- Deutsche Mittelstands Nachrichten

Ausgabe 18
13. Mai 2016
Deutsche
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Mittelstand
Großaufträge im Maschinenbau retten Bilanz der Industrie
Im März konnte die Industrie ein Auftragsplus in Höhe von fast zwei Prozent verbuchen
D
unter 1.500 Unternehmen aus
ie deutsche Industrie hat im
dem Maschinen- und Anlagenbau
März dank der starken Nachzeigt einen Anstieg der Auftragsfrage aus dem Ausland überraschend viele Aufträge an Land geeingänge im März um 18 Prozent
gegenüber dem Vorjahresniveau.
zogen. Sie stiegen um 1,9 Prozent
Während die Bestellungen aus dem
im Vergleich zum Vormonat, wie
Inland zurückgingen, wuchsen die
das BundeswirtschaftsministeriAufträge aus dem Ausland um 29
um mitteilte. Das ist der kräftigsProzent. Vor allem aus den Nichtte Zuwachs seit einem dreiviertel
Euro-Ländern (+37 Prozent) kamen
Jahr. Volkswirte hatten lediglich Auftragseingang März 2016 Maschinenbau.
Grafik: VDMA
die Aufträge. „Dieses Plus ging zum
mit einem Plus von 0,7 Prozent
überwiegenden Teil auf Großanlagerechnet, nachdem es im Februar noch einen Rückgang um 0,8 Prozent Bundesamt ebenfalls nicht.
gengeschäfte zurück. Ohne diese hätte es
gegeben hatte. „Trotz des eingetrübten au- In jedem Fall waren die Großaufträge je- für den Ordereingang aus den Nicht-Euroßenwirtschaftlichen Umfelds konnte die doch größtenteils im Maschinenbau zu Ländern gerade für einen kleinen Zuwachs
deutsche Industrie einen spürbaren Anstieg finden, sagte Peter Mehlhorn vom Statisti- gereicht“, so der Verband.
der Aufträge aus dem Ausland verbuchen“, schen Bundesamt den Deutschen Mittel- Woher die Großaufträge genau kamen,
erklärte das Ministerium.
stands Nachrichten. Und hier handelte es konnte der Verband den Deutschen MittelDiese nahmen um insgesamt 4,3 Prozent sich besonders um die Wirtschaftszweige stands Nachrichten nicht sagen. Das ließen
zu. Während die Bestellungen aus der Euro- der Gruppe 28: also um Produkte wie Ver- die Vereinbarungen mit den Unternehmen
Zone dabei um 1,1 Prozent wuchsen, stiegen brennungsmotoren oder Turbinen. Im nicht zu. In jedem Falle könnte es sich gedie aus dem Rest der Welt um 6,2 Prozent. Vorjahresvergleich zeigt sich ebenfalls ein nerell um Anlagen, Ausrüstungen für FlugDie Inlandsaufträge schrumpften dagegen großes Plus beim Wirtschaftszweig 28.11. hafen oder auch Turbinen handeln, so ein
um 1,2 Prozent. Der Anteil der Großaufträge Demnach nahmen die Auftragseingänge ge- Sprecher des VDMA. Die Großaufträge dürfwar diesmal leicht überdurchschnittlich.
genüber dem März 2015 arbeitstäglich- und ten jedoch nicht überbewertet werden, da
Aus welchem Land die Großaufträge kamen saisonbereinigt insgesamt um 59,6 Prozent diesen meist eine lange Vorlaufzeit für Verund welche Unternehmen diese abgewi- zu, wie aus den Daten, die den Deutschen handlungen vorausgehe. Insofern könnte es
ckelt haben, ist nicht ersichtlich. Dem Sta- Mittelstands Nachrichten vorliegen, her- in den kommenden Monaten hier wieder
tistischen Bundesamt zufolge wurde bei der vorgeht. Während die Aufträge aus dem deutliche Rückgänge geben. „Die konjunkBefragung der Unternehmen nur die Unter- Inland hier um 12,3 Prozent zurückgingen, turelle Grundtendenz beim Bestelleingang
scheidung Inland, Ausland und Eurozone stiegen die Aufträge aus dem Ausland um ist nach wie vor so schwach, dass wir weitersowie restliche Welt getroffen. Angaben zu 83,9 Prozent.
hin mit einer Stagnation für die reale Proden einzelnen Unternehmen, die Großauf- Ein Blick auf die aktuellen Zahlen des VDMA duktion im Maschinenbau in diesem Jahr
träge an Land ziehen konnten, machte das bestätigt diese Einordnung. Eine Befragung rechnen“, sagte Olaf Wortmann vom VDMA.
Wirtschaft
Deutsche Exporte in die USA brechen ein
Im März sind die Ausfuhren in die USA und nach China deutlich gesunken
I
m März verkauften die deutschen Unternehmen Waren im Wert von insgesamt 107,0 Milliarden Euro ins Ausland.
Das sind 0,5 Prozent weniger als im März
2015. Besorgniserregend ist die Entwicklung der Lieferungen in die Länder außerhalb der Europäischen Union und damit
etwa in die weltgrößten Volkswirtschaften
USA und China. Hier schrumpften die
Ausfuhren um 3,4 Prozent im Vergleich
zum Vorjahresmonat.
Die USA waren im vergangenen Jahr
der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Insgesamt wurden zwischen den
beiden Ländern Waren im Wert von 173,4
Milliarden Euro gehandelt. Allein die in
die USA exportierten Produkte erreichten
einen Umfang von 114 Milliarden Euro.
Besonders Autos und Autoteile, sowie Maschinen und pharmazeutische Erzeugnisse bestimmten den Handel. China rutsch1
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Im Vergleich zum Vormonat stiegen die Exporte noch. Die Produktion wurde jedoch bereits zurückgefahren.
Grafik: Destatis
te im vergangenen Jahr auf Platz fünf der
wichtigsten Handelspartner Deutschlands. In das Land wurden Waren im Wert
von 71 Milliarden Euro exportiert.
Im März konnten die Exporte in die
Euroländer (+1,0 Prozent) und in die nicht
zur Eurozone gehörenden EU-Staaten
(+2,9 Prozent) im Vergleich zum Vorjahresmonat die sinkende Nachfrage aus den
USA und China noch abfedern.
Im Vergleich zum Vormonat konnten die deutschen Ausfuhren noch ein
Plus von 1,9 Prozent verbuchen. Das ist
der kräftigste Zuwachs seit einem halben
Jahr. Allerdings waren die Exporte im Feb-
ruar gegenüber dem Vormonat nur um 1,3
Prozent gestiegen. Im Januar und Dezember waren sie sogar gefallen. Die Importe
fielen im Monats- und Vorjahresvergleich
um 2,3 und 4,3 Prozent.
Entsprechend drosselten die Unternehmen ihre Produktion. Industrie, Baubranche und Versorger stellten im März
zusammen 1,3 Prozent weniger her als im
Vormonat. Das ist der stärkste Rückgang
seit August 2014. Ökonomen hatten lediglich ein Minus von 0,2 Prozent erwartet.
Im gesamten ersten Quartal wurde die
Produktion dagegen wegen des sehr guten Jahresauftakts um 1,8 Prozent gegen-
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über dem Vorquartal ausgeweitet.
„Das Quartal lief eigentlich schlechter, als es die Daten nahelegen“, sagt
Andreas Scheuerle von der Dekabank.
„Vermutlich werden wir ein schwaches
Frühjahr bekommen.“ Auch Ralph Solveen von der Commerzbank rechnet mit
einem schwächeren zweiten Quartal. Es
ist damit zu rechnen, dass die Exporte im
April und Mai in die USA und China weiter abnehmen könnten. Im ersten Quartal
erreichten die Exporte der USA das tiefste
Niveau seit Juni 2011. Die Importe fielen
auf 217,1 Milliarden Dollar, den niedrigsten Wert seit Februar 2011. Und in China
ist mit einer Zunahme der Pleiten um bis
zu 20 Prozent zu rechnen. Die Gefahr von
Zahlungsausfällen in Brasilien, China und
Russland hat zugenommen.
„Trotz der enttäuschenden Industrieproduktion dürfte die deutsche Wirtschaft im ersten Quartal ordentlich gewachsen sein“, sagt Carsten Brzeski von
der ING. Doch unter der Oberfläche der
starken Wachstumszahl entstehe ein beunruhigendes Bild. „Die Wirtschaft wird
nicht mehr durch die alte Erfolgsformel
angetrieben, sondern durch neue Faktoren: Konsum, Bau und Dienstleistungen“,
so Brzeski. Diese Formel seit definitiv keine Garantie für nachhaltigen Erfolg.
Innovation
Elektro-Autos überfordern die Energie-Politik in Deutschland
Die immer deutlicher werdende Umstellung des Straßenverkehrs auf Elektroautos wird Deutschland vor gravierende Probleme stellen
Z
um Schutz der Umwelt sollen die Benzin- und Dieselautos von den Straßen
verschwinden. Von Norwegen bis Indien
erschallt der Ruf: Ab 2020 werden keine
Benzin- oder Dieselfahrzeuge mehr zugelassen. Deutschland will zumindest Millionen E-Fahrzeuge auf die Straßen bringen.
Allgemein scheint sich die Illusion „der
Strom kommt aus der Steckdose“ in eine
energiepolitische Maxime zu verwandeln.
So fein es wäre, lautlose, emissionsfreie
Autos zu genießen, man sollte doch einige
Tatsachen zur Kenntnis nehmen.
Der ADAC weist aus, dass allein in
Deutschland mit PKW´s etwa 700 Milliarden Kilometer im Jahr gefahren werden.
Genau waren es 2014 735 Milliarden. Die
Daten in Österreich liegen in der Regel,
der Bevölkerung entsprechend, bei einem
Zehntel. Und auch im übrigen Westeuropa kann Deutschland als Orientierungsgröße genommen werden. Zu fragen ist
also ganz banal, was geschieht, wenn die
700 Milliarden nicht mehr mit Benzin
oder Diesel zurückgelegt werden, sondern
mit Strom.
Der Stromverbrauch würde um 25 bis
30 Prozent wachsen
Die Auto-Tester berichten, dass der
Verbrauch der E-Autos je 100 Kilometer
in etwa zwischen 20 und 30 Kilowattstunden liegt. Um also die 700 Milliarden
Kilometer mit E-Autos zu bewältigen, benötigt man zwischen 140 und 220 Milliar-
den Kilowattstunden.
Aktuell werden in Deutschland jährlich 600 Milliarden Kilowattstunden verbraucht. Bei einem totalen Umstieg auf
E-Autos käme also eine Steigerung um
25 bis 30 Prozent zustande. Um 140 Milliarden Kilowattstunden im Jahr zu erzeugen, würde man 70 große Flusskraftwerke
oder 13 Atomkraftwerke benötigen, für
210 Milliarden Kilowattstunden entsprechend mehr. Zur Orientierung: Alle Windräder Deutschlands, von der Nordsee bis
zu den Alpen, lieferten 2015 85,4 Milliarden kWh, die Photovoltaik steuerte 38,5
Milliarden kWh bei.
Das Konzept, wonach viele Autofahrer durch Photovoltaik-Anlagen auf dem
eigenen Haus zu Selbstversorgern werden
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sollen, ist nur beschränkt anwendbar: Die
Sonne scheint nicht nach Belieben – dann
braucht man doch den Strom von der
Versorgungsindustrie. Die Anlagen sind
nicht billig und lösen auch Wartungsund Reparaturkosten aus. Im Brandfall
machen der Strom und die Chemikalien
die Löscharbeiten fast unmöglich. Zudem
ist die Umsetzung stark auf den ländlichen Raum beschränkt, in den Städten, in
denen die meisten Menschen wohnen, ist
die Realisierung besonders schwer.
rung wird je zur Hälfte vom Staat und von
der Auto-Industrie finanziert. Im Endeffekt wird ein Druck auf die Auto-Firmen
ausgeübt, zusätzliche Rabatte zu gewähren. Die Förderung endet, wenn das Budget von 1,2 Milliarden Euro aufgebraucht
ist, es handelt sich also um eine Art kurzzeitig wirkende Belebungsspritze für die
E-Mobilität.
Woher sollen zusätzliche 140 Milliarden kWh kommen?
Die Vorkämpfer der Elektro-Mobilität
lehnen die Einbeziehung der Hybrid-Autos in die Förderung ab, weil diese Technik
den Verbrauch an Benzin oder Diesel nur
verringert, aber nicht gänzlich beseitigt.
Diese
Alles-oder-Nichts-Haltung
führt zurück in das Dilemma, das bereits
mit dem Ausstieg aus der Atom-Energie
ausgelöst wurde. Im Jahr 2011 waren in
Deutschland 17 Kernkraftwerke in Betrieb,
neun sind mittlerweile abgeschaltet, die
verbleibenden acht müssen bis 2022 folgen. Die Energiewirtschaft soll bis 2022
23,34 Milliarden Euro in einen Fonds zur
Finanzierung der Endlagerung der Brennstäbe einzahlen. Die Unternehmen wiederum haben den Staat auf Schadenersatz
für den Ausstieg um rund 15 Milliarden
Euro geklagt. Außerdem verschlingt der
Abbau der Kraftwerke enorme Summen.
Beträge, die die Stromkonsumenten aufgebracht haben oder noch aufbringen
Das Zeitalter der E-Autos ist also auf
jeden Fall eine Herausforderung für die
Energie-Versorgungsunternehmen. Die
Herausforderung wird zur Überforderung: Durch den Ausstieg aus der Atomenergie wechselte Deutschland trotz des
Ausbaus der Stromproduktion aus Braunkohle von einem Exporteur zu einem Importeur, der unter anderem Atomstrom
aus Frankreich bezieht. Woher sollen zusätzlich 140 bis 200 Milliarden kWh kommen?
Vor dem Hintergrund dieser Daten ist
die vor kurzem beschlossene Prämie von
4.000 Euro für den Kauf eines E-Autos in
Deutschland äußerst problematisch – wie
auch die Mehrwertsteuerbegünstigung
für E-Autos in Österreich oder die Absicht
Norwegens ab 2020 nur mehr E-Autos
zum Verkehr zuzulassen.
Der zweite Teil der neuen Förderung
in Deutschland, die Zahlung einer Prämie
von 3.000 Euro für Hybrid-Fahrzeuge erscheint da schon logischer, wobei man
sich die Frage stellen muss, warum man
diese Entwicklung nicht dem Markt überlässt. Bei Hybrid-Fahrzeugen wird die
Aufladung der Batterien durch die Fahrt
besorgt und ein Teil der Strecken mit
dem so gewonnenen Strom bewältigt. Die
Belastung der Stromproduktion ist daher
geringer, wenn auch davon auszugehen
ist, dass bei vielen Hybrid-Autos die Akkus nicht nur durch den Fahrbetrieb aufgeladen werden können und daher die
industrielle Stromproduktion auch in
Anspruch genommen werden muss.
Am Rande angemerkt sei, dass die
Frage nach dem Markt auch aus einem
anderen Grund zu stellen ist: Die Förde-
Alles oder Nichts bedeutet eher vom
Regen in die Traufe
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müssen oder die letztlich doch alle zahlen
müssen.
Der Ausfall der Stromproduktion aus
den AKW´s sollte durch erneuerbare Energieträger ersetzt werden, wobei Wind und
Sonne besonders betont wurden. Um den
Ausbau der Alternativen zu ermöglichen,
wurden und werden die Konsumenten
mit Zuschlägen auf den Stromrechnungen belastet, die Millionen ergeben, um
die Förderung der alternativen Energien
zu finanzieren. Vor allem Wind und Sonne
haben aber den Nachteil, dass die Produktion nicht stetig erfolgt: Bei Windstille ruhen die Windräder, bei bedecktem Himmel erlahmt die Photovoltaik. Um die
Stromversorgung sicher zu stellen, bedarf
es aber einer kontinuierlichen Erzeugung,
da sonst die Netze zusammenbrechen.
Aus diesem Grund wurde die Stromerzeugung aus Braunkohle stark erweitert
und auch in Zukunft werden Braun- und
Steinkohleanlagen forciert.
Die jährliche Stromproduktion aus
Braunkohle liegt derzeit bei etwa 150 Milliarden kWh in Deutschland, wobei zu beachten ist, dass gegenwärtig immer noch
acht AKW´s in Betrieb sind. Durch die Abschaltung auch dieser Anlagen wird der
Einsatz von Kohle weiter steigen müssen,
selbst wenn die erneuerbaren Quellen
weiter ausgebaut werden. Entwickelt sich
ein Boom an E-Autos, dann ist ein weiterer Anstieg der Energiegewinnung aus
Kohle unvermeidlich, da auch in Zukunft
Deutschland könnte derzeit kaum genug grünen Strom für mehr Elektro-Autos produzieren.
Foto: Flick/ GriinBlog/CC by nc 2.0
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trotz der zu erwartenden Steigerung der
Produktion aus erneuerbaren Energien
die kontinuierliche Stromproduktion sichergestellt werden muss.
Mit dem Ausstieg aus der Atomproduktion wollte man das Risiko des
Austritts von Radio-Aktivität bei einem
Reaktor-Unfall vermeiden. Emissionsfrei
würden Wind und Sonne jedes Risiko ausschalten. Allerdings kam man gleichsam
vom Regen in die Traufe. Während AKW´s
im Normalbetrieb kein CO2 emittieren,
haben Braunkohle-Kraftwerke ständig einen beträchtlichen CO2-Ausstoß. Die in
Deutschland emittierte Menge beträgt
derzeit 150 Millionen Tonnen im Jahr.
Durch die anhaltend große und noch steigende Produktion kann dieser Wert auch
künftig nicht verringert werden. Insgesamt belastet Deutschland die Umwelt
mit etwa 800 Millionen Tonnen CO2, sodass auf die Braunkohle allein knapp 19
Prozent entfallen. Technisch möglich ist
die Abscheidung und Lagerung von CO2,
die aber den Ausstoß nur um 10 Prozent
senkt und ein weiteres Umweltproblem
durch die Lagerung schafft.
Wo bleibt eine Energiepolitik, die nachhaltig die Versorgung sichert?
Schon der Ausstieg aus der Atomkraft
hätte nicht ohne ein brauchbares Konzept
für die künftige Stromversorgung stattfinden dürfen. Auch der Wechsel von Diesel- und Benzin-Fahrzeugen zu E-Autos ist
ohne solide Alternativen nicht möglich.
Angemerkt sei, dass in diesem Bericht nur festgestellt wird, dass der Strom
nicht aus der Steckdose, sondern von einem Kraftwerk kommt und schon dieser
Umstand überfordert die Energie- und
Umweltpolitik.
Zahlreiche andere Faktoren würden
beim Abschied vom Öl den Strombedarf
in die Höhe treiben und unter den derzeit
gegebenen Bedingungen zum Zusammenbruch der Versorgung führen. Wir
werden also bald im Dunkeln sitzen.
So war hier nur die Rede vom schönen Traum, dass alle nur mehr in E-Autos fahren. Nicht erwähnt wurde, dass in
Deutschland 2,5 Millionen Nutzfahrzeuge
unterwegs sind, von denen viele etwa 30
Liter Diesel auf 100 Kilometer verbrau-
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chen. Kein Wort auch von den Autobussen. Zudem kein Hinweis auf die Ölheizungen, die sogar durch den niedrigen
Ölpreis derzeit an Attraktivität gewinnen.
Keine Bemerkung, dass auch Erdgas ein
fossiler Energieträger ist.
Es wurde auch argumentiert, als ob
die E-Autos bereits voll ausgereifte Fahrzeuge wären. Nicht erwähnt wurde, dass
die Batterien nur eine beschränkte Reichweite ermöglichen, dass beim Ausfall der
Akkus das Auto steht, dass das Aufladen
der Akkus längere Zeit dauert.
Wozu auch diese Themen vertiefen,
wenn schon die Frage nach der Deckung
des Zusatzbedarfs von mindestens 140
Milliarden kWh „nur“ beim Wechsel zum
elektrischen PKW nicht beantwortet
wird.
Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er
ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“
sowie Moderator beim ORF.
Innovation
München bekommt Carsharing-Flotte mit Wasserstoff-Antrieb
Der Technologie-Konzern Linde startet ein eigenes Carsharing-Projekt in München
D
er Technologiekonzern Linde schickt
50 Autos mit Brennstoffzellen ab
kommendem Sommer durch München.
Es ist das weltweit erste Carsharing-Angebot, das ausschließlich Brennstoffzellenfahrzeuge einsetzt. Unter dem Namen
„Bee Zero“ sollen die SUV vom Typ Hyundai ix35 Fuel Cell in der Innenstadt zur
Buchung online oder per Handy-App bereitstehen. Die Autos mit 136 PS starkem
E-Motor werden mit Wasserstoff betankt
und betrieben. Das Auffüllen übernimmt
dabei der Carsharing-Anbieter. Der Konzern Linde zählt die Aufbereitung und
Verarbeitung von Gasen zu seinem Kerngeschäft und unterhält in München eine
von rund 34 Wasserstofftankstellen bundesweit – im Umland gibt es sieben Anlagen.
Mit dem Konzept für „BeeZero“ will
die Linde Group zwei aktuelle Mobilitätstrends miteinander verbinden: Car-
sharing und emissionsfreies Fahren. Carsharing drängt seit geraumer Zeit aus der
Nische und erlebt aktuell einen regelrechten Boom mit neuen Nutzerrekorden. Das
Modell, Autos zu teilen statt zu besitzen,
könnte nach Voraussagen führender Experten in Zukunft das Konzept vom privaten Auto ganz ablösen. Entsprechend
haben viele große Autobauer und auch
Technologiekonzerne ihre eigenen Carsharing-Projekte entwickelt. Linde reiht
sich hier ein mit BMW, Daimler, Opel oder
auch dem Zulieferer Bosch, der ebenfalls
mit eigenen digitalen Diensten von dem
Trend zum Auto als Dienstleistung statt
als Statussymbol profitieren will.
Beim emissionsfreien Fahren geht
es aktuell meist um Elektro-Antriebe mit
Batterien: Brennstoffzellen galten im
Vergleich bisher als kompliziert und der
Treibstoff Wasserstoff als gefährlich im
Vergleich zur Steckdose. Da die Erzeugung
Mit BeeZero will Linde von den beiden Trends Carsharing und emissionsfreiem Fahren profitieren. Foto: LindeGroup
von Wasserstoff in der Regel viel Energie
benötigt, wird die Brennstoffzelle zudem
oft als nur mittelmäßig klimafreundlich
angesehen. Für die BeeZero-Flotte verwendet Linde nach eigenen Angaben daher nur Wasserstoff, der vollständig mit
grünen Methoden erzeugt wird, womit
das Konzept gänzlich CO2-neutral sei.
Auch Konkurrent Audi und andere arbei4
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ten an grünen Kraftstoffen, die ohne CO2Ausstoß auskommen.
Doch in dem Wettbewerb gibt es auch
neue Entwicklungen. Ein ionischer Kompressor und eine sogenannte Kryopumpe
sollen den Betankungsprozess effizienter
und sparsamer machen. Möglich wird
dies durch eine Verdichtung des zu betankenden Wasserstoffs auf bis zu 900 bar
und tiefkaltem Wasserstoff, der bei minus 253°C verflüssigt wurde. Somit könne
auf minimaler Fläche und mit niedrigem
Stromverbrauch ein hoher Durchsatz erfolgen, so Linde.
Zu den Stärken der Brennstoffzellenfahrzeuge zählt im Vergleich mit dem
Batteriebetrieb ihre Reichweite: Mit einer
Tankfüllung Wasserstoff können die Autos laut Linde derzeit mehr als 400 Kilometer zurücklegen. Wasserstoff-Autos
eignen sich daher auch für Fahrten mittlerer Länge, wohingegen E-Autos derzeit
immer noch hauptsächlich auf den Stadtverkehr beschränkt sind. Ein Ausflug aus
der Münchner Innenstadt zu den umliegenden Seen oder in die Berge ist ohne
Probleme mit einer Wasserstoff-Tankfüllung möglich. Batteriebetriebene Elektrofahrzeuge müssten hingegen unterwegs
aufgeladen werden.
Was die aktuelle staatliche Förderung
für emissionsfreie Antriebe anbelangt,
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so sind auch hier derzeit hauptsächlich
E-Autos mit Batterien gemeint. Dennoch
werden Brennstoffzellen-Fahrzeuge in
Deutschland künftig staatlich genauso
gefördert wie Autos mit Hybrid-Antrieb.
Der aktuelle Gesetzentwurf sieht also eine
Kaufprämie von 3.000 Euro vor.
Ansonsten bleiben die WasserstoffAntriebe jedoch in einem wichtigen Punkt
der Förderung außen vor: Zum E-Auto-Paket des Autogipfels gehört die Förderung
des Baus von Lade-Stationen mit weiteren
300 Millionen Euro bis 2020, davon 200
Millionen für Schnellladestationen. Von
Wasserstoff-Tankstellen ist jedoch keine
Rede.
Handel
TTIP: USA wollen EU-Gerichte umgehen
US-Banken fürchten, von europäischen Gerichten wegen der Schulden-Krise belangt zu werden
V
iele Beobachter fragen sich in Europa, warum die US-Verhandler beim
TTIP solchen Zeitdruck entwickeln. Denn
wenn es sich um ein gutes und faires Abkommen handelt, das noch dazu Maßstäbe für den Welthandel setzen will, sollte
es auf einige Monate mehr oder weniger
nicht ankommen.
Doch offenbar wissen die Amerikaner, dass es zu ernsten Problemen
mit den EU-Staaten schon in nächster
Zeit kommen könnte. Der Grund ist die
Schuldenkrise. In den vergangenen Jahren haben amerikanische Banken europäischen Kommunen und Unternehmen
im großen Stil Finanzprodukte verkauft
und Kredite gewährt – mit dem Hinweis,
dass man das Kleingedruckte nicht genau zu lesen brauche. Die klammen, europäischen Kommunen und die naiven
Unternehmen haben das Geld gerne genommen, um ihren Wählern Geschenke
zu machen oder ihre Marktanteile zu sichern. Doch nun kommt an vielen Stellen das böse Erwachen.
Daher ist es im Zuge des Katers nach
dem Crash zu einer regelrechten Klagewelle gekommen. Ein Beispiel: Erst vor
wenigen Jahren hatte die Stadt Pforzheim JP Morgan verklagt. Die Bank hatte
den Kämmerern ein undurchsichtiges
Produkt angedreht. 2011 urteilte der BGH,
dass die Beratungsanforderung bei kom-
plexen Produkten besonders hoch sei.
Ein Mittelständler hatte gegen eine Bank
geklagt, die ihm eine hochspekulative
Zinswette verkauft hatte. Der BGH gab
dem Unternehmen Recht und kam zu
dem Urteil: „Bei einem so hochkomplex
strukturierten und riskanten Produkt wie
dem CMS-Spread-Ladder-Swap-Vertrag
sind hinsichtlich der Risikodarstellung
des Anlageprodukts hohe Anforderungen an die beratende Bank zu stellen.“
Die Stadt Pforzheim berief sich auf
das Urteil – und forderte von JP Morgan 57 Millionen Euro. Der Oberbürgermeister sagte der Stuttgarter Zeitung
damals: „Dieser Ansatz – Verletzung der
Beratungspflichten oder nicht – ist vollumfänglich auf uns anwendbar. Hinzu
kommt, dass wir eine Kommune sind und
für Kommunen gilt ein Spekulationsverbot. In dem Verfahren jetzt ging es ja um
ein Unternehmen, das, wenn Sie sich das
Bei TTIP geht es nicht nur um die zukünftige Möglichkeit für US-Unternehmen vor Schiedsgerichten zu klagen, sondern es gilt, jetzt Gerichtsverhandlungen vor EU-Gerichten zu verhindern.
Foto: Flickr/ Dennis Skley/CC by nd 2.0
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BGH-Urteil ansehen, ganz anders zu behandeln ist. Deshalb sind wir nun sehr
guten Mutes, dass wir obsiegen werden.“
Und weiter: „Da halte ich es mit Margret
Thatcher, der früheren britischen Premierministerin, die den Satz prägte: ,I want
my money back.‘ Die 57 Millionen Euro
fordern wir von JP Morgan.“
Im Jahr 2005 empfahl die Deutsche
Bank der Stadt Pforzheim ein Finanzgeschäft mit sogenannten „Spread-LadderSwaps“ (CMS). Hierbei einigen sich Käufer
und Bank anfangs auf einen Nominalwert
des Geschäfts und schließen auf dieser
Basis eine Wette über den Zinsabstand
zwischen zweijährigen und zehnjährigen
Staatsanleihen in den nächsten Jahren
ab. Vergrößert sich der Spread, entsteht
daraus ein Gewinn für den Käufer. Zunächst hatten sich die Swaps zugunsten
der Stadt Pforzheim entwickelt, doch
plötzlich hatten sie „innerhalb weniger
Monate einen unglaublich negativen
Verlauf“, erklärt Michael Strohmayer den
Deutschen Mittelstands Nachrichten. Bis
ein Verlust von 20 Millionen eintrat. „Es
gab hier auch keinen Boden, die Wetten
hätten noch weiter laufen können bis beispielsweise 200 Millionen Euro Minus“.
Deshalb entschied sich die damalige
Regierung, sich von dem Finanzprodukt
zu lösen. JP Morgan bat der Stadt einen
Ausweg an. Die bestehenden Swaps von
der Deutschen Bank wurden gespiegelt.
„Das heißt, egal wie die Swaps verlaufen,
haben die gespiegelten Swaps jeweils den
gegenteiligen Effekt“. Aus Minus 20 Millionen sind dann Plus 20 Millionen, die
den Verlust quasi ausgleichen sollten. Der
Preis für dieses Angebot, so Strohmeyer,
waren allerdings drei neue Swaps von JP
Morgan, die am Schluss mit einem Minus von 57 Millionen Euro zu Buche standen. Die Stadt hat, als sie erfuhr, dass die
Swaps ein Minus von bis zu 77 Millionen
Euro erreichen können, im Herbst 2010
zur „Notlösung“ gegriffen. Sie kündigte
das Geschäft und zahlte den Marktwert
von 57 Millionen Euro.
So wie der OB von Pforzheim denken
viele europäische Politiker. Dies bereitet den amerikanischen Banken großes
Unbehagen. Denn sie fürchten tausende
Prozesse vor europäischen Gerichten.
Nimmt man den BGH als Maßstab, dürften die europäischen Gerichte geneigt
sein, hohe Maßstäbe an die Beratungspflichten anzulegen und damit den USBanken erheblichen Ärger bescheren.
Mit dem TTIP wäre es möglich, den
ordentlichen nationalstaatlichen Rechtsweg zu umgehen. Im Völkerrecht gilt der
Grundsatz, dass ein Urteil nur akzeptiert
wird, wenn es gemäß „due process of law“
erfolgt ist. Dies bedeutet, dass es eine verfassungsmäßige Garantie geben müsse,
dass ein Gesetz nicht „unvernünftig, beliebig oder willkürlich“ sein dürfe. So versteht sich das angelsächsische „common
law“. Der Interpretation sind hier keine
Grenzen gesetzt – weshalb es im internationalen Recht auch die Schiedsgerichte gibt: Sie sollen den Streitparteien die
Grundsatz-Debatten ersparen und gleich
zum Wesentlichen führen – zu einer Einigung auf eine Summe, die zu bezahlen
ist.
Die Amerikaner fühlen sich im Zuge
der Prozesse wegen der Finanzprodukte
allerdings vor europäischen Gerichten so
unsicher wie auf Hoher See. Sie fürchten,
dass nun zahllose europäische Institutionen auf die Idee kommen könnten, wie
der OB von Pforzheim zu sagen: „I want
my money back.“
Der US-Botschafter in Italien hat dieses Unbehagen – wohl etwas unbedacht
– artikuliert und damit die Katze aus dem
Sack gelassen. Seine grundsätzlichen Bemerkungen erklären, warum die Amerikaner es mit dem TTIP so eilig haben.
Der Fall hat eine einfache Vorgeschichte: Ein italienischer Staatsanwalt
hatte die US-Ratingagenturen Standard
& Poor’s, Moody’s und Fitch angeklagt,
weil sie die Kreditwürdigkeit Italiens in
Misskredit gebracht hätten. Das Verfahren gegen Moody’s war nie eröffnet worden. Der Prozess gegen Fitch wurde nach
Mailand abgegeben und dort eingestellt,
wie die Ratingagentur mitteilte. Nun ermittelt derselbe Staatsanwalt in Trani,
Apulien, gegen die Deutsche Bank und
fünf ehemalige Vorstände wegen angeblicher Marktmanipulation. Unter ihnen
sind auch die früheren Vorstandschefs
Josef Ackermann und Anshu Jain. Die
Deutsche Bank hatte im ersten Halbjahr
2011 sieben Milliarden Euro an italienischen Staatsanleihen verkauft, fast 90
Prozent ihres Gesamtbestandes. Staatsanwalt Michele Ruggiero hält das für an-
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rüchig, nachdem die Analysten der Bank
Anfang 2011 ihre Kunden noch beruhigt
hätten, dass die Staatschulden Italiens
keinen Grund zur Besorgnis gäben, wie es
in Ermittlerkreisen heißt.
In Trani wird außerdem immer noch
gegen den früheren Italien-Analysten
von Fitch, David Riley, und gegen fünf
S&P-Manager verhandelt. Die Schuldenkrise hatte letztlich zum Sturz der Regierung von Silvio Berlusconi beigetragen.
Die Aussage von John Phillips, dem
US-Botschafter in Italien, macht klar, dass
die Amerikaner mit erheblichen Schwierigkeiten rechnen. Phillips wählte genau
die Argumentation, die die Grundlage
für Freihandelsabkommen vom Stile des
TTIP sind. Phillips kritisierte das Vorgehen der Justiz gegen die Ratingagenturen
scharf und sagte laut Reuters im April vor
Studenten in Mailand: Das Justizsystem
des Landes schrecke Investoren ab. In den
USA wäre es schwer vorstellbar, dass ein
solcher Prozess außerhalb der Finanzzentren geführt würde, wo die Staatsanwälte
Erfahrung mit dem Wertpapierrecht hätten. Er kritisierte, dass Manager in Italien
auf Grundlage eines Haftbefehls aus einer Kleinstadt ohne Bezug zu S&P festgehalten würden. Ruggiero war auf die
Beschwerde von
Verbraucherschützern hin tätig geworden, die bei den Behörden in Rom
und Mailand vorher abgewiesen worden
waren.
Mit dem TTIP wäre ein Gericht in
Trani überhaupt nie zum Zug gekommen. Der Streit wäre vermutlich nicht
einmal zwischen Italien und den betreffenden US-Banken oder Ratingagenturen
ausgetragen worden, sondern vor einem
Schiedsgericht gelandet, auf das die geschädigten Konsumenten keine Einfluss
haben und vor dem es ihnen kaum möglich wäre, ihr Recht zu erstreiten. Denn
die US-Banken und Finanzinstitutionen
sind, wie die Aussage von Phillips erkennen lässt, der Meinung, dass kleine
Gerichte überhaupt keine Ahnung vom
internationalen Wertpapierrecht haben
– und daher das Prinzip des „due process
of law“ nicht gewährleistet sei. Eigentlich
gilt dieser Ansatz in erster Linie für Staaten mit unterentwickelten oder korrupten Rechtssystemen. Doch die Komplexität der Finanzprodukte ist so groß, dass
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man ein ordentliches Gericht in Europa
durchaus als überfordert bezeichnen
kann.
Phillips‘ Drohung, dass Investoren
vom unzulänglichen Rechtssystem in Italien abgeschreckt würden, führt ins Herz
des TTIP: Die Amerikaner wollen sicherstellen, dass nach ihren Regeln gespielt
wird: Auch vor Gericht – und überall auf
der Welt, und vor allem für Machenschaften, die in der Vergangenheit liegen. Dass
das Römische Recht, auf dem viele europäische Rechtssysteme basieren, aus Italien kommt, tut nichts zur Sache.
Denn anders als vermutet, machen
die Amerikaner beim TTIP nicht Druck
wegen zukünftiger Tricksereien, sondern
wegen solcher, die im Zuge der Finanzkrise bereits tausendfach verübt wurden.
Sie wollen also nicht in erster Linie gegen
die EU-Staaten klagen können. Sie wollen verhindern, dass die US-Banken von
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EU-Bürgern, Kommunen oder Unternehmen vor ordentlichen Gerichten wegen
fragwürdiger Kredit- und Wett-Geschäfte
verklagt werden. In der immer noch unvermindert schwelenden Schulden-Krise
sind Trani und Pforzheim für die Amerikaner eine echte Bedrohung – auch wenn
die TTIP-Verhandler zunächst vermutlich
lange auf der Landkarte suchen müssen,
wo sich diese verdammten Orte überhaupt befinden.
Finanzen
Lebensversicherung: Das Ende der Überschüsse
Die Policen-Inhaber von Lebensversicherungen werden durch die Zinsbaisse hart getroffen
D
as Tiefzinsumfeld bringt Lebensversicherungen in arge Schwierigkeiten.
Sie haben in der Vergangenheit, vor allem
in den Jahren 1995 bis und mit 2003, aufgrund einer rückwärts gewandten Formel
hohe Garantiezinsen gewährt. Doch ihr
Geschäftsmodell lässt sich bei der Zinsbaisse seit 2010 in Europa nicht mehr einhalten. Die buchhalterische Praxis und das
ausgeklügelte System mit Reserven und
Puffern gewähren etwas Aufschub, aber
keinen vollständigen Schutz mehr. Die
2011 in Deutschland eingeführte Zinszusatzreserve beschleunigt in der Zukunft
die Krise der Lebensversicherung. Die
Garantien für die Altverträge mit hohen
Garantiesätzen werden durch reduzierte
Überschüsse bei den neueren Verträgen
mit niedrigen Garantiesätzen finanziert.
Lebensversicherungen
sind
im
Deutschland der Nachkriegszeit ein relativ junges Produkt. Sie sind ein wichtiges Sparprodukt, das vor allem seit
den 1980er Jahren als Ergänzung zur
umlagefinanzierten Rente regulatorisch
und steuerlich gefördert wurde. Lebensversicherungen haben vor allem in
den 1980er, 1990er Jahren und frühen
2000er Jahren massiv zugelegt. Dies
war auch eine Folge der Deregulierung
des Versicherungsmarktes in der Mitte
der 1990er Jahre. Die Lebensversicherer
schrieben Policen mit hohen Garantien von 3.5 Prozent (1987-94), 4 Prozent
(1995-Juni 2000) und 3.25 Prozent von
Juli 2000 bis Ende 2003.
Über diese hohen Garantien hinaus
waren sie auch bis Anfang der 2000er
Prämieneinnahmen und Bilanzsumme der Lebensversicherungen in Deutschland.
Jahre fähig, hohe Überschüsse zu erwirtschaften, hauptsächlich weil sie in der
zweiten Hälfte der 1990er Jahre verstärkt
in Aktien investierten.
Die Nettorendite der Anlagen der
Versicherer (blaue Linie) bezeichnet die
nominale Rendite auf den Buchwertanlagen. Sie schließt neben den laufenden
Renditen auch die Bewertungsgewinne
oder -verluste auf Realisaten ein. Diese
Nettorendite betrug bis zum Jahr 2000
immer 7 Prozent und mehr. Sie ist in den
2000er Jahren zunächst auf 5 Prozent,
später auf 4 Prozent gefallen. In den letzten Jahren ist sie durch massive Realisate
überzeichnet. Die laufende Rendite (rote
Linie) gibt ein realistischeres Bild ab. Sie
bezeichnet die Summe von Garantiesätzen und Überschusszuweisungen auf
dem Altbestand. Sie ist von ebenfalls 7
Prozent bis und mit 2000 auf 4 Prozent
Quelle: GDV
in den 2000er Jahren und jetzt erstmals
unter 3 Prozent im Jahr 2016 gefallen. Die
Rendite 10-jähriger Bundesanleihen (gelbe Linie) zeigt, wohin die Reise in der Zukunft gehen könnte.
Von ihrem Geschäftsmodell her investieren die Lebensversicherer hauptsächlich und – auf den ersten Blick
erstaunlicherweise – zunehmend in festverzinsliche Anlagen. Heute beträgt der
Anteil festverzinslicher Anlagen – Obligationen, Kredite, Fonds, die in festverzinsliche Instrumente investieren – über 90
Prozent der gesamten Anlagen. Einzelne
Versicherer mit höheren Gewichten für
Aktienanlagen machten in den Jahren
2002 und wieder 2008 sehr unangenehme Erfahrungen. Die Erträge der sehr
guten Jahre 1995-1999 oder 2004-2007
mussten jeweils zu hohen Prozentsätzen
an die Policenhalter ausgeschüttet wer7
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Performance-Indikatoren der Lebensversicherung.
den – zu 50 Prozent als laufender Überschuss. Als aber wegen der Aktienbaisse
hohe Verluste wie 2002 oder 2008 auftraten, wurden sie zu einem erheblichen
Teil den Aktionären angelastet. Dieser
Asymmetrie des Geschäftsmodells, die
teilweise auch buchhalterisch begründet
liegt, ist die Risikoscheu der Lebensversicherer bei ihren Anlagen zuzuschreiben.
Das aus heutiger Sicht suboptimale Geschäftsmodell ist der Tatsache geschuldet, dass eine asymmetrische Anreizstruktur bei kurzen Zeithorizonten für
die Anlagen auftritt – typischerweise einem Jahr.
Betrachtet man die Struktur der Aktiven aller deutschen Lebensversicherungen etwas genauer, so lässt es sich
als ein Portfolio von festverzinslichen
Instrumenten mit überdurchschnittlich
hoher Duration und guter Kreditqualität charakterisieren. Die modifizierte
Duration lag Ende 2014 bei über 10. Eine
solch hohe Duration bedeutet lange,
im Durchschnitt 17 bis 20-jährige Laufzeiten bei relativ niedrigen Zinsen und
dadurch hohe Zinsempfindlichkeit der
Obligationen. Der Wert der Obligationen
fällt (steigt) sehr stark bei einer Verschiebung der Zinsen über die ganze Kurve
hinweg.
Der Zukunftsertrag eines solchen
Portfolios ist heute aufgrund des Nullzinsumfeldes und der Anleihenkäufe
der EZB praktisch inexistent. Es gibt keinen Zins auf Jahre hinaus und selbst die
Werterhaltung ist nicht garantiert. Die
Quelle: GDV, Assekurata
ganze Zinskurve, auch bis ins lange Ende,
rentiert nicht mehr viel. Wäre das Portfolio deutscher Lebensversicherer ein
zu Marktwerten bilanzierter Fonds mit
Anteilscheinen, würde man als einzelner
Investor die Anteile sofort verkaufen. Die
Zinsen, gerade die langen Zinsen, sind
in den letzten Jahren gewaltig gesunken.
Dadurch haben die Obligationen mit langer und sehr langer Laufzeit sehr hohe
Kursgewinne erzielt. Gewinne mitnehmen und eine andere Anlagemöglichkeit
suchen, wäre die Devise.
Was für den einzelnen Anleger in einen Fonds korrekt wäre, trifft für die Versicherten bei einer Lebensversicherung
nicht zu. Vor allem bestimmte Gruppen
von Versicherten haben allen Grund, an
Bord zu bleiben. Drei Gründe sind hauptsächlich dafür verantwortlich:
13. Mai 2016
1) Die viel höheren Buchwert-Renditen der Vergangenheit, welche die Obligationen im Portfolio enthalten, sind
immer noch für die Bemessung der
Zinsgutschriften wichtig. Eine Lebensversicherung bewertet das Obligationenportfolio für ihre Ausschüttungen nicht
zu Marktwerten, sondern zu Buchwerten, genauer zu fortgeführten Anschaffungskosten (engl. amortized cost). Die
jährliche Rendite einer Obligation oder
eines Darlehens setzt sich dabei aus zwei
Komponenten zusammen: dem Zinssatz
auf Verfall bei der Anschaffung plus der
linearen Wertkorrektur der Obligation bis
zur Rückzahlung. Wurde eine Obligation statt gleichmäßig zu 98 oder zu 105
Prozent Kurswert gekauft, wird sie bei
Verfall zu 100 Prozent zurückbezahlt.
Diese Differenz zwischen Kaufwert und
Verkaufswert wird über die Zeit linear abgeschrieben. Sie kommt zum nominellen
Zinsertrag hinzu.
2) Die Versicherten genießen, was
auch immer sich im Obligationen-Portfolio abspielt, einen garantierten Mindestzins und ebenso bereits zugeschriebene
und damit garantierte Überschüsse aus
der Vergangenheit. Der Versicherte hat
nicht nur Garantien und Anwartschaften, sondern auch Optionalitäten, die es
attraktiv machen können, in der Lebensversicherung zu verbleiben.
3) Lebensversicherungen haben ein
ausgeklügeltes System von Puffern, Reservefonds und Schutzmechanismen,
welches robust ist. Allerdings ist es keineswegs für ein anhaltendes Tiefzinsumfeld konzipiert.
Struktur der Anlagen der deutschen Lebensversicherer und Kreditqualität der Festverzinslichen. Quelle: Assekurata, Marktausblick zur Lebensversicherung 2015 / 2016
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Komponenten der Renditen auf dem Sparteil von Lebensversicherungen.
Quelle: Assekurata, verschiedene Studien seit 2004
Ein zentraler Teil der Wertschöpfung
der Lebensversicherung ist oder besser
war es, aus einem an sich sehr volatilen
Portfolio (Obligationenportfolio mit hoher Duration und sehr guter Kreditqualität) eine über die Zeit hinweg ziemlich
stabile Verzinsung einerseits und einen
garantierten Zins andrerseits zu bieten
– dies bei großer Fairness zwischen den
verschiedenen Gruppen von Versicherten. Denn ein Obligationenportfolio
hoher Kreditqualität (und damit relativ
gesehen niedriger Zinsen) und langer Duration unterliegt bei substantiellen Zinsverschiebungen hohen Schwankungen
der Marktwerte.
Doch die buchhalterische Sonderbehandlung währt nicht ewig. Läuft eine
gut rentierende Obligation aus, die vor
10 Jahren mit einer Rendite von 5 Prozent
gekauft wurde, so muss sie im jetzigen
Umfeld allenfalls durch eine Obligation
mit Nullzins oder leicht darüber ersetzt
werden. Und diese wird dann in die Erträge der nächsten 10 bis 15 Jahre eingehen.
Gemäß einer Bundesbank-Untersuchung
von 2014 entspricht die Nettoverzinsung
der Kapitalanlagen von Lebensversicherern in Deutschland über längere Zeiträume ungefähr der Rendite sechsjähriger
Bundesanleihen plus einem Zuschlag für
das Kreditrisiko.1
Die verschiedenen Erhebungen
der Duration des Portfolios deutscher
Lebensversicherer für die letzten drei
Jahre2 zeigen, dass die durchschnittlichen Laufzeiten deutlich erhöht worden
sind – dies in einem Tiefzinsumfeld. Die
Lebensversicherer kauften vor allem
Staatsanleihen mit langen Laufzeiten,
hauptsächlich höchster und sehr hoher
Kreditqualität (AAA und AA). Sie konzentrierten sich auf Bundesanleihen und
Anleihen supranationaler Organisationen, teilweise aber auch Staatsanleihen
anderer Euro-Länder, die mehr als die
Bundesanleihen rentierten. Umgekehrt
wurde aus aufsichtsrechtlichen Gründen
die Eigenmitteldecke aufgestockt, indem
die Lebensversicherer Realisate bei bisher gehaltenen Obligationen tätigten.
Sie verkauften Obligationen mit hohen
Renditen und Bewertungsreserven vor
der Rückzahlung und konnten so hohe
einmalige Bewertungsgewinne erzielen
– deshalb die ungewöhnlich hohen Nettorenditen der Anlagen in den letzten
Jahren.
Es ist daher nicht einfach, genau abzuschätzen, was die Effekte auf die Portfoliorendite einerseits und die Duration
wirklich sind. Am wahrscheinlichsten ist,
dass die Netto-Rendite des Portfolios exklusive der Realisate erheblich gesunken
ist und dass sich die Phase niedriger Zinserträge lange, über 10 Jahre und darüber
hinaus, hinziehen wird. Eine Indikation
liefert die Gesamtverzinsung des Altbestandes. Deren Rendite ist von über 5 Prozent im Jahre 2010 auf rund 3.5 Prozent
für 2016 gefallen und dürfte in den Folgejahren einen weiteren steilen Absturz
erleiden. Auch die Gesamtverzinsung
enthält noch Realisate, vor allem in den
Investment-Fonds.
Mit anderen Worten werden die
13. Mai 2016
Versicherten verzögert und über einen
langen Zeitraum von bis zu 10 Jahren
massiv rückläufige Erträge auf ihren
Sparguthaben bei Lebensversicherern
erhalten.
Doch das trifft nicht alle Versicherten gleichmäßig, ganz im Gegenteil. Es
gibt im gegenwärtigen Tiefzinsumfeld
Versicherte, die enorm profitieren. Und
andere sind dafür umso mehr benachteiligt. Um dies verstehen zu können, ist
ein kleiner Exkurs über Lebensversicherungen nötig.
Eine Lebensversicherung ist vom
Grundprinzip ein strukturiertes oder
aus einem Risiko- und einem Sparteil zusammengesetztes Produkt. Der Risikoteil
kann eine Todesfall- und/oder eine Invaliditäts-/Berufsunfähigkeitsversicherung
betreffen – der Sparteil eine Garantieversicherung oder eine fondsgebundene
(engl. unit linked) Police. Die Prämie, die
der Versicherte beispielsweise monatlich
einzahlt, hat entsprechend eine Kosten-,
eine Risiko- und eine Sparkomponente.
Die Kosten für Vertrieb und Abschluss
werden in den ersten Jahren der VertragsLaufzeit dem Versicherten belastet. Die
Prämie für die laufenden Kosten spielt
auch später eine nicht zu unterschätzende Rolle, vor allem bei niedrigen Zinsen.
Am Anfang reduziert sich somit die Ersparniskomponente erheblich.
Die Garantieverzinsung wie allfällige
Überschüsse bei einem Garantieprodukt
beziehen sich immer nur auf den Sparteil
der Prämie, nicht auf die gesamte Prämie.
Kosten und Risiko stellen je nach Produkt, Versicherung und Vertragsbeginn
ungefähr 10-20 Prozent der Prämienzahlung dar.
Damit der Zinseffekt der Ersparnis
erheblich werden kann, ist eine längere Ansparperiode von mehreren Jahren
wichtig. Dann spielt die Verzinsung der
angehäuften Sparprämien eine immer
größere Rolle gegenüber den laufenden
Einzahlungen wie auch gegenüber den
laufenden Kosten. Das Sparprodukt wird
entweder als einmalige Kapitalauszahlung, meist bei erreichtem Rentenalter,
oder als laufende Rente bis zum Todesfall
ausbezahlt. In Deutschland dominiert
heute die laufende Rente gegenüber
Kapitalauszahlungen, welche bis in die
1990er Jahre die überwältigende Mehr9
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heit darstellten.
Die Erträge von Lebensversicherungen bestehen für die Versicherten im Wesentlichen aus drei verschiedenen Komponenten:
1) dem Garantiezins, der zum Zeitpunkt des Abschlusses der Lebensversicherung galt und der dem Kunden für
die ganze Laufzeit der Police auf seinem
Sparbeitrag garantiert ist. Versicherte,
welche 1995 bis Juni 2000 einen Vertrag
abschlossen, erhalten 4 Prozent, unabhängig bei welcher Versicherung sie den
Vertrag abschlossen. Versicherte, welche
seit 2014 einen Vertrag abgeschlossen haben, dagegen nur 1.25 Prozent, unabhängig von der Versicherung.
2) den laufenden Überschüssen über
den Garantiezins hinaus, die den Kunden während der Laufzeit des Vertrages
pro Jahr gutgeschrieben werden. Diese
laufenden Überschüsse sind im Voraus
nicht garantiert, sondern abhängig vom
Investitionserfolg des VersicherungsPortfolios im vergangenen Jahr. Sie werden jedes Jahr von der Versicherung gegen Jahresende neu festgelegt und dann
dem Kunden gutgeschrieben. Sind die
Gutschriften einmal gutgeschrieben, so
sind sie genauso garantiert wie die Garantiebestände. Im Unterschied zu den
Garantiezinsen differieren die laufenden
Überschüsse je nach Versicherung und
teils systematisch über die Zeit hinweg.
3) den Schlussüberschüssen, die bei
Ablauf der Vertragsdauer zur Verfügung
stehen. Die Versicherung wird, auch
aus regulatorischen Gründen, nicht alle
Überschüsse sofort ausschütten, sondern eine Reserve aufbauen. Diese steht
dann als Schlussüberschuss für einmalige Kapitalleistungen oder für laufende
Renten zur Verfügung. Dieser Schlussüberschussfonds stellt einen Puffer und
eine Reserve für unvorhersehbare Entwicklungen dar. Auch diesbezüglich gibt
es Unterschiede zwischen den Versicherungen.
Die folgende Grafik zeigt nun, wie
sich diese Komponenten über die Zeit
hinweg entwickelt haben. Sie vermitteln
auch einen Eindruck, was die zukünftige
Dynamik sein wird. (Siehe Seite 10).
Was sich abzeichnet, sind verschiedene Trends: Die Garantiezinsen auf
dem Altbestand und die laufenden Über-
schüsse fallen seit rund 2010 deutlich
zurück. Die jährlich verbuchten Garantiezinsen sind von durchschnittlich 3.30
Prozent im Jahr 2010 auf 2.59 Prozent im
Jahr 2015 gefallen – die durchschnittlich
gutgeschriebenen laufenden Überschüsse von 0.9 Prozent auf 0.6 Prozent. Die
Schlussüberschüsse beziehungsweise die
Schlussüberschussfonds dagegen sind
bisher praktisch unverändert geblieben.
Doch hinter diesem Bild verstecken
sich eine Komplexität und ein erhebliches Risikopotential.
Die Reduktion der Garantiesätze ist
nicht nur das Ergebnis der natürlichen
Umwälzung des Kundenportfolios und
der stark gesunkenen Garantiesätze im
Neugeschäft. Die reduzierten Garantiesätze entspringen vor allem auch
prudentiellen Eingriffen durch den Regulator. Auf dem Altbestand sinken die
durchschnittlichen Garantiesätze normalerweise jedes Jahr nur einige wenige
Basispunkte. Sie liegen aktuell bei rund
2.97 Prozent. Als die Zinsbaisse sich abzuzeichnen begann, hat die BaFin 2011
vorsorglich eine zusätzliche Sicherung
eingebaut, die sogenannte Zinszusatzreserve. Diese repräsentiert eine zusätzliche
Deckungssicherheit auf der Passivseite
der Versicherungsbilanz. Sie zu vermehren, bedeutet in der Gewinn- und Verlustrechnung einen Aufwand, der durch
einen zusätzlichen Ertrag erwirtschaftet
werden muss. Dieser Ertrag resultiert in
den meisten Fällen aus Verkäufen von
Obligationen oder anderen festverzinslichen Instrumenten mit Bewertungs-
13. Mai 2016
reserven. Mit anderen Worten tritt ein
außerordentlicher Ertrag ein, welcher der
Realisierung von stillen Reserven entstammt. Bilanzmäßig bedeutet dies eine
Verlängerung der statutarischen Bilanz.
Die Aktiven werden durch die Realisate
erhöht und auf der Passivseite werden
dadurch zusätzliche Reserven geschaffen. Ziel dieser Übung ist es explizit, den
ausgewiesenen Garantiesatz auf dem Altbestand zu senken.
Diese Differenz zwischen dem Garantiesatz vor und nach der Zinszusatzreserve ist 2015 auf 38 Basispunkte angestiegen, was schon viel ist. Sie wird sich
in den kommenden Jahren enorm ausweiten – auf schätzungsweise 70 bis 100
Basispunkte. Grund dafür ist die Entwicklung des Referenzsatz für die Zinssatzreserve.
Ähnlich der Formel für den Garantiesatz im Neugeschäft hat das BaFin 2011
einen gleitenden Durchschnitt der vergangenen 10 Jahre als Referenzsatz festgelegt (blaue Balken) – dies aber für die
Zero-Coupon Swap-Rate mit 10-jähriger
Laufzeit (jährliche Werte, grüne Balken).
In den nächsten Jahren wird in diesem
gleitenden 10-Jahresmittel jedes Jahr
ein Zinssatz von rund 4 Prozent herausfallen und durch einen Satz von ca. 0-1
Prozent ersetzt werden. Das bringt einen
jährlichen Rückgang des gleitenden Mittels von rund 30 Basispunkten, vielleicht
noch mehr.
Die Versicherungen müssen ihr Deckungskapital im Ausmaß der Differenz
zwischen diesem so berechneten Refe-
Wirkung der Zinszusatzreserve auf den durchschnittlichen Garantiesatz
Quelle: Assekurata, Überschussbericht 2015/16
10
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renzsatz und dem Garantiesatz jeder
Tarifgeneration als Zinszusatzreserve zurückstellen. Beispiel: Der Referenzsatz für
die Zinszusatzreserve betrug 2011 erstmals weniger als 4 Prozent, nämlich 3.91
Prozent. Damit mussten für alle Verträge
mit einem Garantiesatz von 4 Prozent
Neun Vierhundertstel des Deckungskapitals (0.09 von 4 Prozentpunkten) als
Zusatzreserve zurückgestellt werden. Im
Folgejahr 2012 sank der Referenzsatz auf
3.63 Prozent. Damit mussten von den
Verpflichtungen mit 4 Prozent Garantiesatz weitere 28 Vierhundertstel des
gesamten Deckungskapitals dieser Tarifgruppe zurückgestellt werden. 2013 sank
der Referenzsatz auf 3.41 Prozent. Damit
mussten nicht nur weitere 22 Vierhundertstel des 4 Prozent-Deckungskapitals,
sondern erstmals auch Neun 35stel des
3.5 Prozent Garantie-Deckungskapitals
zurückgestellt werden.
Der zu erwartende scharfe Rückgang
des Referenzsatzes bewirkt also, dass jedes Jahr immer mehr Verträge – bisher
mit Garantiesätzen von 4 Prozent, 3.5
Prozent, 3.25 Prozent, 2016 dann die Verträge mit 3 Prozent, 2017 wohl diejenigen
mit 2.75 Prozent, 2018 diejenigen mit 2.25
Prozent – nachreserviert werden müssen. Die Summe der Zinszusatzreserve
wird dadurch explosionsartig und exponentiell in die Höhe springen. Bisher
und inklusive 2015 betrifft diese Nachreservierung rund 32 Milliarden Euro. Bis
2019/20 kann diese Summe auf rund 150
Milliarden Euro ansteigen, wenn die Zinssätze auf dem gegenwärtigen Niveau verbleiben – oder erst recht, wenn sie noch
weiter sinken.
Die Zinszusatzreserve ist bisher ohne
Nebengeräusche über die Bühne gegangen. Das hängt damit zusammen, dass
Referenzsatz für die Zinszusatzreserve
ihre Größenordnung bisher limitiert
ist und sie vom Regulator wie von den
Versicherungsgesellschaften als Sicherstellung verkauft werden konnte. Sie hat
tatsächlich diese eine vorteilhafte, aber
daneben auch zwei unliebsame Wirkungen.
Die vorteilhafte Wirkung ist klar: Es
gibt eine zusätzliche Deckungssicherheit,
und der Garantiesatz im Altbestand sinkt
durch diese Rückstellung beschleunigt.
Das Bild bisher vermittelt den Eindruck,
die Versicherung und die Versicherten zu
stärken.
Doch das Ganze hat ganz erhebliche, unliebsame Nebenwirkungen. Die
Zinszusatzreserve wird primär durch Realisate geschaffen, vor allem auf Obligationen mit Bewertungsreserven. Die so geschaffenen Cash-Bestände müssen dann
zu aktuellen Marktsätzen wieder in neue
festverzinsliche Instrumente reinvestiert
werden. In der Realität werden somit gut
rentierende Obligationen aus der Vergangenheit durch solche mit praktisch Nullzinsen abgelöst.
Mit anderen Worten sinkt nicht nur
der Garantiesatz auf dem Altbestand,
sondern ebenso die Portfoliorendite für
Deckungskapital der Lebensversicherer nach Garantiesätzen.
Quelle: Assekurata, Überschussbericht 2015/16
13. Mai 2016
Quelle: heistermannconsulting.de
die Zukunft. Die Rendite dieser Zukäufe
liegt wieder viel tiefer als selbst die reduzierte Garantierendite auf dem Altbestand. Das vom BaFin vorgeschriebene
Vorgehen zur Sicherstellung von hohen
Garantien aus der Vergangenheit löscht
also das Zukunftspotential dieses Portfolios beschleunigt aus. Wenn eine dauerhafte Niedrigzinsphase eintritt, dann
hat dieses Vorgehen einen Beschleunigereffekt auf die Krise der Lebensversicherung. Das Vorgehen ist nur geeignet,
vorübergehende Schwierigkeiten aufzufangen, aber keinesfalls eine lange Niedrigzinsphase zu bewältigen. Im Gegenteil:
Die für die nächsten Jahre zu erwartende
Zuweisungen in die Zinszusatzreserve
gefährden Versicherung und Versicherte
über den normalen, aus dem Verfall von
Obligationen mit hohen Buchwertrenditen resultierenden Zinssenkungseffekt
zusätzlich und vorzeitig.
Die Zinszusatzreserve stabilisiert
die Garantieverpflichtungen der in den
1980er und 1990er Jahren verkauften
Versicherungen mit hohen bis sehr hohen Garantiesätzen von 3.5 Prozent und
4 Prozent. Das sind hauptsächlich Kapitalversicherungen, die in den nächsten
Jahren bis ungefähr 2030 ausbezahlt
werden. Eine Kapitalversicherung beinhaltet eine einmalige Auszahlung des
angesparten Kapitals bei Renteneintritt.
Umgekehrt belastet sie vor allem diejenigen Rentenversicherungen mit tiefen
Garantiesätzen. Das sind mehrheitlich
Rentenversicherungen, die von 2007 an
(2.25 Prozent Garantiezins) und vor allem
in den 2010er Jahren (2.25 Prozent, 1.75
Prozent und 1.25 Prozent Garantiezins)
gezeichnet worden sind. Diese Rentenversicherungen haben niedrige Garan11
Deutsche
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tiezinsen und werden bald sehr niedrige
oder sogar keine laufenden Überschüsse
mehr erhalten. Dies unter der Voraussetzung, dass die Zinsen in den nächsten
Jahren nahe bei Null bleiben.
Damit zeichnet sich für die Versicherten folgende Gesamtdynamik bei
den Lebensversicherungen ab. Sehr gut
ist die Konstellation für diejenigen Versicherten, welche in den 1980er und 1990er
Jahren eine Kapitalversicherung abgeschlossen haben. Sie haben damals in der
Ansparphase bis zu Beginn der 2000er
Jahre von laufenden Verzinsungen von
rund 7 Prozent profitiert, dies Jahr für
Jahr. Damit haben sie sehr rasch eine Ersparnis aufgebaut und haben auch in den
2000er Jahren noch anständige laufende
Verzinsungen von 4 Prozent und darüber
erhalten. Da sie hohe Garantiesätze von
3, 3.5 und 4 Prozent haben, auch für die
Zukunft, wird ihr bereits sehr stattlich
gefülltes Kapital real, d.h. nach Abzug der
Inflation und der laufenden Kosten, immer noch sehr gut verzinst werden. Diese
Generation von Versicherten mit hohen
Garantiesätzen machen rund 45 Prozent
des gesamten Deckungskapitals aus. Weil
sie aber schon lange und zu hohen Renditen angespart haben, handelt es sich zahlenmäßig, von der Anzahl der Verträge
her, um eine erstaunlich kleine Gruppe.
Praktisch gleich gut gestellt sind die Versicherten mit Garantiesätzen aus dieser
Zeit mit laufenden Renten.
Am anderen Ende der Skala stehen
diejenigen Versicherten, welche in den
2010er Jahren eine laufende Rentenversicherung abgeschlossen haben. Sie
sind mit niedrigen Garantiesätzen und
laufenden Überschüssen gestartet und
kommen dadurch einfach nicht auf die
Gänge in der Ansparphase. Sie werden in
den nächsten Jahren mehr oder weniger
den Garantiesatz plus einige Krümel erhalten. Bei diesen niedrigen Zinsen fallen
die laufenden Kosten eben auch ins Gewicht. Real, nach Abzug von Inflation und
Kosten, können sie nur wenig bis nichts
ansparen. Etwas besser oder weniger
schlecht stehen die Rentenverträge mit
einmaligen Einzahlungen da. Sie leiden
zwar auch unter den niedrigen Garantiesätzen, haben aber bereits angespart.
Ebenfalls zu den Verlierern zählen
dürften die rund 10 Millionen Versicherten mit Riester-Verträgen. An sich ist das
Riester Modell mit der steuerlichen Subventionierung nicht grundlegend fehlkonstruiert. Aber tiefe Zinsen sowie hohe
direkte und indirekte Kosten durch die
Garantien implizieren, dass die meisten
Versicherten 85, 90 Jahre oder noch älter
werden sollten, damit sie überhaupt so
viel zurück erhalten, wie sie einbezahlt
haben werden. Von einer realen Verzinsung ganz zu schweigen. Für diese Gruppe ist von Seiten der Politik dringender
Handlungsbedarf gegeben.
Der Rest der Versicherten bewegt
sich im Mittelfeld, mit großen Abweichungen in beiden Richtungen. Dabei
spielt eine bedeutende Rolle, ob sie 3.25
Prozent Garantiesatz (2000-2003) oder
ob sie 2.75 Prozent (2003-2006) oder 2.25
Prozent (2007-2010) aufweisen. Denn bei
diesen Garantiesätzen kombinieren sich
Zinseffekt und Länge der Ansparphase
bei noch auskömmlichen laufenden Verzinsungen.
Ganz wichtig ist aber auch die Situation je nach Versicherung. Es gibt bei
gleicher Konstellation bedeutende Unterschiede zwischen den einzelnen Versicherungen. Es gibt Versicherungen mit
sehr guten Leistungen selbst für Jahrgänge 2011 ff. und es gibt solche mit bescheidenen Erträgen auch für die 2000er
Jahre. Dabei spielt nur schon die Definition der Rendite eine Rolle, um überhaupt
vergleichbare Angaben zu bekommen.
Um ein Bild zu erhalten, lohnt sich ein
Blick in die Überschussberichte der Assekurata.
Die Zinszusatzreserve hat negative
Seiten: Neben dem systemrelevanten
Defekt, dass die Portfoliorendite beschleunigt abgesenkt wird, kommt eine
Verletzung der Fairness zwischen den
Tarifgenerationen zum Vorschein. Denn
was passiert mit den Kunden? Bisher
galt, dass die Versicherten gleich welcher
13. Mai 2016
Garantie-Generation praktisch dieselben
Gesamterträge erhalten haben. Dies unabhängig davon, ob der Garantiesatz 3.5,
4, 2.75 oder 2.25 Prozent betrug. Die Versicherungen haben immer so argumentiert und die Lebensversicherungen mit
Garantien so verkauft, dass die Leistungen bzw. Erträge unabhängig vom Garantiesatz seien. Dies galt so effektiv in der
Vergangenheit. Ceteris paribus gälte rein
versicherungstechnisch sogar, dass die
Gesamterträge höher ausfallen, wenn die
Garantiesätze möglichst gering sind.
Doch mit dem Fall der Zinsen und
mit dem Entscheid zur Bildung von
Zinszusatzreserven nach dieser Formel
mit dem Referenzsatz wird diese Fairness oder Gleichbehandlung der Kunden
abgeschafft. Es findet eine zusätzliche
Umverteilung von den Kunden mit ohnehin niedrigen Renditeerwartungen zu
denjenigen mit sehr hohen Garantiesätzen statt. Tendenziell gilt für die Zukunft,
dass jeder Kunde genau seinen Garantiesatz auf den Sparteil bekommt und sonst
keine laufenden Überschüsse mehr. Bei
den sehr niedrigen Garantiesätzen von
1.25 Prozent und 1.75 Prozent wird es noch
wenige Jahre für kleine, laufende Überschüsse reichen. Die Schlussüberschüsse
werden ebenfalls gekappt. Der Schlussüberschussfonds hingegen wird beibehalten, weil er Teil der Deckungsreserve
ist.
Tendenziell gilt, dass die Kunden mit
niedrigen Garantiesätzen wie 1.25, 1.75
oder 2.25 durch den Verzicht auf erklecklich laufende Überschüsse die Garantien
der Kunden mit hohen Garantiesätzen
aus den 1980er und 1990er Jahren finanzieren – eine große Ungerechtigkeit.
1 Kablau, Anke und Weiß, Mathias: Wie
wirkt sich das Niedrigzinsumfeld auf die
Solvabilität der deutschen Lebensversicherer aus? Diskussionspapier Nr. 27/
2014, Deutsche Bundesbank
2 Assekurata: Marktausblick zur Lebensversicherung 2015/16
Impressum Geschäftsführer: Christoph Hermann, Karmo Kaas-Lutsberg. Herausgeber: Dr. Michael Maier (V.i.S.d. §§ 55 II RStV).
Redaktion: Anika Schwalbe, Gloria Veeser, Nicolas Dvorak. Sales Director: Philipp Schmidt. Layout: Nora Lorz. Copyright: Blogform
Social Media GmbH, Kurfürstendamm 206, D-10719 Berlin. HR B 105467 B. Telefon: +49 (0) 30 / 81016030, Fax +49 (0) 30 / 81016033. Email: [email protected]. Erscheinungsweise wöchentliches Summary: 52 Mal pro Jahr. Bezug: [email protected]. Mediadaten: [email protected].
www.deutsche-mittelstands-nachrichten.de
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