Süddeutsche Zeitung (23.04.2016)

A M WO C H E N E N D E
WWW.SÜDDEUTSCHE.DE
HF1
MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 23./24. APRIL 2016
72. JAHRGANG / 16. WOCHE / NR. 94 / 3,20 EURO
Apokalypse
Wow
FÜR IMMER JUNG
FOTOS: NATURAL HISTORY MUSEUM, MAURITIUS, KIRSTY MACKAY/INSTITUTE, AP
Das beweglichste Stück
Italien, die Vespa,
wird 70 Jahre alt
Bilder aus der Zukunft:
In sechs Milliarden Jahren wird die
Sonne spektakulär sterben.
Bis dahin muss die Menschheit
eine neue Heimat finden.
Aber wo?
Wissen, Seite 38
(SZ) Aus dem Europapark Rust erreicht
uns die Kunde, der knorrige Kämpe Volker Kauder habe ebendort die Herren der
Koalitionsrunde aufgefordert, Männer
zu sein und in die Achterbahn zu steigen.
Wie es heißt, ist dem niemand gefolgt,
und das kann man ja verstehen. Wer täglich auf wilder Fahrt die jähen Kurswechsel, die Höhenflüge und Höllenstürze
eines Regierungsbündnisses mitmacht,
der weiß, was eine wahre Achterbahnfahrt und was ein Aufschlag im Wasser
ist; da braucht er nicht erst zum „Supersplash“ nach Rust zu gehen. Umso gebieterischer stellt sich die Frage: Was hat die
besten Köpfe der Regierung veranlasst,
ihre Klausur ausgerechnet in einen Freizeitpark zu verlegen?
Plausibel erscheint die Vermutung:
Die Lage der Koalition bietet so wenig Anlass zur Freude, dass sich ein frohsinniges Umfeld nur noch mit Hilfe professioneller Anbieter schaffen lässt. Möglich
mag aber auch sein, dass sich die Spitzen
der deutschen Sozialdemokratie wie
einst der Kalif Harun al-Raschid einmal
unters gemeine Volk mischen wollten,
um zu erfahren, was dieses über sie und
ihre Leistung dächte. Im Zweifel müssten
sie sich, anders als der Kalif von Bagdad,
nicht einmal verkleiden, um gänzlich unerkannt zu bleiben. Statt steriler Konferenzzentren und öder Stadthallen finden
sie dann beim Bürger draußen in Rust
das wahre, pralle Leben: allerlei Verführungen, Angstzustände, kostspielige Illusionen, zu teures Bier. Jedenfalls, eine originellere Wahl der Location, wie man heute sagt, wäre auch anderen Parteien
durchaus nahezulegen.
Die Linke zum Beispiel kann den Palast der Republik nicht mehr nutzen, weil
der Klassenfeind in seiner Tücke dieses
Meisterwerk sozialistischen Gestaltungswillens beseitigt hat. Für ihre außenpolitischen Beratungen böte sich aber das
Phantasialand an, dort besonders die
Geister-Rikscha und für die AG Russland
das Mystery Castle. Die Liberalen würden
sich idealerweise auf der Wiesn im Free
Fall Tower zusammenfinden; der Platz
ist etwas knapp, aber für die FDP wird er
schon reichen. Der AfD wiederum sei
empfohlen, ihren nächsten Parteitag abzuhalten in – nein, nicht in Berlin auf
dem Reichssportfeld, eine solche Unterstellung wäre wirklich unsachlich. Wie
viel passenderer ist doch das Museum für
die Geschichte der Bundesrepublik in
Bonn, speziell der Kinosaal, der im Stil
der Fünfzigerjahre eingerichtet wurde.
Dort kann man im Plüschsessel Heimatfilme wie „Grün ist die Heide“ betrachten, wo die Försterbraut hold und die Vergangenheit so rein und heil und deutsch
ist, wie man sie 1951 gern gehabt hätte.
Die strengen AfD-Führungsdamen Petry
und Storch dürften sogar noch etwas lernen: Beweist nicht Helga, die lebensfrohe
Försterin in spe, dass man ganz im Gestern leben kann, ohne ständig so sauertöpfisch dreinzugucken?
Medien, TV-/Radioprogramm
Forum & Leserbriefe
München · Bayern
Rätsel & Schach
Traueranzeigen
46-48
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40
63
34,35
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4 190655 803203
Panorama, Seite 12
EINE FÜR ZWEI
LETZTE ZUGABE
Die Zwillingsquote hat sich seit
den 80er-Jahren verdoppelt
– auch wegen einer Pille
Sehr subjektiv:
Die schönsten Songs aus
dem Gesamtwerk von Prince
Wissen, Seite 37
Feuilleton, Seite 17
Aufruhr im Autoland
Merkels
heikler Besuch
Nicht nur Volkswagen, fast die ganze Fahrzeugbranche hat beim Abgas getrickst. Auch Mercedes und Opel rufen jetzt
Zehntausende Diesel zurück, VW schreibt den größten Verlust seiner Geschichte. Doch einen Lichtblick gibt es
Kanzlerin wirbt in der Türkei
für das Flüchtlingsabkommen
von markus balser,
thomas fromm und klaus ott
E
s ist natürlich Zufall, dass solche
Dinge alle an einem einzigen Tag
passieren – an diesem einen,
schwarzen Freitag. Aber es ist kein Zufall,
dass sie überhaupt passierten. Denn die
Autoindustrie, mit all ihren Zulieferbetrieben nach wie vor der wichtigste Arbeitgeber in Deutschland, steckt in der wohl
tiefsten Krise ihrer Geschichte. Sie begann im September als Diesel-Affäre bei
Volkswagen. Spätestens seit Freitag, an
dem alles zusammen kam, ist klar: Der Abgas-Skandal hat inzwischen eine ganze
Branche verseucht – und das weltweit.
Das ganze Ausmaß der Affäre wurde in
Berlin deutlich, als Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) einen lange geheim
gehaltenen Untersuchungsbericht veröffentlichte. Das Papier macht deutlich:
Nicht nur VW hat bei Abgaswerten und
Umweltschutz getrickst. Die ganze Branche ist das Problem. Bei Tests von 53 Dieselmodellen fiel fast die Hälfte durch.
Weltkonzerne stehen auf einmal blamiert
da: Sie konnten den Prüfern erhöhte Stickoxidwerte nicht erklären. Die Folge nun:
Ein beispielloser Rückruf. Audi, Porsche,
Mercedes, Volkswagen und Opel müssen
630 000 Fahrzeuge in die Werkstätten zurückholen und die Abgasreinigung nachbessern. Denn viele Autobauer schalten
sie ab, wenn eine bestimmte Außentemperatur unterschritten wird. Über deutsche
Straßen rollen deshalb Autos mit gefährlich hohen Abgaswerten. Bis zu diesem
Freitag hatte VW ein Problem. Jetzt haben
fast alle großen Hersteller eines. Einzig
bei BMW fiel den Prüfern kein Fahrzeug
unangenehm auf.
Berlin bleibt nicht der einzige Ort der
Wahrheitssuche. Während Dobrindt in
Verdächtig ist, wenn am Klingelschild nur
eine Nummer steht. Argwohn müssen
auch Namen von toten Berühmtheiten
auslösen. So wurden in Prenzlauer Berg
neben Klingelknöpfen die Namen „Mandela“ und „Picasso“ entdeckt. Da ist zu
vermuten, dass dort eine Ferienwohnung
angeboten wird. Viele Wohnungen werden privat an Touristen über Internetportale wie Airbnb vermietet. In Berlin wird
es auch dadurch immer schwerer, bezahlbaren Wohnraum zu finden.
Die Stadt geht schon länger gegen die
Anbieter vor – und reiht sich ein in einen
Kampf, den weltweit auch andere Metropolen führen. In New York hat Generalstaatsanwalt Eric Schneiderman 2014 in
einem Gutachten festgestellt, dass viele
Angebote von Anbietern bei Airbnb illegal
seien. New York fährt deshalb einen harten Kurs. In Paris werden so viele Wohnungen über das Unternehmen angeboten wie nirgends sonst, dort begrenzen Gesetze die Vermietung auf bis zu vier Monate. Amsterdam wiederum hat sich mit
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Jegliche
der Hauptstadt über die Messergebnisse
des
Kraftfahrt-Bundesamtes
(KBA)
spricht, blickt man von Stuttgart aus
ängstlich in die USA: Ist Daimler der nächste VW? Zumindest haben die Schwaben
ein Riesenproblem in den USA. Zuerst warfen Kläger dem Hersteller vor, bei Temperaturen von unter zehn Grad die Grenzwerte bei giftigen Stickoxiden um bis das
65-fache zu überschreiten. In der Nacht
zu Freitag dann forderte das US-Justizministerium den Konzern auf, die Abgaswerte intern zu überprüfen. Spätestens da
war klar: Da braut sich was zusammen für
Daimler. Seit VW weiß man, was aus Problemen mit der US-Justiz werden kann.
Diesel-Ärger gibt es auch in Frankreich, wo Ermittler die Büros des französi-
schen Mutterkonzern von Peugeot und Citroën durchsuchten und Material beschlagnahmten. Es ging, auch hier, um
den Verdacht von Manipulationen bei
Schadstoffmessungen. Und dann wäre da
noch Fiat: Die von Dobrindt eingesetzte
Untersuchungskommission geht auch
dem Verdacht nach, dass der italienische
Autohersteller eine Technik eingesetzt haben könnte, um sich die aufwendige
Schadstoff-Reinigung zu ersparen. Diese
Hinweise sollen vom Stuttgarter Autozulieferer Bosch gekommen sein. Bosch wiederum steht unter Verdacht, seine entsprechende Abschalt-Vorrichtung nicht nur
an VW, sondern auch an andere Konzerne
geliefert zu haben. Das ist der inzwischen
weltbekannte VW-Trick, der dafür sorgt,
Der große Rückruf
630 000 betroffene Fahrzeuge von deutschen Herstellern
20 000 Autos
Audi
(Q5, A6, A8)
66 000
Mercedes
(A- und B-Klasse,
einige C-Modelle, V-Klasse)
247 000
Opel
(Zafira, Insignia, Cascada)
90 000
Porsche
(Macan)
32 000
VW
(Amarok, Crafter)
194 000
SZ-Grafik; Quelle: BMVI
Unwillkommene Gäste
Von New York bis Paris kämpfen Städte gegen
illegal vermietete Wohnungen. Berlin wird nun rigoros
Airbnb auf eine Lösung verständigt, die
Vermietungen begrenzt zulässt.
In Berlin haben private Vermieter
6300 Ferienwohnungen angemeldet. Der
Senat schätzt aber, dass es 12 000 sind, oft
werde illegal vermietet. Damit werde dauerhafter Wohnraum für 20 000 Menschen verhindert. Im am stärksten betroffenen Bezirk Mitte geht der Stadtrat Stephan von Dassel davon aus, dass die Zahlen noch höher liegen. Es ist lukrativ, immer nur für Tage zu vermieten. Vermieter
könnten „Pi mal Daumen dreimal so viel
einnehmen“, sagt der Grünen-Politiker.
Mit viel Aufwand und Personal be-
kämpfen er und Kollegen die Umwandlung regulärer Wohnungen in Urlaubsdomizile. Unterstützt wird er von Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD),
dessen Behörde für die Umsetzung des
„Zweckentfremdungsverbots“ den Bezirken jetzt noch mehr Personal zur Verfügung stellt. Das Landesparlament hat
2014 ein rigoroses Gesetz verabschiedet,
es vor Kurzem sogar verschärft: Illegalen
Anbietern drohen Geldbußen von bis zu
100 000 Euro. Die Stadt kann die InternetPortale zwingen, die Identität ihrer Anbieter preiszugeben. Seit dieser Woche nun
gibt es ein Online-Formuar, das Geisels
dass die Abgase beim Testbetrieb auf dem
Prüfstand gereinigt und dort die Grenzwerte für Stickoxide eingehalten werden,
im Straßenverkehr die Schadstoffe aber
ungefiltert auf Straßen und Bürgersteige
geblasen werden. Ein Sprecher des Mutterkonzerns Fiat Chrysler Automobiles
wollte sich dazu nicht äußern.
Und die Wolfsburger selbst? Der Konzern, mit dessen Abgas-Affäre in den USA
im September alles begann, muss bitter
büßen für seine Dieselautos: VW meldete
am Freitag den größten Verlust seiner Geschichte: 1,6 Milliarden Euro. Im Jahr davor stand hier noch ein Rekordgewinn von
elf Milliarden Euro – besser lässt sich
wohl nicht illustrieren, was so ein Abgasskandal mit einem Weltkonzern innerhalb eines Jahres machen kann. 16,2 Milliarden Euro muss das Unternehmen wegen des Diesel-Skandals für 2015 zurückstellen – das ist wohl erst der Anfang.
Die Abgasaffäre wird für die ganze Autoindustrie zu einem gigantischen Debakel. Bis auf BMW, so legen es zumindest
die Zahlen des KBA nahe, zählen alle deutschen Hersteller zu den Stickoxid-Sündern. Die meisten betroffenen Fahrzeuge
sollten noch im Sommer umgerüstet werden, kündigte Dobrindt an. Auffällig waren aber auch Modelle von Alfa-Romeo,
Chevrolet, Dacia, Fiat, Ford, Hyundai, Jaguar, Jeep, Land-Rover, Nissan, Renault
und Suzuki. Über mögliche Rückrufe dieser Hersteller ist noch nichts bekannt.
Die Wahrheitssuche dürfte damit auch
in Berlin weiter gehen. Die katastrophalen
Messergebnisse bringen auch die Bundesregierung in Bedrängnis. Seit Jahren hatte
es Hinweise auf Tricks der Konzerne bei
den Abgaswerten gegeben. Doch die Politik tat wenig, um dagegen vorzugehen.
Ein Bundestag-Untersuchungsausschuss
soll jetzt die Affäre aufarbeiten.
Behörde für die Berliner anbietet. Dort
können sie die Adresse einer Wohnung
melden, die möglicherweise „zweckentfremdet“ wurde.
Airbnb setzt Imagekampagnen dagegen. Das Unternehmen präsentiert sich
als Schmuckstück der „sharing economy“, das Reisenden günstiges Wohnen unter Einheimischen ermögliche, wobei die
Berliner sich etwas dazuverdienen könnten. Man bietet dem Senat Gespräche für
eine Verständigung an.
Berlin sieht keinen Raum für Kompromisse. Ende April läuft eine Übergangsfrist für die 6300 angemeldeten Wohnungen aus, und es soll wenig Ausnahmegenehmigungen geben, von fünf Prozent
spricht Stadtrat von Dassel. Generell erlaubt ist etwa die Vermietung von einzelnen Zimmern, wenn man selbst in der
Wohnung lebt. Derzeit werden zusätzliche Kräfte für die Kontrolle rekrutiert.
„Wir müssen alles tun“, sagt Senator Geisel, „um die Bezirke bei ihren Kontrollen
zu unterstützen.“
jens schneider
Berlin – Mit einem Besuch in der türkischen Grenzregion zu Syrien will Bundeskanzlerin Angela Merkel an diesem Samstag Belege dafür liefern, dass das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei richtig
und sinnvoll ist. Gemeinsam mit dem EURatspräsidenten Donald Tusk und dem
Vizepräsidenten der EU-Kommission,
Frank Timmermans, wird sie im südtürkischen Gaziantep eine von Unicef geführte und von der EU finanzierte Einrichtung für geflohene Kinder und Familien
eröffnen. Außerdem ist geplant, einem
von der Türkei errichteten Flüchtlingslager einen Besuch abzustatten. Damit wollen Merkel, Tusk und Timmermans den
Europäern demonstrieren, dass die zugesagten Milliardenhilfen für die Türkei
gut angelegt würden. Nach wie vor stößt
das Abkommen in Deutschland auf große
Ablehnung. Laut einer aktuellen Umfrage sehen drei Viertel der Deutschen die
Vereinbarung kritisch. sz
Seite 8
Streiks
an sechs Flughäfen
München – Am kommenden Mittwoch
werden in Deutschland wohl Tausende
Flüge ausfallen. Die Gewerkschaft Verdi
hat das Personal an sechs Flughäfen zum
Streik aufgerufen, und zwar in Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Hannover,
Köln-Bonn und München. Die Streiks
dürften Auswirkungen auf sämtliche
Flughäfen des Landes haben. Verdi will
damit Druck auf Bund und Kommunen
ausüben. Am Donnerstag beginnt die entscheidende Tarifrunde. de. Seite 9
MIT STELLENMARKT
Dax ▼
Dow ▶
Euro ▼
Xetra 16:30 h
10383 Punkte
N.Y. 16:30 h
17991 Punkte
16:30 h
1,1264 US-$
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verbreitet starke Bewölkung mit Regengüssen. In den Höhenlagen der Mittelgebirge vereinzelt Schnee- und Graupelschauer. Die Temperaturen erreichen
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