SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Aula Der Studienkompass (5/11): Chemie / Tissue Engineering Von Svenja Hinderer Sendung: Montag, 16. Mai 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Aula können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml Die Manuskripte von SWR2 Aula gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Aula sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 1 Ansage: Mit dem Thema: „Der Studienkompass, Folge 5: Chemie“ Wir bringen in der SWR2 Aula eine Reihe, gedacht für Schülerinnen und Schüler, die das Abitur hinter sich haben und die sich nun fragen: Was kommt jetzt? Was soll ich, wenn es auf die Universität geht, studieren? Wir wollen bei der Beantwortung dieser Frage helfen. Elf Aula-Autorinnen und -Autoren geben jeweils Auskunft über ihr Fach, zeigen, was man mitbringen muss, um es zu studieren, was man mit dem Bachelor oder Master anfangen kann, wie das Studium genau aufgebaut ist. Es geht um Grundlagenfächer, um Mathematik, Germanistik oder, wie heute, um Chemie. Alle Vorträge sind seit Ende April auch online erhältlich. Infos dazu finden Sie auf der Internetseite swr2.de/studienkompass. Heute also geht es um die Chemie und um Dr. Svenje Hinderer, Materialwissenschaftlerin, Chemikerin am Fraunhofer Institut Stuttgart. Svenja Hinderer: Mein Name ist Svenja Hinderer und ich bin Gruppenleiterin und stellvertretende Abteilungsleiterin am Fraunhofer Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik in der Abteilung Zell- und Tissue Engineering. Zusammen mit Biologen, Ingenieuren, Medizinern, Verfahrenstechnikern und Physikern arbeite ich als Chemikerin an Implantaten und Testsystemen für den Einsatz in der regenerativen Medizin. Trotz des enormen Regenerationspotenzials des menschlichen Körpers kann die vollständige Funktion der Organe oder Gewebe nach Schädigung oft nicht wieder hergestellt werden. Entsteht eine kleine Schädigung oder Verletzung, ist der Körper durchaus in der Lage, diese selbst zu heilen. Bei größeren Verletzungen – beispielsweise aufgrund eines Unfalls oder als Folge einer Erkrankung – kommt das Regenerationspotenzial des Körpers jedoch an seine Grenzen. Es sind also Lösungen oder Implantate gefragt, die es ermöglichen, das geschädigte Organ zu unterstützen, es zur Regeneration anzuregen oder es gar komplett zu ersetzen. Heutzutage gibt es viele Implantate wie zum Beispiel künstliche Gelenke, Zähne, Blutgefäße oder Herzklappen, die in den Körper eingesetzt werden. Jedoch haben diese alle auch Nachteile, denn sie werden im Körper als fremd angesehen und können somit nicht voll funktional in den Körper integrieren. Häufig kommt es zu starken Entzündungen, Immunreaktionen, Abnutzungen des Materials und im schlimmsten Fall stößt der Körper das Material komplett ab. Am besten eignen sich Spenderorgane als Ersatz, jedoch gibt es davon nicht genug und viele Patienten sterben, bevor ein geeignetes Spenderorgan gefunden wird. Ein weiterer Nachteil der bisher eingesetzten Implantate ist, dass keines im Kindeskörper mitwächst. Das bedeutet, dass das Implantat immer wieder durch aufwendige Operationen ausgetauscht werden muss. Und genau hier setzt unsere Forschung an. Wir wollen Materialien und Ersatzsysteme entwickeln, die funktional sind und somit eine Langzeitlösung 2 darstellen. Ein Ansatz ist das sogenannte Tissue Engineering – die Gewebezucht. Das Prinzip des Tissue Engineerings möchte ich im Folgenden kurz erklären. Dem Patienten wird eine Biopsie des gesunden Gewebes entnommen, aus welcher dann die darin enthaltenen Zellen isoliert werden. Diese Zellen werden im Labor so kultiviert, dass sie sich vermehren. Sobald eine bestimmte Anzahl an Zellen vorhanden ist, werden diese auf dreidimensionale faserförmige oder poröse Materialien, die sogenannten Trägersubstrate aufgebracht und dann entweder statisch im Reagenzglas oder dynamisch in speziell entwickelten Bioreaktoren kultiviert. Das neu-gezüchtete Gewebe kann nun dem Patienten an die defekte Stelle implantiert werden und mit dem umliegenden Gewebe verwachsen. Der große Vorteil gegenüber herkömmlichen Implantaten: Der Patient erhält ein Implantat aus seinen eigenen Zellen, welches vom Körper nicht als Fremdkörper angesehen wird. Bisher gibt es jedoch noch nicht viele tissue-engineerte Produkte auf dem Markt. Das bekannteste ist der Ersatz des Knorpels im Knie nach einem Unfall. Ein Stück des noch gesunden Knorpels wird entnommen, aus welchem dann die Zellen isoliert, angezüchtet und auf ein schwammartiges Trägersubstrat ausgesät werden. Nach Kultur im Labor wird dann das neue Gewebe an die defekte Stelle implantiert. Optimierungs- und Forschungsbedarf gibt es hier auf jeden Fall noch jede Menge. Was sind die optimalen Kulturbedingungen? Ist vielleicht eine dynamische Kultur in Bioreaktoren unter definierten mechanischen Beanspruchungen besser? Und wenn ja, welches sind die richtigen Parameter, die die Zellen brauchen, damit sie ihre Funktion erfüllen? Was für ein Material soll als Trägersubstrat verwendet werden und wie stellt man ein Trägersubstrat her, das den Zellen die optimale Umgebung liefert? Fragen über Fragen, von deren Beantwortung wir teilweise noch weit entfernt sind. Als Chemikerin beschäftige ich mich mit der Materialentwicklung, Materialoptimierung und Materialmodifikation. Je nach Organ sind die Anforderungen an ein Material oder Trägersubstrat sehr unterschiedlich. Ein Knochenmaterial muss hart sein, sehr porös und nicht verformbar. Ein Blutgefäß hingegen sollte nicht starr, sondern biegbar beziehungsweise elastisch sein und darf keine Flüssigkeit durchlassen. Zudem sollte es dem Blutdruck standhalten. Ich verwende unter anderem eine Methode namens Elektrospinning, um faserförmige Trägersubstrate herzustellen. Mittels einer Spannung von zehn- bis dreißigtausend Volt können synthetische Polymere oder natürliche, im Körper vorkommende Proteine aus einer Lösung zu hauchdünnen Fasermatten versponnen werden. Trägersubstrate können aber auch aus Hydrogelen gefertigt werden oder mittels eines 3D-Druckers direkt gedruckt werden. Egal welches Verfahren man verwendet, es ist wichtig, dass das daraus entstandene Trägersubstrat biokompatibel ist. Es muss also verträglich mit dem Körper sein und darf keine toxischen oder gar erbgutverändernden Eigenschaften haben. Für die spätere Zulassung als Medizinprodukt muss diese Unbedenklichkeit auch nachgewiesen werden. Es ist wirklich sehr faszinierend, was bereits kleine Veränderungen am Material für Auswirkungen auf das Verhalten von Zellen haben kann, die man ja für den Tissue Engineering-Ansatz auf diesen Materialien wachsen sollen und sich heimisch fühlen müssen. Doch nicht aus jedem Organ können so einfach Biopsien für die Gewinnung von Zellen genommen werden. Nehmen wir das Beispiel Herzmuskel. Bei einem Defekt kann nicht einfach ein Stück des Herzens entfernt werden, um Zellen zu isolieren 3 und anzuzüchten. In diesem Fall kann auf patienteneigene Stammzellen aus beispielsweise dem Knochenmark oder dem Fett zurückgegriffen werden. Stammzellen haben noch das Potenzial, sich in unterschiedliche Gewebezellen zu entwickeln. So kann aus einer Stammzelle aus dem Knochenmark eine Knochenzelle, aber auch eine Fettzelle oder gar eine Knorpelzelle werden. Die Herausforderung hinsichtlich des Tissue Engineerings ist es jedoch, ein Material oder eine Materialkombination zu generieren, welche die Stammzellen zu den gewünschten gewebespezifischen Zellen reifen lässt. Neben tissue-enginieerten Ersatzmaterialien fokussieren wir auch auf Materialien, die zur Regeneration beitragen können. Diesen Ansatz möchte ich beispielhaft am Herzen erklären. Nach einem Herzinfarkt zum Beispiel ist ein Teil des Herzmuskels geschädigt, was die Leistung des gesamten Herzens beeinflusst. Es ist sozusagen eine Art Narbe am Herzen entstanden, die schlichtweg nicht mehr pumpt. Die volle Funktionalität des Narbengewebes kann durch den Körper alleine auch nicht mehr hergestellt werden. Es wurden bereits einige Moleküle wie Proteine, Wachstumsfaktoren oder auch Wirkstoffe oder Stammzellen identifiziert, die eine Regeneration des geschädigten Teils des Herzmuskels bewirken. Aber wie fixiert man diese Moleküle im Infarktbereich, so dass sie nicht direkt mit dem nächsten Herzschlag ausgewaschen werden? – Sogenannte Drug Release Systeme, also Medikamente freisetzende Materialien, können dafür eine Lösung sein. In einem Material, das sich im Körper abbauen kann, werden Moleküle verkapselt. Diese werden dann über einen bestimmten Zeitraum im Körper freigesetzt und unterstützen dadurch die Regeneration. Diese Wiederherstellung des defekten Herzmuskelgewebes ist auch das Ziel eines großen EU-Projektes, in dem ich involviert bin. Im sogenannten AMCARE-Projekt arbeiten zehn europäische Partner, darunter das Fraunhofer IGB, an der Entwicklung von Materialien zur Regeneration des Herzmuskels nach einem Herzinfarkt. Ein Cardiogel, das in den Muskel gespritzt werden kann, für den Innenwandinfarkt und ein Cardiopatch, der wie eine Membran auf das Herz nach einem Außenwandinfarkt aufgebracht werden kann. Cardiopatch und auch Cardiogel sollen beide mit spezifischen Molekülen ausgestattet sein, die langsam freigesetzt werden und somit die volle Funktionalität des Herzmuskels wieder herstellen. Neben den Implantaten forschen wir auch an Testsystemen auf menschlicher Basis. Dafür bauen wir im Reagenzglas ein menschliches Gewebe, wie beim Tissue Engineering, aus speziellen Materialien und menschlichen Zellen aus Biopsien, auf. Dieses Gewebe kann nun verwendet werden, um Medikamente zu testen oder an Krankheiten zu forschen. Das Tolle an der Sache ist, dass diese Systeme in Zukunft einmal Tierversuche ersetzen können. Viele Wirkstoffe werden heutzutage an Tieren getestet, was zwei große Nachteile hat. Zum einen sind Ergebnisse aus dem Tier nicht immer zu 100 % auf den Menschen übertragbar und zum anderen müssen dafür viele Tiere ihr Leben lassen. Ich möchte das Prinzip des tissue-engineerten Testsystems kurz an einem Beispiel, nämlich der Haut erklären. Aus einer Hautbiopsie können Zellen gewonnen und mittels eines geeigneten Materials zu einem Hautmodel gezüchtet werden. Dieses Modell kann nun verletzt oder mit einem Erreger infiziert und diese Verletzung oder Infektion mit Medikamenten behandelt werden. Die Wirksamkeit von Medikamenten oder Kosmetika, aber auch medizinische Prozesse wie Wundheilung können somit an solchen menschlichen Systemen untersucht werden. Ein ganz aktuelles Thema, 4 an dem gerade gearbeitet wird ist das Einbringen von Blutgefäßen in Modelle und Implantate, die das Organ oder Gewebe mit Nährstoffen versorgen können. Denn das Fehlen dieser Blutgefäße ist eine der größten Limitation von tissue-engineerten Implantaten und Testsystemen. Testsysteme oder Organmodelle haben ein sehr sehr großes Potenzial, jedoch sind sie zum Großteil noch in den Kinderschuhen und noch viel Forschung ist nötig, um irgendwann einmal auch komplexere Organe wie ein ganzes Herz oder die ganze Leber nachbauen zu können. Ein großer Traum in dieser Szene ist auch die Kopplung oder Reihenschaltung von mehreren Organen, so dass es eines Tages möglich ist, komplett auf das Tier verzichten zu können. Ich gebe zu, das klingt sehr visionär, aber es ist nicht unmöglich. Solche Visionen oder Ziele sind ein wichtiger Bestandteil eines Wissenschaftlers, denn genau solche Ziele motivieren einen trotz des einen oder anderen Rückschlags weiter zu machen und immer wieder aufzustehen. Wenn man nicht weiß, wo man hinmöchte, trottet man schlicht vor sich hin und man tut sich nicht nur in der Wissenschaft, sondern generell in der Arbeitswelt schwer. Ein weiterer großer Motivator für meine Arbeit ist, dass wir mit unserer Forschung einen Beitrag dazu leisten können, die Lebensqualität der betroffenen Patienten zu verbessern. Neben den gesellschaftlichen Gesundheitsproblemen, die man angeht, motiviert mich auch die Vielfältigkeit der Projekte, die wir bearbeiten. Langweilig wird einem ganz sicher nicht und man lernt auch ständig neues dazu. Das macht wirklich Spaß und Spaß an der Arbeit ist das A und O. Ich habe mich in meiner Forschung auf die Materialentwicklung und Materialmodifikation spezialisiert. Studiert habe ich Angewandte Chemie an der Hochschule Reutlingen. Meine Promotion habe ich an der Universität Stuttgart am Institut für Grenzflächenverfahrenstechnik und Plasmatechnologie durchgeführt. Im Rahmen des Chemiestudiums beschäftigt man sich natürlich auch mit vielen Themen, die teilweise sehr weit weg sind von dem, was ich jetzt mache, was aber nicht bedeutet, dass diese weniger interessant sind. Was ich damit sagen möchte ist eher, dass man mit einem Chemiestudium sehr viele Möglichkeiten in der Forschung oder der Industrie hat. Fast überall spielt die Chemie eine Rolle. In der Medizintechnik, in sämtlichen Zweigen der Automobilindustrie, in der Pharma- und Lebensmittelindustrie, in der Kosmetikbranche, in der Umwelttechnik und natürlich auch in der klassischen chemischen Industrie, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und genau das macht dieses Feld auch so spannend. Es ist sehr interessant zu sehen, was alles möglich ist. Wenn ich mich mal unter meinen ehemaligen Studienkollegen umschaue, macht wirklich jeder etwas anderes und jeder ist in einer anderen Branche tätig. Auch innerhalb einer Branche gibt es die unterschiedlichsten Möglichkeiten, als Chemiker oder Chemikerin tätig zu sein. Ich entwickle dreidimensionale Materialien, die als Implantate oder Testsysteme dienen und mit dem Körper und dem Gewebe interagieren. Andere Chemiker in der Medizintechnikbranche beschäftigen sich mit der Synthese neuer Kunststoffe oder neuer Metalllegierungen für sämtliche Medizinprodukte. Dazu zählen nicht nur Implantate, sondern auch Spritzen, Blutbeutel, OP-Besteck oder Krankenbetten. Eine andere Möglichkeit als Chemiker in der Medizintechnik ist die Entwicklung von Diagnose- oder Messtechniken auf Basis von beispielsweise unterschiedlichen Spektroskopiearten. Auch in der Produktion von Medizinprodukten sind Chemiker gefragt. Hierzu zählen Tätigkeiten wie Qualitätskontrolle, Durchführung von 5 Analysen, Up-scaling von Laborprozessen um großtechnisch produzieren zu können, Management und/ oder Aufbereitung von Abfällen und Abwässern sowie die Gewährleistung der Sicherheit im Betrieb. Ich könnte diese Auflistung nun unglaublich lange weiterführen – kurz gesagt, der Beruf „Chemiker“ ist extrem vielseitig. Im Studium der Chemie lernt man die Grundlagen der organischen und anorganischen Chemie, der physikalischen Chemie, der Polymerchemie und auch der Analytik; für die spätere Spezialisierung ist jeder selbst verantwortlich. Und diese Spezialisierung ist sehr wichtig. Man wird später nie alles brauchen, was man im Studium lernt, aber in dem, was man braucht, sollte man Experte sein. Natürlich müssen im Grundstudium auch Grundlagen über die Chemie heraus gelernt und gelehrt werden. Fächer wie Mathematik, Physik und Statistik bleiben auch einem Chemiker nicht erspart und müssen als Nebenfächer belegt werden. Es gibt noch viele weitere Fächer, die belegt werden müssen, diese variieren jedoch von Universität zu Universität oder von Hochschule zu Hochschule. Neben den, ich nenne sie mal „chemie-nahen“, Fächern wie Toxikologie und Sicherheit, Umwelttechnologie, Verfahrenstechnik, Qualitätsmanagement und Biochemie gibt es auch Nebenfächer, die über die Chemie hinausgehen und sehr hilfreich und nützlich für das spätere Überleben in der Arbeitswelt sein können. Hierzu zählen Fächer wie Englisch, Projektmanagement, BWL und Marketing. Weitere Vertiefungen waren in meinem Studiengang dann zum Beispiel in der Biotechnologie und in der Polymerchemie möglich. Einige Studiengänge bieten heutzutage auch Nebenfächer oder Vertiefungen wie Biomaterialien oder Medizintechnik. Ein sehr spannender Bestandteil des Chemiestudiums sind die Laborpraktika. Hier lernt man nicht nur die Basics der Laborarbeit wie Pipettieren, sondern es werden einem auch einige Dinge, die man zuvor in den Vorlesungen gehört hat, auf einmal ganz klar. Die Theorie wird also greifbar, und das hat mir persönlich das Lernen wirklich erleichtert. Hier ist meist auch ein Unterschied zwischen einer Hochschule und einer Universität. Der Umfang der Laborpraktika ist an Hochschulen in der Regel größer. Ich werde oft gefragt, wie ich darauf gekommen bin, Chemie zu studieren. Als Kind oder auch als Jugendliche wollte ich immer Ärztin werden, wobei ich dabei immer geschwankt habe zwischen Tierärztin oder Humanmedizinerin. Die Zulassungskriterien für ein Medizinstudium waren jedoch nicht einfach zu erfüllen und warten wollte ich nicht. Interesse an Naturwissenschaften, vor allem an Chemie und Biologie, hatte ich schon immer, was neben dem Sport in der Familie auch immer eine große Rolle spielte. In der Schule hatte ich Chemie als Neigungsfach gewählt und darin meine schriftliche Abiturprüfung abgelegt. Nach dem Abitur habe ich erstmal eine Zeit in den USA verbracht. Eine echt ganz tolle Erfahrung, die ich auch jedem empfehlen würde, entweder vor dem Studium oder auch währenddessen als Auslandssemester. Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, die Bachelorarbeit oder Masterarbeit im Ausland anzufertigen. Nach meinem Aufenthalt im Ausland war für mich klar, dass ich einen Studiengang wählen möchte, der in Englisch ist. Ich habe dann den Studiengang in Reutlingen entdeckt. Die Puzzleteile haben sich hier für mich zusammengesetzt: ein Chemiestudium auf Englisch mit der Aussicht oder der Option auf einen Job im medizinischen Bereich. "Oje, Chemie und dann auch noch auf Englisch", das habe ich des Öfteren gehört, wenn ich erzählt habe, was ich mache. Ich denke, das Wichtigste, was man für solch 6 ein Studium mitbringen muss, ist Interesse am Thema und Neugierde. Im Nachhinein betrachtet war die Wahl eines englischsprachigen Studienganges sehr gut. Die Wissenschaftssprache ist nun mal Englisch und somit ist es von enormem Vorteil, wenn man damit früh anfängt. Ich kann meine Wissenschaft mittlerweile besser auf Englisch als auf Deutsch beschreiben. Das liegt vor allem auch an der Situation im Institut. Wir haben internationale Projektpartner, Gastwissenschaftler aus dem Ausland und Angestellte aus aller Welt. Englisch ist somit absolut notwendig und wird auch täglich benötigt. Natürlich muss man während des Studiums auch durch Fächer, für die man sich nicht unbedingt begeistern kann. Das waren bei mir zum Beispiel Physik und physikalische Chemie. Aber wo ein Wille da ein Weg! Ich denke zu erfahren oder herauszufinden, was man definitiv nicht machen möchte oder was man eben absolut nicht mag, ist ein ganz wichtiger Schritt bei der Klärung, was die richtige Ausrichtung für einen ist. Wie bereits erwähnt ist das Feld der Chemie unheimlich weitläufig, da muss man nicht alles mögen. Wer sich wirklich für das Fach Chemie oder Naturwissenschaften im Allgemeinen interessiert, der wird sich auch durch die unangenehmen Fächer durchboxen können. Ich erlebe es leider immer wieder, dass Studenten unentschlossen sind und einfach nur studieren, dass man studiert hat. Wenn man fragt, warum sie einen bestimmten Studiengang gewählt haben, dann kommt als Antwort: "Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte" ider "Das hat sich halt so ergeben". Ich denke nicht, dass das der richtige Weg ist. Ich habe das Studium nicht nur mit viel Kaffee überlebt, sondern es war auch wichtig, ein klares Ziel vor Augen zu haben, sonst wird es mit der Motivation manchmal ganz schön schwer. Nur studieren, damit man studiert hat, ist definitiv nicht der Weg, der zur Exzellenz führt. Wer in den Bereich der Medizintechnik oder der regenerativen Medizin möchte, hat außer dem Chemiestudium auch noch viele andere Möglichkeiten. Wie bereits erwähnt ist das Gebiet interdisziplinär. Auch Physiker zum Beispiel sind involviert. Bei uns am Institut beschäftigen die sich vor allem mit Fluidik oder Bioreaktorentwicklung, Oberflächenphysik von Materialien oder mit den unterschiedlichsten, ich nenn es mal "physikalischen Messtechniken zur Bildgebung" für Analyse- oder Diagnosezwecke. Oder eben die Biologen, die sich mit der Zellbiologie oder der Entwicklungsbiologie auseinandersetzen. Auch IT-ler finden ein Plätzchen in der Medizintechnikbranche. Dann gibt es noch viele interdisziplinäre Studiengänge wie Medizintechnik, Biomedical Engineering oder Biomedizinische Wissenschaften. In diesen Studiengängen wird das Feld sehr breit vermittelt. Das Schöne ist, dass man hier auch einen tollen Einblick in die Medizin selbst bekommt. Nachteilig ist jedoch, dass aufgrund der vielen Themen die Tiefe in diesen fehlt. Hier ist also Eigeninitiative gefragt. Mein Tipp: Sucht Euch das Themengebiet aus, das Euch interessiert, und werdet darin Experte. In vielen, wenn nicht sogar in den meisten Laboren gibt es die Möglichkeit, als Hilfswissenschaftler neben dem Studium zu arbeiten. Bei uns arbeiten die sogenannten HiWis an den unterschiedlichsten Projekten mit. Einerseits lässt sich auf diese Weise etwas Geld dazu verdienen, auf der anderen Seite ist das auch eine optimale Chance, in unterschiedliche Aufgabenbereiche und Themenfelder reinzuschnuppern. Man lernt die Wissenschaft kennen und bekommt auch sehr schnell ein Gefühl dafür, was einem liegt und was nicht. Ich kann nur raten, einfach mal anzufragen und diese Möglichkeit zu nutzen, um sich zu orientieren. 7 Kaum hat man sich für einen Studiengang entschieden und mit dem Bachelor angefangen, steht schneller, als man schauen kann, die nächste Entscheidung vor der Tür. Wie soll es nach dem Abschluss als Bachelor of Science weitergehen? In der Chemie oder ich möchte fast behaupten in allen Naturwissenschaften darf mit dem Bachelor nicht Schluss sein. Mit einem sechs- oder siebensemestrigen Studium hat man die Grundlagen erlernt und etwas in die Szene einblicken können. Aber tiefgründig ausgebildet oder gar spezialisiert ist man nach dem Bachelorstudium nicht. Wer vorhat, nur einen Bachelor in Chemie zu machen, dem würde ich empfehlen, erst gar kein Studium anzufangen, sondern direkt eine Ausbildung als Chemielaborant oder als technischer Assistent zu machen. Denn der Aufgabenbereich, den man als Bachelor of Science später bearbeiten wird, ist derselbe wie der eines Laboranten, nur dass der Laborant nach 3 Jahren Ausbildung bereits ausgiebige Erfahrung im Labor sammeln konnte, der Student jedoch nicht. Ich habe auch schon viele Studenten erlebt, die nach dem Bachelorabschluss aufhören wollten. Nachdem sie jedoch keinen Job gefunden haben, haben sie entschlossen, doch ein Masterstudium anzuschließen. Zumindest in den Naturwissenschaften gehören Bachelor und Master zusammen und ich empfehle wirklich dringend, auch beides zu machen. Ob der Master an der gleichen oder einer anderen Universität oder Hochschule gemacht wird, bleibt jedem selbst überlassen. Viele Universitäten oder Hochschulen bieten ihren eigenen Bachelorabsolventen eine Garantie auf einen Platz im Masterstudium, was aber nicht bedeutet, dass man nicht auch wechseln kann. Ähnlich wie im Bachelor schließt sich ans Ende des Studiums dann eine Abschlussarbeit an. Über diese Arbeit kann man bereits einen Fuß in eine Firma oder ein Forschungsinstitut bekommen. Von daher sollte man sich schon gut überlegen, wo man die Arbeit anfertigen möchte, und sich frühzeitig um eine Stelle kümmern. Mit einem Masterabschluss in Chemie ist ein Einstieg in ein Unternehmen problemlos möglich. Je nach Firma können das auch bereits Projektleiterpositionen sein. Ob eine Promotion Sinn macht, ist wirklich im Einzelfall zu entscheiden und stark abhängig von den Interessen, die man hat, und dem Arbeitsgebiet. Mit einem Masterabschluss kann in Deutschland ein Promotionsverfahren begonnen werden. In Ländern wie den USA oder auch Irland ist es typisch, die Promotion direkt nach dem Bachelor zu beginnen. Im Schnitt geht diese dann aber auch zwei Jahre, also die Zeit, die man bei uns den Master macht, länger. Mit der Promotion in Chemie kann man mit drei bis vier Jahren rechnen, je nachdem wie gut die Arbeiten laufen und wie intensiv man sich auch damit beschäftigt. Die Jahre der Promotion sind kein Zuckerschlecken, von daher muss man sich das gut überlegen und ich würde jedem auch raten, eine Promotion nur zu beginnen, wenn man absolut hinter dem Thema steht. Mit einem Doktortitel ändern sich natürlich die Tätigkeiten und die Erwartungen, die an einen gestellt werden. Wenn ihr liebend gerne im Labor steht und Versuche macht und pipettiert und ungern schreibt, dann ist es vielleicht sinnvoller, keine Doktorarbeit anzuschließen. Als sogenannter Post-Doc, also in der Zeit nach der Doktorarbeit, ist man durchaus noch im Labor tätig, jedoch läuft alles in die Richtung Leitung einer eigenen Arbeitsgruppe oder Projektleitung, was die Zeit im Labor immer weniger werden lässt. Dem einen gefällt die praktische Laborarbeit besser, der andere möchte lieber Managementaufgaben übernehmen. Je nachdem was einem besser liegt, empfiehlt es sich zu promovieren oder eben auch nicht. 8 Vielleicht bietet es sich an dieser Stelle an, dass ich ein bisschen davon erzähle, was ich so täglich mache, um einen Überblick zu geben, welche Aufgaben auf einen warten, wenn man promoviert in der Forschung arbeitet. Ich habe unterschiedliche Projekte, die von technischen Mitarbeitern, Wissenschaftlern oder Studenten bearbeitet werden. In regelmäßigen Abständen besprechen wir die erzielten Ergebnisse und legen das weitere Vorgehen fest. Die Ergebnisse beziehungsweise der Stand des Projektes muss dann den Projektpartnern kommuniziert und mit diesen diskutiert werden. Das Auswerten und die Interpretation der Ergebnisse ist ebenfalls teilweise meine Aufgabe. Regelmäßig müssen Zwischenberichte angefertigt und neue Erkenntnisse publiziert werden. Das heißt, man meldet ein Patent an oder veröffentlicht die Ergebnisse in wissenschaftlichen Zeitschriften. Beides bedeutet, viel zu recherchieren und auch viel zu schreiben. Weitere Möglichkeiten, die Arbeiten der Wissenschaftswelt zur Verfügung zu stellen, sind Präsentationen auf Konferenzen in Form eines Vortrags oder eines Posters. Eine weitere Aufgabe ist die Betreuung und Anleitung von Studenten, die ihre Bachelor-, Master-, Studien- oder Doktorarbeit anfertigen. Zudem müssen immer wieder neue Projekte akquiriert werden. Dafür ist es notwendig, Forschungsanträge zu schreiben, in denen das geplante Vorhaben ausführlich dargestellt wird. Zuerst muss natürlich eine Idee für ein Forschungsvorhaben vorhanden sein oder generiert werden, sowie die passenden Partner gefunden werden. Hier kann man wirklich kreativ werden. Im nächsten Schritt vor Antragstellung muss das Projekt kalkuliert und zeitlich geplant werden. Zudem müssen Patent- und Marktanalysen durchgeführt werden. Das ist nur ein kleiner Auszug der täglichen Arbeit, aber wie man sich nun vorstellen kann, bleibt nicht mehr viel Zeit, sich der Laborarbeit zu widmen. Mir macht es jedenfalls Spaß und ich denke, dass es wirklich wichtig ist, das über seinen Beruf sagen zu können. Ich habe nun viel über unterschiedliche Branchen und Tätigkeiten gesprochen. Zum Abschluss möchte ich noch kurz auf die unterschiedlichen Arbeitgeber eingehen. Es besteht die Möglichkeit, nach dem Studium in einer Firma anzufangen, also in die Industrie zu gehen. Vor allem die Medizintechnikbrache ist in der süddeutschen Gegend sehr stark vertreten und es gibt viele attraktive Arbeitgeber. Eine andere Möglichkeit besteht darin, an der Universität zu bleiben und hier Forschung zu betreiben. Im Vergleich zur Industrie wird man hier nach Tarif bezahlt, was in der Regel weniger ist als in der freien Wirtschaft. Auf der anderen Seite hat man an der Universität mehr Freiheiten, vor allem was die Forschung angeht. Beides hat Vorund Nachteile und die Arbeitsweise ist sehr unterschiedlich. Daher muss jeder für sich selbst rausfinden, was sein Ding ist. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, an ein Forschungsinstitut zu gehen. Auch hier hat man enorme Freiheiten, was die Forschung angeht, und man kann sich sehr gut selbst verwirklichen. Auch unter den Forschungsinstituten gibt es Unterschiede. Die Grundlagenforschung wird beispielsweise intensiv vom Max-Planck-Institut betrieben. Das Fraunhofer-Institut hingegen fokussiert eher auf die angewandte Forschung. Hier besteht auch ein sehr naher Kontakt zur Industrie. Am FraunhoferInstitut machen wir vor allem Auftragsforschung für Industriekunden. Eine Projektpartnerin aus den USA, die in der Industrie gearbeitet hat und jetzt an einer Universität als Professorin tätig ist, hat erst kürzlich zu mir gesagt: "Das Schöne daran, eine eigene Gruppe an der Universität oder einem Forschungsinstitut zu haben ist, dass man das Gefühl hat, als führe man ein eigenes kleines Unternehmen." Wie diese Aussage zustande kommt? Man beantragt Geld für 9 Projekte oder Projektideen, die man sich hat selbst einfallen lassen, man leitet das Projekt und verwaltet das Geld. Stellt jemanden ein und ist auch für die Weiterfinanzierung dieser Personen verantwortlich. Ob Forschungsinstitut oder Universität, an beiden Institutionen besteht natürlich auch die Möglichkeit, eine eigene Firma zu gründen und somit selbstständig zu werden. Ich hoffe, ich konnte mit diesem kurzen Abriss einen kleinen Einblick in das Leben eines Chemikers in der regenerative Medizin und dem Tissue Engineering geben. Das Gebiet ist spannend und abwechslungsreich und es gibt noch viel zu erforschen. Langweilig wird es einem als Wissenschaftler also ganz sicher nicht. Wie gesagt, ein Interesse muss bestehen, wenn das da ist, würde ich mich freuen, den ein oder anderen bald als Kollegen begrüßen zu dürfen. Svenja Hinderer studierte von 2005 bis 2010 Angewandte Chemie an der Hochschule Reutlingen. Anschließend promovierte sie und ist seit 2014 bei der Fraunhofer IGB als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Dort ist sie seit Juli 2015 auch Gruppenleiterin. 10
© Copyright 2025 ExpyDoc