Heinz Schirp Wie Werte „gelernt" werden Neurobiologische Erkenntnisse und schulpraktische Konsequenzen In keinem Bereich des Lehrens und Lernens gilt das Diktum von der Nutzlosigkeit von Belehrungen und Bekehrungen mehr als dort, wo es um Wertorientierungen und soziale Einstellungen geht. Ob wir als Eltern oder als Lehrer und Lehrerinnen mit Erziehung befasst sind, wir alle haben mehr oder weniger erfahren müssen, dass weder gutes Zureden noch permanente Ermahnungen oder das Aufstellen von Regeln allein geeignet sind, soziale Einsichten und Verhaltensweisen zu etablieren. Dabei gibt es einige gute Gründe zu vermuten, dass die Bedeutung wertorientierter Erziehungsprozesse in Schule und Unterricht in den nächsten Jahren deutlich zunehmen wird. Dazu drei Prognosen. Erste Prognose: Schule als „System" wird sich stärker als bisher um die Entwicklung demokratischer, sozialer und wertorientierter Kompetenzen kümmern müssen, denn die Bedingungen und Ergebnisse familialer Sozialisationsprozesse werden Schulen vor neue Herausforderungen stellen. Schule wird die einzige Institution sein, in der Kinder und Jugendliche eines Jahrgangs intentional miteinander gemeinsam soziale Orientierungen erlernen können. Zweite Prognose: Die Belehrungs- und Instruktionskultur von Schule und Unterricht wird eine stärkere Ausbalancierung in Richtung einer selbst organisierten, lerner-orientierten Gestaltung erfahren. Neben und zusammen mit neuen Formen des selbstständigen Lernens - auch etwa mit neuen Medien - werden effiziente Lernverfahren zunehmend auch verstärkt auf soziale und kooperative Lernsituationen und Lernarrangements setzen. Dritte Prognose: Die demokratische und soziale Gestaltung von Schule und Unterricht wird eine zunehmend stärker werdende Gewichtung in der Diskussion um Schulqualität, Qualitätsentwicklung und -Sicherung erfahren. Die Qualität von Schule wird auch daran gemessen werden, ob sie es schafft, bei ihren Schülerinnen und Schülern tragfähige Wertvorstellungen, pro-soziale Fähigkeiten, Verantwortungsbewusstsein und demokratische Urteils- und Handlungsfähigkeiten zu entwickeln. Neurobiologische Kenntnisse helfen, Prozesse in Schule und Unterricht zu verbessern Was können nun Befunde der Neurobiologie, der Lern- und Kognitionswis- senschaften dazu beitragen, Prozesse wertorientierten Lernens in Schule und Unterricht zu verbessern? Wir meinen: eine ganze Menge. Das vergangene Jahrzehnt, oft als „decade of the brain" apostrophiert, hat doch eine Fülle von neuen Einsichten in die Arbeit unseres Gehirns gebracht, die mit dazu beitragen können, auch soziales Lernen „brain friendly" zu gestalten. Vieles, was gute Pädagogen immer schon gewusst und manchmal auch praktiziert haben, wird durch neurobiologische Studien bestätigt; es werden aber auch neue und überraschende Aspekte von Lernen, Erinnern, Behalten erkennbar, die darauf verweisen, dass Lernarrangements deutlich anders gestaltet werden müssten. Besonders wichtige Befunde Die nachfolgenden neurobiologischen Befunde erscheinen m ir für unser Thema besonders wichtig zu sein. 1. Unsere neuronalen Strukturen sind auf Sinn, Relevanz und Muster angelegt. Unser Gehirn lernt und behält deswegen auch das am besten, was sich in unseren Lebenssituationen als bedeutungsvoll und als ,,viabel" erweist. 2. Lernen bedeutet aus gehirnbiologischer Sicht die Entwicklung von neuronalen Mustern, Verbindungen und Netzen. Häufige oder ähnliche Muster unterstützen dabei den Aufbau von Verbindungen und Strukturen, disparate oder widersprüchliche stören diesen Aufbau oder verhindern ihn sogar. 3. Unsere neuronalen Prozesse laufen parallel und arbeitsteilig ab. Häufige und ähnliche Erfahrungen und deren Bearbeitung in unterschiedlichen Kontexten führen zu Orientierungsmustern in Form von „neuronalen Landkarten". 4. Unser Kortex lernt relativ langsam. Er braucht viele ähnliche Wahrnehmungen und Erfahrungen, um daraus das Regelhafte, das „Mustergültige" extrahieren zu können. 5. In viel stärkerem Maße als bisher geglaubt beeinflussen Emotionen unser Lernen. Wir lernen immer auch die emotionalen Kontexte von Sachverhalten mit. Häufig sind unsere emotionalen Zugänge sogar schneller und - im eigentlichen Wortsinn entscheidender als unsere rationalen und kognitiven. 6. Nachhaltige soziale Lernergebnisse können eigentlich nur dann entstehen, wenn deklaratives Wissen (Kenntnisse, bewusste Nutzung von Reflexion und Strategien), prozedurales Können (Fertigkeiten. Umgangs- und Verhaltensweisen) und episodische Handlungserfahrungen (situierte Lernerfahrungen, Partizipation, Kooperation) miteinander in Bezug gesetzt werden können, sodass vernetzte neuronale Landkarten von sozialen Bezügen, individueller Urteilsfähigkeit und eigenen Verhaltensweisen entstehen. ………..
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