Wummernde Bässe: Wie politisch ist elektronische Musik? Drei neue Alben zielen auf Utopien jenseits des Nachtlebens ▶ Seite 15 AUSGABE BERLIN | NR. 11011 | 18. WOCHE | 38. JAHRGANG FREITAG, 6. MAI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Noch mehr Macht für Erdoğan H EUTE I N DER TAZ Der Vogelkrimi NSU Drei Jahre nach Regierungschef Ahmet Davutoğlu gibt sein Amt auf TÜRKEI ISTANBUL dpa | Im Machtkampf mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gibt der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu seine Ämter als Partei- und Regierungschef auf. Davutoğlu kündigte am Donnerstag einen Sonderparteitag der AKP für Sonntag in zweieinhalb Wochen an, bei dem er nicht mehr für den Vorsitz der islamischkonservativen Partei kandidieren werde. Das heißt auch, dass Davutoğlu nicht mehr als Regierungschef weitermachen wird. Er werde seine Arbeit als Abgeordneter weiterführen, sagte er. Davutoğlu versuchte, den Eindruck zu zerstreuen, sein Rücktritt sei auf einen Konflikt mit Erdoğan zurückzuführen. „Seine Familienehre ist meine Fa mi lienehre.“ ▶ Schwerpunkt SEITE 3 ENERGIEWENDE Die Rotoren von Windrädern zerfetzen den Beginn des Prozesses stockt er erneut – vor allem wegen Anwälten, die der rechten Szene nahestehen ▶ SEITE 6 Rotmilan, eine geschützte Greifenart. Für Windkraftgegner ist er ein willkommener Grund, ihre Heimat von den hohen Masten frei zu halten. Windkraftbefürworter hingegen bekommen Morddrohungen. Eine Reportage aus Sachsen-Anhalt ▶ SEITE 4, 5 MEDIEN Die Süddeut- sche Zeitung bezeichnet die Gender Studies an Unis als „Unfug“. Eine Replik ▶ SEITE 18 BERLIN Nazidemo naht – Gegenbündnis mobilisiert ▶ SEITE 21 Fotos oben: dpa, Asha Mines Der Weg für Trump zur US-Wahl ist frei VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! WASHINGTON rtr | Der Milliardär Amerika, dich hasst sich’s besser, dichtete einst Goethe oder Goebbels, verbotenhat gerade keine Wikipedia zur Hand. Ist aber auch equal; denn nachdem eingetreten ist, was alle Experten für unmöglich hielten, dass nämlich Trump demnächst US-Präsident wird – gegen Hillary hätte, wenn by the rules geplayed worden wäre, ja sogar Bernie gewonnen –, haben die USA ihren Ruf als Land der unbegrenzten Möglichkeiten bestätigt. verboten ist aber vor allem froh, dass solche Bizarrheiten hierzulande unmöglich sind: Donald Trump hat seine letzten Rivalen um die Kandidatur der Republikaner aus dem Feld geschlagen. Nach dem haushohen Sieg des 69-Jährigen bei der Vorwahl in Indiana warfen die übrigen beiden von einst 16 Mitbewerbern das Handtuch. Damit läuft bei der Präsidentenwahl am 8. November alles auf ein Duell zwischen Trump und der Demokratin Hillary Clinton hinaus. Die frühere Außenministerin attackierte Trump, der auch bei Teilen der Republikaner wegen seiner polarisierenden Äußerungen umstritten ist. Sie bezeichnete Trump als „wandelndes Pulverfass“, das jederzeit explodieren könne. ▶ Der Tag SEITE 2, ▶ Kommentar SEITE 12 Söder wird nie bayerischer Ministerpräsident! Der Rotmilan ist ins Zentrum eines Konflikts geraten, bei dem es um Energie geht und um Geld – viel Geld Foto: Jan Woitas/dpa TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.815 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 50618 4 190254 801600 KOMMENTAR VON JÜRGEN GOTTSCHLICH ZUM AMTSVERZICHT DES TÜRKISCHEN MINISTERPRÄSIDENTEN S eit Donnerstag ist der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu Geschichte. Der Sultan hat seinen Großwesir entlassen, und damit ist Davutoğlu erledigt. Der Mann, der mit Angela Merkel den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal aushandelte und der just gestern, als die EU-Kommission grünes Licht für die Visafreiheit gab, damit seinen Lohn einheimsen wollte, ist von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan am selben Tag gefeuert worden. Der Abgang Davutoğlus hatte sich schon vor einer Woche angedeutet. Doch dass jetzt alles so schnell ging, hat angeblich auch damit zu tun, dass Erdoğan seinem Ministerpräsidenten den Erfolg, die Der lange Schatten des Sultans Visafreiheit für türkische Bürger durchgesetzt zu haben, nicht gönnen will. Aber das ist nicht der wesentliche Grund für Davutoğlus Entlassung. Aus Sicht Erdoğans hat er bei dem wichtigsten Projekt versagt: bei der schnellen Einführung einer Präsidialverfassung, die Erdoğan als Präsidenten die ganze Macht allein verschaffen soll. Davutoğlu weiß, wie unpopulär dieses Projekt in der Bevölkerung ist, und er war wohl auch nicht scharf darauf, seinen eigenen Posten, den des Ministerpräsidenten, möglichst schnell abzuschaffen. Jetzt wird Erdoğan ganz ohne demokratische Kosmetik durchregieren. Mit Ahmet Davutoğlu geht der letzte Ministerpräsi- dent der Türkei, der diesen Titel noch einigermaßen verdiente. Sein Nachfolger wird zu 100 Prozent ein Erfüllungsgehilfe des Präsidenten sein. Sein einziger Job wird darin bestehen, möglichst schnell Mehrheiten für die neue Verfassung zu organisieren. In der neuen Präsidialverfassung wird das Amt des Ministerpräsidenten dann durch einen Kabinettssekretär ersetzt. Ab sofort wird Erdoğan ganz ohne demokratische Kosmetik durchregieren Der Weg dazu führt über den Rausschmiss der kurdisch-linken HDP aus dem Parlament, um anschließend über eine Nachwahl genügend AKP-Mandate zu erringen, um in eigener Machtvollkommenheit der Türkei eine neue Verfassung aufzuoktroyieren. Dass dadurch der Krieg mit den Kurden weiter angeheizt wird und die letzten demokratischen Standards aufgegeben werden, wird ab sofort in Kauf genommen. Für den Türkei-EU-Flüchtlingsdeal könnte der Abgang Davutoğlus das Aus bedeuten. Erdoğan hasst den Westen mittlerweile so sehr, dass er lieber auf das Abkommen verzichtet, als dass er mit der EU Kompromisse macht. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Der Tag FREITAG, 6. MAI 2016 USA PORTRAIT Erste Entscheidung im Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahl Republikanern bleibt nur Trump US-WAHLKAMPF I Die letzten Gegenkandidaten geben auf. Damit ist Donald Trump der Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Einigen verschlägt das die Sprache VON BERND PICKERT „Die haben hier nichts verloren“: Maria-Teresa Asplund stellt sich Nazis im schwedischen Borlänge in den Weg Foto: David Lagerlöf/picture alliance Eine Frau gegen 300 Nazis D as war meine Hommage an Nelson Mandela“, sagt Maria-Teresa „Tess“ Asplund. Ein Foto mit der 42-jährigen Schwedin hat sich, seit es am Dienstag auf der Website der antirassistischen Stiftung Expo veröffentlicht wurde, über Twitter und Facebook weltweit verbreitet. Mittlerweile wird es bereits als „Bild des Jahres“ und als „ikonisch“ gefeiert. Es zeigt eine Asplund, die gerade vom Bürgersteig auf die Straße getreten ist und nun mit erhobener Faust mitten vor einer Truppe von rund 300 uniformierten Anhängern von Schwedens derzeit gewaltsamster Neonazigruppe steht, die „Volksverräter“ skandierend auf sie zukommen. Deren Anführer starrt sie verdattert an, bevor ein Ordner sie wegschubst und ein Polizist sie zur Seite nimmt. Der Fotograf David Lagerlöf hält die Szene fest. Der Vorfall geschah bereits am 1. Mai in Borlänge in der schwedischen Provinz Dalarna. Ausgerechnet in dieser tradi tionellen Arbeiterstadt hatte die „Nordische Widerstandsbewegung“ ihre zentrale Kundgebung abgehalten. Eine Provokation, gegen die auch eine Gegendemonstration organisiert worden war. Die Kirchenglocken läuteten aus Protest, und Antirassisten verteilten eine Fuhre Stallmist auf dem Sammelplatz der Neonazis, „damit die in der Scheiße stehen“. „Ich fand, das reichte alles nicht“, begründet „Tess“ Asplund ihre Aktion: „Als ich sie ankommen sah, dachte ich: Die haben hier absolut nichts verloren.“ Einem Impuls sei sie gefolgt: „Ich bin eine friedliche Person, mit meinen 163 Zentimetern und 50 Kilo ja auch nicht gerade imposant, aber ich wollte zeigen, dass man etwas wagen muss.“ Asplund ist Sprecherin des antirassistischen Netzwerks „Fokus afrofobi“, arbeitet in der freiwilligen Flüchtlingshilfe, beteiligte sich wiederholt an Aktionen, mit denen versucht wurde, Abschiebungen Asylsuchender zu verhindern. Politisch aktiv sei sie, seit sie als 16-Jährige aus der mittelschwedischen Provinz nach Stockholm kam, erzählt „Tess“: „Das erste waren Schlägereien mit Skins.“ Seit 26 Jahren engagiere sie sich jetzt gegen Rassismus: „Die jetzige Aufmerksamkeit macht mich stolz, aber geniert mich auch. Ich hoffe, dass nun mehr Widerstand wagen. Es geht einfach nicht an, wie derzeit Faschisten auf unseren Straßen herumspringen dürfen.“ Ein Symbol will sie dennoch nicht sein. „Nein, das sollen die Leute nicht in mir sehen.“ REINHARD WOLFF BERLIN taz | Donald Trump geht als republikanischer Kandidat in die US-Präsidentschaftswahlen vom 8. November. Nach seinem deutlichen Sieg bei der Vorwahl in Indiana am Dienstag stieg zunächst sein engster – wenn auch abgeschlagener – Rivale Ted Cruz aus dem Rennen aus, einen Tag später dann auch John Kasich. Ihr Versuch, sich gegen Trump zusammenzutun, der von Teilen des republikanischen Establishments unterstützt worden war, ist grandios gescheitert. Damit ist Trump allein auf weiter Flur. Innerhalb der Partei herrscht nun ein wildes Durcheinander. Der Chef des Republican Natio nal Committee, Reince Priebus, rief dazu auf, sich nunmehr hinter den Kandidaten zu scharen. Eine Idee, der andere Republikaner nichts abgewinnen können. Ben Howe etwa, Redakteur der konservativen Website Red State, schreibt: „Ich bin ein Fiskal- und Sozialkonservativer. Daran wird sich nichts ändern. Aber ich werde nicht für einen egomanischen Autoritären stimmen.“ Er beendet den Tweet mit dem Hashtag von Hillary Clintons Wahlkampf: #ImWithHer. So ähnlich reagierten manche, auch höhere Berater aus den republikanischen Wahlkämpfen von John McCain 2008 und Mitt Romney 2012. Die meisten aber hielten sich zurück: Selbst die New York Times hatte ungewohnte Schwierigkeiten, Stellungnahmen höherrangiger Republikaner einzuholen. Seit Donald Trump seinen Siegeszug durch die Vorwahlen angetreten hatte, war die Debatte nicht abgerissen, wie den Republikanern das hatte passieren können. Der Mann zerstöre die Partei und alles, wofür sie stehe, warnten die einen. Trump sei eine logische Folge der Entwicklung der Republikaner in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, entgegneten die anderen. Sicher ist: Trump fährt in nationalen Umfragen noch immer Rekordnegativbewertungen ein. Rund zwei Drittel der Wähler_innen halten nichts von ihm, und die Zahl steigt noch bei den Gruppen, die die Repu- „Ich stimme nicht für einen egomanischen Autoritären“ BEN HOWE, KONSERVATIVER REDAKTEUR NACH RICHTEN SICH ERE H ERKUN FTSSTAATEN TECH N I K-LIAISON Kretschmann will zustimmen Google macht’s mit Fiat BERLIN | Die grün-schwarze Ko- DETROIT | Google und Fiat Chrys- alition in Baden-Württemberg will die Länder Algerien, Tunesien und Marokko zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklären. Falls die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen vorlägen, werde die Koalition die Entscheidung im Bundesrat unterstützen, heißt es in dem Koalitionsvertrag. Flüchtlinge aus so eingestuften Staaten können schneller abgeschoben werden. Die Grünen im Bund sind strikt gegen die Einstufung. Die Große Koalition erteile damit den Maghrebstaaten „einen Blankoscheck für Menschenrechtsverletzungen.“ Amnesty International kritisiert, dass dort Homosexualität strafbar ist.(us) ler wollen gemeinsam die Entwicklung selbstfahrender Autos vorantreiben. Geplant sei der Aufbau einer Flotte von 100 autonomen Minibussen, kündigten der US-Internetkonzern und der italienisch-amerikanische Autohersteller am Dienstagabend an. Es handelt sich um die bisher umfassendste Zusammenarbeit zwischen einem Silicon-Valley-Konzern und einem der großen Autohersteller. (rtr) ÖSTERREICH Baum mit Rollator zurückerobert MEHRNBACH | Die Bewohner ei- nes Seniorenwohnheims in Österreich haben ihren gestohlenen Maibaum zurückerobert – und auf Rollatoren nach Hause gefahren. Der Maibaum-Diebstahl in der Gemeinde Mehrnbach hat laut österreichischer Nachrichtenagentur APA Tradition: Jedes Jahr schenkt ein Landwirt den Senioren einen Stamm. Doch ebenso alljährlich komme eine Stammtischrunde aus einem rund 300 Meter entfernten Wirtshaus und stehle den Baum. (dpa) Schlägt er auch Hillary Clinton? Donald Trump nach einer Rede am Dienstag Foto: Justin Lane/dpa blikaner nach den letzten zwei verlorenen Präsidentschaftswahlen eigentlich als wahlentscheidend ausgemacht hatten: Frauen, Schwarze, Latinos. So fürchten etliche republikanische Kandidaten für die gleichzeitig stattfindenden Kongresswahlen, Trump könne sie selbst um den Erfolg bringen, ihre Partei gar die Mehrheit im Senat kosten. Kein Wunder also, dass sich derzeit kaum jemand zu Trump äußern möchte. Trump selbst weiß das natürlich auch, und so änderte er schon am Wahlabend von Indiana seinen Ton, pries den unterlegenen Ted Cruz als einen „hervorragenden Konkurrenten“, der eine „große Zukunft“ habe. Bis zum Parteitag Mitte Juli muss es Trump nun schaffen, seine Partei zumindest zu beruhigen. Er muss seiner Anti-Establishment-Basis zeigen, dass er tatsächlich authentisch ist in seiner zelebrierten Out siderHaltung. Aber er braucht politischen Rat und Unterstützung, einerseits um sein derzeit noch vollkommen widersprüchliches Programm weiter auszuarbeiten, andererseits um zu signalisieren, dass er mit den Republikanern im Kongress arbeiten und etwas durchsetzen könnte. Der nächste Schritt auf diesem Weg wird die Benennung seines Vizepräsidentschaftskandidaten. Ted Cruz hatte das schon vor zweieinhalb Wochen getant – nur dass die von ihm benannte ehemalige HewlettPackard-Managerin Carly Fiorina nicht nur nichts zum Positiven wandelte, sondern sogar noch in Indiana von einer Bühne fiel. Für Trump wird es darauf ankommen, jemanden zu benennen, der seine eigene politische Unerfahrenheit ausgleicht. Auch Hillary Clinton ist mehrheitlich unbeliebt. Wenn Trump es schafft, seine eigenen Werte auch nur ein bisschen zu verbessern und sein Programm kohärenter zu machen, hat er gute Chancen, im November zum Präsidenten gewählt zu werden. Am Montag erschien die erste Rasmussen-Umfrage, die ihn landesweit 2 Prozentpunkte vor Hillary Clinton sieht. Meinung + Diskussion SEITE 12 Das Versprechen, Versprechen zu halten US-WAHLKAMPF II Hillary Clinton präsentiert sich als seriöse Alternative zum Rammbock Trump WASHINGTON taz | Hillary Clin- ton steht an einem Pult vor den chromglänzenden Tanks einer Mikrobrauerei in Athens, Ohio, und erzählt von ihrer Reise quer durchs „Coal Country“, durch die Kohleregion der Appalachen mit ihrem Malocherstolz, ihrem Lokalpatriotismus, ihrer mancherorts bitteren Armut. „Ich habe Leute getroffen, die zu Recht Dank erwarten dafür, dass sie, ihre Eltern und Großeltern dieses Land aufgebaut haben“, sagt sie. Über Generationen habe die Kohle der Appalachen in Amerika die Lichter angehen lassen, die Fließbänder am Laufen gehalten. Das ganze Land stehe in der Schuld der heute so arg ge- beutelten Kohlekumpel, weshalb es ihnen in der Strukturkrise zu helfen habe, mit Steuergeld, Bildungsprogrammen, einer besseren Infrastruktur. „Ich weiß, viele von euch werden jetzt sagen: Nun ja, schöne Worte, aber wir glauben das nicht.“ Auch wenn die Favoritin der Demokraten noch nicht ganz am Ziel ist, auch wenn sich ihr überaus hartnäckiger Rivale Bernie Sanders noch nicht geschlagen gibt, an ihrem Sieg im parteiinternen Wettlauf gibt es kaum noch Zweifel. Clinton ist mit ihren Gedanken längst beim Finale, ihr Gegner heißt nunmehr Donald Trump, und schon ihr Auftritt in der Brauerei deutet an, mit welchen Waffen sie ihn zu schlagen gedenkt. „Ich habe verstanden“, signalisiert sie den frustrierten Malochern, von denen viele in dem Milliardär aus New York ihren neuen Helden gefunden haben, eine Art Rammbock, einen Sprecher, der auf sämtliche Regeln der politischen Korrektheit pfeift und dem sie gerade deshalb zutrauen, den Status quo aufzumischen. Clinton versucht, die Vergessenen zurück auf ihre Seite zu ziehen. „Ich weiß, so viele Politiker haben so viele Versprechen gegeben, die dann nicht gehalten wurden. Bei mir wird das anders sein“, beteuert sie in Athens. Und sie fordert Trump auf, endlich konkret darzulegen, wie er praktisch durchsetzen wolle, was er in großen Sprüchen verkünde. Eine Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen und die Mexikaner dafür zahlen lassen? Wie soll das gehen? Den Großexporteur China mit 45-prozentigen Zöllen ausbremsen, ohne einen Handelskrieg vom Zaun zu brechen? In welcher Welt lebt der Mann eigentlich? Trump, bringt Clinton es in einem Interview mit CNN auf den Punkt, bedeute ein Risiko, das sich Amerika einfach nicht leisten könne. Der Mann sei unberechenbar. FRANK HERRMANN Schwerpunkt Türkei FREITAG, 6. MAI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Gerade gibt die EU bekannt, dass sie Visafreiheit für Türken will. Da kracht es in der türkischen Regierung. Premier Davutoğlu gibt auf Der Sultan entlässt seinen Großwesir REGIERUNG Präsident Erdoğan hat sich durchgesetzt. Ministerpräsident Davutoğlu verliert seinen Posten – er war wohl nicht biegsam genug. Was aus dem Türkei-EU-Flüchtlingspakt und der von vielen Türken erhofften Visafreiheit wird, steht in den Sternen AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH Ärgerlich für Angela Merkel: Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, mit dem sie den umstrittenen EU-Türkei Flüchtlingsdeal aushandelte – und den sie in den letzten Monaten wohl häufiger getroffen hat als ihren Vizekanzler Sigmar Gabriel –, ist Geschichte. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat durchgesetzt, dass der Premier gehen muss. Am Mittwochabend musste er im Präsidentenpalast antreten. Zwar hat der Präsident formal nicht die Kompetenz, den Ministerpräsidenten zu entlassen. Aber er hatte sich zuvor der Unterstützung des Vorstands der regierenden AKP versichert. Der beschloss dann den Abgang Davutoğlus auf einer Sitzung am Donnerstag. Am 22. Mai soll nun ein außerordentlicher AKP-Parteitag stattfinden, bei dem Davutoğlu nicht mehr für das Amt des Parteivorsitzenden kandidiert. Nach den Statuten der AKP wird der neue Parteichef dann automatisch von der Mehrheit der Abgeordneten im Parlament zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. In seiner Abschiedsrede am Donnerstag vermied Davutoğlu eine direkte Kritik an Erdoğan. Er beklagte stattdessen, dass der Parteivorstand ihm in den Rücken gefallen sei. Indirekt machte er aber klar, dass der Grund seines Rauswurfes seine eigenständige Haltung als Ministerpräsident war: Als er im August 2014 das Amt des Parteivorsitzenden und Premiers übernommen hatte, habe zwischen ihm und Erdoğan Einverständnis darüber geherrscht, sagte er, dass beide jeweils eigenständige starke Positionen haben sollten. Das gilt wohl schon länger nicht mehr. Erdogan ärgerte offenbar besonders, dass Davutoğlu das Projekt einer neuen Präsidialverfassung nicht energisch genug vorangetrieben habe. Mit ihr würde Nach Erdoğans Meinung kam Davutoğlu der EU mit dem Flüchtlingspakt zu weit entgegen Präsident Erdoğan die gesamte exekutive Macht erhalten. Erst kürzlich hatte Davutoğlu in einem Interview erklärt, die Türkei habe im Moment andere, größere Probleme. Zweitens soll Erdoğan dem Premier vorgeworfen haben, gegen die kurdisch-linke HDP im Parlament nicht hart genug durchgegriffen zu haben. Der Präsident beschuldigt die HDP schon lange, der parlamentarische Arm der kurdischen PKKGuerilla zu sein. Er will insbesondere die HDP-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ im Gefängnis sehen. Der Premier beharrte dagegen darauf, im Prozess der Aufhebung der Immunität der kurdischen Politiker wenigstens einige demokratische Mindeststandards einzuhalten. Und drittens soll der Präsident dem Premier vorgehalten haben, dass er mit westlichen Politikern, insbesondere Angela Merkel, zu eng zusammenarbeite. Seiner Meinung nach ist Davutoğlu der EU mit dem Flüchtlingspakt zu weit entgegengekommen. Für die weitere Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der EU bedeutet der Rauswurf Davutoğlus deshalb nichts Gutes. Das Abkommen war sein Projekt, ohne ihn wird die Umsetzung nun wesentlich schwieriger werden. Das betrifft zuerst die Visafreiheit, für die die EU von der Türkei noch die Umsetzung von insgesamt fünf Punkten verlangt, darunter die Präzisierung der vage formulierten türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung. Die EU will das geändert haben, aber Erdoğan wird dafür wenig Verständnis zeigen. Nach Ansicht des Präsidenten tut im Gegenteil die EU seit Langem viel zu wenig gegen die Aktivitäten der PKK in Europa. Erdoğan dürfte deshalb die weiteren Forderungen der EU ablehnen und stattdessen damit drohen, ab sofort die Flüchtlinge wieder in Richtung Griechenland ziehen zu lassen. Mit dem Rauswurf des Premiers wird nun auch der Weg für die schnelle Kriminalisierung der kurdischen Abgeordneten frei. Erdoğan verfolgt damit zwei Ziele: Er will die Unterstützung der PKK schwächen. Zudem würden durch den Abgang der HDP 25 Prozent der Sitze im Parlament frei. Bei einer Nachwahl erhofft sich Erdoğan genügend zusätzliche Mandate für die AKP, um anschließend ohne Stimmen aus der Opposition eine neue Verfassung verabschieden zu können. Wer wird Nachfolger Davutoğlus? Wichtigste Voraussetzung für den neuen Mann dürfte die völlige Loyalität dem Präsidenten gegenüber sein, sagen politische Beobachter übereinstimmend. Immer wieder fällt der Name des Energieministers Berat Albayrak. Der junge Mann hat aus Sicht Erdoğans einen unschlagbaren Vorteil: er ist sein Schwiegersohn. Schöner reisen ■■Im Gegenzug für die Rück- Da waren sie noch vereint: Präsident Erdogan (2.v.re.) und Premier Davutoglu (2.v.li.) im Februar bei einer Beerdigung Foto: Umit Bektas/reuters Gut für Familien, Fußballfans, Künstler, Geschäftsleute Die EU-Kommission empfiehlt ein Ende des Visazwangs für Türken – spätestens Ende Juni. Die restriktive Visavergabe hat in den letzten Jahren viel Ärger im Verhältnis zwischen Deutschland und der türkischen Bevölkerung erregt FORTSCHRITT ISTANBUL taz | Ahmet Tan ist ein weitgereister Journalist. Stempel aus aller Welt zieren seinen Pass, darunter etliche Visa von Schengen-Staaten wie Frankreich, Griechenland und Italien. Es ist nicht nur seine Arbeit, sondern auch die Liebe zum Fußball, die ihn umtreibt: Ahmet Tan ist Fan und einer der weltweiten Unterstützer des Hamburger Clubs St. Pauli. Als er von dort eine Einladung bekam, buchte er gleich seinen Flug. Doch das deutsche Konsulat in Istanbul weigerte sich, ihm ein Visum zu erteilen. Grund: Als freier Journalist konnte er kein festes Einkommen nachweisen – und erfüllte deshalb nicht die Kriterien. Und Ahmet Tan ist kein Einzelfall. So beschieden Konsulatsmitarbeiter türkischen Schriftstellern, man kenne sie nicht. Ein Austausch zwischen deutschen und türkischen Künstlern scheiterte, weil die Bundesrepublik die türkischen Künstler nicht einreisen lassen wollte. Was für Journalisten, Schriftsteller oder Maler vor allem ärgerlich ist, wurde für manche Unternehmer gar zu einer Existenzfrage. Die mangelnde Reisefreiheit bremste geplante Investitionen. Selbst wenn letztlich doch Visa ausgestellt wurden, kostete es immer Zeit und Geld, das den Firmen verloren ging. Die schlimmsten Dramen aber spielen sich in Familien ab, von denen ein Teil in Deutschland und ein Teil in der Türkei lebt. Bei drei Millionen Türken oder Deutschen mit einem türkischen Migrationshintergrund kommen da einige Probleme zusammen: So können in Deutschland lebende Kinder ihre kranken Eltern nicht nach Deutschland holen, selbst wenn sie längst die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Gerade bei Familienangehörigen unterstellen die deutschen Behörden vorrangig, dass diese nach Ablauf ihres Touristenvisums nicht in die Türkei zurückkehren würden, und ver- weigern deshalb lieber gleich eine Reisegenehmigung. Kaum ein Thema hat im Verhältnis zwischen Deutschland und der türkischen Bevölkerung für so viel Ärger gesorgt wie die restriktive Visavergabe. Schuld daran sind weniger die deutschen Diplomaten, die vor Ort dafür geradestehen müssen, als vielmehr das Innenministerium in Berlin und die diversen Innenministerien der Länder. Hier werden die restriktiven Regeln aufgestellt, die Botschaften und Konsulate umsetzen müssen. Für viele türkische BürgerInnen wäre die Aufhebung der Visafreiheit ein wirklicher großer Schritt der Annäherung an Eu- ropa. Allerdings ist die Skepsis groß: „Sie werden sich schon noch was einfallen lassen um uns zu quälen“, befürchtet Ahmet Tan. Außerdem findet er es schäbig, dass die Visafreiheit nun auf Kosten der Flüchtlinge kommen soll. „Ich kann mich deshalb auch nicht richtig freuen“, sagt er. Bis die Reisefreiheit da ist, dürfte es ohnehin noch dauern: Die Türken haben noch keine biometrischen Pässe. Selbst wenn diese eingeführt sind, werden sich viele überlegen, ob sie einen beantragen. Die Ausstellung eines Passes kostet rund 200 Euro. JÜRGEN GOTTSCHLICH nahme von Flüchtlingen aus Griechenland hat die EU der Türkei den Fall des Visazwangs spätestens ab Ende Juni versprochen. Die EU-Kommission gab nun grünes Licht, allerdings unter einer Reihe von Bedingungen. Worum geht es dabei? ■■Wäre Visafreiheit für die Tür kei ungewöhnlich? Nein. Hunderte Millionen Bürger aus fast 60 Staaten können längst ohne Visum in die EU einreisen. Drei der vier anderen EU-Beitrittskandidaten haben bereits Visa-Freiheit: Serbien, Montenegro und Albanien. ■■Was ändert sich konkret? Türkische Staatsbürger – Geschäftsreisende wie Touristen – dürften ohne Visum für Kurzaufenthalte in den Schengen-Raum aus 26 Staaten einreisen. Die Aufenthaltsdauer ist auf 90 Tage pro Halbjahr begrenzt. ■■Sind alle Bedingungen erfüllt? 7 von 72 Kriterien der EUKommission sind noch nicht erfüllt. Bei 5 muss Ankara bis Juni nachbessern: Es geht um Korruptionsbekämpfung, Datenschutz, Zusammenarbeit mit der EU-Polizeibehörde Europol und Justizkooperation bei Strafsachen. Gefordert wird auch eine Einengung des türkischen Terrorismusbegriffs. Hier verweist die Kommission unter anderem auf Festnahmen und Prozesse gegen Journalisten und Akademiker wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. ■■Sind biometrische Pässe nötig? Ja. Die Europäer akzeptieren aber bis Jahresende biometrische Pässe mit kurzer Gültigkeit, die nur den Standards der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation Icao und nicht jüngsten EU-Vorgaben entsprechen. Auf ihnen müssen neben Fotos auch Fingerabdrücke des Besitzers elektronisch gespeichert sein. Ab Oktober soll Ankara Pässe ausgeben, die auch die strengeren EU-Standards erfüllen. ■■Wer muss in der EU der Visa freiheit noch zustimmen? Die EU-Mitgliedstaaten mit qualifizierter und das Europa parlament mit einfacher Mehrheit. (afp/taz)
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