promotion in Chemie kann
man mit drei bis vier Jahren rechnen, je nachdem wie gut die Arbeiten laufen und wie
intensiv man sich auch damit beschäftigt. Die Jahre der Promotion sind kein
Zuckerschlecken, von daher muss man sich das gut überlegen und ich würde jedem
auch raten, eine Promotion nur zu beginnen, wenn man absolut hinter dem Thema
steht.
Mit einem Doktortitel ändern sich natürlich die Tätigkeiten und die Erwartungen, die
an einen gestellt werden. Wenn ihr liebend gerne im Labor steht und Versuche
macht und pipettiert und ungern schreibt, dann ist es vielleicht sinnvoller, keine
Doktorarbeit anzuschließen. Als sogenannter Post-Doc, also in der Zeit nach der
Doktorarbeit, ist man durchaus noch im Labor tätig, jedoch läuft alles in die Richtung
Leitung einer eigenen Arbeitsgruppe oder Projektleitung, was die Zeit im Labor
immer weniger werden lässt. Dem einen gefällt die praktische Laborarbeit besser,
der andere möchte lieber Managementaufgaben übernehmen. Je nachdem was
einem besser liegt, empfiehlt es sich zu promovieren oder eben auch nicht.
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Vielleicht bietet es sich an dieser Stelle an, dass ich ein bisschen davon erzähle, was
ich so täglich mache, um einen Überblick zu geben, welche Aufgaben auf einen
warten, wenn man promoviert in der Forschung arbeitet.
Ich habe unterschiedliche Projekte, die von technischen Mitarbeitern,
Wissenschaftlern oder Studenten bearbeitet werden. In regelmäßigen Abständen
besprechen wir die erzielten Ergebnisse und legen das weitere Vorgehen fest. Die
Ergebnisse beziehungsweise der Stand des Projektes muss dann den
Projektpartnern kommuniziert und mit diesen diskutiert werden. Das Auswerten und
die Interpretation der Ergebnisse ist ebenfalls teilweise meine Aufgabe. Regelmäßig
müssen Zwischenberichte angefertigt und neue Erkenntnisse publiziert werden. Das
heißt, man meldet ein Patent an oder veröffentlicht die Ergebnisse in
wissenschaftlichen Zeitschriften. Beides bedeutet, viel zu recherchieren und auch
viel zu schreiben. Weitere Möglichkeiten, die Arbeiten der Wissenschaftswelt zur
Verfügung zu stellen, sind Präsentationen auf Konferenzen in Form eines Vortrags
oder eines Posters. Eine weitere Aufgabe ist die Betreuung und Anleitung von
Studenten, die ihre Bachelor-, Master-, Studien- oder Doktorarbeit anfertigen. Zudem
müssen immer wieder neue Projekte akquiriert werden. Dafür ist es notwendig,
Forschungsanträge zu schreiben, in denen das geplante Vorhaben ausführlich
dargestellt wird. Zuerst muss natürlich eine Idee für ein Forschungsvorhaben
vorhanden sein oder generiert werden, sowie die passenden Partner gefunden
werden. Hier kann man wirklich kreativ werden. Im nächsten Schritt vor
Antragstellung muss das Projekt kalkuliert und zeitlich geplant werden. Zudem
müssen Patent- und Marktanalysen durchgeführt werden. Das ist nur ein kleiner
Auszug der täglichen Arbeit, aber wie man sich nun vorstellen kann, bleibt nicht mehr
viel Zeit, sich der Laborarbeit zu widmen. Mir macht es jedenfalls Spaß und ich
denke, dass es wirklich wichtig ist, das über seinen Beruf sagen zu können.
Ich habe nun viel über unterschiedliche Branchen und Tätigkeiten gesprochen. Zum
Abschluss möchte ich noch kurz auf die unterschiedlichen Arbeitgeber eingehen. Es
besteht die Möglichkeit, nach dem Studium in einer Firma anzufangen, also in die
Industrie zu gehen. Vor allem die Medizintechnikbrache ist in der süddeutschen
Gegend sehr stark vertreten und es gibt viele attraktive Arbeitgeber. Eine andere
Möglichkeit besteht darin, an der Universität zu bleiben und hier Forschung zu
betreiben. Im Vergleich zur Industrie wird man hier nach Tarif bezahlt, was in der
Regel weniger ist als in der freien Wirtschaft. Auf der anderen Seite hat man an der
Universität mehr Freiheiten, vor allem was die Forschung angeht. Beides hat Vorund Nachteile und die Arbeitsweise ist sehr unterschiedlich. Daher muss jeder für
sich selbst rausfinden, was sein Ding ist.
Eine dritte Möglichkeit besteht darin, an ein Forschungsinstitut zu gehen. Auch hier
hat man enorme Freiheiten, was die Forschung angeht, und man kann sich sehr gut
selbst verwirklichen. Auch unter den Forschungsinstituten gibt es Unterschiede. Die
Grundlagenforschung wird beispielsweise intensiv vom Max-Planck-Institut
betrieben. Das Fraunhofer-Institut hingegen fokussiert eher auf die angewandte
Forschung. Hier besteht auch ein sehr naher Kontakt zur Industrie. Am FraunhoferInstitut machen wir vor allem Auftragsforschung für Industriekunden. Eine
Projektpartnerin aus den USA, die in der Industrie gearbeitet hat und jetzt an einer
Universität als Professorin tätig ist, hat erst kürzlich zu mir gesagt: "Das Schöne
daran, eine eigene Gruppe an der Universität oder einem Forschungsinstitut zu
haben ist, dass man das Gefühl hat, als führe man ein eigenes kleines
Unternehmen." Wie diese Aussage zustande kommt? Man beantragt Geld für
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Projekte oder Projektideen, die man sich hat selbst einfallen lassen, man leitet das
Projekt und verwaltet das Geld. Stellt jemanden ein und ist auch für die
Weiterfinanzierung dieser Personen verantwortlich. Ob Forschungsinstitut oder
Universität, an beiden Institutionen besteht natürlich auch die Möglichkeit, eine
eigene Firma zu gründen und somit selbstständig zu werden.
Ich hoffe, ich konnte mit diesem kurzen Abriss einen kleinen Einblick in das Leben
eines Chemikers in der regenerative Medizin und dem Tissue Engineering geben.
Das Gebiet ist spannend und abwechslungsreich und es gibt noch viel zu erforschen.
Langweilig wird es einem als Wissenschaftler also ganz sicher nicht. Wie gesagt, ein
Interesse muss bestehen, wenn das da ist, würde ich mich freuen, den ein oder
anderen bald als Kollegen begrüßen zu dürfen.
Svenja Hinderer studierte von 2005 bis 2010 Angewandte Chemie an der
Hochschule Reutlingen. Anschließend promovierte sie und ist seit 2014 bei der
Fraunhofer IGB als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Dort ist sie seit Juli 2015
auch Gruppenleiterin.
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