„Mein Kampf“. Urheber

Herausgeber:
Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Holger Radke Prof. Dr. Thomas Voelzke Prof. Dr. Stephan Weth RA Prof. Dr. Christian Winterhoff
11
Die Monatszeitschrift
NOVEMBER
2015
Topthema:
In dieser Ausgabe:
Der Vertrieb von Adolf
Hitlers Hetzschrift
„Mein Kampf“. Urheberund strafrechtliche Aspekte
Das Rundschreiben der BaFin
zu Mindestanforderungen
an die Sicherheit
von Internetzahlungen
Prof. Dr. Hannes Ludyga
Prof. Dr. Sebastian Omlor, LL.M. (NYU),
LL.M. Eur. und Ref. jur. Julia Elixmann
Brauchen wir ein
Bauvertragsrecht im BGB?
Prof. Dr. Wolfgang Voit
Europa gegen Europa –
Das vorläufige Scheitern
des EU-Beitritts zur Europäischen Menschenrechtskonvention durch das
EuGH-Gutachten 2/13 vom
18.12.2014
StA Christoph Schmidt
Die erfolgreiche Beschwerde
wegen Nichtzulassung
der Revision zum BFH
RiBFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel
Die
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Expertengremium:
Wolfgang Ball | RA Prof. Dr. Guido Britz | Prof. Dr. Harald Dörig | Dr. Heinz-Jürgen Kalb | Prof. Dr. mult. Michael Martinek | Dr. Wolfram Viefhues
INHALT
JM 11 |
NOVEMBER
2015
AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN
Zivil- und Wirtschaftsrecht
Das Rundschreiben der BaFin
zu Mindestanforderungen an die Sicherheit
von Internetzahlungen
Prof. Dr. Sebastian Omlor, LL.M. (NYU),
LL.M. Eur. und Ref. jur. Julia Elixmann
S. 398
Brauchen wir ein Bauvertragsrecht
im BGB?
Prof. Dr. Wolfgang Voit
S. 402
Zur Rechtsnatur des qualifizierten
Rangrücktritts und die Rechtsfolgen
hieraus
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14
RA Dr. Udo Michalsky
S. 409
Insolvenzanfechtung – ohne Krise?
BGH, Beschl. v. 30.04.2015 - IX ZR 196/13
RA Michael J. W. Blank und
Dipl.-Jur. Dennis B. Blank
S. 412
Sozialrecht
Der EuGH und doch kein Sozialtourismus
– also doch ein vollständiger Ausschluss
EuGH, Urt. v. 15.09.2015 - C-67/14
„Alimanovic“
RiSG Dr. Christiane Padé
S. 414
Verwaltungsrecht
Europa gegen Europa –
Das vorläufige Scheitern des EU-Beitritts
zur Europäischen Menschenrechtskonvention durch das EuGH-Gutachten 2/13
vom 18.12.2014
StA Christoph Schmidt
S. 417
Verantwortlichkeit eines Internetportals
für rufschädigende Leserkommentare
EGMR, Urt. v. 16.06.2015 - 64.569/09
„Delfi AS/Estland“
RiBVerwG Prof. Dr. Harald Dörig
S. 423
XXXVII
INHALT
AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN
Steuerrecht
Topthema:
XXXVIII
Die erfolgreiche Beschwerde
wegen Nichtzulassung der Revision
zum BFH
RiBFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel
S. 426
Einbeziehung der Baukosten
in die Bemessungsgrundlage
der Grunderwerbsteuer
BFH, Urt. v. 03.03.2015 - II R 9/14
RiBFH Prof. Dr. Matthias Loose
S. 431
Zugriff auf Kassendaten
eines Einzelhändlers
BFH, Urt. v. 16.12.2014 - X R 42/13
VRiBFH Silvia Schuster
S. 433
Strafrecht
Der Vertrieb von Adolf Hitlers Hetzschrift
„Mein Kampf“.
Urheber- und strafrechtliche Aspekte
Prof. Dr. Hannes Ludyga
S. 435
BÜCHERSCHAU
Johannsen/Henrich, Familienrecht –
Scheidung, Unterhalt, Verfahren
RiAG Stefanie Roggatz
S. 439
JM 11 |
EDITORIAL
NOVEMBER
2015
Don’t follow leaders…
punkt der Überlegungen ist der Umstand, dass zwar bislang die Vervielfältigung und Verbreitung des Machwerkes
aufgrund des beim Freistaat Bayern liegenden Urheberrechts untersagt werden konnte, dieses Urheberrecht aber
am 31.12.2015 endet und „Mein Kampf“ damit gemeinfrei wird. Hannes Ludyga untersucht anhand konkreter Zitate aus der Hetzschrift die strafrechtliche Relevanz anhand des Tatbestandes der Volksverhetzung. Insoweit
zeichnet sich im Sinne einer wohlverstandenen wehrhaften
Demokratie ab, dass das Strafrecht Mittel zur Verhinderung der Veröffentlichung einer unkommentierten Ausgabe des Werks sein dürfte. Es handelt sich insgesamt um
eine Thematik, die trotz ihres historischen Anknüpfungspunkts (leider) Verbindungslinien zur aktuellen politischen
Situation Deutschlands aufweist.
Prof. Dr. Thomas Voelzke
Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht, Kassel
Der Umgang mit der Person Adolf Hitler hat sich offenbar
entspannt. Dies wird belegt durch den Bestseller „Er ist
wieder da“ von Timur Vermes, der auch in seiner Umsetzung als Hörbuch (hervorragend der Sprecher Christoph
Maria Herbst!) und jetzt aktuell im Kino die Lachmuskeln
strapaziert. Hieran ändert es nichts, dass dem unbefangenen Betrachter angesichts der satirischen Auseinandersetzung mit dem selbsternannten „Größten Feldherrn aller
Zeiten“ bisweilen das Lachen im Halse stecken bleibt. Die
Komik des Werkes fußt darauf, dass einerseits der in der
Gegenwart gelandete echte Hitler von seiner Umwelt nur
als Kopie des Originals wahrgenommen wird, er selbst sich
andererseits mit den Errungenschaften der Neuzeit – z.B.
der inflationären Verbreitung von Kochsendungen im Fernsehen – vertraut machen muss. Die Reaktionen auf die komödiantische Aufbereitung des Themas belegen, dass
70 Jahre nach Hitlers Tod sein unfreiwillig seltsames Erscheinungsbild jetzt auch in Deutschland mehrheitlich so
wahrgenommen wird, wie es auf den nüchternen Betrachter schon zu seinen Lebzeiten gewirkt haben muss. Letzteres hatte Charlie Chaplin in seinem Film „Der große Diktator“ bereits 1940 eindrucksvoll aufgezeigt.
Eine gänzlich andere Herangehensweise ist hinsichtlich
des verworrenen und unsäglichen Gedankenguts Hitlers
angezeigt. Hannes Ludyga befasst sich in unserem TopThema mit rechtlichen Fragestellungen, die um Hitlers demagogische Hetzschrift „Mein Kampf“ kreisen. Ausgangs-
Eine wichtige Weichenstellung für den Europäischen
Grundrechtsschutz erörtert Christoph Schmidt in seinem
Aufsatz „Europa gegen Europa“. Der EuGH hat mit seinem
Gutachten 2/13 wohl nicht zuletzt mit Blick auf seine Zuständigkeiten im Verhältnis zum EGMR eine Vereinbarkeit
des Übereinkunftsentwurfs für den Beitritt der Union zur
EMRK mit dem Primärrecht verneint.
Auch über die Spruchtätigkeit der europäischen Gerichte
wird in der aktuellen jM berichtet: Nicht nur der EuGH hat
sich mit seinem Google-Spain-Urteil für die Rechte auf Privatsphäre und Datenschutz im Internet stark gemacht (hierzu Schiedermair, jM 2015, 334 ff.), sondern auch der EGMR
hat in einer Entscheidung vom 16.06.2015 Maßstäbe für
einen Ausgleich von Meinungsfreiheit und Rufschädigung
bei Kommentaren im Internet entwickelt. Harald Dörig erläutert in seiner Anmerkung, inwiefern die Entscheidung
auch Bedeutung für die Auslegung des nationalen Rechts
erlangen wird. Eine andere Zielrichtung hat die Entscheidung des EuGH vom 14.09.2015, die auch in der Tagespresse starke Beachtung gefunden hat. Christiane Padé
zeigt in ihrer Anmerkung auf, dass die den SGB-II-Leistungsausschluss von EU-Bürgern bei Arbeitssuche bestätigende Entscheidung angesichts der bisherigen Linie der
Rechtsprechung keine wirkliche Überraschung gewesen ist.
Abschließend möchte ich Ihr Augenmerk auf einen Aufsatz
mit einer prozessrechtlichen Fragestellung richten. Monika
Jachmann-Michel weist in ihrem Aufsatz den Weg für eine
erfolgreiche Nichtzulassungsbeschwerde zum BFH. Ihre prägnanten Hinweise können auch für Beschwerdeverfahren bei
anderen Bundesgerichten nutzbringend verwendet werden!
Viel Spaß und Nutzen bei der Lektüre
Thomas Voelzke
397
Die Monatszeitschrift
AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN
Zivil- und Wirtschaftsrecht
Das Rundschreiben der BaFin zu Mindestanforderungen
an die Sicherheit von Internetzahlungen
Prof. Dr. Sebastian Omlor, LL.M. (NYU), LL.M. Eur. und Ref. jur. Julia Elixmann
Am 05.05.2015 erging ein Rundschreiben der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) über die
Mindestanforderungen an die Sicherheit von Internetzahlungen (MaSI).1 Das Rundschreiben bezweckt, einheitliche
Untergrenzen für die Sicherheit von Internetzahlungsdiensten zu etablieren, und will auch für den Zeitraum bis zum
Inkrafttreten der Reform der unionsrechtlichen Zahlungsdiensterichtlinie2 (Zahlungsdienste-RL) insoweit eine erste
Harmonisierung erreichen. Die Vorgaben müssen von Zahlungsdienstleistern bis zum 05.11.2015 umgesetzt werden.
Dieser Beitrag soll klären, welche wesentlichen Anforderungen sich aus dem MaSI für Finanzdienstleister ergeben
und wie die Vorgaben des MaSI ins Verhältnis zu setzen
sind zu anderen Vorschriften betreffend die Sicherheit von
Internetzahlungen.
A. Rechtsnatur und -wirkungen des MaSI
Das MaSI beruht inhaltlich auf den wortgleichen Leitlinien
zur Sicherheit von Internetzahlungen (Guidelines on the
security of internet payments, kurz: EBA-Leitlinien) der
europäischen Bankenaufsichtsbehörde (European Banking
Authority, kurz: EBA).3 Mit dem Rundschreiben kommt die
BaFin ihrer Verpflichtung nach, die Leitlinien der EBA in
ihre Aufsichtspraxis zu implementieren (§ 7b Abs. 1 Satz 4
KWG).4 Damit enthält das MaSI aufsichtsrechtliche Regelungen, welche die Aufsichtsbehörden in ihre Aufsichtspraxis zu implementieren haben. Zugleich richtet sich das
MaSI ausdrücklich auch unmittelbar an die Finanzinstitute.5 Das MaSI hat als Rundschreiben jedoch nicht Gesetzeskraft, sondern beinhaltet lediglich normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften.6 Auch die aus den EBA-Leitlinien übernommene Formulierung „sollte/sollten“ wirkt
für den deutschen Gesetzesanwender eher ungewohnt.
Dennoch empfiehlt es für die Zahlungsdienstleister, die
Vorgaben des MaSI umzusetzen, da die BaFin in ihrer Aufsichtspraxis die Vorgaben als Richtschnur für die Sicherheitsanforderungen bei Internetzahlungsdiensten zugrunde legen wird und dies aufgrund der Vorgaben der EBA
auch muss.
B. Anwendungsbereich
Das MaSI benennt Mindestanforderungen für die Sicherheit von Internetzahlungen im Bereich der unternehmens-
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internen Organisation, der technischen Umsetzung sowie
der Kundenkommunikation von Zahlungsdienstleistern.
Der persönliche Anwendungsbereich erstreckt sich auch
auf alle in Art. 1 der Zahlungsdienste-RL enumerativ aufgezählten Zahlungsdienstleister. Die Aufzählung umfasst
insbesondere alle klassischen Banken, aber auch reine
E-Geld-Institute, Postscheckämter, die europäische und die
nationalen Zentralbanken sowie die Mitgliedstaaten selbst
und ihre regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften,
soweit „sie nicht in ihrer Eigenschaft als Behörde handeln“. Die Formulierung zur Behördeneigenschaft der Mitgliedstaaten und sonstigen Gebietskörperschaften lässt
Spielraum in der Auslegung zu: Ob eine Gebietskörperschaft als Behörde handelt, dürfte sich danach richten, ob
mit der betroffenen Tätigkeit eine hoheitliche Aufgabe erfüllt werden soll. Mittelbar sind vom MaSI auch E-Händler
betroffen, da das MaSI in vielen Bereichen eine vertragliche Verpflichtung der E-Händler gegenüber den Zahlungsdienstleistern verlangt, bestimmte Sicherheitsstandards
der Zahlungsdienstleister (technisch) zu unterstützen. Daher müssen sich auch E-Händler mit den Vorgaben des
MaSI auseinandersetzen. Insbesondere wenn und soweit
ein Schaden aufgrund einer Sicherheitslücke entsteht, der
1
2
3
4
5
6
Rundschreiben 4/2015 (BA) – Mindestanforderungen an die Sicherheit von Internetzahlungen (MaSI), Geschäftszeichen BA 57-K 31422013/0017, Bonn/Frankfurt a. M., 05.05.2015, abrufbar unter http://
www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Rundschreiben/
2015/rs_1504_ba_MA_Internetzahlungen.html (zuletzt abgerufen
am 15.09.2015).
Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/
EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG, ABl. L 319/1.
Vgl. zur Rechtsnatur von Leitlinien im europäischen Bankenaufsichtsrecht Walla, BKR 2012, 265, 267 f.; Becker, BKR 2014, 151 f., jeweils
m.w.N.
Zum „comply or explain“-Ansatz im Bankenaufsichtsrecht vgl.
Art. 16 Abs. 3 VO (EU) Nr. 1093/2010, ABl. L 331/12 (EBA-Verordnung).
Siehe Teil I Nr. 3 des MaSI.
Vgl. zur Rechtsnatur von BaFin-Rundschreiben Bohnert/Szesny, BKR
2015, 265, 266, m.w.N.
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bei Einhaltung der Sicherheitsstandards des MaSI vermieden worden wäre, sind Regressforderungen der Zahlungsdienstleister gegenüber E‑Händlern, die die Sicherheitsstandards nicht implementiert haben, denkbar (vgl. § 276
Abs. 1 und 2 BGB).
Sachlich umfasst der Anwendungsbereich sämtliche Internetzahlungsdienste bis auf die in Nr. 11 des ersten Titels
des MaSI aufgezählten Zahlungsdienste. Vom Anwendungsbereich ausgeschlossen sind hiernach sonstige durch
einen Zahlungsdienstleister über seine Zahlungsseite erbrachten Internetdienste wie Online-Brokerage, weiterhin
Zahlungen per Post, telefonisch, via Voice-Mail oder SMS,
ebenso mobile Zahlungen – ausgenommen browserbasierte Zahlungen –, Überweisungen, bei denen ein Dritter auf
das Zahlungskonto des Kunden zugreift, Zahlungsvorgänge, die durch ein Unternehmen über dedizierte Netzwerke
(d.h. solche, auf die nur das Unternehmen Zugriff hat) vorgenommen werden, Zahlungen mit Prepaid-Karten sowie
das Clearing und die Verrechnung von Zahlungsvorgängen.
C. Inhaltliche Anforderungen
Das MaSI ist aufgeteilt in zwei Titel. Der erste Titel skizziert den Anwendungsbereich des MaSI und liefert die erforderlichen Begriffsbestimmungen. Der zweite Teil befasst
sich mit den eigentlichen Mindestanforderungen an die Sicherheit von Internetzahlungen und gliedert sich auf in
einen allgemeinen Teil zum Kontroll- und Sicherheitsumfeld von Zahlungsdienstleistern, einen Teil zu spezifischen Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen für Internetzahlungen sowie einen Teil zur Kundenaufklärung, -information und -kommunikation. Dem MaSI sind als Anhang
Beispiele für bewährte Vorgehensweisen für die Errichtung
eines wirksamen Kontroll- und Sicherheitsumfelds im Allgemeinen und für die Gewährleistung spezifischer Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen bei Internetzahlungen im
Besonderen beigefügt. Von seiner Struktur her ähnelt das
MaSI durch seine Aufgliederung in einen allgemeinen Teil
über den Anwendungsbereich und die Begriffsbestimmungen und einen besonderen Teil über die einzelnen Maßnahmen strukturell typischen Sekundärrechtsakten.
I. Allgemeines Kontroll- und Sicherheitsumfeld
Der zweite Titel zu den Anforderungen an die Sicherheit
von Internetzahlungsdiensten beginnt mit dem Teil zum
sog. allgemeinen Kontroll- und Sicherheitsumfeld. Gefordert wird eine funktionierende Unternehmenssteuerung
(Governance): Unternehmensinterne formelle Sicherheitsrichtlinien müssen dokumentiert, von der Geschäftsleitung
genehmigt, umgesetzt und regelmäßig überprüft werden.
Diese Sicherheitsrichtlinien enthalten Aussagen zu den Si-
NOVEMBER
2015
cherheitszielen und der Risikobereitschaft und regeln die
Zuständigkeiten und Berichtspflichten gegenüber der Vorstandsebene sowie Details zur Verwaltung sensibler Zahlungsdaten.
Erforderlich ist weiterhin eine „gründliche“ Bewertung der
Risiken von Internetzahlungen und damit verbundener
Dienste. Die Risikobewertung hat umfassend zu erfolgen:
Neben der eigenen eingesetzten Technologie wird auch
das Risiko durch ausgelagerte („outgesourcte“) Dienste
und durch vom Kunden verwendete Technologie miteinbezogen. Neben diesen präventiven Sicherheitsmaßnahmen müssen allfällige Sicherheitsvorfälle laufend „einheitlich und integriert“ überwacht, bearbeitet, nachbereitet
und an die Geschäftsleitung gemeldet werden. Diese Vorfallüberwachung erfordert ein festes Prozedere, nach dem
schwerwiegende Sicherheitsvorfälle umgehend an die zuständige Aufsichtsbehörde gemeldet werden und das eine
Kooperation mit der Polizei und Staatsanwaltschaft ermöglicht. In Zahlungsvorgänge involvierte E-Händler müssen durch die Zahlungsdienstleister vertraglich auf die Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft bei
schwerwiegenden Sicherheitsvorfällen verpflichtet werden.
Als schwerwiegenden Sicherheitsvorfall bezeichnet das
MaSI solche Vorfälle, die wesentliche Auswirkungen auf
die Sicherheit, Integrität oder Kontinuität der Zahlungssysteme des Zahlungsdienstleisters und/oder die Sicherheit
sensibler Zahlungsdaten oder -mittel haben oder haben
könnten. Dabei sind die Anzahl der betroffenen Kunden,
der Risikobetrag und die Folgen für andere Zahlungsdienstleister oder sonstige Zahlungsinfrastrukturen zu berücksichtigen. Als Maßnahmen zur Risikokontrolle und
-minderung ist ein System mehrerer Sicherheitsebenen zu
schaffen, durch das ein Versagen auf einer Sicherheitsebene durch die nächsthöhere Sicherheitsebene aufgefangen
wird (sog. gestaffeltes Sicherheitskonzept). Notwendig
sind eine „angemessene“ Aufgabentrennung bei IT-Umgebungen und die Umsetzung des „Prinzips des geringsten
Zugriffsrechts“ zur Vermeidung gefälschter Webseiten. Teil
der Risikokontrolle und -minderung ist zudem die Befreiung der Server von allen überflüssigen Funktionen, die Arbeit mit Sicherheitszertifikaten, die Verringerung der verarbeiteten Daten auf das erforderliche Mindestmaß und
die Rückverfolgbarkeit sämtlicher Transaktionen und Einzugsermächtigungen.
II. Spezifische Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen
für Internetzahlungen
Kernpunkte der spezifischen Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen für Internetzahlungen sind eine sog. starke Kundenauthentifizierung, eine lückenlose Transaktionsüberwachung und der wirksame Schutz sensibler Daten.
399
Die Monatszeitschrift
Neben einer ordnungsgemäßen Identifizierung des Kunden
bei der erstmaligen Anmeldung für Internetzahlungsdienste zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung ist für jeden einzelnen Zahlungsvorgang und für
den Zugang zu sensiblen Zahlungsdaten eine „starke Kundenauthentifizierung“ erforderlich. Unter ihr versteht das
MaSI „ein Verfahren, das auf der Verwendung zweier oder
mehrerer der folgenden Elemente basiert, die als Wissen,
Besitz und Inhärenz kategorisiert werden: i) etwas, das nur
der Nutzer weiß, ii) etwas, das nur der Nutzer besitzt, z.B.
ein Token, eine Smartcard, ein Mobiltelefon, iii) eine
Eigenschaft des Nutzers, z.B. ein biometrisches Charakteristikum, etwa ein Fingerabdruck.“
Die Elemente müssen unabhängig voneinander sein. Diese
starke Kundenauthentifizierung dürfte die Mehrzahl der
Zahlungsdienstleister bereits in ihre Dienste implementiert
haben, jedenfalls mit zwei Elementen: der klassischen PIN
in Verbindung mit einer TAN-Liste, einem TAN-Generator
oder Ähnlichem. Die starke Kundenauthentifizierung ist
bei bestimmten Internetzahlungen nicht erforderlich. Sie
ist entbehrlich bei Zahlungsausgängen zugunsten Personen, die durch den Zahlungsdienstnutzer auf einer entsprechenden Liste über vertrauenswürdige Personen eingetragen worden sind. Ebenso ist die starke Kundenauthentifizierung entbehrlich bei Transaktionen zwischen
zwei Konten desselben Kunden bei demselben Zahlungsdienstleister, bei Transfers innerhalb desselben Zahlungsdienstleisters, wenn sie durch eine Transaktionsrisikoanalyse gerechtfertigt sind, und für Kleinbetragszahlungen,
wie sie in der Zahlungsdienste-RL (Art. 34 Abs. 1, Art. 53
Abs. 1) definiert sind. Die starke Kundenauthentifizierung
muss für Internetzahlungen gewährleistet sein, in die dritte Kartenaussteller, elektronische Geldbörsen, virtuelle
Karten oder E-Händler involviert sind. Soweit nötig, müssen insbesondere E-Händler vertraglich verpflichtet werden, Technologien für die starke Kundenauthentifizierung
zu unterstützen.
Ein weiterer Sicherheitsmechanismus neben der starken
Kundenauthentifizierung ist die Transaktionsüberwachung.
Verdächtige Transaktionen und Einzugsermächtigungen
müssen geprüft und bewertet werden, bevor die Transaktion durch den Zahlungsdienstleister endgültig autorisiert
wird. Dabei kommen Betrugserkennungs- und -verhütungssysteme zum Einsatz, die etwa mit schwarzen Listen
arbeiten und ungewöhnliche Verhaltensmuster von Kunden
erkennen wie die Verwendung von für den Nutzer ungewöhnlichen IP-Adressen hinsichtlich der daraus ableitbaren Geodaten. Die Betrugserkennungs- und -verhütungssysteme müssen auch auf die mit dem Zahlungsvorgang verbundenen Tätigkeiten von E-Händlern erstreckt
werden.
400
Die dritte Säule der spezifischen Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen für Internetzahlungen ist der wirksame
Schutz sensibler Zahlungsdaten. Betroffen sind alle zur
Identifizierung und Authentifizierung von Kunden verwendeten Daten sowie die Kundenschnittstelle, d.h. die Webseite des Zahlungsdienstleisters oder des E-Händlers, in
die der Zahlungsprozess eingebettet ist. Erforderlich ist
eine sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung während des
gesamten Zahlungsprozesses, bei der „starke und weithin
anerkannte Verschlüsselungstechniken“ Verwendung finden.
III. Kundenaufklärung, -information
und -kommunikation
Flankiert werden die Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz
von Internetzahlungen durch verpflichtende Maßnahmen
der Kundenaufklärung, -information und -kommunikation.
Die Kommunikation zum Kunden steht unter dem Leitbild
der „Unterstützung und Orientierung bei der sicheren Nutzung der Internetzahlungsdienste“. Zahlungsdienstleister
müssen den Kunden darüber aufklären, dass der Kunde
ausschließlich über bestimmte gesicherte Kanäle kontaktiert wird, wie das Verfahren zur Betrugsmeldung funktioniert und wie Kunden ihre Sicherheitsmerkmale schützen.
Der Kunde ist (nahezu in Echtzeit) darüber zu informieren,
ob der Zahlungsvorgang korrekt ausgeführt wurde und
wie der Status der Ausführung von Transaktionen lautet.
E-Händler müssen vertraglich verpflichtet werden, die eingebetteten Zahlungsprozesse optisch eindeutig vom Online-Shop zu trennen in einer Art und Weise, dass der Kunde feststellen kann, wann er mit dem Zahlungsdienstleister
und wann mit dem E-Händler kommuniziert.
D. Verhältnis zu anderen Vorschriften
Die Vorgaben des MaSI reihen sich ein in eine Fülle bereits
bestehender Vorgaben unterschiedlichsten Ursprungs an
Zahlungsdienstleister betreffend die Sicherheit von Internetzahlungen.
I. Zahlungsdienste-RL
Grundlegende aufsichts- und vertragsrechtliche Vorgaben
für Zahlungsdienste im Allgemeinen enthält zunächst die
Zahlungsdienste-RL. Dort heißt es in Art. 5 lit. e, dass bereits für den Antrag auf Zulassung als Zahlungsinstitut
eine Beschreibung der Unternehmenssteuerung und der internen Kontrollmechanismen des Antragstellers insbesondere einschließlich des Risikomanagementverfahrens vorgelegt wird, aus der hervorgeht, dass die Kontrollmechanismen verhältnismäßig, angemessen, zuverlässig und
ausreichend sind (vgl. § 8 Abs. 3 Nr. 5 ZAG). Entsprechend
erteilt die Zulassungsbehörde gemäß Art. 10 Abs. 4 die Zulassung nur, wenn die Behörde überzeugt ist, dass das
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Zahlungsinstitut über eine solide Unternehmenssteuerung
verfügt, die insbesondere wirksame Verfahren zur Ermittlung, Steuerung, Überwachung und Meldung von Risiken
vorsieht (vgl. §§ 9 Nr. 6; 22 ZAG). Die Frage, welche Kontrollmechanismen die unbestimmten Rechtsbegriffe „verhältnismäßig“, „angemessen“, „zuverlässig“ und „ausreichend“ erfüllen, soll mit dem MaSI beantwortet werden.7
Zudem sehen die Art. 57 ff. Zahlungsdienste-RL bestimmte
bankvertragsrechtliche Pflichten von Zahlungsdienstleistern im laufenden Betrieb vor, so etwa die Pflicht, dafür
Sorge zu tragen, dass die personalisierten Sicherheitsmerkmale nur dem berechtigten Nutzer zugänglich gemacht
werden (vgl. § 675m Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB), keine Zahlungsinstrumente unaufgefordert zuzusenden (vgl. § 675m
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BGB), Verfahren zur Anzeige von Verlust und Missbrauch bereitzuhalten (vgl. § 675m Abs. 1
Satz 1 Nr. 3 BGB) sowie ausreichende Nachweise über die
Authentifizierung des Zahlungsdienstnutzers für die Veranlassung von Zahlungen zu sammeln (vgl. § 675w Satz 1
BGB). Reichen die Nachweise nicht aus, normiert die Richtlinie in Art. 60 eine Haftung des Zahlungsdienstleisters
(vgl. § 675u Satz 2 BGB). Die EBA-Leitlinien – und damit
auch das MaSI – beziehen sich ausdrücklich auf die Vorgaben der Zahlungsdienste-RL bezüglich einer soliden Unternehmenssteuerung, die Informationspflichten und die
sonstigen Pflichten bei der Erbringung von Zahlungsdiensten.8
Die Trilog-Verhandlungen zwischen der EU-Kommission,
dem Europäischen Parlament und dem Rat zur Überarbeitung der Zahlungsdienste-RL sind inzwischen abgeschlossen9 und harren lediglich noch ihrer legislativen Umsetzung.10 Mit einem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens
ist noch in diesem Jahr zu rechnen. Die EBA-Leitlinien und
damit auch das MaSI ergänzen für den Bereich der Sicherheit von Internetzahlungen die Regelungen der reformierten Richtlinie durch die an das MaSI angepasste Aufsichtspraxis.
II. EZB-Leitfaden
Gemäß Nr. 5 des ersten Titels des MaSI bleibt die Gültigkeit des Leitfadens der Europäischen Zentralbank (EZB) zur
Sicherheit von Internetzahlungen (Assessment Guide for
the Security of Internet Payments) von den EBA-Leitlinien
– und damit auch vom MaSI – unberührt. Der EZB-Leitfaden wurde vom Europäischen Forum zur Sicherheit von
Massenzahlungen erstellt und am 30.01.2014 durch den
Rat der EZB verabschiedet.11 Er betrifft Vorgaben an die
nationalen Bankenaufsichtsbehörden für die Überwachung
von Governance, Risikomanagement, Risikominderung,
Kundeninformation und den Schutz sensibler Kundendaten
sowie für die Konkretisierung von Sorgfaltspflichten bei
NOVEMBER
2015
der Überwachung und Autorisierung von Zahlungen. Der
EZB-Leitfaden war bis Februar 2015 von den nationalen
Aufsichtsbehörden in ihre Aufsichtspraxis zu integrieren.
Die EBA-Leitlinien und das MaSI haben die Vorgaben des
EZB-Leitfadens entsprechend weitgehend übernommen,
allerdings unter Verzicht auf zahlreiche detaillierte Erläuterungen. Neben der unterschiedlichen Detailtiefe unterscheidet sich der EZB-Leitfaden von den EBA-Leitlinien und
dem MaSI hauptsächlich durch den leicht divergierenden
Adressatenkreis. Richten sich die EBA-Leitlinien und das
MaSI sowohl an Zahlungsinstitute als auch an die zuständigen Aufsichtsbehörden (Titel I Nr. 3 des MaSI), adressiert
der EZB-Leitfaden ausschließlich die nationalen Aufsichtsbehörden. Die Formulierung im MaSI, die Vorgaben des
EZB-Leitfadens blieben durch die EBA-Leitlinien – und damit auch durch das MaSI – unberührt, lassen darauf schließen, dass die Aufsichtsbehörden im Zweifel die detailreicheren Vorgaben des EZB-Leitfadens für die Aufsicht zugrunde legen werden. Daher sind die Zahlungsdienstleister
und E-Händler gehalten, neben dem unmittelbar an sie gerichteten MaSI auch den EZB-Leitfaden zu berücksichtigen.
III. IT-Sicherheitsgesetz
Am 25.07.2015 ist das Gesetz zur Erhöhung der Sicherheit
informationstechnischer Systeme (IT-Sicherheitsgesetz) in
Kraft getreten.12 Das Gesetz soll die Vertraulichkeit, Integrität, Authentizität und Verfügbarkeit informationstechnischer Systeme sicherstellen. Insbesondere verpflichtet es
Betreiber sog. kritischer Infrastrukturen, schwerwiegende
Sicherheitsvorfälle an das Bundesamt für Sicherheit in der
Informationstechnik (BSI) zu melden und angemessene organisatorische und technische Vorkehrungen zur Vermeidung von Störungen zu treffen und laufend zu überprüfen.
Zu den Betreibern kritischer Infrastrukturen zählt gemäß
§ 2 Abs. 10 Nr. 1 des IT-Sicherheitsgesetzes auch der Finanzsektor. Insoweit finden sich im IT-Sicherheitsgesetz
überlappende Anforderungen an Zahlungsdienstleister be-
7
8
9
10
11
12
Siehe oben, sub 3. lit. a.
Vgl. Titel I Nr. 1 des MaSI.
Vgl. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 05.05.2015,
IP/15/4916, abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP15-4916_de.htm?locale=en (zuletzt abgerufen am 15.09.2015).
Zu den Plänen für eine reformierte Zahlungsdienste-RL vgl. Spindler/
Zahrte, BKR 2014, 265.; Hingst/Lösing, BKR 2014, 315.; Linardatos,
WM 2014, 300.
Pressemitteilung der EZB vom 04.02.2014, abrufbar unter www.
bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Presse/EZB_
Pressemitteilungen/2014/2014_02_04_internetzahlungen.html (zuletzt abgerufen am 15.09.2015).
Dazu übergreifend Rath/Kuss/Bach, K&R 2015, 437 ff.; Weise/Brühl,
CR 2015, 290 ff.; Heckmann, MMR 2015, 289 f.; vgl. zudem die Stellungnahme der DGRI bei Selk/Gierschmann, CR 2015, 273 ff.
401
Die Monatszeitschrift
treffend die Sicherheit von Internetzahlungen. Für Zahlungsdienstleister besteht durch das IT-Sicherheitsgesetz
eine zusätzliche Aufsichtsbehörde für die Sicherheit von Internetzahlungen in Form des BSI. Es ist zu hoffen, dass die
BaFin und das BSI zugunsten erhöhter Rechtssicherheit
ihre Aufsichtspraxis inhaltlich aufeinander abstimmen werden.
E. Zusammenfassung
Das Rundschreiben der BaFin zu den Mindestanforderungen an die Sicherheit von Internetzahlungen enthält konkrete Vorgaben an Zahlungsdienstleister zur Erhöhung der
Sicherheit von Internetzahlungen, die bis zum 05.11.2015
umgesetzt werden mussten. Das Rundschreiben konkretisiert die Anforderungen an Zahlungsdienstleister aus der
Zahlungsdienste-RL und wird – neben dem EZB-Leitfaden
– der Aufsichtspraxis der zuständigen Behörden zugrunde
gelegt. Das MaSI stellt Anforderungen an die Erbringung
von Internetzahlungsdiensten durch Zahlungsdienstleister
i.S.v. Art. 1 der Zahlungsdienste-RL. Geregelt sind Maßnahmen für die Gewährleistung eines wirksamen Kontrollund Sicherheitsumfeldes im Allgemeinen, insbesondere betreffend eine funktionierende Unternehmenssteuerung
(Governance) mit klaren Hierarchien und Zuständigkeiten
für die Gewährleistung der Sicherheit von Internetzahlungsdiensten. Für den Ablauf der konkreten Zahlungstransaktion werden weitere Anforderungen formuliert in
Form einer sog. starken Kundenauthentifizierung, einer lückenlosen Transaktionsüberwachung und des wirksamen
Schutzes sensibler Kundendaten. Abgerundet werden die
Sicherheitsvorkehrungen durch Maßnahmen der Kundenaufklärung, -information und -kommunikation, die das
Vertrauen der Verbraucher in Internetzahlungsdienste verstärken sollen. Was das Verhältnis zu anderen Vorschriften
betrifft, wird vor allem abzuwarten sein, wie sich die teilweise überlappende Aufsicht durch die BaFin und das BSI
im Zusammenhang mit dem IT-Sicherheitsgesetz auswirken wird.
Brauchen wir ein Bauvertragsrecht im BGB?
Prof. Dr. Wolfgang Voit
A. Problemstellung
Die Frage, ob es erforderlich und sinnvoll ist, Regelungen
für den Bauvertrag in das BGB aufzunehmen, wurde in
den letzten Jahren viel diskutiert. Der Deutsche Baugerichtstag hat auf drei Kongressen die Notwendigkeit
derartiger Regelungen betont und über ihre mögliche Ausgestaltung diskutiert.1 Im Bundesministerium der Justiz
wurde in der vergangenen Legislaturperiode eine Arbeitsgruppe gebildet, die den Reformbedarf ermittelt und in
einem Abschlussbericht Vorschläge unterbreitet hat.2 Auch
im aktuellen Koalitionsvertrag ist das Bauvertragsrecht erwähnt, wobei der nunmehr ebenfalls dem Justizministerium zugeordnete Verbraucherschutz im Vordergrund
steht.3 Auf Grundlage einer vom Bundesministerium der
Justiz und für Verbraucherschutz initiierten Umfrage
kommt die Bundesrechtsanwaltskammer in ihrer Stellungnahme zu dem Ergebnis, dass der Rechtsschutzstand zu
den Leistungsänderungsrechten nicht ausreichend ist.4 Die
ARGE Baurecht fordert eine rasche Überarbeitung des Bauvertragsrechts, freilich mit etwas anderem Inhalt als im
Abschlussbericht vorgesehen5; gänzlich ablehnend stehen
die Verbände auf Auftragnehmerseite (Bauindustrieverband, ZDB, ZDH) einer solchen Kodifizierung gegenüber6.
Es ist deshalb an der Zeit, Zwischenbilanz zu ziehen, um
den aktuellen Stand zu der Frage festzuhalten, ob beson-
402
dere Regeln für den Bauvertrag in das BGB aufgenommen
werden sollten. Dabei gilt es abzuwägen zwischen den
Vorteilen derartiger Regelungen und der Gefahr einer Zersplitterung des BGB, den Risiken dogmatischer Unstimmigkeiten innerhalb des BGB und der mit Änderungen während einer Übergangsphase stets verbundenen Rechtsunsicherheit.
1
2
3
4
5
6
3. Baugerichtstag, 2010, 4. Baugerichtstag, 2012, 5. Baugerichtstag,
2014.
Abrufbar unter www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/
Abschlussbericht_der_Arbeitsgruppe_Bauvertragsrecht_beim_BMJ.
pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 19.08.2015).
Koalitionsvertrag 2013, Punkt 4.2. S. 81, abrufbar unter www.cdu.
de/sites/default/files/media/dokumente/koalitionsvertrag.pdf (zuletzt
abgerufen am 19.08.2015).
Stellungnahme 15/2015, abrufbar unter www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2015/mai/
stellungnahme-der-brak-2015-15.pdf (zuletzt abgerufen am
19.08.2015).
http://arge-baurecht.com/service/presse/pressemitteilungen/artikel/
news/baurechtsexperten-fordern-zuegig-novelliertes-bauvertragsrecht/
(zuletzt abgerufen am 19.08.2015).
www.bau-saar.de/nc/service/download-detail.html?download=gem_
Stellungnahme_Juni_2013.pdf&did=166 (zuletzt abgerufen am
19.08.2015).
JM 11 |
B. Derzeitiger Stand: Bauvertrag nach BGB
und „VOB-Vertrag“
Das Bauvertragsrecht hat über viele Jahre eine vom BGB
weitgehend isolierte Entwicklung genommen. Es dürfte
das Verdienst von Korbion und Jagenburg sein, es als eigenes Rechtsgebiet entwickelt zu haben. In erster Linie aus
der Praxis heraus verfasste Korbion einen Kommentar, der
sich nicht mit dem Bauvertrag des BGB, sondern mit den
Regelungen der VOB/B beschäftigte. In der Folgezeit erschienen nicht nur viele Neuauflagen dieses Kommentars,
sondern eine große Zahl weiterer Werke, in denen die
VOB/B kommentiert wird, die sich aber häufig als umfassende Werke zum privaten Baurecht verstehen.
Diesem Umstand dürfte es zu verdanken sein, dass auch
heute noch im Baurecht vom VOB-Vertrag und vom BGBVertrag die Rede ist, so als wenn dies zwei unterschiedliche Vertragstypen wären. Dabei ist völlig klar und unbestritten, dass es sich bei den Regelungen der VOB/B um
allgemeine Geschäftsbedingungen handelt, welche die Regelungen des BGB ergänzen und modifizieren.7 Es gibt
deshalb nur den BGB-Werkvertrag, wobei die VOB/B vereinbart sein kann oder auch nicht.
Warum hält sich im Bauvertragsrecht dennoch der VOBVertrag so hartnäckig, dass die VOB/B in manchen Werken
zum BGB als Grundlage für die Auslegung des Werkvertragsrechts herhalten muss? Eine Passage aus der Kommentierung im Staudinger, einem führenden Großkommentar zum BGB, bringt die Dominanz der VOB/B gegenüber dem BGB auf den Punkt. Nach einer kurzen
Darstellung der Defizite des BGB heißt es dort: „Bei der
Klärung der Parallelprobleme im Allgemeinen Zivilrecht
scheint es prinzipiell angebracht, im Wesentlichen die Regelungen der VOB/B zu rezipieren, wenn sie jedenfalls
durchweg den praktischen Bedürfnissen gerecht werden.
Die folgende Kommentierung stellt deshalb die einschlägigen Bestimmungen der VOB/B voran und vermerkt dann
jeweils, ob und inwieweit sie in das allgemeine Werkvertragsrecht rezipiert werden können.“8
Ein wichtiger Grund für diese Entwicklung liegt darin, dass
der Werkvertrag nach dem BGB keine besonderen Regelungen für Verträge enthält, die ein länger andauerndes
Zusammenwirken der Parteien erfordern. Dies ist aber im
Baurecht der Regelfall, denn Bauvorhaben ziehen sich jedenfalls Monate, manchmal auch Jahre oder auch Jahrzehnte hin. Es fehlt auch ganz weitgehend an Regelungen,
die die besonderen Vertragsketten in Subunternehmerverträgen einbeziehen. Gerade bei umfangreicheren oder
komplexeren Bauvorhaben sind diese Subunternehmerverträge aber der Regelfall. Zugleich geht das BGB vom Leitbild eines fachkundigen Unternehmers und eines unkundi-
NOVEMBER
2015
gen Bestellers aus, sodass die Mitwirkung des Bestellers
oder seine Planungsverantwortung nur in Ansätzen geregelt wird. Auch dies ist bei größeren Bauvorhaben eher
der Ausnahmefall. Vielfach ist auch der Bauherr sachkundig oder zumindest durch eine Vielzahl von Planern beraten.
Dabei geht das BGB von einem punktuellen Leistungsbegriff aus.9 Der Unternehmer bereitet in eigener Verantwortung seine Leistung vor, die er dann fertig dem Besteller zur Abnahme präsentiert. Erst die Präsentation zur Abnahme konkretisiert das Werk. Der Unternehmer trägt
deshalb auch die Gefahr bis zur Abnahme, § 644 Abs. 1
Satz 1 BGB. Dies gilt auch dann, wenn sich das Werk in
der Einflusssphäre des Bestellers befindet, so wie dies häufig der Fall ist, wenn von einem größeren Bauvorhaben
Leistungen gesondert vergeben werden. Es ist kein Zufall,
dass § 7 VOB/B die Risiken anders zuweist.
Dem Besteller obliegt es nach dem BGB zwar, erforderliche
Mitwirkungshandlungen vorzunehmen, er ist dazu aber
nicht verpflichtet, sodass ihr Unterlassen nur Annahmeverzug begründet und einen besonders ausgestalteten und in
der Praxis schwer durchsetzbaren Ausgleichsanspruch auslöst (§ 642 BGB). Die Vereinbarung von Zwischenfristen,
welche die Herstellungsphase strukturieren und eine Verzögerung frühzeitig offenbaren, schließt das BGB nicht
aus, sieht sie aber auch nicht vor. Ebenso wenig gibt es
dem Besteller die Möglichkeit, steuernd einzugreifen,
wenn er schon während der Herstellungsphase feststellt,
dass der Unternehmer das Werk nicht vertragsgemäß herstellt. Auch für die in der Praxis so üblichen Erfüllungsund Mängelsicherheiten enthält das BGB nur ansatzweise
Regelungen in § 632a BGB.
Dem gegenüber steht die VOB/B mit Regelungen, die dem
Geschehen beim Bauvertrag zumindest im Grundsatz angepasst sind. So werden dem Besteller Leistungsänderungsrechte eingeräumt, von denen wohl bei jedem Bauvorhaben Gebrauch gemacht wird, die aber im BGB nur
mit erheblichem Begründungsaufwand zu verankern sind.10
Es gibt Preisanpassungsregelungen, die zwar in den Einzelheiten umstritten sind und in Einzelfällen Spekulationsmöglichkeiten eröffnen, die aber zumindest für eine Vielzahl von Fällen eine rasche und unkomplizierte Preisanpassung ermöglichen.
7
8
9
10
Vgl. nur von Rintelen in: Kapellmann/Messerschmidt, VOB, 4. Aufl.
2013, Einleitung VOB/B Rn. 38 ff.
Peters/Jacoby in: Staudinger, 2014, § 633 Rn. 5.
Voit, BauR 2011, 1063.
Vgl. dazu Voit in: FS Beuthien, 2009, S. 75 ff.
403
Die Monatszeitschrift
Die VOB/B trägt auch durch Mitwirkungsobliegenheiten
des Bestellers – etwa bei der Beibringung von Unterlagen
und Genehmigungen oder zur Festlegung der Hauptachsen
der baulichen Anlagen – den Besonderheiten des Baurechts Rechnung, während das BGB die Regelung dieser
Obliegenheiten den Parteien überlässt. Diese Mitwirkungsobliegenheiten zeigen auch, dass die VOB/B tendenziell
von einem fachkundigen Besteller ausgeht, während das
BGB den Unternehmer als Fachmann und den Besteller als
Laien ansieht. Dies ist nicht zuletzt der Grund dafür, dass
im BGB stets die Funktionstüchtigkeit des Werkes geschuldet ist. Dies gilt selbst dann, wenn der Besteller selbst Vorgaben für das Werk gemacht hat, welche die Funktionsbeeinträchtigung herbeigeführt haben.11 Da der Unternehmer mit seiner überlegenen Sachkunde im Werkvertrag
versprochen hat, auf der Grundlage der Vorgaben des Bestellers einen bestimmten Erfolg zu erreichen, hält das
BGB ihn an dieser Zusage fest und verpflichtet ihn zur
Nacherfüllung – freilich unter Berücksichtigung der Mehrkosten, die angefallen wären, hätte der Unternehmer sogleich das Planungsdefizit erkannt, und eines etwaigen
Mitverschuldens des Bestellers. Ob diese Risikoverteilung
beim fachkundigen Besteller sachgerecht ist, lässt sich sicher bezweifeln, aber sie liegt dem BGB wegen seines Leitbilds des unterlegenen Bestellers zugrunde.
C. Warum reicht die VOB/B als „Ersatzrechtsordnung“
nicht aus?
In der Diskussion um eine gesetzliche Regelung des Bauvertragsrechts wird immer wieder darauf hingewiesen,
dass bei den relevanten Projekten ohnehin die VOB/B vereinbart sei und man damit eine auf das Baugeschehen abgestimmte „Ersatzrechtsordnung“ habe.12 Dieses Argument greift aus verschiedenen Gründen zu kurz:
Aus praktischer Sicht sicher nicht an erster Stelle steht das
rechtstheoretische Argument: Kann und soll der Gesetzgeber einen erkannten gesetzgeberischen Bedarf mit der
Begründung abtun, es gebe ein demokratisch nicht legitimiertes Regelungskonstrukt, das die Parteien vereinbaren
können? Gibt er damit nicht Regelungskompetenz aus der
Hand? Muss es nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein,
einen typischen Regelungsbedarf so zu befriedigen, dass
sich die Beteiligten ohne weitere Vereinbarung auf ein zumindest halbwegs befriedigendes und interessengerechtes
Vertragsrecht verlassen können?
Gewichtiger als dies ist vielleicht das Argument, dass der
Verbraucher von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch
macht. Er wird die VOB/B nicht vereinbaren; wenn der Unternehmer sie einbezieht, weiß der Verbraucher häufig
nicht, was sich daraus für Rechte für ihn ableiten lassen.
Zudem bietet die auf den unternehmerischen Geschäfts-
404
verkehr und einen sachkundigen oder sachkundig beratenen Auftraggeber ausgelegte VOB/B für Verbraucherverträge oft auch keine interessengerechten Lösungen. Die oft
hervorgehobene Funktion der VOB/B als „Ersatzrechtsordnung“ greift deshalb allenfalls im unternehmerischen Verkehr.
Aber auch im unternehmerischen Verkehr erweist sich die
Sicherheit, die bei Vereinbarung der VOB/B als „Ersatzrechtsordnung“ zu bestehen scheint, als trügerisch. Die
Regelungen der VOB/B sind allgemeine Geschäftsbedingungen und unterliegen auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr der Inhaltskontrolle, sofern nicht die VOB/B
ohne Änderung im Vertrag einbezogen ist und deshalb
durch § 310 Abs. 1 Satz 3 BGB von der Inhaltskontrolle
freigestellt ist. Maßstab dieser Kontrolle ist im Grundsatz
gemäß § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB das Werkvertragsrecht des
BGB. Von diesem Leitbild weicht die VOB/B in erheblichen
Teilen gravierend ab, sodass sich im Fall der Inhaltskontrolle bei vielen Regelungen die Frage der Wirksamkeit
stellt. Zwar können besondere Belange des Baurechts prinzipiell auch Abweichungen vom Leitbild des gesetzlichen
Werkvertragsrechts rechtfertigen; praktisch wird dies in
der Rechtsprechung indes kaum einmal anerkannt. Zudem
weist die VOB/B in vielen Punkten auch schlicht handwerkliche Mängel auf oder weicht über das sachlich gerechtfertigte Maß hinaus von den gesetzlichen Regelungen ab; in
anderen Punkten sind die Regelungen intransparent und
können schon aus diesem Grund einer Inhaltskontrolle
nicht standhalten. Die VOB/B als Ersatzrechtsordnung
funktioniert also nur dann, wenn sie im unternehmerischen Verkehr unverändert Vertragsbestandteil wurde oder
wenn im konkreten Fall die Frage der Wirksamkeit der entsprechenden Klausel nicht relevant oder nicht thematisiert
wird. Dabei geht es nicht um Randbereiche der VOB/B,
sondern auch bei Kernpunkten wie etwa dem Leistungsänderungsrecht des Bestellers gibt es erhebliche Zweifel
an der Wirksamkeit der Regelungen. Es ist deshalb kurzsichtig, sich in der Diskussion um ein neues Bauvertragsrecht im BGB auf die VOB/B zurückzuziehen. Zugleich ist
dieses Vorgehen angesichts der erheblichen Risiken bei
unwirksamen Geschäftsbedingungen leichtsinnig, so dass
sich auch die Verbände der beteiligten Unternehmen langfristig keinen Gefallen tun, wenn sie sich der notwendigen
Diskussion über ein neues Bauvertragsrecht verweigern.
11
12
Zum Meinungsstand vgl. Voit in: BeckOK BGB, Stand 2/2015, BGB,
§ 633 Rn. 4a.
Vgl. etwa S. 2 der gemeinsamen Stellungnahme der Auftragnehmer
(www.bau-saar.de/nc/service/download-detail.html?download=gem_
Stellungnahme_Juni_2013.pdf&did=166 (zuletzt abgerufen am
19.08.2015).
JM 11 |
D. Lösungswege de lege lata
Das Problem einer weitgehend als sachgerecht empfundenen Ersatzrechtsordnung und einem gesetzgeberischen
Leitbild im BGB, von dem diese Ersatzrechtsordnung abweicht, ließe sich im Grundsatz auch ohne Gesetzesänderung lösen, indem erkannt wird, dass sich das Leitbild des
Bauvertrages vom Leitbild des Werkvertrages unterscheidet. Auch ohne gesetzliche Regelung kann sich ein gesetzliches Leitbild eines Vertragstyps herauskristallisieren. So
hat die Rechtsprechung den Leasingvertrag oder den Franchisevertrag als gesetzlich nicht ausdrücklich geregelte
Vertragstypen anerkannt.13 Allgemeine Geschäftsbedingungen zu einem Leasingvertrag werden nicht am Leitbild
des Mietvertrages gemessen, sondern an dem des Leasingvertrages. Dies kann zur Unwirksamkeit einer Regelung im
Leasingvertrag führen, auch wenn diese für einen Mietvertrag dem gesetzlichen Leitbild entspricht. Die Begründung
für die Entwicklung dieser Vertragstypen liegt darin, dass
sich ein typischer Vertrag herausgebildet hat, der zwar
einem gesetzlich geregelten Vertragstyp ähnelt, aber doch
eine ganz eigene und grundlegend andere Risikoverteilung
vorsieht. Dies ist beim Finanzierungsleasing im Vergleich
zum Mietvertrag recht offensichtlich.
Es wäre deshalb denkbar, auch im Werkvertragsrecht ein
eigenes Leitbild des Bauvertrages mit seinen typischen Abweichungen von anderen Werkverträgen zu entwickeln.
Dieser Weg wird indes bislang nicht beschritten und es ist
auch nicht anzunehmen, dass dieser Gedanke aufgegriffen
wird. Anders als beim Leasingvertrag lässt sich kaum behaupten, dass es sich beim Bauvertrag um einen neuen,
vom Gesetzgeber nicht berücksichtigten Vertragstyp handelt. Anders als beim Leasingvertrag ist auch die Typizität
weniger ausgeprägt. Zwar gibt es typische Regelungsprobleme, aber die Lösungen und die Risikozuweisungen fallen doch weniger homogen aus, als dies im Leasingvertrag
der Fall ist.
Vorgeschlagen wurde auch, eine Art Parallel-VOB/B für
Verbraucherverträge zu entwickeln. Gedacht ist an einen
Mustervertrag, der durch den Gesetzgeber von der AGBKontrolle freigestellt wird.14 Mit diesem Vorschlag werden
Defizite des Werkvertragsrechts erkannt und eingeräumt,
denn andernfalls wäre ein solcher Mustervertrag nicht erforderlich. Wenn diese Defizite aber bestehen, dann
kommt der Gesetzgeber seiner Aufgabe nicht nach, wenn
er die Verbraucher auf einen Mustervertrag verweist, den
diese dann unverändert übernehmen müssen. Eine solche
unveränderte Übernahme wird aber erforderlich sein,
wenn man eine Freistellung von der Inhaltskontrolle erreichen will, denn es kann niemand ernsthaft fordern, die
einzelnen Klauseln des Mustervertrages von der Inhalts-
NOVEMBER
2015
kontrolle freizustellen. Einen erkannten gesetzgeberischen
Bedarf über einen Mustervertrag lösen zu wollen, ist deshalb nichts anderes, als dem Verbraucher jede vertragliche
Gestaltungsmöglichkeit zu nehmen. Denn jede Veränderung des Mustervertrages führt zurück zum defizitären
gesetzlichen Werkvertragsrecht. Hinzu kommen erhebliche Zweifel, ob eine solche Freistellung von der Inhaltskontrolle mit den unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 93/13/EWG (Klauselrichtlinie) vereinbar wäre. Diese
Diskussion wurde bereits für die Freistellung der VOB/B
bei Verwendung in Verbraucherverträgen geführt. Der Gesetzgeber hat daraufhin die Freistellung der VOB/B in
§ 310 Abs. 1 Satz 3 BGB auf den unternehmerischen Bereich beschränkt.
E. Lösungen de lege ferenda
Als Lösung bleibt deshalb nur eine gesetzliche Regelung
des Bauvertrages. Ihre Eckpunkte sind in der vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Arbeitsgruppe bereits
ausführlich diskutiert und im Arbeitsbericht veröffentlicht.15 Die wichtigsten Ergebnisse und die Kritik an diesen
sollen deshalb hier kurz dargestellt werden:
• Kodifizierung des funktionalen Mangelbegriffs – er
stellt klar, dass das Werk auch ungeachtet der vereinbarten Ausführungsart funktionieren muss und
andernfalls nachzubessern ist.
Dabei knüpft der funktionale Mangelbegriff an die im Vertrag vereinbarte oder dem Vertrag zugrunde liegende
Funktionserwartung an. Es geht darum, klar erkennbare
Funktionalitäten sicherzustellen – wie die Dichtigkeit eines
Daches, die Belastbarkeit eines Bodens für die vom Unternehmer bei Vertragsschluss erkannte beabsichtigte Nutzung oder die Verwendbarkeit der Ermittlung eines Leitungsverlaufs im Hinblick auf die Planung späterer Bauarbeiten. Vorstellungen des Bestellers, die er für sich
behält, werden dabei nicht einbezogen.
Die Kodifikation bringt sachlich insoweit nichts Neues, da
berechtigten Funktionalitätserwartungen von Rechtsprechung und herrschender Ansicht – ungeachtet anhaltender
Kritik – bereits jetzt und mit Recht im Wege der Vertragsauslegung Rechnung getragen wird. Auch in Zukunft wird
es zudem möglich sein, das Risiko, dass eine bestimmte
Ausführungsart den vertraglichen Erfolg nicht erreicht,
13
14
15
Näher dazu und zum Folgenden Voit in: FS Ganten, 2007, S. 261 ff.;
aus der Rechtsprechung vgl. BGH, Urt. v. 26.11.2014 - XII ZR 120/13.
Gemeinsame Stellungnahme Auftragnehmer (www.bau-saar.de/nc/
service/download-detail.html?download=gem_Stellungnahme_Juni_
2013.pdf&did=166, S. 3 (zuletzt abgerufen am 19.08.2015).
Abrufbar unter www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/
Abschlussbericht_der_Arbeitsgruppe_Bauvertragsrecht_beim_BMJ.
pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 19.08.2015).
405
Die Monatszeitschrift
durch eine klare Vereinbarung auf den Besteller zu verlagern. Eine gesetzliche Regelung des funktionalen Mangelbegriffs würde nicht nur das schon derzeit geltende
Recht klarer zum Ausdruck bringen, sondern es vor allem
auch den Verbrauchern erleichtern, ihre Rechte wahrzunehmen. Bisher besteht die Gefahr, dass Unternehmer
unter Hinweis auf die scheinbare klare Vereinbarung ihre
Verantwortung ablehnen und sich der Verbraucher, der
seine Recht nicht kennt, damit zufriedengibt, obwohl die
geschuldete Funktionalität nicht erreicht wurde.
• Einführung einer Baubeschreibung bei Verbraucherverträgen – damit Verbraucher sich im Vorfeld
des Vertragsschlusses beraten lassen können und
der Inhalt der Baubeschreibung dann auch Vertragsbestandteil wird.
Natürlich ist jede Beschreibung lästig; sie kostet Zeit und
damit mittelbar auch Geld. Vor allem bei Leistungsänderungen kann eine Baubeschreibungspflicht Probleme bereiten. Dennoch sind die von den Verbrauchern aufgezeigten
Missstände groß, weil sie sich wegen fehlender Beratung
auf Verträge einlassen, die eben keine detaillierten Angaben über bestimmte Leistungen enthalten. Derartige Verträge sind streitträchtig und eröffnen gerade solchen Unternehmern besondere Vermögensvorteile, die offene
Punkte zu ihren Gunsten ausnutzen. Letztlich schadet dies
auch den seriösen Unternehmern, die bei einem Qualitätskorridor eine solide Leistung bringen und nicht versuchen,
den gerade noch zulässigen Minimalstandard zu liefern.
• Regelungen zur Bauzeit – damit der Verbraucher
sich auf Termine verlassen kann.
Während im unternehmerischen Bereich Fristen üblich
sind, fehlen bei Verbraucherverträgen häufig entsprechende Regelungen. Der Regelungsbedarf wird häufig erst klar,
wenn die Verbraucher mit bereits gekündigter Mietwohnung auf die Fertigstellung des neuen Eigenheims warten.
• Widerrufsrecht für Verbraucher bei Neubauten
oder erheblichen Umbauten.
Ein solches Widerrufsrecht verkompliziert die Abwicklung
von Verträgen und verzögert die Ausführung. Aber bei
Neubauten und bei erheblichen Umbauten kann es zum
Schutz der Verbraucher dennoch angezeigt sein. Mit den
Problemen, die sich auf Unternehmerseite aus einem Widerrufsrecht ergeben, steht die Baubranche nicht allein da.
Von Fernabsatzverträgen über Haustürgeschäfte reicht der
Kreis bis zu Versicherungsverträgen.
• Detaillierte Regelung der Prüf- und Hinweisobliegenheiten des Unternehmers und der Mitwirkungsobliegenheiten des Bestellers.
406
Die Prüf- und Hinweisobliegenheiten des Unternehmers
sind in der Rechtsprechung und der Literatur anerkannt.
Sie bilden ein notwendiges Korrektiv des funktionalen
Mangelbegriffs, da nur so gewährleistet ist, dass der Unternehmer durch Bedenkenanmeldungen von der Haftung
frei wird, wenn die durch den Auftraggeber verlangte Ausführung nicht geeignet ist, den geschuldeten Erfolg mangelfrei herbeizuführen. Sie sollten kodifiziert werden, damit der Besteller seine Rechte und deren Grenzen kennt
und zugleich auch für den Unternehmer Klarheit über die
– de lege lata in Teilen umstrittenen – Voraussetzungen
der Enthaftung geschaffen wird. Dabei sollte auch die Planungsverantwortung des Bestellers herausgestellt werden.
Hat er die Planung vorgegeben, so ist es auch seine Sache,
die Planung bei Problemen anzupassen. Eine einfache Regel, die unter dem geltenden Recht aber umstritten ist. Dabei könnte ihre Beherzigung sehr viel Streit über unnötige
Maßnahmen bei Umplanungen vermeiden, wenn der Unternehmer die Umplanung selbst übernimmt oder die Änderung ohne Umplanung einfach ausführt.
• Leistungsänderungsrechte des Bestellers – weil
kein Vorhaben so ausgeführt wird, wie es ursprünglich geplant war.
Jeder weiß, dass Baupläne während der Ausführungsphase
angepasst und geändert werden. Es ist deshalb unehrlich,
wenn der Unternehmer den Besteller auf Verhandlungen
zu einer Vertragsanpassung verweist. Hinzu kommt, dass
ein schutzwürdiges Interesse des Unternehmers, den Vertrag gerade so auszuführen, wie er ursprünglich geschlossen wurde, nicht besteht. Das BGB räumt dem Besteller
ein jederzeitiges Kündigungsrecht ein und beschränkt den
Unternehmer auf sein Gewinninteresse. Solange er diesen
Gewinn bei der geänderten Leistung in gleicher Weise realisieren kann, steht dem Leistungsänderungsrecht kein
schutzwürdiges Interesse des Unternehmers gegenüber.
Auch aus dogmatischer Sicht greift der Einwand pacta
sunt servanda nicht ein, wenn dem Vertrag ein Anpassungsrecht immanent ist. Eine ganz andere Frage ist es,
ob und wie ein solches Recht einzugrenzen ist. Hier könnte
eine gesetzliche Regelung sachgerechte Maßstäbe vorgeben. Derzeit sind die Grenzen des Leistungsänderungsrechts auch in der VOB/B nicht klar geregelt, sodass insoweit Rechtsunsicherheit herrscht.
• Preisanpassungsregelungen und vorläufige Preisfestsetzung – damit Unternehmer und Besteller
rasch Klarheit über Mehrkosten haben und die Regelungen über Abschlagszahlungen, Sicherheiten
und Zurückbehaltungsrechte auch bei Leistungsänderungen funktionieren.
JM 11 |
Preisanpassungsregeln haben nichts mit staatlichen Preisfestsetzungen zu tun. Sie denken die vertraglichen Vergütungsvereinbarungen weiter und erstrecken sie auf Fälle, die im Vertrag nicht geregelt sind. Dabei kommt die
vorläufige Preisfestsetzung vor allem dem Unternehmer
zugute: Er kann auf Grundlage dieser Preisfestsetzung Abschlagsrechnungen stellen oder Sicherheiten verlangen
und ist gerade nicht darauf angewiesen, seine Forderungen in langjährigen Rechtsstreitigkeiten durchzusetzen.16
Bleibt die Zahlung oder Sicherheitsleistung aus, kann der
Unternehmer ohne rechtliches Risiko die Leistungen einstellen. Das ist nach geltendem Recht nur mit erheblichen
Risiken möglich, denn die unberechtigte Leistungseinstellung verpflichtet zum Schadensersatz und kann unter Umständen sogar eine Kündigung des Bauvertrags rechtfertigen – und ob die nach Ausführung einer Leistungsänderung geforderte Abschlagssumme angemessen oder zu
hoch war, das erfährt der Unternehmer häufig erst Jahre
später. Umgekehrt profitiert auch der Besteller, wenn er
möglichst frühzeitig erkennen kann, welche Mehrkosten
auf ihn zukommen. Auch für ihn bedeutet es ein erhebliches Problem, wenn im Rahmen von Abschlagsforderungen die Übernahme von Mehrkosten an ihn herangetragen
wird und er über deren Berechtigung erst Jahre später Gewissheit erlangt – zumal er stets damit rechnen muss, dass
der Unternehmer infolge verweigerter Abschlagszahlungen
die weitere Leistungserbringung (womöglich zu Recht) einstellt.
• Abschlagszahlung für erbrachte Leistungen – damit
die Liquidität des Unternehmers auch dann gewährleistet wird, wenn den Leistungen noch kein
Wertzuwachs beim Besteller gegenübersteht.
Das geltende Recht koppelt die Abschlagszahlungen an
einen solchen Zuwachs, aber ein objektiver Mehrwert des
Grundstücks ist mit dem Herstellen einer Baugrube kaum
verbunden. Dies führt, wenn man das Gesetz insoweit
beim Wort nimmt, zu einer sachwidrigen Ungleichbehandlung der Unternehmer, denn für sie ist ihre Vorleistung
maßgeblich, nicht die Wertsteigerung beim Besteller.
• Regelungen über Sicherheiten – damit auch geschäftlich weniger erfahrene Verbraucher finanziell
abgesichert werden.
Eine Fertigstellungssicherheit sieht das BGB nur für den
Fall vor, dass der Unternehmer vom Verbraucher eine Abschlagszahlung verlangt. Wie oft der Unternehmer diese
Sicherheit tatsächlich anbietet, sei hier dahingestellt. Problematischer ist, dass eine generelle Sicherheit fehlt. Dies
gilt auch für die Phase der Mängelgewährleistung, die derzeit im BGB nicht vorgesehen ist.
NOVEMBER
2015
• Abnahmeverweigerung nur mit Begründung – damit die Salamitaktik zur Verzögerung der Abnahme
nicht mehr funktioniert.
Die Finanzierung von Bauvorhaben durch Liquidität, die
dem Unternehmer durch Hinhaltetaktik bei der Abnahme
vorenthalten wird, ist weit verbreitet. Eine gesetzliche Regelung, die es dem Besteller erlaubt, die Abnahme ohne
Begründung zu verweigern, leistet diesem Missbrauch Vorschub. Es gibt auch kein schutzwürdiges Interesse des Bestellers, die Gründe für sich zu behalten, auf die er seine
Abnahmeverweigerung stützt. Dabei muss der Besteller
angehalten werden, alle Gründe für die Verweigerung der
Abnahme anzugeben, die er im Zeitpunkt der Abnahmeverweigerung erkennen kann.
• Stärkere Einflussmöglichkeiten des Bestellers,
wenn Fehler schon während der Herstellungsphase
entdeckt werden.
Nach dem derzeit geltenden Recht ist es sehr zweifelhaft,
welche Ansprüche der Besteller während der Herstellungsphase hat. Insbesondere ist das Geltendmachen von Nacherfüllungsansprüchen vor der Abnahme problematisch.17
Das ist mit Blick auf den punktuellen werkvertraglichen
Leistungsbegriff durchaus sachgerecht, weil in dieser Phase des Vertrages der Unternehmer seine Leistung erst vorbereitet. Ist aber bereits jetzt offenkundig, dass im Abnahmezeitpunkt ein abnahmereifes Werk nicht präsentiert
werden kann, so muss der Besteller bereits jetzt reagieren
können. Dieses Ergebnis lässt sich auch nach dem geltenden Recht begründen, entsprechende Rechte und ihre Voraussetzungen müssen aber klar aus dem Gesetz hervorgehen, weil es nur dann risikofrei durchgesetzt werden
kann.
• Prüfbare Schlussrechnung als Fälligkeitsvoraussetzung.
Beim Bauvertrag wird häufig kein Pauschalpreis vereinbart, sondern es werden nur Preise für Leistungseinheiten
festgelegt. Die geschuldete Gesamtvergütung ergibt sich
dann erst aus einem Abrechnungsprozess, der in die
Schlussrechnung mündet. Nach der VOB/B wird die Vergütungsforderung erst fällig, wenn diese Schlussrechnung
aufgestellt ist und der Besteller Zeit hatte, diese zu prüfen.
Dies sollte auch im BGB vorgesehen werden, sofern es sich
um umfangreichere Bauvorhaben handelt.
16
17
So die berechtigte Kritik in der gemeinsamen Stellungnahme der Auftragnehmer, S. 15.
Zum Meinungsstand vgl. Voit, BauR 2011, 1063.
407
Die Monatszeitschrift
• Kündigungsrecht bei Vermögensverfall – damit vor
allem Verbraucher bei drohender Insolvenz rasch
reagieren und das Bauwerk durch Dritte fertigstellen lassen können.
Gerade Verbraucher und andere in der Baubranche weniger Erfahrene denken bei der Vertragsgestaltung nicht an
die Insolvenz ihres Vertragspartners. Wird er während der
Bauausführung zahlungsunfähig, so kann sich der Besteller nach geltendem Recht vom Bauvertrag nur lösen, wenn
er frei kündigt und die Vergütung auch für die noch nicht
erbrachten Leistungen unter Abzug ersparter Aufwendungen bezahlt. Angesichts der mit einem Hausbau verbundenen finanziellen Anstrengungen ist dafür das Geld in der
Regel nicht vorhanden. Das Insolvenzrecht zwingt den Besteller dazu, dann zunächst eine Entscheidung des Insolvenzverwalters abzuwarten. Das kostet viel Zeit und noch
mehr Geld: Während dieser Zeit geht der Bau nicht voran,
vielfach werden erbrachte Leistungen während dieser Zeit
durch Wetter oder andere Umstände entwertet. Ein außerordentliches Kündigungsrecht könnte den Schaden begrenzen, weil nach der Kündigung ein Drittunternehmer das
Bauvorhaben beenden kann. Belange des Insolvenzrechts
und der Sanierungsmöglichkeiten eines insolventen Unternehmens sind durch ein solches Kündigungsrecht berührt,
aber bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht beeinträchtigt:
Eine Entscheidung des Insolvenzverwalters für die Erfüllung eines Bauvertrages ist angesichts der Risiken von
Mängeln aus der Bauleistung aus der Phase vor Ausübung
des Wahlrechts kaum sinnvoll. In der Literatur wird dem
Insolvenzverwalter dazu geraten, die Erfüllungswahl von
der Vereinbarung eines Gewährleistungsausschlusses abhängig zu machen.18 Diese Empfehlung aus der Praxis
zeigt, dass Besteller in eine enorme Drucksituation geraten, sodass sie offenbar bereit sind, selbst solche Vereinbarungen im Einzelfall zu akzeptieren. Die Schaffung eines
entsprechenden Vertragslösungsrechts tut umso mehr Not,
als unter dem geltenden Recht nicht einmal klar ist, ob ein
solches Vertragslösungsrecht – wie es in § 8 Abs. 2 VOB/B
ausdrücklich vorgesehen ist – mit der Insolvenzordnung
vereinbar ist.
F. Fazit
Der Regelungsbedarf ist nicht von der Hand zu weisen.
Mit den vorgeschlagenen Regelungen wird den Parteien
auch ohne Vereinbarung der VOB/B ein funktionierendes
Vertragsrecht zur Verfügung gestellt. Die Regelungen sind
aber auch dann vorteilhaft, wenn die Parteien im Vertrag
die VOB/B vereinbaren. Sie können der Inhaltskontrolle
wesentlich beruhigter entgegensehen: Zum einen rückt
das Leitbild des BGB zum Bauvertragsrecht näher an die
VOB/B heran, sodass zumindest einige der Klauseln, die im
408
Augenblick unwirksam sind, dann einer Inhaltskontrolle
standhalten. Zum anderen sind die Folgen einer unwirksamen Klausel nicht mehr ganz so gravierend, weil das
dann maßgebende dispositive Recht für Bauverträge sachgerechte Regelungen enthält.
Diese Vorteile überwiegen die Risiken einer solchen gesetzgeberischen Neuregelung weit. Dabei dürfen diese Risiken nicht vernachlässigt oder klein geredet werden.
Selbst Regelungen, die lediglich den derzeitigen Stand kodifizieren, können ihre Tücken haben. Neben der generellen Gefahr der Zementierung eines momentanen Rechtszustands können sie zu einer Vielzahl von Detailfragen
führen. Wenn man im Bauvertragsrecht über die Kodifizierung des derzeitigen Stands hinausgeht und versucht, erkannte Defizite auch durch neue Instrumentarien zu beseitigen, werden diese Probleme noch größer sein. Auch
sind die Erfahrungen, die der Gesetzgeber bei den bisherigen Regelungen im privaten Baurecht sammeln konnte,
keineswegs positiv: Die Fertigstellungsbescheinigung nach
§ 641a BGB wurde eingeführt und wieder abgeschafft;
die Bauhandwerkersicherheit nach § 648a BGB wird fast
schon regelmäßig erst im Konfliktfall geltend gemacht
und führt dann – wenn der Besteller die Sicherheit nicht
leisten kann – zu einer Beschränkung der Mängelansprüche; die Regelung des § 632a BGB über Abschlagszahlungen ist praktisch schwer anwendbar, weil sie auf einen
ökonomisch kaum sachgerechten Wertzuwachs abstellt.
Auf der anderen Seite ist der derzeitige Zustand mehr als
nur unbefriedigend: Das Bauvertragsrecht ist dem Gesetzgeber weitgehend entglitten. Nichts zeigt dies deutlicher
als der Befund, dass ein führender Großkommentar es vorzieht, die gesetzlichen Bestimmungen anhand der VOB/B
zu erläutern, um dann zu sehen, ob man diese sachgerechte Regelung nicht auch im BGB wiederfinden kann. Der
Grund für ein solches Vorgehen liegt darin, dass die Regeln des BGB im Verbraucherbereich völlig unzureichend
sind. Im unternehmerischen Bereich vertrauen viele Akteure
einer Ersatzordnung mehr als dem Gesetz, wobei ganz wesentlich Einigkeit darüber besteht, dass ein erheblicher Teil
der Regelungen dieser Vertragsordnung einer Inhaltskontrolle nicht standhält. Auch wenn es keinen spektakulären
Einzelfall gibt, der die Öffentlichkeit bewegt, kann sich ein
struktureller Reformbedarf für den Gesetzgeber kaum klarer darstellen.
Ein noch wesentlich größerer Schritt, der über die Vorschläge der Arbeitsgruppe hinausgeht, wäre die Entwicklung einer umfassenden Versicherungslösung, die bei
Mängeln in Vorleistung tritt und beim verantwortlichen
18
Reischl, Insolvenzrecht, 3. Aufl. 2014, Rn. 517.
JM 11 |
(Sub- oder Subsub-)Unternehmer Rückgriff nimmt.19 Eine
solche Versicherung könnte nicht nur das derzeitige System von Sicherheiten in jedem einzelnen Vertragsverhältnis verschlanken, sondern könnte durch einen Direktanspruch gegen den oder die Verantwortlichen die mehrfachen Regresse und die Streitverkündungsprobleme
beseitigen. Auch wenn dieser Schritt derzeit noch zu kühn
ist, sollte der Gesetzgeber nicht länger zögern, die vorliegenden Vorschläge zum Bauvertragsrecht aufzugreifen,
damit künftig auch ohne vertragliche Vorsorge der Bauvertrag sachgerecht ausgestaltet ist. Wird dabei schon während der Bauphase ein effizientes Streitbeilegungsverfahren – sei es durch eine gerichtliche Bauverfügung, sei es
durch private Streitschlichtungsmechanismen – vorgesehen, werden nicht nur alle gewinnen, die bislang die oft
sehr hohen Kosten für Baustillstand unter sich aufteilen
mussten (gelegentlich wegen der Marktverhältnisse auch
ohne Rücksicht auf die Verursachung). Von der Verbesserung des Liquiditätsflusses können auch die Bauunternehmen und letztlich auch der Gesetzgeber selbst profitieren, weil dann hoffentlich gesetzgeberische Randkorrekturen wie bisher in §§ 632a, 641a und 648a BGB nicht mehr
erforderlich sind.
19
Vgl. dazu AK IX des 4. Baugerichtstags, abrufbar unter www.
baugerichtstag.de/mp-content/user_upload/dateien/4dbgtthesak9.
pdf?PHPSESSID=4f1031fd135184ac9a86b2d4f77ae429 (zuletzt abgerufen am 19.08.2015).
Zur Rechtsnatur des qualifizierten
Rangrücktritts und die Rechtsfolgen hieraus
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14
RA Dr. Udo Michalsky
A. Problemstellung
Das Urteil ist von grundlegender Bedeutung für die rechtliche Ausgestaltung, die dogmatische Einordnung, die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen der Rangrücktrittsvereinbarung.
In dem Fall wurde der BGH erstmals mit der Frage konfrontiert, ob und inwieweit sich aus einer Rangrücktrittsvereinbarung bereits vor Insolvenzeröffnung eine materiell-rechtliche Durchsetzungssperre ergibt. Der BGH hat klargestellt,
dass eine qualifizierte Rangrücktrittsvereinbarung einen
verfügenden Schuldänderungsvertrag darstellt, nach dessen Inhalt die Forderung des Gläubigers nicht mehr passiviert wird und nur im Falle eines die Verbindlichkeiten
übersteigenden Aktivvermögens befriedigt werden darf.
Damit die Forderung nicht mehr in einem Überschuldungs-
NOVEMBER
2015
status passiviert werden muss, ist es allerdings erforderlich,
dass der Rangrücktritt im Sinne einer vorinsolvenzlichen
Durchsetzungssperre auch den Zeitraum vor Eröffnung
des Insolvenzverfahrens erfasst.1 Die Rangrücktrittsvereinbarung stellt dabei einen Vertrag zugunsten Dritter, der
Gläubigergesamtheit dar. Deshalb kann die Vereinbarung
ab Eintritt der Insolvenzreife nicht mehr durch eine Abrede des Schuldners mit dem Gläubiger der Forderung aufgehoben werden. Eine Zahlung, die im Stadium der Insolvenzreife auf die im Rang zurückgetretene Forderung erfolgt, kann sowohl mangels Rechtsgrund kondiziert als
auch als unentgeltliche Leistung angefochten werden.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der
J GmbH (nachfolgend: Schuldnerin). Die Schuldnerin
schloss mit den Rechtsvorgängerinnen der Beklagten im
Rahmen einer Mezzanine-Finanzierung eine Genussrechtsvereinbarung über ein Nominaldarlehen i.H.v. 6 Mio. € und
einen Vertrag über ein nachrangiges Darlehen über einen
Betrag von 2 Mio. €. Beide Verträge sehen zu Lasten der
Gläubigerinnen einen Rangrücktritt folgenden Inhalts vor:
„Die Gläubigerin tritt mit ihrem Anspruch auf Rückzahlung
des Nominalbetrages und ihrem Anspruch auf Zinszahlung
dergestalt im Rang hinter die Forderungen aller bestehenden und künftigen Gläubiger der Schuldnerin zurück, dass
sie erst nach Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger und, soweit ein Liquidationsüberschuss oder ein die
sonstigen Verbindlichkeiten übersteigendes Vermögen der
Gesellschaft hierfür zur Verfügung steht, nur zugleich mit,
im Rang jedoch vor den Einlagerückgewähransprüchen der
Gesellschafter der Schuldnerin Erfüllung dieser Ansprüche
verlangen kann. Der Nachrang gilt auch im Insolvenzverfahren. Der Rangrücktritt gilt nur, solange und soweit
durch eine teilweise oder vollständige Befriedigung des im
Rang zurückgetretenen Anspruchs der Gläubigerin eine
Überschuldung oder eine Zahlungsunfähigkeit im insolvenzrechtlichen Sinne der Schuldnerin entsteht oder zu
entstehen droht.“
Im Zeitraum von Januar bis März entrichtete die Schuldnerin
an die Beklagte Zinszahlungen i.H.v. insgesamt 341.180,49 €.
Im Juni wurde Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin gestellt. Der Kläger begehrt mit der Klage die gezahlten Zinsen zurück.
Der BGH geht davon aus, dass die Schuldnerin ihre Zahlungen im Stadium drohender Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit erbracht hat. Bei dieser Sachlage ergibt
sich der vom klagenden Insolvenzverwalter geltend ge1
Schäfer, NZI 2015, 320.
409
Die Monatszeitschrift
machte Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1
Var. 1 BGB, weil die Zahlung der Schuldnerin an die Beklagte nach dem Inhalt der getroffenen Rangrücktrittsvereinbarung ohne Rechtsgrund erfolgte.
Obwohl der Wortlaut des mit dem MoMiG eingeführten
§ 19 Abs. 2 Satz 2 InsO nur von Gesellschafterdarlehen
spricht, können Rangrücktrittsvereinbarungen über den
Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO hinaus auch zwischen
der Gesellschaft und einem Nichtgesellschafter/Dritten vereinbart werden.2 Zwar wird ein Rangrücktritt vielfach zwischen einem Gesellschafter als Inhaber einer Darlehensoder sonstigen Drittforderung und seiner Gesellschaft vereinbart. Allerdings besteht aufgrund der Vertragsautonomie ohne weiteres die Möglichkeit, einen Rangrücktritt
zwischen einer Gesellschaft und einem Nichtgesellschafter
zu vereinbaren. Dabei sind die Rechtsfolgen einer Rangrücktrittsvereinbarung gleich, unabhängig davon, ob sie
mit einem Gesellschafter oder einem außenstehenden Dritten, insbesondere einem Darlehensgeber, geschlossen
wurde.3 Aus diesem Grunde ist § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO
auch auf einen Rangrücktritt außenstehender Gläubiger
(Nicht-Gesellschafter) anwendbar, obwohl er sich nach seinem Wortlaut nur mit dem Rangrücktritt eines Darlehensgebers, der Gesellschafter ist, befasst.4
Zweck der Rangrücktrittsvereinbarung ist es, eine Forderung im Überschuldungsstatus einer Gesellschaft unberücksichtigt zu lassen und dadurch die Insolvenz der Gesellschaft zu vermeiden.5 Da Inhalt und Reichweite eines
Rangrücktritts vom Gläubiger und Schuldner der Forderung frei vereinbart werden können6, stellt der BGH Überlegungen an, welchen Inhalt die Rangrücktrittsvereinbarung haben muss, um den mit der Rangrücktrittserklärung verfolgten Zweck zu erreichen.
Nicht ausreichend ist etwa die Vereinbarung, dass der
Nachrang nur für den Fall der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Geltung haben soll. Eine solche Abrede ist nicht
geeignet, eine Überschuldung des Unternehmens abzuwenden, weil der Gläubiger nicht gehindert ist, seine Forderung vor Verfahrenseröffnung durchzusetzen. Ebenso
lässt sich eine Überschuldung nicht verhindern, wenn ein
Gläubiger vereinbarungsgemäß hinter bestimmte einzelne
Gläubiger zurücktritt, weil die betroffene Forderung dann
als letztrangige Verbindlichkeit bestehen bleibt, die weiterhin das Schuldnervermögen belastet.7
Erforderlich ist vielmehr, dass sich die Rangrücktrittsvereinbarung nach ihrem Regelungsbereich sowohl auf den
Zeitraum vor als auch nach Insolvenzeröffnung erstreckt.8
Der Rangrücktritt ist als rechtsgeschäftliches Zahlungsverbot so auszugestalten, dass die Forderung des Gläubigers
außerhalb des Insolvenzverfahrens nur aus ungebundenem
410
Vermögen und in der Insolvenz nur im Rang nach den Forderungen sämtlicher normaler Insolvenzgläubiger (§ 38
InsO) befriedigt werden darf. Der Gläubiger muss dabei
aufgrund der Rangrücktrittsvereinbarung dauerhaft9 gehindert sein, seine Forderung geltend zu machen.10
Nicht erforderlich ist dagegen ein Verzicht auf die Forderung.11
Dementsprechend braucht eine Forderung in einem Überschuldungsstatus nicht berücksichtigt zu werden, wenn
der betreffende Gläubiger aufgrund eines qualifizierten
Rangrücktritts erklärt hat, er wolle wegen der Forderung
erst nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger befriedigt werden und – bis zur Abwendung der Krise
– hinter die Forderungen aus § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zurücktreten, ohne dass darüber hinaus eine Gleichstellung
mit den Einlagerückgewähransprüchen erfolgen muss.12
In dem vorliegenden Fall war die Schuldnerin nach dem
Inhalt der getroffenen Vereinbarungen nicht verpflichtet,
nach Eintritt drohender Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit Zins- und Tilgungszahlungen auf das gewährte
Darlehen zu entrichten.
Eine solche nachträgliche Rangrücktrittsvereinbarung bildet einen verfügenden Schuldänderungsvertrag (§ 311
Abs. 1 BGB).13 Die Forderung wird durch diesen Ände2
3
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8
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10
11
12
13
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 14; Schäfer, NZI 2015,
320.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 14.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 14; Schröder in:
HmbKomm-InsO, 5. Aufl., § 19 Rn. 43; Nerlich/Kreplin/Bornheimer,
Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, 2. Aufl., § 7
Rn. 85; Frystatzki, NZI 2013, 609, 611.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 13.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 15.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 15.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 19; Frystatzki, NZI 2013,
609, 610.
Ein lediglich zeitlich begrenzter Rücktritt ist daher unzureichend.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 16.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 17.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 18, wobei der BGH darauf hinweist, dass abweichend von dem im Urteil vom 08.01.2001 II ZR 88/99 zum Ausdruck gekommenen Verständnis nach dem Wortlaut des durch das MoMiG geänderten § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO nunmehr nicht mehr erforderlich ist, dass die Forderung auch nicht vor,
sondern nur zugleich mit den Einlagerückgewähransprüchen der Gesellschafter berücksichtigt werden darf, also so behandelt werden
muss, als handele es sich bei dem Darlehen um statutarisches Kapital. BT-Drs. 16/9737, S. 58; Nerlich/Kreplin/Bornheimer, Münchener
Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, 2. Aufl., § 7 Rn. 85;
Meyer-Löwy/Schmidt/Shubina, ZIP 2014, 2478, 2479; Baumbach/
Hueck/Haas, GmbHG, 20. Aufl., § 64 Rn. 55.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 27; Altmeppen in: Roth/
Altmeppen, GmbHG, 7. Aufl., § 42 Rn. 49.
JM 11 |
rungsvertrag mit dinglicher Wirkung inhaltlich dahin umgewandelt, dass sie im Verhältnis zu den übrigen Gläubigern haftendes Kapital bildet und deshalb nicht an den
Forderungsinhaber ausbezahlt werden darf, sodass sie zugleich nicht mehr zu passivieren ist. Der Forderung wird
durch die Vereinbarung eine nachrangige Stellung zugewiesen, die eine Befriedigung nur aus freiem, nicht zur
Schuldendeckung benötigtem Vermögen gestattet. Durch
die Vereinbarung wird die Rangfolge, nicht aber der Bestand der Forderung geändert, sodass etwaige Sicherungsrechte nicht berührt werden.14 Aus diesem Grund weist der
BGH die teilweise zur Rechtsnatur der Rangrücktrittsvereinbarung vertretene Auffassung, sie stelle einen bedingten
Forderungsverzicht dar15 oder aber ein pactum de non petendo und damit eine Stundungsvereinbarung16, zurück.17
Befindet sich der Schuldner im Stadium der Insolvenzreife,
so verwirklicht sich in der Rangrücktrittsvereinbarung eine
Durchsetzungssperre, die aufgrund der rechtsgeschäftlichen Vereinbarung der Bindung eines kapitalersetzenden
Darlehens entspricht. Zahlt der Schuldner bei dieser Sachlage bei Insolvenzreife entgegen der Rangrücktrittsvereinbarung an den Gläubiger, so leistet er infolge der Schuldänderung auf eine Nichtschuld.18 Da die Zahlung ohne
Rechtsgrund erfolgte, kann sie nach § 812 Abs. 1 Satz 1
BGB zurückgefordert werden19, sofern nicht § 814 BGB
entgegensteht.
Liegt Insolvenzreife vor, kann diese Rechtsfolge auch nicht
dadurch umgangen werden, dass die Rangrücktrittsvereinbarung durch eine Abrede zwischen dem Schuldner und
dem Forderungsgläubiger aufgehoben wird, um so einen
Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Zahlung zu schaffen. In der Rangrücktrittsvereinbarung ist ein Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 Abs. 1 BGB), nämlich zugunsten der
Gläubigergemeinschaft des Schuldners zu sehen.20 Bei Vereinbarung des Rangrücktritts ist dem Gläubiger und dem
Schuldner bewusst, dass ihre Abrede dazu dient, einen
möglicherweise eingreifenden Insolvenzgrund zu verhindern oder zu beseitigen, und dass eine volle Befriedigung
der übrigen, im Rang nicht zurückgetretenen Gläubigerforderungen ohne den Rangrücktritt nicht zu erwarten ist. Im
Interesse des Gläubigerschutzes ist es unumgänglich, die
den Rangrücktritt vereinbarenden Parteien an diese Vereinbarung zu binden und die Möglichkeit der freien Aufhebung der Vereinbarung auszuschließen, um so den
Gläubigern eine gesicherte Rechtsposition zu verschaffen.21 Ohne eine solche Rechtsposition der Gläubiger kann
aus Sicht des BGH eine Suspendierung der öffentlich-rechtlichen Insolvenzantragspflicht nicht gerechtfertigt werden.
Daher kann die Rangrücktrittsvereinbarung grundsätzlich
nicht ohne Mitwirkung der begünstigten Gläubiger aufgehoben werden.22
NOVEMBER
2015
Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn vereinbart ist,
dass die von dem Rangrücktritt erfasste Forderung aus freiem
Vermögen der Schuldnerin beglichen werden darf. Ein
Recht der Gläubiger wird dann für den Fall nicht begründet,
dass eine zur Deckung sämtlicher Verbindlichkeiten ausreichende Vermögensmasse vorhanden ist. Bei dieser Konstellation ist eine Aufhebung der Rangrücktrittserklärung ohne
Mitwirkung der Gläubiger zulässig, wenn eine Insolvenzreife des Schuldners nicht vorliegt oder beseitigt ist.23
In dem zu entscheidenden Fall konnte der BGH offenlassen, ob § 814 BGB dem Bereicherungsanspruch entgegensteht, weil die unter Verstoß gegen den qualifizierten
Rangrücktritt im Stadium der Insolvenzreife bewirkte Zahlung zugleich als unentgeltliche Leistung nach § 134 InsO
angefochten werden kann24 und § 814 BGB auf das anfechtungsrechtliche Rückgewährverhältnis des § 143
Abs. 1 InsO nicht anzuwenden ist.25
C. Kontext der Entscheidung und Auswirkungen
für die Praxis
Der BGH nutzt die Entscheidung, um grundlegend und zusammenfassend seine Ansicht zu Zweck, Voraussetzungen
und Wirkungen des Rangrücktritts darzulegen.26 Dabei findet er eine Lösung, mit der die Praxis gut leben kann.
Er stellt klar, dass ein Rangrücktritt nicht nur zwischen der
Gesellschaft und ihrem Gesellschafter, sondern aufgrund
der Vertragsautonomie ohne weiteres auch zwischen einer
Gesellschaft und einem Nichtgesellschafter vereinbart werden kann.27 Die Rechtsfolgen einer Rangrücktrittsverein14
15
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26
27
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 32.
Serick, ZIP 1980, 9, 14 f.
Schmidt/Herchen, InsO, 18. Aufl., § 39 Rn. 22.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 31.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 34.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 33.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 36.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 38.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 42.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 42.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 46.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 46; BGH, Urt. v.
11.12.2008 - IX ZR 195/07 Rn. 15; BGH, Beschl. v. 16.07.2009 IX ZR 53/08 Rn. 3.
Abweichend Bork, EWiR 2015, 219, 220, demzufolge in der dogmatischen Begründung Fragen offen bleiben; Bitter/Heim, ZIP 2015, 644
zufolge ist dem BGH mit der Entscheidung ein Kabinettstück besonderer Güte gelungen, dessen Bedeutung für die Praxis gar nicht überschätzt werden kann. Ähnlich Schäfer, NZI 2015, 320 der begrüßt,
dass das Urteil eine Reihe von Unklarheiten bezüglich der Voraussetzungen und der Rechtsfolgen einer Rangrücktrittsvereinbarung ausräumt.
Serick, ZIP 1980, 9; Altmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 7. Aufl.,
§ 42 Rn. 48.
411
Die Monatszeitschrift
barung sind in beiden Fällen gleich. Darum ist § 19 Abs. 2
Satz 2 InsO, der sich nach seinem Wortlaut nur auf Gesellschafterdarlehen und Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen, befasst, auch
auf einen Rangrücktritt außenstehender Gläubiger anwendbar.28
Der BGH passt seine Rechtsprechung an den durch das
MoMiG geänderten § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO an. Zur Geltung des alten Rechts hatte der BGH in seinem Urteil vom
08.01.2001 noch gefordert, dass der betreffende Gläubiger
erklärt, er wolle wegen der Forderung erst nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger und – bis zur Abwendung der Krise – auch nicht vor, sondern nur zugleich
mit den Einlagerückgewähransprüchen der Gesellschafter
berücksichtigt, also so behandelt werden, als handele es
sich bei dem Darlehen um statutarisches Kapital.29 Ein
Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 2 InsO a.F. genügte
diesen Anforderungen, wenn der Gesellschafter in dieser
Klasse an die letzte Stelle trat.30
Auf der Grundlage des durch das MoMiG geänderten neuen
Rechts lässt der BGH es im Einklang mit dem Gesetzgeber
und der h.M. in der Literatur31 genügen, dass der betreffende Gläubiger erklärt, er wolle wegen der Forderung erst
nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger
befriedigt werden und – bis zur Abwendung der Krise –
hinter die Forderungen aus § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zurücktreten. Eine Gleichstellung mit den Einlagerückgewähransprüchen ist dagegen nicht mehr erforderlich.32
Weiter stellt der BGH klar, dass es erforderlich ist, dass der
Rangrücktritt im Sinne einer vorinsolvenzlichen Durchsetzungssperre zur Vermeidung einer Überschuldung auch den
Zeitraum vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfasst.
Die Entscheidung bringt damit für die Praxis Klarheit und
Rechtssicherheit, wie qualifizierte Rangrücktrittsvereinbarungen zu formulieren sind, um den mit ihnen verfolgten Zweck zu erreichen, dass eine Forderung nicht in den
Überschuldungsstatus der Gesellschaft einzustellen ist, damit eine andernfalls bestehende Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne vermieden wird.
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BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 14; Schröder in:
HmbKomm-InsO, 5. Aufl., § 19 Rn. 43; Nerlich/Kreplin/Bornheimer,
Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, 2. Aufl., § 7
Rn. 85; Frystatzki, NZI 2013, 609, 611.
BGH, Urt. v. 08.01.2001 - II ZR 88/99.
BGH, Beschl. v. 01.03.2010 - II ZR 13/09 Rn. 12.
BT-Drs. 16/9737, S. 58; Nerlich/Kreplin/Bornheimer, Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, 2. Aufl., § 7 Rn. 85; MeyerLöwy/Schmidt/Shubina, ZIP 2014, 2478, 2479; Baumbach/Hueck/
Haas, GmbHG, 20. Aufl., § 64 Rn. 55.
BGH, Urt. v. 05.03.2015 - IX ZR 133/14 Rn. 18.
Insolvenzanfechtung – ohne Krise?
BGH, Beschl. v. 30.04.2015 - IX ZR 196/13
RA Michael J. W. Blank und Dipl.-Jur. Dennis B. Blank1
A. Problemstellung
Der Beschluss befasst sich mit der Frage, ob die Insolvenzanfechtung eines an den Gesellschafter zurückgezahlten
Gesellschafterdarlehens gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO
bzw. die Anfechtung der Rückgewähr eines gesellschafterbesicherten Darlehens gemäß § 135 Abs. 2 InsO binnen
eines Jahres vor Insolvenzantragstellung eine Krise der Gesellschaft als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal voraussetzt.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Der Sachverhalt
Der BGH hatte die eingangs gestellte Frage im Rahmen
einer Nichtzulassungsbeschwerde (§ 544 Abs. 1 Satz 1
ZPO) zu prüfen. Auch wenn der Beschluss – wie üblich –
keinen Tatbestand enthält, so kann doch folgender Sachverhalt herausgelesen werden:
Der Insolvenzverwalter macht gegen den Beklagten Ansprüche wegen der Rückführung eines von ihm als Alleingesellschafter an die Insolvenzschuldnerin gewährten Kredits i.H.v. 18.500 € bzw. wegen der Rückführung eines
Kontokorrentkredits i.H.v. 107.902,51 €, für den sich der
Beklagte als Alleingesellschafter verbürgt hatte, innerhalb
der Jahresfrist des § 135 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 InsO geltend.
Der Beklagte wendet ein, dass er zum Zeitpunkt der letzten Zahlung bereits seine Geschäftsanteile an einen Dritten übertragen hatte und sich die Gesellschaft zu diesem
Zeitpunkt nicht in der Krise befand.
II. Die Entscheidung des BGH
Zunächst stellt der BGH klar, dass der für ein Gesellschafterdarlehen angeordnete Nachrang (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO)
nicht dadurch unterlaufen werden könne, dass der Gesellschafter als Kreditgeber innerhalb der Jahresfrist vor Insolvenzantragstellung (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO) seine Beteiligung an der Gesellschaft aufgegeben habe.2
1
2
Rechtsanwalt Michael J. W. Blank ist Sozius der Rechtsanwaltskanzlei Fischer Krauter Blank & Möller, Völklingen/Saar. Dipl.-Jur. Dennis
B. Blank ist Wiss. Mitarbeiter in der vorgenannten Kanzlei und Doktorand am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäisches und Internationales Privatrecht sowie Zivilprozessrecht an der Universität des
Saarlandes (Prof. Dr. Markus Würdinger).
BGH, Urt. v. 21.02.2013 - IX ZR 32/12 - BGHZ 196, 220.
JM 11 |
Der Einwand des Beklagten auf das Nichtvorliegen einer
Krise verfange schon deshalb nicht, weil es hierauf seit der
Neufassung der §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135 Abs. 1 und 2 InsO
durch das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts
und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom
23.10.2008 nicht (mehr) ankomme. Die Neuregelung des
§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO verweise jedes Gesellschafterdarlehen bei Eintritt der Gesellschaftsinsolvenz in den Nachrang.3 Rückzahlungen auf Gesellschafterdarlehen bzw. auf
gesellschafterbesicherte Drittdarlehen seien damit innerhalb der Jahresfrist des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO stets anfechtbar, ohne dass das bisherige Erfordernis einer Gesellschaftskrise hinzutreten müsse. Für eine teleologische Reduktion des § 135 InsO sei kein Raum. Das Merkmal der
„Krise“ habe der Gesetzgeber des MoMiG bewusst durchgängig aufgegeben; eine Unterscheidung zwischen „kapitalersetzenden“ und „normalen“ Gesellschafterdarlehen
gebe es nicht mehr.4
C. Kontext der Entscheidung
Durch das am 01.11.2008 in Kraft getretene MoMiG wurde das bis dahin geltende Eigenkapitalersatzrecht in Gestalt der Novellenregeln (§§ 32a, 32b GmbHG a.F.) und
der Rechtsprechungsregeln (§§ 30, 31 GmbHG a.F. analog)
aufgehoben und durch §§ 39 Abs. 1 Nr. 5, 135, 143 Abs. 3,
44a InsO neu geregelt.
Das frühere Eigenkapitalersatzrecht5 hatte mit den Rechtsprechungsregeln einen gesellschaftsrechtlichen und mit
den Novellenregeln einen insolvenzrechtlichen Lösungsansatz, die dem Schutz der Gesellschaftsgläubiger gegen
die Verringerung des ihnen haftenden (gegenständlich beschränkten) Gesellschaftsvermögens infolge von Leistungen an die Gesellschafter6 bzw. infolge Befreiung des Gesellschafters von seiner Sicherungspflicht durch Tilgung
der Schuld seitens der Gesellschaft7 dienten, was durch
Auszahlungssperre bzw. Erstattungspflicht auf der Rechtsfolgenseite umgesetzt wurde. Gesellschafterleistungen an
die Gesellschaft waren erst dann den Eigenkapitalersatzregeln unterworfen, wenn die Gesellschaft in eine Krise
geraten war. Eine solche lag nach § 32a Abs. 1 Satz 1
GmbHG a.F. dann vor, wenn ein Gesellschafter der Gesellschaft in einem Zeitpunkt, in dem ihr die Gesellschafter als
ordentliche Kaufleute Eigenkapital zugeführt hätten, stattdessen ein Darlehen gewährt hatte.
Auch in der Krise galt der Grundsatz der Finanzierungsfreiheit. Der Gesellschafter blieb frei in seiner Entscheidung, ob er seine Gesellschaft liquidiert oder ihr neues
Kapital zuführt. Entschied sich der Gesellschafter für eine
Finanzierungshilfe durch Hingabe eines Gesellschafterkredits, so wurde dieser Kredit für die Dauer der Krise wie
haftendes Eigenkapital behandelt; der Kredit war so lange
NOVEMBER
2015
als eigenkapitalersetzend verstrickt, bis die Krise vorüber
war. Ein Darlehen, das ein Gesellschafter in guten Zeiten
der Gesellschaft zur Verfügung gestellt hatte, konnte
durch bloßes „Stehenlassen“ in der Krise der Gesellschaft
in Eigenkapitalersatz (nachträglich) umqualifiziert werden,
es sei denn, der Gesellschafter hatte gleich zu Beginn der
Krise sein Gesellschafterdarlehen oder seine Sicherheiten
aufgekündigt und Freistellung von der Gesellschaft verlangt.
Der MoMiG-Gesetzgeber wollte das doch recht schwierige
und komplexe Eigenkapitalersatzrecht für die Praxis einfacher und handhabbarer machen.8 Auf das Merkmal „kapitalersetzend“ und damit auf das Vorliegen einer „Gesellschaftskrise“ wurde komplett verzichtet; es gibt somit
keine kapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen und auch
keine kapitalersetzenden Bürgschaften mehr. Von § 39
Abs. 1 Nr. 5 InsO werden ausnahmslos alle (!) Gesellschafterdarlehen erfasst, die in der Insolvenz der Gesellschaft
nachrangig sind. Rückzahlungen von Gesellschafterdarlehen oder darlehensgleichen Leistungen bzw. die Rückzahlung eines durch den Gesellschafter abgesicherten Kredits
(z.B. Bürgschaft) binnen Jahresfrist vor Insolvenzantragstellung werden dem Anfechtungsregime der §§ 135
Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 i.V.m. §§ 129, 139 bis 141, 143 bis
146 InsO unterworfen. Eine parallele Anwendung der Kapitalerhaltungsvorschriften (§§ 30, 31 GmbHG) auf Gesellschafterdarlehen ist aufgrund der Sperre des § 30 Abs. 1
Satz 3 GmbHG n.F. nunmehr ausgeschlossen.
Die Haftung der Gesellschafter in der Insolvenz der Gesellschaft wurde durch Verzicht auf das Tatbestandsmerkmal
„Krise der Gesellschaft“ (§ 32a Abs. 1 GmbHG a.F.) zwar
verschärft; andererseits wurde die Haftung der Gesellschafter durch die Nichtanwendbarkeit der Rechtsprechungsregeln aber auch entschärft9: Rückzahlungen außerhalb der Jahresfrist vor dem Eröffnungsantrag sind nicht
mehr gemäß § 31 GmbHG für die Dauer von bis zu 10 Jahren10 zu erstatten; auch entfällt eine Ausfallhaftung der
Mitgesellschafter (§ 31 Abs. 3 GmbHG). Die von der Rechtsprechung11 entwickelten Grundsätze zur kapitalersetzen-
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11
Begr. zum RegE BT-Drs. 16/6140, S. 26, 56.
Begr. zum RegE BT-Drs. 16/6140, S. 57.
Goette/Kleindiek, Eigenkapitalersatzrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2005,
passim.
Kirchhof in: MünchKomm AnfG, 1. Aufl. 2012, § 6 Rn. 1.
BGH, Urt. v. 23.02.2004 - II ZR 207/01.
Kritisch: Roth/Altmeppen, GmbHG, 6. Aufl. 2009, Anh. §§ 32a, 32b.
Habersack, ZIP 2007, 2145, 2156; Bauer, ZInsO 2011, 1379, 1382.
§ 31 Abs. 5 GmbHG.
Z.B. BGH, Urt. v. 16.10.1989 - II ZR 307/88 - BGHZ 109, 55; BGH,
Urt. v. 14.12.1992 - II ZR 298/91 - BGHZ 121, 31; BGH, Urt. v.
413
Die Monatszeitschrift
den Nutzungsüberlassung sind Makulatur (§ 135 Abs. 3
InsO).
D. Bewertung und Auswirkungen für die Praxis
Nach Wegfall des Kapitalersatzrechts stehen §§ 39 Abs. 1
Nr. 5 und 135 InsO bzw. (außerhalb der Insolvenz) §§ 6,
6a AnfG im Mittelpunkt der (nunmehr alleine) anfechtungsrechtlichen Behandlung der Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen. Nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist eine
Rechtshandlung anfechtbar, die innerhalb der letzten
10 Jahre vor dem Eröffnungsantrag für ein Gesellschafterdarlehen oder eine gleichgestellte Forderung des Gesellschafters Sicherheit gewährt hat; Entsprechendes gilt nach
Nr. 2 für eine Rechtshandlung, durch die dem Gesellschafter im letzten Jahr vor dem Eröffnungsantrag oder danach
Befriedigung gewährt wurde. Anfechtbar ist weiter die
Rückgewähr eines durch den Gesellschafter abgesicherten
Drittdarlehens innerhalb eines Jahres vor Insolvenzantragstellung (§§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3, 44a InsO). Der Tatbestand des § 135 Abs. 1 und 2 InsO setzt weiter nur noch
Gläubigerbenachteiligung gemäß § 129 InsO voraus, die
jedoch regelmäßig vorliegen dürfte; weitere objektive oder
subjektive Voraussetzungen verlangt das Gesetz nicht. Auf
eine „Gesellschaftskrise“, die nach dem alten Kapitalersatzrecht von der Gesellschaft bzw. dem eingesetzten Insolvenzverwalter darzulegen und zu beweisen war, wird
nicht mehr abgestellt. Maßgeblich ist jetzt nur noch die
bloße Insolvenz der Gesellschaft.
Ein Gesellschafter könnte jedoch versuchen, der Anfechtung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 InsO zu entkommen,
indem er sich „über die Jahresfrist“ rettet. Vor diesem
Hintergrund wird die Anfechtungsfrist von einem Jahr als
zu kurz bemessen kritisiert, weil die Bemühungen des Gesetzgebers, der Insolvenzverschleppung entgegenzusteuern, konterkariert werden.12 Das Herauslaufen aus der
Jahresfrist nützt dem Gesellschafter jedoch in zwei Fällen
nichts: Zum einen, wenn ihn das „scharfe Schwert“ des
§ 133 Abs. 1 InsO trifft. Denn dem Insolvenzverwalter
bleibt es unbenommen, die Rückzahlung des Darlehens
wegen „vorsätzlicher Benachteiligung“ de lege lata innerhalb der 10-Jahresfrist anzufechten.13 Zum anderen könnte ein künstliches Herausziehen der Jahresfrist trotz inzwischen eingetretener Insolvenzreife (§§ 17 ff. InsO) zu einer
Insolvenzverschleppungshaftung in zivil- und strafrechtlicher Hinsicht führen. Handelt es sich um einen Gesellschafter-Geschäftsführer, kommt auch eine Haftung gemäß § 64 Satz 1 GmbHG in Betracht.14 Ein „Rettungsversuch“ könnte damit den Gesellschafter teuer zu stehen
kommen.
Eine Anfechtung nach § 135 Abs. 1 und 2 InsO ist jedoch
dann ausgeschlossen, wenn der darlehens- bzw. sicherhei-
414
tengebende Gesellschafter unter das Sanierungs- oder
Kleinbeteiligtenprivileg (Schwellenwert der Beteiligung:
10 %) fällt (§ 135 Abs. 4 i.V.m. § 39 Abs. 4, 5 InsO).
Die eingangs gestellte Frage ist für die Insolvenzanfechtung nach § 135 Abs. 1, 2 InsO zu bejahen; einer „Krise“
der Gesellschaft bedarf es gerade nicht, was die Gesetzgebungsgeschichte zum MoMiG auch deutlich zum Ausdruck bringt. Die „Krisenfinanzierung“ wird innerhalb der
Jahresfrist unwiderlegbar vermutet; dies kann zu Härten
führen, was der Besprechungsfall zeigt.
Dem Beschluss des BGH ist voll und ganz zuzustimmen.
12
13
14
11.07.1994 - II ZR 146/92 - BGHZ 127, 1; BGH, Urt. v. 07.12.1998 II ZR 382/96 - BGHZ 140, 147.
Altmeppen, NJW 2005, 1911, 1914.
U. Huber in: Gedächtnisschrift für Winter, 2011, S. 261, 268.
Blank, ZInsO 2013, 461, 464.
Sozialrecht
Der EuGH und doch kein Sozialtourismus –
also doch ein vollständiger Ausschluss
EuGH, Urt. v. 15.09.2015 - C-67/14
„Alimanovic“
RiSG Dr. Christiane Padé
A. Problemstellung
Ausgangsfall:
Es kommt nicht so häufig vor, dass eine Entscheidung des
EuGH Seite 1 der Tageszeitungen erreicht. Am 15.09.2015
war es soweit: Der EuGH hat das mit Spannung, teilweise
auch mit einer gewissen Sorge erwartete Urteil zum Ausschluss von EU-Bürgern von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II – Hartz IV im Volksmund)
gesprochen.1
Der EuGH antwortet darin auf ein Vorabentscheidungsersuchen des BSG.2 Die Kläger des Ausgangsverfahrens
sind eine Mutter mit drei 1994, 1998 und 1999 geborenen
Kindern. Sie sind schwedische Staatsangehörige. Sie waren
in der Vergangenheit schon in Deutschland gewesen und
reisten im Juni 2010 erneut ein. Die Mutter und die älteste
1
2
EuGH, Urt. v. 15.09.2015 - C-67/14 „Alimanovic“.
BSG, Beschl. v. 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R.
JM 11 |
Tochter hatten kürzere Beschäftigungen und Arbeitsgelegenheiten (sog. 1-Euro-Jobs) und die Familie bezog ergänzend (sog. Aufstocker) bzw. ausschließlich Grundsicherung
für Arbeitsuchende. Sie hatten seit Juli 2010 eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU. Ab Mai 2011
hatten sie keine Arbeit mehr. Das Jobcenter bewilligte in
Anwendung des europäischen Fürsorgeabkommens (EFA)
und in Übereinstimmung der diesbezüglich ergangenen
Rechtsprechung des BSG3 weiter Leistungen bis einschließlich Mai 2012. Im November 2011 erklärte die Bundesrepublik Deutschland einen Vorbehalt zum EFA4. Im April
2012 hob das Jobcenter deshalb die Bewilligung ab Mai
2012 auf. Das Sozialgericht hob diese Entscheidung unter
Hinweis auf das Gleichbehandlungsgebot in der Koordinierungsverordnung betreffend die Systeme der sozialen
Sicherheit (Art. 4 EGV 883/2004) auf und meinte, diese
Vorschrift verdränge insbesondere Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG5. Das Jobcenter legte
Sprungrevision ein und berief sich auf Art. 24 Abs. 2
RL 2004/38/EG und den Vorbehalt der Bundesrepublik zum
EFA. Der Leistungsausschluss für Arbeitsuchende in Art. 7
Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei europarechtskonform, weil es
sich bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende um eine
Sozialhilfeleistung im Sinne der Freizügigkeitsrichtlinie
handele. Deshalb dürfe der nationale Gesetzgeber Staatsangehörige anderer EU-Staaten vom Leistungsbezug ausschließen, die sich nur zur Arbeitssuche in Deutschland
aufhielten.
Das BSG hatte in seinem Vorlagebeschluss6 klargestellt,
dass es mit dem Jobcenter von einem Leistungsausschluss
nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausging. Dazu stellte es
eine „fiktive Prüfung“ des Grundes oder der Gründe des
Aufenthaltsrechts der Kläger an7 und kam zu dem Ergebnis, dass ein anderes als das Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche bzw. ein über die Mutter abgeleitetes Recht aus
dem gleichen Grund bei den Klägern nicht in Betracht
kam. Ein fortbestehendes Recht auf Aufenthalt wegen Erwerbstätigkeit (vgl. § 2 FreizügG/EU und Art. 7 Abs. 3
RL 2004/38/EG) hatten die Kläger nicht.
Der 4. Senat des BSG ging dann in seiner Vorlagefrage
davon aus, dass SGB-II-Leistungen Sozialhilfe i.S.d. Art. 24
Abs. 2 RL 2004/38/EG sind.8 Er hatte aber Zweifel, ob ein
ausnahmsloser Ausschluss von Grundsicherungsleistungen
in Fällen, in denen ein Aufenthaltsrecht ausschließlich aus
dem Zweck der Arbeitssuche besteht, durch Art. 24 Abs. 2
RL 2004/38/EG gedeckt ist, ohne dass eine Möglichkeit
der Einzelfallprüfung besteht. Er erwog außerdem eine
enge Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II oder
sogar dessen Nichtanwendbarkeit unter dem Aspekt der
Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art. 39 Abs. 2 EG (Art. 45
Abs. 2 AEUV) und des Diskriminierungsverbots aus Art. 12
NOVEMBER
2015
EG (Art. 18 AEUV), weil die Leistungen nach dem SGB II
einen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichterten.
Mit Beschluss vom 11.02.2015 erklärte das BSG eine weitere Vorlagefrage betreffend das Gleichbehandlungsgebot
aus Art. 4 EGV 883/2004 im Hinblick auf die Entscheidung
des EuGH in Sachen Dano9 für erledigt.10
B. Die Entscheidung des EuGH
Der EuGH bestätigt seine Rechtsprechung, dass die deutschen Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende
unter den Begriff der besonderen beitragsunabhängigen
Geldleistungen im Sinne des Art. 70 EGV 883/2004 und
auch unter den Begriff der Sozialhilfe nach Art. 24 Abs. 2
RL 2004/38/EG fallen. Das bedeutet umgekehrt, dass sie
keine Leistungen sind, die den Zugang zum Arbeitsmarkt
erleichtern sollen. Der EuGH beschränkt sich auf diesen
Hinweis11, um die vom BSG gestellte dritte Vorlagefrage
betreffend die Auslegung von Art. 45 Abs. 2 AEUV und
Art. 18 AEUV (nicht noch einmal12) zu beantworten.
Die vom BSG in Betracht gezogene Notwendigkeit einer
Öffnungsklausel für eine Einzelfallprüfung, die der EuGH
im Fall Brey13 noch angenommen hat, um die Feststellung
einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu ermöglichen, verneint er für die vorliegende
Konstellation. Das begründet er im Wesentlichen damit,
dass die Richtlinie 2004/38/EG (und ihr folgend das deutsche Recht, namentlich §§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II und 2
FreizügigG/EU) selbst verschiedene Faktoren berücksichti-
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10
11
12
13
BSG, Urt. v. 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR
4-4200 § 7 Nr. 21.
Am 19.12.2011 aufgenommen auf der Liste des Europarats, zu finden
unter
http://conventions.coe.int/treaty/Commun/ListeDeclarations.
asp?NT=014&CM=8&DF=09/02/2012&CL=GER&VL=1 (zuletzt abgerufen am 23.09.2015), bekanntgemacht im BGBl II 2012, 144 und
470.
In juris zu finden unter EGRL 38/2004 mit Link auf eur-lex.
BSG, Beschl. v. 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R.
So schon BSG, Urt. v. 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R Rn. 23 ff. - BSGE
113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 34.
In der Folge der Rechtsprechung des EuGH, Urt. v. 19.09.2013 C-140/12 „Brey“.
EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13 „Dano“ - mit Anm. Padé, jM
03/2015, 116.
Vgl. Terminbericht des BSG Nr. 1/15, abzurufen über juris oder
www.bsg.bund.de, Termine (zuletzt abgerufen am 23.09.2015).
Verbunden mit dem Verweis auf die Rechtsprechung in Sachen „Vatsouras und Koupatantze“ EuGH, Urt. v. 05.06.2009 - C-22/08 und
C-23/08 Rn. 45 und „Dano“ EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13.
Vgl. aber das Urteil des EuGH v. 11.11.2014 - C-333/13 „Dano“.
EuGH, Urt. v. 19.09.2013 - C-140/12 – m. Anm. Behrend, jurisPRSozR 3/2014 Anm. 1.
415
Die Monatszeitschrift
ge, die die jeweiligen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen. Sie schaffe ein abgestuftes System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft und damit auch für die Berechtigung zu
Sozialhilfeleistungen. Darin unterscheidet sich der vorliegende vom Fall Brey, in dem der Kläger als „wirtschaftlich
inaktiv“ eingestuft wurde und für den deshalb das Tatbestandsmerkmal „unangemessen“ in Art. 14 Abs. 1
RL 2004/38/EG zu prüfen war. Durch die in Art. 24 Abs. 2
RL 2004/38/EG vorgesehene 6-Monats-Regel sei ausreichend Rechtssicherheit geschaffen, sodass für Arbeitsuchende i.S.v. Art. 14 Abs. 4 RL 2004/38/EG keine Einzelfallprüfung erforderlich sei. Im Ergebnis dürfe deshalb ein
Mitgliedstaat Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten,
die ihren Aufenthaltsstatus aus ihrer Arbeitssuche ableiten, von Sozialhilfe und damit auch von der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach deutschem Recht ausschließen.
C. Kontext der Entscheidung
Das Urteil hat in den Medien große Wellen geschlagen
und ist selbst bei kleineren Tageszeitungen auf Seite 1 gelandet. Eine wirklich große Überraschung ist es nicht, denn
es setzt einen Schlusspunkt unter die in den Urteilen
Brey14 und Dano15 begonnene Linie in der Rechtsprechung
des EuGH. Den sich aus dem Urteil Dano zur vorhergehenden Rechtsprechung zu wirtschaftlich nicht mehr16 oder
noch nicht aktiven17 Unionsbürgern ergebenden Widerspruch18 löst er durch den Hinweis auf die austarierte Differenzierung der RL 2004/38/EG zwischen arbeitenden, arbeitslosen, kurzfristig beschäftigten und arbeitsuchenden
Unionsbürgern. Diese bedürfen keiner Ergänzung durch
eine Einzelfallprüfung – wohl anders als die sich im Wesentlichen auf die Prüfung der „unangemessenen“ Inanspruchnahme von Sozialleistungen beschränkende Regelung zu den wirtschaftlich aus anderen Gründen inaktiven
Unionsbürgern. Die noch 200119 aktuelle Frage, ob aus
dem Status als Unionsbürger und dem damit verbundenen
Diskriminierungsverbot weitergehende Rechte als aus der
Richtlinie 2004/38/EG hergeleitet werden können, nimmt
der EuGH nicht wieder auf. Er geht weiterhin davon aus,
dass diese Rechte durch die Richtlinie ausgestaltet werden.
Da das Diskriminierungsrecht nur im Rahmen des sekundären Rechts gilt, findet es auf diese Fallkonstellationen keine Anwendung.
D. Auswirkungen für die Praxis
Der von dem Urteil zumindest in Deutschland tatsächlich
betroffene Personenkreis dürfte zwar größer sein als im
Fall Dano, aber dennoch übersichtlich sein, denn es betrifft
nur Personen, die ihr Aufenthaltsrecht allein aus der Arbeitssuche herleiten. Das BSG hat bereits in der Vergan-
416
genheit klargestellt, dass diejenigen, die schon aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik
haben, von dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2
Nr. 2 SGB II nicht erfasst sind.20 Das betrifft neben dem
vom BSG entschiedenen Fall der Familienzusammenführung z.B. auch Personen, die einen Minijob haben, der
nicht völlig untergeordnet ist,21 und solche, die bereits
mehr als ein Jahr in der Bundesrepublik beschäftigt waren
und unfreiwillig arbeitslos geworden sind (vgl. Art. 7
Abs. 3 lit. b RL 2004/38/EG). Folglich betrifft das Urteil
EU-Bürger, die in der Vergangenheit in Deutschland erwerbstätig waren und ihren daraus abgeleiteten Aufenthaltsstatus z.B. wegen Ablauf der Fristen in Art. 6 Abs. 3
RL 2004/38/EG und § 2 Abs. 3 FreizügigG/EU verloren
haben, und solche, die von vorneherein nur wegen der Arbeitssuche in Deutschland aufenthaltsberechtigt waren.
Personen, die ohne Absicht der Arbeitssuche nach
Deutschland gekommen sind, fallen unter die Rechtsprechung des EuGH vom 11.11.2014.22
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der EuGH
mit keinem Wort erwähnt, dass der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen23 die Auffassung vertreten hat, dass
den beiden jüngeren Klägern und von ihnen abgeleitet der
Mutter ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 der Freizügigkeitsverordnung 492/2011 wegen des im Hinblick auf das
Alter der Kläger und der bestehenden Schulpflicht wahrscheinlich erfolgenden Schulbesuchs der Kläger zu 3. und
4. zustehen kann. Dazu bezieht er sich auf Rechtsprechung
des EuGH zu Art. 12 der Vorgängerverordnung 1612/68.24
14
15
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19
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23
24
EuGH, Urt. v. 19.09.2013 - C-140/12 „Brey“.
EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13 „Dano“.
EuGH, Urt. v. 19.09.2013 - C-140/12 „Brey“ – m. Anm. Behrend,
jurisPR-SozR 3/2014 Anm. 3.
EuGH, Urt. v. 20.09.2001 - C-184/99 - Slg. 2001, I-6193 „Grzelczyk“.
Dazu Padé, jM 03/2015, 116 unter C.
EuGH, Urt. v. 20.09.2001 - C-184/99 - Slg. 2001, I-6193 „Grzelczyk“.
BSG, Urt. v. 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R Rn. 23 ff. - BSGE 113, 60
= SozR 4-4200 § 7 Nr. 34 zum Aufenthaltsrecht zur Familiengründung.
Der EuGH sieht ein Recht zum Aufenthalt bei vorhandener Arbeit bereits dann gegeben, wenn ein Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt
besteht: EuGH, Urt. v. 07.09.2004 - C-456/02 - Slg. 2004, I-7473
„Trojani“; EuGH, Urt. v. 04.06.2009 - C-22/08 und C-23/08 - Slg.
2009 I 4585 „Vatsouras und Koupatantze“.
EuGH, Urt. v. 11.11.2014 - C-333/13 „Dano“ - m. Anm. Padé, jM
03/2015, 116.
Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 26.03.2015,
Rn. 119 ff.
EuGH, Urt. v. 23.02.2010 - C-310/08 - Slg. 2010, I-1065 „Ibrahim“;
EuGH, Urt. v. 23.02.2010 - C-480/08 - Slg. 2010, I-1107 „Texeira“;
EuGH, Urt. v. 08.05.2013 - C-529/11 - ABl EU 2013, Nr. C, 225 „Alarape und Tijani“.
JM 11 |
Danach reicht es für dieses Aufenthaltsrecht, dass der Elternteil mal erwerbstätig war und gleichzeitig ein Schulbesuch der Kinder erfolgt ist. Einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz müssen sie nicht nachweisen. Das
BSG wird in der abschließenden Entscheidung in dem ausgesetzten Rechtsstreit diesen Aspekt in seine Überlegungen einbeziehen müssen.
Dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
SGB II steht jedenfalls das EFA nicht entgegen. Bereits
im Vorlagebeschluss vom 12.12.201325 ist das BSG da-
NOVEMBER
2015
von ausgegangen, dass der Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland zum EFA wirksam ist. Entsprechend
können sich auch EU-Bürger, deren Heimatstaat Mitglied
des EFA ist, jetzt nicht mehr auf das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 1 EFA berufen und entsprechend nicht
mehr geltend machen, dass der Leistungsausschluss für
sie nicht gilt.
25
BSG, Beschl. v. 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R Rn. 23.
Verwaltungsrecht
Europa gegen Europa – Das vorläufige Scheitern des EU-Beitritts
zur Europäischen Menschenrechtskonvention
durch das EuGH-Gutachten 2/13 vom 18.12.2014
StA Christoph Schmidt
A. Problemstellung
Das Bemühen europäischer Organisationen, den eigenen
Geltungsanspruch durch Erhaltung und Erweiterung ihrer
Kompetenzen zu unterstreichen, ist nahezu so alt wie die
europäische Idee selbst: So überschrieb die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ bereits 1950 einen Artikel mit „Europa
gegen Europa“, weil die Beratende Versammlung des erst
im Vorjahr gegründeten Europarats gegen den Willen des
eigenen Minister-Ausschusses vehement das Recht beanspruchte, sich neben dem Europäischen Wirtschaftsrat
(OEEC) mit der wirtschaftlichen Integration der Mitgliedsstaaten des Europarats befassen zu dürfen.1
Seitdem erfuhren die Unionsbürger eine umfassende „Europäisierung“ ihres Grundrechtsschutzes2: Durch ihren Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)
und den hierzu verabschiedeten Protokollen haben sich
die Mitgliedsstaaten des Europarats zum einen in multilateralen völkerrechtlichen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichtet. Zum anderen sind sie durch ihre parallele Mitgliedschaft in der Europäischen Union an die mit Anwendungsvorrang ausgestatteten Grundfreiheiten der Europäischen Verträge und –
seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum
01.12.2009 – an eine umfassende Grundrechte-Charta
(EUGrCh) gebunden.
Nach den mittlerweile weitreichenden Einflüssen der
EMRK auf nahezu alle Rechtsgebiete aller 28 EU-Mitgliedsstaaten3 erschienen die Regelungen des Vertrags von Lis-
sabon, die das Verhältnis des Unionsrechts zur EMRK betreffen, nicht bloß als symbolischer Akt, sondern als konsequenter Schritt zur weiteren Effektuierung des europäischen Grundrechtsschutzes:
Art. 6 Abs. 2 EUV erteilt der Union mit der imperativen Formulierung „Die Union tritt der Europäischen Konvention
zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei.“
den ausdrücklichen Auftrag zum EMRK-Beitritt4 und
schafft damit zugleich in den Verträgen die gemäß
Art. 216 Abs. 1 AEUV notwendige Grundlage für den Abschluss eines multilateralen völkerrechtlichen Vertrages,
1
2
3
4
Dohlen, DIE ZEIT Ausgabe 15/1950 vom 13.04.1950, abrufbar unter
http://www.zeit.de/1950/15/europa-gegen-europa (zuletzt abgerufen
am 24.07.2015).
Dazu vertiefend: Vondung, Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes nach dem Beitritt der EU zur EMRK, 2012; Spiekermann, Die Folgen des Beitritts der EU zur EMRK für das Verhältnis
des EuGH zum EGMR und den damit einhergehenden Individualrechtsschutz, 2013; Michl, Die Überprüfung des Unionsrechts am
Maßstab der EMRK: Individualgrundrechtsschutz im Anwendungsbereich des Unionrechts unter den Vorzeichen des Beitritts der EU zur
EMRK, 2014; Grewe, EuR 2012, 285.
Beispielhaft zur Bedeutung im Steuerrecht: Engler, Steuerverfassungsrecht im Mehrebenensystem – Ein Vergleich des Schutzes vor
Besteuerung durch EMRK, Grundrechtecharta und die nationale
Grundrechtsordnung, 2013; im Strafrecht: Brodowski, ZIS 2013, 455;
im Arbeitsrecht: Reufels/Blöchl, KSzW 2014, 235.
Dazu grundlegend: Calliess, Die neue Europäische Union nach dem
Vertrag von Lissabon, 2010, S. 328 ff.; Obwexer, EuR 2012, 115,
116 f.
417
Die Monatszeitschrift
durch den der Beitritt der Union zur EMRK bewirkt würde.
Ein solcher Beitritt hätte gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV zur
Folge, dass die EMRK die Organe der Union und die Mitgliedsstaaten bei Durchführung von Unionsrecht rechtlich
bindet und damit unmittelbarer Teil des Unionsrechts würde (Rn. 171 und 180)5, dem im Verhältnis zu den Mitgliedsstaaten Anwendungsvorrang zukommt. Im Stufenbau des Unionsrechts nähme die EMRK eine MezzaninStellung zwischen primärem und sekundärem Unionsrecht
ein, da sie einerseits gemäß Art. 218 Abs. 11 AEUV mit
den Verträgen vereinbar sein muss und daher am Primärrecht zu messen ist, andererseits jedoch gemäß Art. 216
Abs. 2 AEUV die Organe der Union binden würde und hierfür im Rang über dem Sekundärrecht stehen müsste.6
Bis zum Beitritt der Union zur EMRK sind die Grundrechte,
wie sie in der EMRK gewährleistet sind, gemäß Art. 6
Abs. 3 EUV bereits jetzt als allgemeine Grundsätze Teil des
Unionsrechts. Sie stellen somit zwar noch kein Rechtsinstrument dar, das förmlich in die Unionsrechtsordnung
übernommen worden ist (Rn. 179), erlauben dem EuGH indes die Gewinnung ungeschriebener Grundrechte sowie
die Schließung von Rechtsschutzlücken im Wege der
Rechtsvergleichung.7
Zugleich haben die Grundrechte der EMRK bereits jetzt
Auswirkungen auf die Auslegung der gemäß Art. 6 Abs. 1
EUV als gleichrangiger Teil des europäischen Primärrechts
anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Charta
der Grundrechte der Europäischen Union (EUGrCh): Gemäß Art. 53 EUGrCh darf keine ihrer Bestimmungen als
Einschränkung oder Verletzung der von der EMRK bereits
anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausgelegt werden. Soweit Rechte der EUGrCh den durch die
EMRK garantierten Rechten entsprechen, sollen sie nach
dem in Art. 52 Abs. 3 EUGrCh verankerten Prinzip der
Meistbegünstigung mindestens die gleiche Bedeutung und
Tragweite wie nach der EMRK haben, können jedoch auch
einen weitergehenden Schutz gewährleisten.8
Im Hinblick auf die besondere rechtliche Bedeutung eines
Beitritts der Union zur EMRK beantragte die Kommission
nach dem Abschluss ihrer Beitrittsverhandlungen mit dem
Europarat am 04.07.2013 auf der Grundlage des Art. 218
Abs. 11 Satz 1 AEUV beim Europäischen Gerichtshof
(EuGH) die Erstellung eines Gutachtens zu der Frage, ob
der nach komplexen Verhandlungen mit dem Europarat
entstandene Übereinkunftsentwurf für den Beitritt der
Union zur EMRK mit den Verträgen, d.h. dem Primärrecht
vereinbar sei.9
Angesichts des klaren Integrationsauftrags in Art. 6 Abs. 2
EUV, der grundsätzlich zustimmenden Stellungnahmen
aller Mitgliedsstaaten (Rn. 117) und einer Stellungnahme
418
der Generalanwältin Kokott, die den vorgelegten Übereinkunftsentwurf als grundsätzlich mit dem Primärrecht vereinbar ansah und lediglich geringfügige Modifizierungen
bzw. Ergänzungen vorschlug,10 erscheint das auf grundlegende Bedenken gestützte, ablehnende Ergebnis der Begutachtung des EuGH vom 18.12.2014 mehr als überraschend.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Zulässigkeit des Gutachtenauftrags
Zur Beantwortung des an ihn gerichteten Gutachtenauftrags stellt der EuGH zunächst dessen Zulässigkeit gemäß
Art. 218 Abs. 11 Satz 1 AEUV fest. Danach kann neben
dem EU-Parlament, dem Rat oder einem EU-Mitgliedsstaat
auch – wie im vorliegenden Fall – die Kommission bereits
vor dem Abschluss einer völkerrechtlichen Übereinkunft
eine Begutachtung durch den EuGH im Hinblick auf Vereinbarkeit der Übereinkunft mit Primärrecht beantragen.
Dies soll internationale Komplikationen vermeiden, die
entstehen könnten, wenn die Vereinbarkeit völkerrechtlicher Übereinkünfte der Union mit dem Primärrecht erst
nach einem völkerrechtlich wirksamen Vertragsschluss bestritten würde und überprüft werden müsste (Rn. 144 bis
152).11
5
6
7
8
9
10
11
Randnummern-Verweise beziehen sich auf das Gutachten des EuGH
vom 18.12.2014, Celex-Nr: 62013CV0002, ECLI:EU:C:2014:2454.
Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, S. 330 f.; Obwexer, EuR 2012, 115, 143; Gragl, ZEuS
2011, 409, 414 f. und 420 ff.
Hatje in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 3. Aufl.
2012, Art. 6 EUV, Rn. 16 bis 18; Schorkopf in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 55. Aufl. 2015, Art. 6 EUV,
Rn. 51; Gragl, ZEuS 2011, 409, 419.
Calliess, Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, S. 331 f.; zu dogmatischen Schwierigkeiten dieses Regelungsgeflechts: Wollenschläger in: Hatje/Müller-Graff, Enzyklopädie
Europarecht – Bd. 1: Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, 2014, § 8 Rn. 87 ff.
Kommission, ABl. 2013/C 260/32, Celex-Nr. 62013CU0002.
Stellungnahme der Generalanwältin Kokott vom 13.06.2014 im Gutachtenverfahren 2/13, Rn. 278 f., abrufbar unter http://curia.europa.
eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=160929&pageIndex=
0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=238784 (zuletzt abgerufen am 24.07.2015).
Insofern vergleichbar ist die Möglichkeit im deutschen Recht, vor der
abschließenden Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages eine
Entscheidung des BVerfG im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle über die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit des
deutschen Zustimmungsgesetzes i.S.d. Art. 59 Abs. 2 GG herbeizuführen, st. Rspr. seit BVerfG, Urt. v. 30.07.1952 - 1 BvF 1/52 BVerfGE 1, 396, 400; BVerfG, Urt. v. 31.07.1973 - 2 BvF 1/73 BVerfGE 36, 1, 15; BVerfG, Beschl. v. 28.04.2005 - 2 BvE 1/05, 2 BvR
636/05 - BVerfGE 112, 363, 373.
JM 11 |
II. Prüfungsmaßstab der inhaltlichen Begutachtung
Als Prüfungsmaßstab seiner Begutachtung benennt der
EuGH das gesamte Primärrecht, wobei sich der EuGH nicht
auf die Prüfung beschränkt, ob die zu prüfende völkerrechtliche Übereinkunft gegen eine Vorschrift des Primärrechts verstößt, sondern auch prüft, ob die Übereinkunft
alle primärrechtlich erforderlichen Bestimmungen enthält
(Rn. 150). Der EuGH betont sodann den besonderen Charakter der Union, die zwar nicht als Staat angesehen
werden könne, allerdings auf einer mit eigenen Organen
ausgestatteten Rechtsordnung beruhe und mit einem ihr
eigenen verfassungsrechtlichen Rahmen und eigenen
Grundprinzipien ausgestattet sei. Das Primärrecht statuiere
daher bestimmte Bedingungen für einen Beitritt der Union
zur EMRK (Rn. 156 bis 177)12:
Gemäß Art. 1 EU-Protokoll Nr. 8, das im Rang europäischen Primärrechts steht, ist in einer Übereinkunft über
den Beitritt der Union zur EMRK dafür Sorge zu tragen,
dass die besonderen Merkmale der Union und des Unionsrechts erhalten bleiben. Als solche besonderen Merkmale
sieht der EuGH namentlich die Autonomie des Unionsrechts, den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung,
den Anwendungsvorrang des Unionsrechts sowie die
Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen
Zusammenarbeit an (Rn. 165 f., 168, 171 und 173). Zur
Gewährleistung der Kohärenz und der Einheitlichkeit bei
der Auslegung des Unionsrechts diene schließlich das primärrechtlich geschaffene Gerichtssystem, dessen Schlüsselelement das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren sei (Rn. 174 und 176).
Zudem dürfe der Beitritt der Union zur EMRK gemäß Art. 6
Abs. 2 Satz 2 EUV nicht die in den Verträgen festgelegten
Zuständigkeiten der Union ändern. Durch Art. 2 Satz 1 EUProtokoll Nr. 8 werde dies dahingehend ergänzt, dass der
Beitritt der Union die Zuständigkeiten der Union und die
Befugnisse ihrer Organe unberührt lasse (Rn. 160 f.).
Gemäß Art. 2 Satz 2 EU-Protokoll Nr. 8 sei überdies sicherzustellen, dass die Übereinkunft zum Beitritt der Union zur
EMRK die besondere Situation der Mitgliedsstaaten unberührt lasse. Daraus resultiere insbesondere die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf die von den Mitgliedsstaaten
erklärten Abweichungen von einzelnen Regelungen der
EMRK gemäß Art. 15 EMRK sowie auf die ausdrücklich erklärten Vorbehalte gemäß Art. 57 EMRK.
Schließlich sehe Art. 3 EU-Protokoll Nr. 8 vor, dass Art. 344
AEUV durch keine Bestimmung eines Beitrittsübereinkommens berührt werde. Gemäß Art. 344 AEUV verpflichten
sich die Mitgliedsstaaten, Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als hie-
NOVEMBER
2015
rin vorgesehen zu regeln und damit die Zuständigkeiten
des EuGH zu achten.
III. Ergebnis der inhaltlichen Begutachtung
Zwar stellt der EuGH fest, dass es seit Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon – anders als bei seinem früheren
Gutachten 2/94 vom 28.03.1996 zu dem bereits damals
geplanten Beitritt der Union zur EMRK – mit Art. 6 Abs. 2
EUV eine spezielle Rechtsgrundlage für den Beitritt der
Union zu EMRK gibt (Rn. 153).
Allerdings kommt der EuGH zu dem deutlichen Ergebnis,
dass der ihm aktuell zur Begutachtung vorgelegte Übereinkunftsentwurf weder mit Art. 6 Abs. 2 EUV noch mit dem
EU-Protokoll Nr. 8 vereinbar sei.
1. Beeinträchtigung der besonderen Merkmale
und der Autonomie des Unionsrechts
Die Unvereinbarkeit des Übereinkunftsentwurfs mit dem
Primärrecht folge bereits daraus, dass die vorgeschlagene
Übereinkunft aus mehreren Gründen geeignet sei, die besonderen Merkmale des Unionsrechts und dessen Autonomie zu beeinträchtigen (Rn. 200).
a) Fehlende Abstimmung zwischen EuGH und EGMR
Zwar stellt der EuGH zunächst in einer umständlichen doppelten Verneinung fest, dass die mit dem Beitritt der Union
zur EMRK entstehende externe Kontrolle der Union und
aller EU-Organe durch die Organe des Europarats und insbesondere durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) „grundsätzlich nicht mit dem Unionsrecht unvereinbar“ sei, zumal ein solcher Beitritt durch
Art. 6 Abs. 2 EUV ausdrücklich im Primärrecht angelegt sei
(Rn. 179 bis 182). Zu einer derartigen externen Kontrolle
gehöre auch, dass eine Entscheidung des EGMR zur Auslegung der EMRK bindend für die Union und ihre Organe
einschließlich des Gerichtshofs sei, während eine Auslegung der EMRK durch den EuGH umgekehrt jedoch keine
Bindungswirkung für die Mitgliedsstaaten der EMRK entfalten könne (Rn. 185).
Allerdings schränkt der EuGH dies jedoch direkt dahingehend ein, dass ein Tätigwerden der durch die EMRK mit
Entscheidungsbefugnissen ausgestatteten Organe – der
EuGH meint hier insbesondere den EGMR – nicht zur ver-
12
Zu den materiellen Beitrittsvoraussetzungen auch: Obwexer, EuR
2012, 115, 119; Konzack, Jahrbuch Menschenrechte 2013, 351,
351 f.
419
Die Monatszeitschrift
bindlichen Vorgabe einer bestimmten Auslegung des
Unionsrechts einschließlich der Grundrechte-Charta an die
Union und ihre Organe bei der Ausübung ihrer internen
Zuständigkeiten führen dürfe (Rn. 184 f.).
Der EuGH erkennt sodann eine unzulässige Einschränkung
seiner eigenen Zuständigkeit darin, dass der Übereinkunftsentwurf keine Regelung zur Abstimmung zwischen
dem EuGH mit dessen Auslegung von Art. 53 EUGrCh
einerseits und dem EGMR mit dessen Auslegung von
Art. 53 EMRK andererseits enthalte (Rn. 189 f.). Das Recht
der Mitgliedsstaaten aus Art. 53 EMRK, in ihrem nationalen Recht höhere Schutzstandards als in der EMRK gewährleisten zu dürfen, werde nämlich durch Art. 53
EUGrCh auf das Maß beschränkt, das erforderlich sei, um
eine Beeinträchtigung des in der EUGrCh vorgesehenen
Schutzniveaus sowie des Vorrangs, der Einheit und der
Wirksamkeit des Unionsrechts zu verhindern (Rn. 186 bis
190). Der EuGH leitet damit aus Art. 53 EUGrCh für sich
das Recht her, zu prüfen, ob bzw. inwiefern die Erforderlichkeit einer rein nationalen Sonderregelung besteht, und
sieht diese Zuständigkeit nach dem vorgelegten Übereinkunftsentwurf beeinträchtigt.
b) Möglichkeit der Staatenbeschwerde
gegen andere EU-Mitgliedsstaaten
Zweitens erkennt der EuGH eine unzulässige Beeinträchtigung des Gleichgewichts, auf dem die Union beruht, sowie
der Autonomie des Unionsrechts. Danach seien die Mitgliedsstaaten zu gegenseitigem Vertrauen, insbesondere
zur Beachtung des Unionsrechts und der jeweiligen nationalen Grundrechte verpflichtet. Der Beitritt der Union zur
EMRK sei geeignet, dieses Vertrauen zu stören, da Art. 33
EMRK von den Mitgliedsstaaten im Rahmen der sog. Staatenbeschwerde die Kontrolle der jeweils anderen Mitgliedsstaaten auf Einhaltung der EMRK-Grundrechte verlange (Rn. 191 bis 195).
c) Möglichkeit von Gutachtensersuchen
an den EGMR
Drittens sieht der EuGH die Autonomie und die Wirksamkeit des in Art. 267 AEUV statuierten Vorabentscheidungsverfahrens in Gefahr, weil der Übereinkunftsentwurf keine
Regelung über das Verhältnis von Protokoll Nr. 16 zur
EMRK einerseits und Art. 267 AEUV andererseits vorsehe,
was die Gefahr einer Umgehung des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahrens begründe:
Wenngleich die Union dem Protokoll Nr. 16 zur EMRK
nicht selbst beitrete, könnten die höchsten Gerichte der
Mitgliedsstaaten den EGMR um ein Gutachten zu grundsätzlichen Auslegungs- und Anwendungsfragen zur EMRK
420
oder ihrer Protokolle ersuchen. Insbesondere bei Fragen zu
Grundrechten, die durch die EUGrCh gewährleistet werden
und den durch die EMRK anerkannten Rechten inhaltlich
entsprechen, sei daher nicht ausgeschlossen, dass ein Mitgliedsstaat eine Gutachtenanfrage an den EGMR stelle,
obwohl er gemäß Art. 267 AEUV auch ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten könnte oder sogar
müsste (Rn. 196 bis 199).
2. Beeinträchtigung des Rechtsprechungsmonopols
des EuGH gemäß Art. 344 AEUV
Nach Ansicht des EuGH ist der Übereinkunftsentwurf ferner mit Art. 3 EU-Protokoll Nr. 8 unvereinbar, weil er
Art. 344 AEUV in unzulässiger Weise berühre. Wenn das
Unionsrecht in Rede stehe, sei der EuGH gemäß Art. 344
AEUV für jeden Rechtsstreit zwischen den Mitgliedsstaaten
sowie zwischen ihnen und der Union wegen der Beachtung der EMRK ausschließlich zuständig. In dem vorgelegten Übereinkunftsentwurf erkennt der EuGH die Gefahr,
dass die Staatenbeschwerde nach dem weiten Wortlaut
des Art. 33 EMRK auch zu einem EGMR-Verfahren zwischen den Mitgliedsstaaten oder zwischen diesen und der
Union genutzt werden kann, obwohl Unionsrecht in Rede
steht und damit eine ausschließliche EuGH-Zuständigkeit
bestünde (Rn. 201 bis 206).
Die bislang vorgesehene Regelung des Art. 5 Übereinkunftsentwurf, wonach ein EuGH-Verfahren nicht als Verfahren zur Streitbeilegung im Sinne ihres Art. 55 anzusehen sei, schließe diese Gefahr einer Umgehung des EuGH
nicht vollständig aus, denn sie erlaube den EU-Mitgliedsstaaten lediglich, zur Streitbeilegung in Auslegungs- oder
Anwendungsfragen ein Entscheidungsersuchen auch an
den EuGH zu stellen. Die Möglichkeit zur Anrufung des
EGMR werde indes nicht vollständig ausgeschlossen
(Rn. 207 f.). Unter diesen Umständen sei mit Art. 344
AEUV nur ein ausdrücklicher Ausschluss der Zuständigkeit
des EGMR für Rechtsstreitigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten oder zwischen ihnen und der Union, die die Anwendung der EMRK im materiellen Anwendungsbereich
des Unionsrechts betreffen, vereinbar (Rn. 213).
3. Beeinträchtigung der Zuständigkeitsverteilung
zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten
sowie des Art. 2 des EU-Protokolls Nr. 8
Ferner sieht der EuGH in der konkreten Ausgestaltung des
sog. Mitbeschwerdegegner-Mechanismus gemäß Art. 3
Abs. 5 und Abs. 7 Übereinkunftsentwurf die Gefahr, dass
dadurch in die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen
der Union und ihren Mitgliedsstaaten eingegriffen werden könnte (Rn. 225) und die besonderen Merkmale des
Unionsrechts nicht erhalten bleiben könnten (Rn. 235).
JM 11 |
Dieser Mechanismus ermöglicht es der Union gemäß Art. 3
Abs. 2 Übereinkunftsentwurf, sich in EGMR-Verfahren gegen Mitgliedsstaaten auf eigenen Antrag hin als sog. Mitbeschwerdegegner an der Rechtssache zu beteiligen, wenn
bei der Verletzung der EMRK auch die Vereinbarkeit mit
Primärrecht in Rede steht, insbesondere wenn die Verletzung nur unter Missachtung einer primärrechtlichen Verpflichtung hätte vermieden werden können. Umgekehrt
können sich auch die Mitgliedsstaaten gemäß Art. 3 Abs. 3
Übereinkunftsentwurf unter denselben Voraussetzungen
als Mitbeschwerdegegner der Union in einem gegen diese
gerichteten EGMR-Verfahren beteiligen (Rn. 56). In beiden
Fällen muss der jeweilige Antragsteller seine Berechtigung
zum Verfahrensbeitritt in einem begründeten und ggf. belegten Antrag anführen (vgl. Rn. 223).
Der EuGH erkennt die Gefahr eines unzulässigen Eingriffs
in die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union
und ihren Mitgliedsstaaten darin, dass der EGMR die jeweilige Antragsbegründung jedenfalls auf ihre Plausibilität
für das Vorliegen der Voraussetzungen aus Art. 3 Abs. 2
und Abs. 3 Übereinkunftsentwurf prüfe, damit implizit die
Regeln des Unionsrechts für die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten sowie die Kriterien für die Zurechnung von Handlungen oder
Unterlassungen der Union beurteile und insoweit eine endgültige Entscheidung über eine unionsrechtliche Frage treffe (Rn. 215 bis 225).
Zudem verstößt es nach Ansicht des EuGH gegen Art. 2
EU-Protokoll Nr. 8, dass Mitbeschwerdegegner nach dem
vorliegenden Übereinkunftsentwurf im Fall ihres Beitritts
zum EGMR-Verfahren gemeinsam mit dem Beschwerdegegner für dessen Verletzung der EMRK haften. Es sei hierbei nicht ausgeschlossen, dass ein Mitgliedsstaat für die
Verletzung einer Vorschrift der EMRK haftbar gemacht
werde, obwohl er gerade gegen diese Vorschrift einen Vorbehalt gemäß Art. 57 EMRK angebracht hat (Rn. 226 bis
228).
Schließlich erkennt der EuGH eine Beeinträchtigung der
Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten auch darin, dass der EGMR im Mitbeschwerdeverfahren über eine gemeinsame oder auch nur anteilige
Haftung der Union und ihrer Mitgliedsstaaten entscheiden
könne und hierfür die unionsrechtlichen Zuständigkeitsregeln letztentscheidend beurteilen müsse. Dass der
EGMR dies gemäß Art. 3 Abs. 7 Übereinkunftsentwurf nur
anhand des Vorbringens der (Mit)Beschwerdegegner prüfe, ändere an den unionsrechtlichen Bedenken nichts, da
Beschwerde- und Mitbeschwerdegegner nach dem vorliegenden Entwurf nicht zu einem gemeinsamen Vortrag
verpflichtet seien (Rn. 229 bis 234).
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2015
4. Beeinträchtigung des Rechts des EuGH
auf Vorabbefassung
Neben seinen Zuständigkeiten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV (Rn. 196 ff.,
dazu B.1.c) sieht der EuGH durch Art. 3 Abs. 6 Übereinkunftsentwurf auch das ihm obliegende Recht auf Vorabbefassung in Gefahr. Die Regelung sieht vor, dass der
EuGH in EGMR-Verfahren, in denen die Union Mitbeschwerdegegnerin ist, vor einer abschließenden Entscheidung des EGMR die Vereinbarkeit einer Bestimmung
des Unionsrechts mit den Rechten der EMRK oder ihrer
Protokolle überprüfen kann.
Zur Wahrung der von Art. 2 EU-Protokoll Nr. 8 geschützten
Zuständigkeiten der Union und ihrer Organe – hier meint
der EuGH namentlich seine eigenen Rechte – sei erforderlich, dass nur der EuGH entscheiden dürfe, ob er bereits
über eine Rechtsfrage entschieden habe, die aktuell Gegenstand eines EGMR-Verfahrens ist. Er fordert daher,
nicht nur bei Beteiligung der Union in einem Mitbeschwerdeverfahren, sondern vollständig und systematisch über alle anhängigen EGMR-Verfahren informiert zu werden, um
die Relevanz unionsrechtlicher Fragen prüfen und ggf. eine
Entscheidung herbeiführen zu können (Rn. 236 bis 241).
5. Beeinträchtigung der besonderen Merkmale
des Unionsrechts durch Zuständigkeiten des EGMR
im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP)
Als abschließenden Punkt seiner Begutachtung erkennt
der EuGH einen Verstoß gegen die besonderen Merkmale
des Unionsrechts in der geplanten Ermächtigung des
EGMR, über die Vereinbarkeit bestimmter Maßnahmen im
Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
(GASP) mit der EMRK entscheiden zu dürfen. Der EGMR
könne damit in Fällen entscheiden, für deren Rechtmäßigkeitskontrolle dem EuGH derzeit die Zuständigkeit fehlt.
Solche Kompetenzen des EGMR liefen darauf hinaus, die
gerichtliche Kontrolle der genannten Maßnahmen der
Union – wenn auch beschränkt auf den Maßstab der
EMRK – ausschließlich einem unionsexternen Organ anzuvertrauen. Dies sei nach den besonderen Merkmalen des
Unionsrechts generell unzulässig (Rn. 249 bis 257).
C. Bewertung
Auch wenn das Gutachten des EuGH im Rahmen dieses
Beitrags keiner umfassenden und auf Einzelfragen eingehenden Würdigung unterzogen werden kann, erscheinen
doch einige kritische Anmerkungen in inhaltlicher und methodischer Hinsicht angezeigt:
421
Die Monatszeitschrift
Sowohl im Ergebnis des Gutachtens als auch in dessen
Herleitung wird deutlich, dass der EuGH den beabsichtigten Beitritt und dessen Rechtswirkungen grundlegend abzulehnen scheint13, wenngleich er sich wiederholt bemüht,
das Gegenteil zu versichern (vgl. etwa Rn. 182 und 185).
Deutlich wird dies insbesondere, indem der EuGH eine
wirksame externe Kontrolle unionsrechtlicher Maßnahmen
durch den EGMR auf der Grundlage der EMRK zwar als
grundsätzlich möglich erachtet, verbindliche Vorgaben für
die Auslegung und Anwendung von Unionsrecht allerdings
als grundsätzlich primärrechtswidrig ablehnt (Rn. 184 und
186). Gerade die letztverbindliche Überprüfung der Vereinbarkeit von abgeleitetem Unionsrecht mit der EMRK, wie
der EuGH sie für sich beansprucht (Rn. 243 bis 248), läuft
einer externen Kontrolle der Union durch den EGMR, wie
sie zwangsläufig mit dem EMRK-Beitritt verbunden wäre,
diametral zuwider.
Zur Herleitung seines Ergebnisses interpretiert der EuGH
den vorgelegten Übereinkunftsentwurf in einer Weise, die
die von ihm dann als unzulässig gerügten Konflikte mit
dem Primärrecht teilweise erst schafft. Statt einer derart
rigiden Argumentation14 hätte der EuGH über eine systematische und völkerrechtsfreundliche15, gerade im Lichte
von Art. 6 Abs. 2 EUV und Art. 351 Abs. 2 AEUV vorgenommene Interpretation zwanglos eine unionsrechtskonforme Auslegung des Übereinkunftsentwurfs erreichen
können. So rügt der EuGH beispielsweise, dass die von
Art. 33 EMRK vorgesehene Staatenbeschwerde eine gegenseitige Kontrolle der Mitgliedsstaaten verlange und dadurch das gegenseitige Vertrauen und das Gleichgewicht
der Union beeinträchtige (Rn. 193 f.), ohne sich jedoch damit auseinanderzusetzen, dass das Element wechselseitiger Kontrolle der Mitgliedsstaaten durch das Vertragsverletzungsverfahren gemäß 259 AEUV auch im Primärrecht
der Union angelegt ist. Auch die Forderung nach systematischer Information des EuGH über EGMR-Verfahren könnte unproblematisch über den Grundsatz loyaler Zusammenarbeit sowie einen diesen gegebenenfalls konkretisierenden internen Rechtsakt umgesetzt werden.16
Schließlich – und hier liegt wohl die Hauptstoßrichtung
seines Gutachtens – unternimmt der EuGH den Versuch,
seine eigenen Kompetenzen im Zusammenhang mit dem
EMRK-Beitritt deutlich zu erweitern.17 Diese kaum verhüllte Hoffnung kommt am deutlichsten in den Ausführungen
zum weitergehenden Kontrollumfang des EGMR im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zum
Ausdruck (Rn. 257).18 Dass der EuGH Regelungen für gerade nicht bestehende Regelungskonflikte – wie für das Verhältnis von Art. 267 AEUV zu dem Protokoll Nr. 16 der
EMRK, dem die Union bewusst nicht beigetreten ist
(Rn. 196 bis 200), oder für die Entscheidungen des EGMR
422
im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, für die gemäß Art. 257 Abs. 1 AEUV ausdrücklich keine
Entscheidungszuständigkeit besteht (Rn. 249 bis 257) –
verlangt, erscheint gar als Kompetenzübergriff seinerseits.
Damit gibt er seinem gesamten Gutachten den Anschein
einer „Verteidigung der supranationalen Autonomie (…),
[die] an die Verteidigung der souveränen Staatlichkeit
durch nationale Verfassungsgerichte“ erinnert19 und die
sowohl in ihrem Ergebnis als auch in dessen Herleitung zu
kritisieren ist.
D. Auswirkungen für die Rechtspraxis
Infolge seines ablehnenden Tenors hat das EuGH-Gutachten erhebliche Bedeutung für die Praxis des Europäischen
Grundrechtsschutzes, da die geplante Übereinkunft gemäß
Art. 218 Abs. 11 Satz 2 AEUV nunmehr nur in Kraft treten
kann, wenn entweder die Übereinkunft oder die Verträge
geändert werden. Es verbleibt damit bis auf weiteres insbesondere bei den bisherigen, eingeschränkten Möglichkeiten des subjektiven Rechtsschutzes gegen Grundrechtseingriffe, die durch die Union oder durch die Mitgliedsstaaten bei Durchführung von Unionsrecht erfolgen.20
Das Gutachten des EuGH ist daher – jedenfalls derzeit –
eine zentrale Entscheidung für den Europäischen Grundrechtsschutz im Allgemeinen und für einzelne, zunehmend
stärker europäisierte Rechtsgebiete wie das Europäische
Steuerrecht oder das Europäische Straf- und Strafprozessrecht im Besonderen. Seine konkrete Bedeutung wird dabei davon abhängen, wie schnell und auf welche Weise
die Politik auf das Gutachten reagieren wird.
Da der EuGH das Ergebnis seiner ablehnenden Begutachtung insbesondere auf eine Beeinträchtigung der besonderen Merkmale und der Autonomie des Unionsrechts ge-
13
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18
19
20
Mit dieser Einschätzung auch: Wendel, NJW 2015, 921, 923.
Im Ergebnis ähnlich kritisch: Thym, EuZW 2015, 180.
Schmalenbach in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 351
AEUV, Rn. 21; Lorenzmeier in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der
Europäischen Union, 55. Aufl. 2015, Art. 351 AEUV, Rn. 32.
Wendel, NJW 2015, 921, 924.
Diese Vermutung teilend: Wendel, NJW 2015, 921, 925: „Vielleicht
will der EuGH die Mitgliedstaaten so letztlich zu einer Ausdehnung
seiner Kontrollkompetenzen im Bereich der GASP bewegen.“
„Auch wenn es sich um eine Folge der derzeitigen Ausgestaltung der
Zuständigkeiten des Gerichtshofs handelt, verstößt die geplante
Übereinkunft somit gleichwohl gegen die besonderen Merkmale des
Unionsrechts in Bezug auf die gerichtliche Kontrolle (…) im Bereich
der GASP“.
So die anschauliche Formulierung von Wendel, NJW 2015, 921, 923.
Vgl. Kingreen in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 6
EUV, Rn. 35.
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2015
stützt und damit fundamentale Bedenken gegen den Übereinkunftsentwurf geäußert hat, erscheinen punktuelle oder
gar grundlegende Änderungen der Verträge weder als
rechtlich ausreichend noch als politisch realistisch, um auf
diese Weise die Bindungswirkung des EuGH-Gutachtens
zu überwinden und einen Beitritt der Union zur EMRK zu
ermöglichen.21
Verantwortlichkeit eines Internetportals
für rufschädigende Leserkommentare
EGMR, Urt. v. 16.06.2015 - 64.569/09
„Delfi AS/Estland“
Es ist daher zu erwarten, dass die Kommission den vorliegenden Übereinkunftsentwurf nach weiteren Verhandlungen mit dem Europarat punktuell überarbeiten wird, um
die vom EuGH erkannten primärrechtswidrigen (Miss)Interpretationsspielräume des bisherigen Entwurfs durch
klarstellende Formulierungen zu beseitigen. Denkbar sind
namentlich unionsrechtliche Regelungen zur obligatorischen Information des EuGH über EGMR-Verfahren und zu
seiner verpflichtenden Anrufung im Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV und es dem EuGH
zu ermöglichen, über die im EGMR-Verfahren relevanten
unionsinternen Zuständigkeits-, Verfahrens- und materiellen Rechtsfragen mit Bindungswirkung für den EGMR zu
entscheiden.22
A. Problemstellung
Bis zu einer derartigen Überarbeitung des Übereinkunftsentwurfs wird sich der Beitritt der Union zur EMRK voraussichtlich erheblich verzögern. Zugleich droht der vom
EuGH selbst angesprochenen „Abstimmung“ mit dem
EGMR über das Verhältnis des europäischen Grundrechtsschutzes nach EUGrCh und EMRK eine unnötige Verschärfung. Der Schlusssatz des eingangs zitierten ZEIT-Artikels
von 1950 hat daher nichts an Aktualität eingebüßt:
„Man kann nur hoffen, uns werde das Schauspiel erspart
bleiben, daß die Einigung Europas mit einem Zerwürfnis
der beiden führenden europäischen Organisationen beginnt.“23
21
22
23
A.A. wohl: Grabenwarter, EuZW 2015, 180.
In diesem Sinne auch: Konzack, Jahrbuch Menschenrechte 2013,
351, 358.
Dohlen, DIE ZEIT Ausgabe 15/1950 vom 13.04.1950, abrufbar unter
http://www.zeit.de/1950/15/europa-gegen-europa (zuletzt abgerufen
am 24.07.2015).
RiBVerwG Prof. Dr. Harald Dörig
Das Internet gewinnt immer größere Bedeutung für den
Austausch von Nachrichten und Meinungen. Es ermöglicht
auch dem einfachen Bürger, unkompliziert seine Meinung
zu äußern. Insofern ist es ein wichtiges Mittel zur Gewährleistung und Stärkung der Meinungsfreiheit. Google, Facebook und andere Onlineportale sind daher diktatorischen
Regimen ein Dorn im Auge. Die Kehrseite der Medaille ist
freilich die gegenüber Printmedien erleichterte und wesentlich folgenreichere Verbreitung rassistischer, ehrverletzender und rufschädigender Äußerungen. Die Rechtsordnung ist gefordert, ihre datenschutz- und presserechtlichen
Regelungen den neuen Herausforderungen anzupassen.
Schneller als der Gesetzgeber reagieren hierauf die Gerichte. Nach dem wegweisenden Urteil des EuGH zu Google
Spain vom 13.05.20151 hat nun auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Urteil der
Großen Kammer vom 16.06.2015 Maßstäbe für den Ausgleich von Meinungsfreiheit und Rufschädigung bei Internetportalen entwickelt.2 Im konkreten Fall ging es um rufschädigende Kommentare zu Lasten einer Fährgesellschaft
in Estland und ihres Mehrheitsinhabers, die das Internetportal erst sechs Wochen nach Veröffentlichung von seiner
Website entfernte.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Delfi AS betreibt als Aktiengesellschaft eines der großen Internet-Newsportale in Estland. Das professionell gemanagte Portal veröffentlichte im hier maßgeblichen Jahr
2006 täglich etwa 330 aktuelle Nachrichten und lud seine
Leser zu Kommentaren zu den Artikeln ein. Die Einkünfte
aus der veröffentlichten Werbung hingen von der Zahl der
Besuche auf dem Portal ab. Nach den gerichtlichen Feststellungen steigerten die geposteten Kommentare die Attraktivität des Portals, an ihnen bestand ein wirtschaftliches Interesse. Sie wurden automatisch hochgeladen und
von den Portalbetreibern nicht redigiert. Die Online-Artikel
erhielten etwa 10.000 Leserkommentare täglich, wobei
die Angabe von Namen und Mail-Adresse des Kommentie-
1
2
EuGH, Urt. v. 13.05.2014 - C‑131/12 „Google Spain and Google“;
vgl. hierzu den Aufsatz von Schiedermair, jM 2015, 334.
EGMR, Urt. v. 16.06.2015 - 64.569/09 „Delfi AS/Estland“.
423
Die Monatszeitschrift
renden möglich, aber nicht verpflichtend war. Tatsächlich
wurden die meisten Kommentare unter Verwendung von
Pseudonymen verfasst.
Am 24.01.2006 veröffentlichte das Newsportal einen Artikel über die Zerstörung geplanter Eisstraßen durch die
Schifffahrtsgesellschaft SLK, die Anbieterin eines öffentlichen Fährtransports zwischen dem Festland und den Inseln ist. Eisstraßen sind öffentliche Straßen über das gefrorene Meer zwischen dem estnischen Festland und bestimmten Inseln im Winter. Ihre kostenfreie Nutzung
schmälerte die Einnahmen der Schifffahrtsgesellschaft. Der
Hauptaktionär von SLK war damals Herr L. Der Artikel bekam am 24. und 25.01.2006 insgesamt 185 Kommentare.
Zwanzig davon enthielten persönliche Drohungen und Beleidigungen gegen L. (u.a. von folgender Qualität: Der
kranke Jude möge in seinem Schiff verbrennen, ab in den
Ofen, schlagt den Bastard zusammen).
L.s Anwalt ersuchte die Portalbetreiber sechs Wochen später, die zwanzig beleidigenden Kommentare zu entfernen.
Noch am selben Tag wurden die betreffenden Kommentare vom Portal entfernt. Die Delfi AS verweigerte aber
eine Entschädigung. Auf dem Klageweg wurde L. eine Entschädigung von 320 € zugesprochen. Das zuständige Gericht befand, der Portalbetreiber hätte ein wirksames System schaffen müssen, das eine rasche Entfernung unrechtmäßiger Kommentare sicherstellt. Die Überwachung der
Kommentare hätte nicht den potentiellen Opfern überlassen werden dürfen. Der Oberste Gerichtshof Estlands wies
die Berufung der Aktiengesellschaft ab. Deren Beschwerde
an den Straßburger Gerichtshof, die insbesondere auf eine
Verletzung der Meinungsfreiheit i.S.v. Art. 10 EMRK gestützt war, wies der EGMR zurück.
Der EGMR weist zunächst darauf hin, dass Art. 10 EMRK
die Freiheit der Meinungsfreiheit einschließlich der Informationsfreiheit schützt. Die Ausübung dieser Freiheit kann
gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK aber Einschränkungen unterworfen werden. Diese müssen gesetzlich vorgesehen und
u.a. zum Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer
notwendig sein. Der EGMR führt aus, dass die nationalen
Gerichte die beanstandeten Kommentare zu Recht als rufschädigend angesehen haben, denn sie waren vulgär, verletzten die menschliche Würde und enthielten Drohungen.
Derartige Verletzungen der Rechte anderer, die insbesondere durch Art. 8 EMRK geschützt werden, sind geeignete
Einschränkungen der Meinungsfreiheit.
Der EGMR entwickelt dann Kriterien, die für die Einschränkung der Meinungsfreiheit bei rufschädigenden Kommentaren auf dem von der Delfi AS betriebenen Internetportal
maßgeblich sind:
424
(1) Zunächst stellt der EGMR klar, dass die Veröffentlichung von Nachrichten und Kommentaren in einem Internetportal eine journalistische Tätigkeit darstellt, auch
wenn sich die Pflichten des Portalbetreibers vom Herausgeber eines Printmediums unterscheiden. Es könne vom
Betreiber eines Portals etwa nicht verlangt werden, Kommentare vor ihrer Veröffentlichung auf die gleiche Weise
zu redigieren wie dies bei der Veröffentlichung von Printmedien zu geschehen hat. Das bedeutet allerdings nicht,
dass der Portalbetreiber keine Kontrollpflichten hinsichtlich
der Kommentare zu seinen eigenen Beiträgen hat.
(2) Der EGMR beschränkt seine Aussage zu den Pflichten
eines Portalbetreibers auf die vorliegende Fallkonstellation, in der ein Wirtschaftsunternehmen professionell ein
Nachrichtenportal betreibt, eigene Artikel veröffentlicht
und seine Leser dazu einlädt, diese zu kommentieren. Er
hebt hervor, dass die von ihm entwickelten Vorgaben nicht
solche Foren im Internet betreffen, die reine Diskussionsforen sind und einer Pinnwand gleichen, wo die Nutzer
ihre Ideen zu jedem Thema frei darlegen können, ohne
dass die Diskussion vom Forumsmanager gelenkt wird.
(3) Der EGMR versteht die einschlägigen rechtlichen Regelungen in Estland dahin, dass ein Unternehmer, der ein Internet-Newsportal für wirtschaftliche Zwecke betreibt,
grundsätzlich für das Hinaufladen von klar unrechtmäßigen
Kommentaren – von der Art, wie sie hier in Frage stehen –
verantwortlich gemacht werden kann. Entsprechende Beschränkungen der Meinungsfreiheit (z.B. durch Kontrollund Löschungspflichten) sind daher in Estland „gesetzlich
vorgesehen“, wie dies Art. 10 Abs. 2 EMRK verlangt.
(4) Der EGMR weist darauf hin, dass der Geschädigte im
vorliegenden Fall die Wahl hatte, gegen die einzelnen
anonymen Verfasser der Kommentare oder gegen das Internetportal vorzugehen. Er zeigt die technischen Schwierigkeiten auf, Kommentarverfasser – etwa über ihre IPAdresse – zu identifizieren. Hinzu kommt, dass es an Instrumenten fehlt, gegen die Verfasser wirksam ein Klageverfahren durchzuführen. Daher stellt es keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Rechte des Portalbetreibers dar,
ihn (und nicht den Kommentarverfasser) mit dem Prozessrisiko im Rufschädigungsverfahren zu belasten.
(5) Die Verpflichtung des Portalbetreibers, ohne Verzögerung Kommentare von seiner Website zu entfernen, die
Hassrede und Aufstachelung zu Gewalt darstellen und somit klar unrechtmäßig sind, stellt nach dem EGMR-Urteil
grundsätzlich keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das
Recht des Betreibers auf Meinungsfreiheit dar.
Der EGMR prüft dann, ob die von der Delfi AS ergriffenen
Kontroll- und Löschungsmaßnahmen hinreichend oder –
wie von den nationalen Gerichten bewertet – unzurei-
JM 11 |
chend waren. Hierzu stellt er zunächst fest, dass das
Newsportal eine Klausel veröffentlicht hatte, wonach es
verboten war, Kommentare zu posten, die der guten Praxis
widersprachen, Drohungen, Beleidigungen, Obszönitäten
oder Vulgäres enthielten oder zu Feindseligkeiten, Gewalt
oder illegalen Aktivitäten aufstachelten.
Daneben verfügte das Portal über ein automatisches System der Löschung von Kommentaren auf Basis der Wortstämme von bestimmten vulgären Ausdrücken, das allerdings unzureichend war und daher die hier geposteten
menschenfeindlichen Begriffe nicht erfasste. Ferner hatte
das Portal ein System zur Meldung und Entfernung von
Kommentaren, womit jeder den Portalbetreiber über einen
unangebrachten Kommentar informieren konnte, indem er
auf eine bestimmte Schaltfläche klickte und dadurch die
Administratoren des Portals auf seinen Hinweis aufmerksam machte. Zudem entfernten die Administratoren gelegentlich Kommentare aus eigener Initiative.
Der EGMR bewertet die vom Portalbetreiber den Nutzern
eingeräumte Möglichkeit, ihm unzulässige Kommentare zu
melden und so auf deren Löschung hinzuwirken, als
grundsätzlich geeignetes Werkzeug zur Abwägung der
Rechte und Interessen aller Beteiligten, wenn es von wirksamen Verfahren begleitet wird, die eine rasche Antwort
erlauben.
(6) Der EGMR hält es aber auch mit Art. 10 EMRK für vereinbar, wenn das nationale Recht ein weitergehendes Kontrollsystem verlangt, das nicht allein von der Initiative der
Nutzer abhängt, soweit es um die Abwehr grober Rechtsverletzungen geht. In Fällen wie dem vorliegenden, wo
Kommentare in Form von Hassrede und direkten Drohungen gegen die physische Integrität von Individuen erfolgen, können Internet-Newsportale ohne Verletzung von
Art. 10 EMRK zur Verantwortung gezogen werden, wenn
sie es verabsäumen, von sich aus Maßnahmen zu ergreifen, um klar unrechtmäßige Kommentare ohne Verzögerung zu entfernen.
C. Kontext der Entscheidung
Mit dem besprochenen Urteil trifft die Große Kammer des
EGMR ihre erste Grundsatzentscheidung zur Güterabwägung bei rufschädigenden Kommentaren auf Internetplattformen. Danach sind nationale Regelungen mit dem
Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit nach
Art. 10 EMRK vereinbar, die einen Portalbetreiber verpflichten, ein wirksames System zur Abwehr grober
Rechtsverletzungen durch Kommentare Dritter einzurichten, das über rein reaktive Kontrollen auf Initiative von
Nutzern hinausgeht. Die Inpflichtnahme von Portalbetreibern für Folgen der durch sie nicht selbst veranlassten,
aber ermöglichten Verletzung von Persönlichkeitsrechten
NOVEMBER
2015
Dritter entspricht der neueren Rechtsprechung, wie sie
auch im Google-Spain-Urteil des EuGH vom Mai 2014 zum
Ausdruck kommt.3 Der EGMR nimmt dabei mit in den
Blick, dass es auf erhebliche technische und rechtliche
Schwierigkeiten stößt, Verfahren gegen die aus der Anonymität agierenden Verfasser rufschädigender Kommentare
durchzuführen. So scheiterte ein deutscher Arzt im Juli
2014 vor dem BGH mit seinem Verlangen, vom Betreiber
eines Internetportals die personenbezogenen Daten des Internetnutzers zu erhalten, gegen den er wegen wiederholter Persönlichkeitsrechtsverletzung vorgehen wollte, weil
das deutsche Recht dies nur zum Zweck der Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen gestattet.4 Auch der EGMR sah in der Nichtherausgabe der Nutzerdaten bisher nur in einem Fall eine
Konventionsverletzung, in dem der Internetnutzer einen
zwölfjährigen Jungen in strafrechtlich relevanter Weise diffamierte und der Gefahr pädophiler Übergriffe aussetzte.5
D. Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil wird Auswirkungen auf die Rechtspraxis in den
47 Mitgliedstaaten des Europarats haben. Zwar verpflichtet es nicht dazu, nationale Regelungen zu schaffen, wonach rufschädigende Kommentare auf wirtschaftlich betriebenen Internetplattformen automatisch zu löschen
sind. Das Urteil setzt aber Akzente zugunsten des Persönlichkeitsschutzes, die über den konkreten Fall und die konkrete nationale Regelung hinausreichen. Insoweit wird es
auch in Deutschland bei der Auslegung des geltenden nationalen Datenschutzrechts und bei zivilrechtlichen Klagen
zur Abwehr von Rufschädigungen zu berücksichtigen
sein.6 Denn die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR
sind im Rahmen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung
des nationalen Rechts – einschließlich der Auslegung der
Grundrechte – zu beachten.7 Es bleibt zukünftiger Rechtsprechung vorbehalten, ob insoweit eine einschränkende
Auslegung von § 7 Abs. 2 und § 10 TMG geboten ist, wonach Diensteanbieter für fremde Informationen, die sie für
einen Nutzer speichern, nicht verantwortlich und insoweit
auch nicht verpflichtet sind, die von ihnen übermittelten
oder gespeicherten Informationen zu überwachen oder
nach Umständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige
Tätigkeit hinweisen.8
3
4
5
6
7
8
EuGH, Urt. v. 13.05.2014 - C‑131/12 „Google Spain and Google“.
BGH, Urt. v. 01.07.2014 - VI ZR 345/13 - BGHZ 201, 380.
EGMR, Urt. v. 02.12.2008 - 2872/02 „K.U./Finnland“.
Zur BGH-Rechtsprechung zu zivilrechtlichen Abwehrklagen gegen Internet-Plattformen vgl. BGH, Urt. v. 11.03.2004 - I ZR 304/01 - BGHZ
158, 236; BGH, Urt. v. 23.06.2009 - VI ZR 196/08 - BGHZ 181, 328.
BVerfG, Urt. v. 04.05. 2011 - 2 BvR 2365/09 - BVerfGE 128, 326.
Vgl. hierzu Pötters/Traut, RDV 2015, 117, 122.
425
Die Monatszeitschrift
Steuerrecht
Die erfolgreiche Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision
zum BFH
RiBFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel
A. Einleitung
Der Bundesfinanzhof (BFH) ist das oberste deutsche
Steuergericht (Art. 92, 95 GG, § 2 FGO). Jedoch findet
nicht jeder Rechtsstreit, der materielles Steuerrecht zum
Gegenstand hat, den Weg zu ihm, wenngleich der BFH die
zweite und zugleich letzte Instanz nach dem Finanzgericht
(FG) bildet. Die Finanzgerichtsbarkeit kennt im Unterschied
zu den anderen Fachgerichtsbarkeiten nur zwei, nicht drei
Instanzen. Wie die anderen Revisionsgerichte ist der BFH
aber keine (zweite) Tatsacheninstanz, sondern regelmäßig
an den vom FG festgestellten Sachverhalt gebunden
(§ 118 Abs. 2 FGO), sofern hiergegen nicht begründete
Verfahrensrügen erhoben werden.
Statthaftes Rechtsmittel gegen ein finanzgerichtliches Urteil1, das zu dessen Überprüfung durch den BFH führt, ist
die Revision (§ 115 FGO), sofern sie das FG oder – auf eine
Nichtzulassungsbeschwerde hin – der BFH zugelassen
hat2. Diese Zulassung setzt das Vorliegen sog. Zulassungsgründe voraus, die § 115 Abs. 2 FGO abschließend aufzählt: grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (Nr. 1),
Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Rechtsfortbildung oder zur Vermeidung einer Divergenz (Nr. 2) sowie
entscheidungserhebliche Verfahrensfehler (Nr. 3). Hierin
spiegelt sich die Funktion der Rechtsprechung des BFH wider: letztverbindliche Auslegung des einfachen Steuerrechts und Rechtsfortbildung im Interesse der Allgemeinheit sowie in der Folge materieller Individualrechtsschutz,
dies ergänzt durch die Wahrung der individuellen Verfahrensrechte vor dem FG.
Der Erfolg einer Nichtzulassungsbeschwerde ist vielfach
die erste große Hürde des Rechtsschutzes gegen ein finanzgerichtliches Urteil.3 Um diese Hürde zu nehmen, sind
die formalen Anforderungen für die Beschwerde zu wahren (dazu B.), und es muss in schlüssiger Weise zumindest
ein Revisionszulassungsgrund i.S.v. § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden (dazu C.).
Im Folgenden werden die wesentlichen Anforderungen an
eine erfolgreiche Nichtzulassungsbeschwerde dargestellt,
wie sie der ständigen Rechtsprechung des BFH entsprechen.4
B. Anforderungen an die zulässige Erhebung
einer Nichtzulassungsbeschwerde
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist einen Monat nach Zustellung des vollständigen Urteils des FG einzulegen (§ 116
Abs. 2 Satz 1 FGO). Die Beschwerdeschrift ist via Postversand, Telefax, Computerfax oder im elektronischen Rechtsverkehr an den BFH zu richten, und zwar so rechtzeitig,
dass sie dort vor Ablauf der Frist eingeht. Die Einlegung
durch E-Mail ist nicht möglich. Der Eingang beim FG wahrt
die Frist nicht, jedoch muss das FG eine bei ihm eingehende Beschwerdeschrift an den BFH weiterleiten. Maßgeblich
ist, dass die weitergeleitete Beschwerdeschrift dort vor
Fristablauf eingeht.
Inhaltlich muss die Beschwerdeschrift das angegriffene Urteil oder den Gerichtsbescheid verwechslungsfrei bezeichnen (§ 116 Abs. 2 Satz 2 FGO – Name des Gerichts, Aktenzeichen, Datum der Entscheidung).
Weiter gilt vor dem BFH Vertretungszwang, sodass die
Nichtzulassungsbeschwerde wirksam nur von einem
Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer sowie
den sonst in § 62 Abs. 4 FGO genannten Personen eingelegt werden kann.
Ziel der Nichtzulassungsbeschwerde ist ausschließlich die
Zulassung der Revision, ein besonderer Antrag ist nicht
zu stellen. Verfehlt wäre ein Sachantrag, etwa auf Aufhebung eines Steuerbescheids. Nicht möglich ist die Beschränkung der Nichtzulassungsbeschwerde auf einzelne
1
2
3
4
426
Gleiches gilt für finanzgerichtliche Gerichtsbescheide, nicht aber für
andere Entscheidungen des FG.
Wann und wie der BFH gegen eine Entscheidung des FG angerufen
werden kann, ergibt sich regelmäßig schon aus der dem Urteil des
FG beigefügten Rechtsmittelbelehrung. Deren Fehlen oder Unrichtigkeit hat zur Folge, dass die gesetzliche Frist für den statthaften
Rechtsbehelf (vgl. sub B.) nicht zu laufen beginnt, vielmehr gem.
§ 55 Abs. 2 Satz 1 FGO eine Frist von grundsätzlich einem Jahr.
In der Praxis sind weniger als 20 % aller beim BFH eingelegten Nichtzulassungsbeschwerden erfolgreich (vgl. Jahresbericht des BFH 2014,
S. 20).
Rechtsprechungszitate haben lediglich exemplarische Bedeutung.
JM 11 |
Besteuerungsgrundlagen (§ 157 Abs. 2 AO) eines Steuerbescheids, etwa auf einzelne in einem Einkommensteuerbescheid relevante Einkunftsarten oder Ermäßigungstatbestände.
Die Beschwerde ist innerhalb einer Frist von zwei Monaten
zu begründen (§ 116 Abs. 3 Satz 1 FGO). Die Frist kann auf
Antrag auf drei Monate verlängert werden (§ 116 Abs. 3
Satz 2 FGO). Ein nach Ablauf der Begründungsfrist eingereichter (weiterer) Schriftsatz ist, soweit nicht nur erläuternder, ergänzender oder vervollständigender Natur, unbeachtlich.
Wird die Frist versäumt, so kann der Beschwerdeführer
ggf. im Rahmen eines Antrags auf Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand glaubhaft machen, ohne Verschulden
daran gehindert gewesen zu sein, sie einzuhalten (§ 56
Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 FGO). Dies wäre etwa erfolgreich,
wenn sich aus vorgelegten ärztlichen Attesten, Sachverhaltsschilderungen und eidesstattlichen Versicherungen ergäbe, dass er im fraglichen Zeitraum aufgrund einer akuten Erkrankung in einer ein persönliches Verschulden ausschließenden Weise nicht in der Lage war, seine eigenen,
insbesondere gerichtlichen Angelegenheiten selbst wahrzunehmen.
C. Erfolgreiche Begründung
einer Nichtzulassungsbeschwerde
I. Allgemeines
In der Nichtzulassungsbeschwerde sind konkrete und substantiierte Angaben zu machen, aus denen sich die Erfordernisse des Vorliegens eines oder kumulativ mehrerer Zulassungsgründe i.S.v. § 115 Abs. 2 FGO schlüssig ergeben
(§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Dieser Vortrag bestimmt den
Prüfungsumfang des BFH (Darlegungslast des Beschwerdeführers).
Diese schlüssige und substantiierte Darlegung der Zulassungsgründe soll nicht Rechtsanwendungsfehler des angefochtenen Urteils aufzeigen5, sondern allein die Zulassungshürde des § 115 FGO nehmen. Dabei muss gegen
jede die Entscheidung des FG selbständig tragende, in den
Urteilsgründen dargelegte Begründung ein Revisionszulassungsgrund greifen. Denn der BFH prüft nur entscheidungserhebliche Rechts- bzw. Verfahrensfragen. Ist also
eine Entscheidung des FG auf mehrere selbständig tragende Gründe gestützt, sind Revisionszulassungsgründe für
jede dieser Begründungen vorzutragen.
§ 115 Abs. 2 FGO nennt abschließend die folgenden Revisionszulassungsgründe:
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2015
II. Grundsätzliche Bedeutung
der Rechtssache/Rechtsfortbildung
Die Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) verlangt ebenso wie die Darlegung der Erforderlichkeit einer
Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts (§ 115
Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO) substantiierte Ausführungen zur
Klärungsbedürftigkeit einer hinreichend bestimmten – abstrakt beantwortbaren – Rechtsfrage, die im konkreten
Streitfall voraussichtlich klärbar/klärungsfähig (entscheidungserheblich) ist und deren Beurteilung zweifelhaft oder
umstritten ist. Hierzu muss sich der Beschwerdeführer mit
der einschlägigen Rechtsprechung insbesondere des BFH
sowie den Äußerungen im Schrifttum auseinandersetzen.
Dabei sind Ausführungen erforderlich, aus denen sich ergibt, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Rechtsfrage zweifelhaft und umstritten ist.6
Die Rechtsfrage muss ein konkretes Rechtsproblem bei der
Gesetzesauslegung oder Gesetzeskonkretisierung bezeichnen, das sich losgelöst vom entschiedenen Einzelfall – abstrakt – stellt. Die Antwort auf die Rechtsfrage darf nicht
von den Besonderheiten des Einzelfalls abhängen, sondern
muss in einem für alle Fälle geltenden abstrakten Leitsatz
zu beantworten sein. Eine Rechtsfrage, die die Anwendung des Rechts auf einen Einzelfall betrifft, hat nicht die
für eine Revisionszulassung erforderliche allgemeine Bedeutung.7
Klärungsbedürftig ist die Rechtsfrage, wenn ihre Beantwortung zweifelhaft ist, nicht aber, wenn sie sich eindeutig aus dem Gesetz ergibt. Die Antwort auf die Rechtsfrage
darf auch nicht ohne weiteres aus der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung von BFH, BVerfG oder EuGH
folgen. Ist sie bereits entschieden, so sind neue – insbesondere in der Literatur oder FG-Rechtsprechung genannte – Aspekte darzulegen, die der BFH bislang noch
nicht geprüft hat. Klärungsbedürftig ist auch eine Rechtsfrage, wenn sie in den Richtlinien der Finanzverwaltung
anders beantwortet wird als vom FG.
5
6
7
Vgl. aber sub III.2.
Vgl. z.B. BFH, Beschl. v. 27.05.2010 - VIII B 23/09 - BFH/NV 2010,
1839; BFH, Beschl. v. 09.04.2014 - XI B 128/13 - BFH/NV 2014,
1224, m.w.N.; Gräber/Ruban, FGO, 7. Aufl. 2010, § 116 Rn. 34.
Zur Möglichkeit einer Revisionszulassung für ein sog. Musterverfahren, d.h. eine Richtungsentscheidung in einem exemplarischen Sachverhalt, vgl. Rüsken/Bleschik, DStR Beihefter zu Heft 14-15/2015, 45,
53.
427
Die Monatszeitschrift
Die Rechtsfrage ist klärungsfähig (= klärbar), wenn eine
Antwort darauf zur Begründung des Tenors (Entscheidungsergebnisses) der angegriffenen finanzgerichtlichen
Entscheidung erforderlich ist. Maßgeblich hierfür ist grundsätzlich der vom FG festgestellte Sachverhalt. Diese den
BFH bei einer Revisionsentscheidung grundsätzlich bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2
FGO) sind nur mit Verfahrensrügen angreifbar (dazu IV.).
Die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung des FG kann mit
der Nichtzulassungsbeschwerde nicht erfolgreich geltend
gemacht werden.
Im Übrigen ist eine Rechtsfrage in der Revision nicht klärungsfähig, wenn die Klage unzulässig ist oder die Rechtsfrage nicht revisibles Recht (ausländisches Recht, Kirchenrecht oder Landesrecht, § 33 Abs. 1 Nr. 4 FGO) betrifft.
Gleiches gilt, wenn sie nur auf eine von mehreren, jeweils
alleine tragenden Begründungen des FG für sein Entscheidungsergebnis abzielt und hinsichtlich der anderen Begründungen keine Revisionszulassungsgründe greifen.
III. Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO)
1. Vermeidung einer widersprüchlichen
Rechtsprechung
Als Divergenzentscheidung tauglich ist im Übrigen nur
eine, die revisible Rechtsfragen betrifft, nicht etwa Entscheidungen über eine Revisionszulassung oder Aussetzung der Vollziehung.
Der in einer angeblichen Divergenzentscheidung des BFH
aufgestellte Rechtssatz muss für diese Entscheidung tragend sein, d.h. kein sog. obiter dictum.
Ist das angegriffene FG-Urteil im zweiten Rechtsgang ergangen, so handelt es sich auch dann um eine Divergenz,
wenn das FG die Grundsätze der zurückverweisenden
BFH-Entscheidung, d.h. seine Bindung an die Rechtsausführungen des BFH im ersten Rechtsgang, nicht beachtet
hat (§ 126 Abs. 5 FGO).9
Die Entscheidung des BFH soll hier eine widersprüchliche
Rechtsprechung klären, die dadurch entstanden ist, dass
die mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffene finanzgerichtliche Entscheidung einen abstrakten Rechtssatz
zugrunde legt, der mit einem in einer Entscheidung des
BFH oder eines anderen FG aufgestellten Rechtssatz unvereinbar ist.
Die Erforderlichkeit einer Entscheidung ist bei einer Divergenzrüge nur problematisch, wenn es um ausgelaufenes
Recht geht. Hier ist darzulegen, dass die divergierenden
Rechtsauffassungen noch für eine Vielzahl weiterer Fälle
relevant sein werden.
Die schlüssige Rüge einer Divergenz erfordert die Darlegung, dass das FG bei gleichem oder vergleichbarem Sachverhalt in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage eine
andere Auffassung vertritt als der BFH oder ein anderes
FG.8 Dabei muss das FG seinem Urteil einen entscheidungserheblichen (tragenden) abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt haben, der mit den ebenfalls tragenden
Rechtsausführungen in der Divergenzentscheidung des anderen Gerichts nicht übereinstimmt. Um einen bloßen –
die Revisionszulassung nicht rechtfertigenden – Rechtsanwendungsfehler (Substantionsfehler) handelt es sich
demgegenüber jedoch, wenn das FG einen vom BFH aufgestellten Rechtssatz auf den Streitfall angewandt hat, obwohl er hier nicht einschlägig ist. Es genügt auch nicht,
dass das FG eine Rechtsfrage übersehen hat.
Unter § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt 2 FGO wird auch der sog. qualifizierte Rechtsanwendungsfehler gefasst. Dies bedeutet,
dass die Revision in sehr seltenen Ausnahmefällen auch
zugelassen werden kann, um ein FG-Urteil zu korrigieren,
das an einem besonders schwerwiegenden Rechtsanwendungsfehler leidet, der es objektiv willkürlich oder greifbar
gesetzwidrig erscheinen lässt und, würde er nicht behoben, geeignet wäre, das Vertrauen in die Rechtsprechung
zu beschädigen. Das FG muss die Rechtslage krass verkannt und greifbar gesetzeswidrig entschieden haben,
sodass sein Urteil bei verständiger Würdigung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar erscheint. Die
Im Einzelnen sind für eine schlüssige Rüge einer Divergenz
gem. § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO die angeblichen Divergenzentscheidungen genau – mit Datum und Aktenzeichen
oder Fundstelle – zu bezeichnen sowie tragende, abstrakte
Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einer-
428
seits und aus den behaupteten Divergenzentscheidungen
andererseits gegenüberzustellen, um die Abweichung
deutlich zu machen. Dies erfordert auch die Darlegung,
dass es sich im Streitfall um einen gleichen oder vergleichbaren Sachverhalt handelt, sodass sich in der angefochtenen und in der Divergenzentscheidung dieselbe Rechtsfrage stellt. Nicht erforderlich ist, dass das FG den Rechtssatz expressiv verbis als abstrakten formuliert. Er muss
sich nur – abstrakt! – aus dem Sachzusammenhang der
Entscheidungsgründe ergeben.
2. Vermeidung einer für den Rechtsstaat
unerträglichen Rechtsprechung
8
9
Gleiches gilt für Entscheidungen des EuGH, BVerfG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder ein anderes oberstes Bundesgericht.
Z.T. wird hier auch ein Verfahrensfehler angenommen, etwa Gräber/
Ruban, FGO, § 115 Rn. 52, m.w.N. zum Streitstand.
JM 11 |
Grenze zur bloßen Rechtswidrigkeit ist hier freilich fließend.10
IV. Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO)
1. Allgemeines
Hat das FG Verfahrensfehler gemacht, so führt deren
schlüssige und substantiierte Darlegung in der Nichtzulassungsbeschwerde regelmäßig zur Aufhebung des Urteils
und Zurückverweisung der Rechtssache an das FG (§ 116
Abs. 6 FGO). Werden daneben noch grundsätzliche Bedeutung oder Divergenz gerügt, kann der BFH die Revision unter Umständen auch zulassen, um die entscheidungserheblichen Rechtsfragen zu klären, und die Sache ggf. in der
Revision zurückverweisen.
Ist es lediglich das Ziel des Beschwerdeführers, eine erneute Prüfung durch das FG zu erreichen, kann er dies nur
über die Rüge von Verfahrensfehlern erreichen.
Ein Zulassungsgrund i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegt im
Übrigen nur vor, wenn das FG gegen Vorschriften des Gerichtsverfahrensrechts verstoßen hat. Dagegen können
Fehler, die dem Finanzamt im Besteuerungsverfahren unterlaufen sein sollten, die Zulassung der Revision aufgrund
eines Verfahrensmangels im Sinne des Revisionsrechts
nicht rechtfertigen.11
Nicht gerügte Verfahrensfehler prüft der BFH im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht. Die schlüssige und
substantiierte Rüge eines Verfahrensfehlers in der Nichtzulassungsbeschwerde entspricht der zur Begründung
einer zugelassenen Revision mit einem Verfahrensmangel.
Der Beschwerdeführer muss konkrete Schritte im Verfahrensablauf beim FG darlegen, aufgrund derer dessen Entscheidung verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sein
soll. Maßgeblich dafür, was in der mündlichen Verhandlung vor dem FG passiert ist, ist allein das Sitzungsprotokoll.12 Auf Umstände, die dort nicht stehen, kann sich
der Beschwerdeführer nicht berufen. Er kann auch nicht
mit Erfolg als verfahrensfehlerhaft rügen, das FG habe
etwa eine Sachverhaltsermittlung unterlassen, ohne dies
gemäß § 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 2 ZPO als wesentlichen
Vorgang der Verhandlung zu protokollieren; vielmehr
müsste insoweit bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung ein Antrag auf Protokollergänzung nach § 160 Abs. 4
ZPO gestellt werden. Nur wenn das FG einen solchen Antrag abgelehnt hat, kann ein Rechtsmittel gegen das Urteil
auf den Mangel gestützt werden.13
Im Einzelnen richtet sich diese Rüge nach dem jeweiligen
Verfahrensfehler.
In der Praxis ist insbesondere die Rüge der im Folgenden
dargestellten Verfahrensfehler von Relevanz. Es geht da-
NOVEMBER
2015
bei primär darum, dass das FG das rechtliche Gehör der
Beteiligten nicht gewahrt (dazu sub 2.) und bei seiner
Entscheidung nicht in rechtsstaatlicher Weise alle relevanten objektiven Umstände berücksichtigt hat (dazu sub 3.
und 4.).
2. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
Diverse einfachgesetzlich ausgeformte Verfahrensanforderungen dienen der Wahrung des grundgesetzlich verbürgten (Art. 103 Abs. 1 GG) Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die schlüssige Rüge der Verletzung dieses Anspruchs
erfordert stets die Darlegung, aufgrund welchen Verhaltens des FG sich der Beschwerdeführer zu den vom FG
seiner Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen oder
deren rechtlichen Beurteilung nicht (ausreichend) äußern
konnte.
Bei der Prüfung, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, ist der
materiell-rechtliche Standpunkt des FG zugrunde zu legen.
Zur Gewährung rechtlichen Gehörs obliegt es dem Gericht
u.a., den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung zu geben
und ihre Ausführungen sowie Anträge zur Kenntnis zu
nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen, nicht jedoch, der von den Beteiligten vertretenen
Rechtsansicht zu folgen; dies gilt insbesondere auch dann,
wenn diese Rechtsansicht auf einer vom FG abweichenden Vertragsauslegung bzw. Sachverhaltswürdigung beruht.
Um seinen Anspruch auf rechtliches Gehör zu wahren,
muss der Beschwerdeführer jede zumutbare Gelegenheit
wahrnehmen, sich Gehör zu verschaffen. Der Anspruch auf
rechtliches Gehör wird begrenzt durch die Mitverantwortung der Beteiligten.14 Danach haben diese alles in ihren
Kräften Stehende und nach Lage der Dinge Erforderliche
zu tun, um ihr Recht auf Gehör zu verwirklichen. Daran
fehlt es z.B., wenn ein Beteiligter trotz rechtzeitiger und
ordnungsgemäßer Ladung nicht zum Termin erscheint.
Wer zur mündlichen Verhandlung trotz ordnungsgemäßer
Ladung unentschuldigt nicht erscheint, kann regelmäßig
anschließend nicht rügen, das FG habe seinen Anspruch
auf rechtliches Gehör verletzt.15 Wer sich durch Krankheit
10
11
12
13
14
15
Zu Konkretisierungsversuchen vgl. Rüsken/Bleschik, Beihefter zu
DStR Heft 14-15/2015, 43, 59 f., m.w.N.
Vgl. BFH, Beschl. v. 13.01.2010 - IX B 109/09 - BFH/NV 2010, 917.
Zur Beweiskraft des Sitzungsprotokolls § 94 FGO i.V.m. § 165 ZPO.
Vgl. BFH, Beschl. v. 18.01.2008 - VII S 56/07 (PKH) - BFH/NV 2008,
809, m.w.N.
Vgl. BFH, Beschl. v. 10.07.2012 - IX B 179/11 - BFH/NV 2012, 1633.
Vgl. BFH, Beschl. v. 15.07.2013 - IX B 22/13.
429
Die Monatszeitschrift
daran gehindert sieht, muss dem FG zum frühestmöglichen
Termin die Krankheit substantiiert schildern und glaubhaft
machen; dies erfordert die schnellstmögliche Vorlage eines
aussagekräftigen ärztlichen Attests, das eine Diagnose
enthält, die dem FG eine eigene Beurteilung der Reisebzw. Verhandlungsunfähigkeit ermöglicht. Bescheinigt
etwa ein vom Beschwerdeführer vorgelegtes Attest, dass
er – ggf. wegen einer schweren depressiven Störung und
chronischer Suizidalität – auf unbestimmte Zeit nicht in
der Lage sei, einer Gerichtsverhandlung zu folgen, so begründet dies in hinreichender Weise den Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung.16 Weiter ist ggf.
glaubhaft zu machen, dass der Prozessvertreter ebenfalls
aus einem erheblichen Grund verhindert ist. Es stellt keinen Grund für die Verlegung eines Termins dar (§ 227
Abs. 1 ZPO i.V.m. § 155 FGO), wenn der Kläger seinen Prozessbevollmächtigten erst so spät mit seiner Vertretung
beauftragt, dass diesem bis zur mündlichen Verhandlung
keine ausreichende Zeit mehr verbleibt, um sich in den
Prozessstoff einzuarbeiten, sofern es dem Kläger möglich
und zumutbar gewesen wäre, den Prozessbevollmächtigten auch früher zu beauftragen.17
Weiter verletzt das FG das rechtliche Gehör, wenn es die
Ladungsfrist von zwei Wochen (§ 91 Abs. 1 Satz 1 FGO)
nicht einhält. Bleibt der Beschwerdeführer daraufhin der
mündlichen Verhandlung fern und lässt sich auch nicht
vertreten, beruht das Urteil auf dem Verfahrensmangel
(§ 119 Nr. 3 FGO), ohne dass es weiterer Darlegungen
dazu bedarf, weshalb er an der mündlichen Verhandlung
nicht teilgenommen hat und weshalb er einen Antrag auf
Verlegung des Termins nicht gestellt hat.18
Eine Gehörsverletzung kann auch darin liegen, dass das
FG die Beteiligten auf rechtliche Gesichtspunkte nicht hinweist, mit deren Erheblichkeit sie nicht von sich aus rechnen mussten, weil das FG sein Urteil auf einen bis dahin
nicht erörterten rechtlichen/tatsächlichen Gesichtspunkt
stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit
der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer
Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste (sog. Überraschungsentscheidung). Gleichwohl besteht keine allgemeine Erörterungspflicht des FG hinsichtlich aller entscheidungserheblichen Aspekte. Die schlüssige Rüge einer Verletzung der
gerichtlichen Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) erfordert im
Übrigen die Darlegung, wie der Beschwerdeführer auf
einen entsprechenden Hinweis des Gerichts reagiert hätte
und was genau er im Einzelnen vorgetragen und welche
rechtlichen Ausführungen er gemacht hätte, die geeignet
gewesen wären, das FG möglicherweise zu einer anderen
Entscheidung zu führen.
430
3. Nicht hinreichende Sachaufklärung
Gemäß § 76 Abs. 1 FGO hat das Gericht den Sachverhalt
von Amts wegen aufzuklären und insbesondere Feststellungen zu treffen, denen nach seinem materiell-rechtlichen
Standpunkt entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt.
Es muss jedenfalls solchen tatsächlichen Zweifeln nachgehen, die sich ihm nach Lage der Akten und dem Vortrag
der Beteiligten aufdrängen.19 Gleichwohl kann die Verletzung dieser Pflicht nicht mehr gerügt werden, wenn sich
der Beschwerdeführer im finanzgerichtlichen Verfahren als
mit der Sachaufklärung des FG einverstanden gezeigt hat.
Hat er substantiierte Beweisanträge gestellt, dann aber zur
Sache verhandelt – im Sitzungsprotokoll steht keine Rüge
der Nichterhebung der Beweise –, obwohl das FG den Anträgen nicht nachgekommen ist, hat er sein Rügerecht verloren. Auch wenn die unterlassene Beweiserhebung des
FG gerügt wurde, kann es erhebliche Gründe geben, weshalb das FG den angebotenen Beweis nicht erheben musste, etwa weil es nach der materiell-rechtlichen Auffassung
des FG auf die zu beweisende Tatsache nicht ankam.
Wurde kein Beweisantrag gestellt, so erfordert die substantiierte Rüge einer nicht hinreichenden Sachaufklärung,
dass sich die entsprechende Sachaufklärung dem FG auch
ohne entsprechenden Beweisantrag hätte aufdrängen
müssen.20
4. Nicht hinreichende Berücksichtigung
des Akteninhalts
Gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht nach seiner
freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Dagegen verstößt es,
wenn es eine laut Aktenlage feststehende Tatsache oder
eine Zeugenaussage nicht berücksichtigt bzw. würdigt, auf
die es ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung
des FG ankommt.21
Allein der Hinweis, dass zu einem bestimmten Gesichtspunkt nichts in den Entscheidungsgründen steht, genügt
insoweit für eine schlüssige Verfahrensrüge jedoch nicht.
Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht
die ihm vorliegenden Akten und die Äußerungen der Beteiligten bzw. das Ergebnis einer Beweisaufnahme bei seiner
16
17
18
19
20
21
BFH, Beschl. v. 17.09.2014 - IX B 44/14 - BFH/NV 2015, 52.
Stv. BFH, Beschl. v. 09.10.2013 - IX B 61/13 - BFH/NV 2014, 64.
Vgl. BFH, Beschl. v. 17.09.2014 - IX B 37/14 - BFH/NV 2015, 52.
Stv. BFH, Beschl. v. 30.04.2013 - IX B 156/12.
Vgl. stv. BFH, Beschl. v. 15.04.2013 - IX B 169/12 - BFH/NV 2013,
1241.
Vgl. stv. BFH, Beschl. v. 15.12.2008 - IX B 39/08.
JM 11 |
Entscheidungsfindung berücksichtigt und die sich daraus
ergebenden Tatsachen und Rechtsfragen gewürdigt hat,
sofern nicht konkrete Anhaltspunkte hiergegen sprechen.
D. Fazit
Die Rechtsprechung des BFH dient dem Interesse der Allgemeinheit an einer rechtsstaatlichen Judikative und insoweit auch der Einzelfallgerechtigkeit sowie dem Individualrechtsschutz. Der Einzelne hat aber keinen Anspruch auf
eine umfassende Richtigkeitskontrolle finanzgerichtlicher
Entscheidungen. So eröffnet die Nichtzulassungsbeschwerde nur bei entsprechender Darlegung der gesetzlich festgelegten Zulassungsgründe den Weg zum obersten deutschen Steuergericht.
Einbeziehung der Baukosten
in die Bemessungsgrundlage
der Grunderwerbsteuer
BFH, Urt. v. 03.03.2015 - II R 9/14
RiBFH Prof. Dr. Matthias Loose
A. Problemstellung
Die Belastung mit Grunderwerbsteuer ist in den letzten
Jahren kontinuierlich gestiegen. Seit die Länder den Steuersatz selbst festlegen können, haben bis auf Sachsen und
Bayern alle Länder davon Gebrauch gemacht. Spitzenreiter
sind derzeit Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und
das Saarland mit jeweils 6,5 %. Angesichts dieser Steuersätze ist es nicht verwunderlich, dass die Frage nach dem
Gegenstand des Erwerbsvorgangs, die letztlich die Höhe
der Bemessungsgrundlage bestimmt, im Einzelfall sehr
streitig sein kann. Die Rechtsprechung zum einheitlichen
Erwerbsgegenstand im Grunderwerbsteuerrecht will die
Fälle erfassen, bei denen der Erwerber ein unbebautes
Grundstück in dem Zustand erwirbt, in den es erst noch
durch die Bebauung gebracht werden soll. In einem solchen Fall sind die Bauerrichtungskosten in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen, weil nicht das unbebaute
Grundstück, sondern das bebaute Grundstück Gegenstand
des Erwerbs ist. Der Fall ist mit dem vergleichbar, in dem
der Erwerber ein bereits bebautes Grundstück erwirbt. Dies
verkennen die Kritiker dieser Rechtsprechung, die stets
den Vergleich zum Bauherrn anstellen, der zuvor ein unbebautes Grundstück erworben hat.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
NOVEMBER
2015
GmbH ein Einfamilienhaus mit Garage als Rohbau nach
Maßgabe der als Anlage zum Vertrag genommenen Baubeschreibung und Pläne zu errichten hatte. Der Preis für
das Grundstück einschließlich der Baumaßnahmen und
Nebenkosten betrug 524.850 €. Den weiteren Ausbau bis
zur Bezugsfertigstellung einschließlich Außenanlagen sollte die Klägerin nach dem Vertrag in eigener Regie, in eigenem Namen und auf eigene Rechnung durchführen. Der
Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt – FA) setzte die Grunderwerbsteuer gegen die Klägerin zunächst auf
der Grundlage des Kaufpreises von 524.850 € auf 18.369 €
fest.
Mit dem Ausbau des Gebäudes beauftragte die Klägerin
den Baubetreuer, mit dem bereits die GmbH zusammengearbeitet hatte. Diesem oblagen u.a. die Vergabe und die
Objektüberwachung für die weiteren Gewerke bis hin zur
Bezugsfertigkeit. Das FA vertrat die Ansicht, das wirtschaftlich gewollte Ergebnis des Erwerbs sei das bezugsfertige Haus gewesen, und setzte die Grunderwerbsteuer
auf 24.669 € herauf. Es schätzte dabei die zusätzlich angefallenen Baukosten auf 180.000 €.
Das Finanzgericht (FG) wies die auf Aufhebung des Änderungsbescheids gerichtete Klage unter Hinweis auf
Kenntnisse aus anderen Verfahren mit der Begründung
ab, Gegenstand des Erwerbs der Klägerin sei das Grundstück mit dem bezugsfertigen Gebäude gewesen. Die
Klägerin habe aufgrund des tatsächlichen Zusammenwirkens zwischen der GmbH und dem Bauleiter, der der Klägerin die Handwerker für den Innenausbau empfohlen
und diese überwacht habe, ein bezugsfertiges Gebäude
erhalten.
Nach Ansicht des BFH ist die Revision begründet, da die
vom FG getroffenen Feststellungen nicht die Entscheidung,
wonach die Ausbaukosten in die Bemessungsgrundlage
der Grunderwerbsteuer einzubeziehen sind, tragen. Die
Vorentscheidung wurde daher aufgehoben und die Sache
zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückgewiesen. Dafür, dass auch die Ausbaukosten in die Bemessungsgrundlage der Grunderwerbsteuer einzubeziehen
sind, fehlten nach Ansicht des BFH ausreichende Feststellungen des FG. Aus dem bislang feststehenden Sachverhalt
ergibt sich nicht, dass die Klägerin vor Abschluss des
Grundstückskaufvertrags von der Veräußererseite die zur
Herstellung des Gebäudes erforderlichen Ausbaugewerke
konkret und zu im Wesentlichen feststehenden Preisen angeboten erhalten hatte und sie die diesbezüglichen Angebote später unverändert oder mit geringen Abweichungen
angenommen hat.
Im Streitfall erwarb die Klägerin und Revisionsklägerin
(Klägerin) von einer GmbH ein Grundstück, auf dem die
431
Die Monatszeitschrift
C. Kontext der Entscheidung
Ausgangspunkt der Entscheidung ist die Frage nach dem
Gegenstand des Erwerbsvorgangs, nach dem sich gemäß
§ 8 Abs. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG die als Bemessungsgrundlage der Grunderwerbsteuer anzusetzende Gegenleistung richtet. Dieser Gegenstand des Erwerbsvorgangs wird in aller Regel durch das zivilrechtliche Verpflichtungsgeschäft, das den Steuertatbestand des § 1
Abs. 1 Nr. 1 GrEStG erfüllt, bestimmt. Ergibt sich aus weiteren Vereinbarungen, die mit diesem Rechtsgeschäft in
einem rechtlichen oder zumindest objektiv sachlichen Zusammenhang stehen, dass der Erwerber das beim Abschluss des Kaufvertrags unbebaute Grundstück in bebautem Zustand erhält, bezieht sich der grunderwerbsteuerrechtliche Erwerbsvorgang auf diesen einheitlichen
Erwerbsgegenstand.1 Im Streitfall war im Kaufvertrag eindeutig bestimmt, dass die Klägerin nicht nur das unbebaute Grundstück erwirbt, sondern das Grundstück mit dem
noch zu errichtenden Rohbau. Insoweit bestand auch zwischen den Beteiligten kein Streit darüber, die Rohbauerrichtungskosten in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen.
Ob ein objektiv sachlicher Zusammenhang zwischen dem
Grundstückskaufvertrag und weiteren Vereinbarungen besteht, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu ermitteln.
Der objektiv sachliche Zusammenhang wird indiziert,
wenn der Veräußerer selbst oder mit ihm verbundene Dritte auf den Abschluss der Verträge, die der Bebauung des
Grundstücks dienen, hinwirken, dem Erwerber vor Abschluss des Kaufvertrags über das Grundstück aufgrund
einer in bautechnischer und finanzieller Hinsicht konkreten
Vorplanung ein bestimmtes Gebäude oder bestimmte Bauleistungen zusammen mit dem Grundstück zu einem im
Wesentlichen feststehenden Preis angeboten hatten und
der Erwerber dieses Angebot später unverändert oder mit
geringen Abweichungen angenommen hat.2 Nicht erforderlich ist es, dass das Angebot in einem Schriftstück und
zu einem einheitlichen Gesamtpreis unterbreitet wurde.
Diese Grundsätze hat der BFH in vielen Entscheidungen
ausgearbeitet. Die Rechtsprechung verstößt weder gegen
Verfassungs- noch gegen Unionsrecht.3 Sie steht auch
nicht in Divergenz zu der Rechtsprechung des für die Umsatzsteuer zuständigen V. Senats des BFH. Dieser geht für
Zwecke der Umsatzsteuer unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls von einer einheitlichen Leistung aus und
sieht die Umsatzsteuer durch die grunderwerbsteuerrechtliche Beurteilung des Leistungsgegenstandes nicht betroffen.4 Nach § 4 Nr. 9 lit. a UStG sind zwar Umsätze umsatzsteuerfrei, die unter das GrEStG fallen. Die Vorschrift behandelt jedoch nur die Frage, unter welchen Voraussetzun-
432
gen steuerbare Umsätze von der Umsatzsteuer befreit
sind. Sie grenzt somit umsatzsteuerpflichtige von umsatzsteuerfreien Vorgängen ab, enthält jedoch kein Gesetzesgebot, ob und inwieweit in bestimmten Fällen Grunderwerbsteuer zu erheben ist. Ob ein Vorgang grunderwerbsteuerpflichtig ist, entscheidet sich allein nach den Regeln
des GrEStG.5
Der Streitfall knüpft nahtlos an die bestehende Rechtsprechung an. Ob die Ausbaukosten in die Bemessungsgrundlage der Grunderwerbsteuer einzubeziehen sind, richtet
sich danach, ob die vom Erwerber mit dem Ausbau beauftragten Unternehmen bereits beim Abschluss des Grundstückskaufvertrags zur Veräußererseite gehörten und dem
Erwerber vor diesem Zeitpunkt die Ausbauarbeiten konkret
benannt und zu einem im Wesentlichen feststehenden
Preis angeboten hatten und der Erwerber dieses Angebot
später unverändert oder mit geringen Abweichungen angenommen hat. Nicht erforderlich ist indes, dass die mit
dem Ausbau beauftragten Unternehmen selbst die Angebote dem Erwerber unterbreitet hatten. Es genügt, wenn
der Grundstücksverkäufer die Angebote eingeholt und vor
dem Abschluss des Grundstückskaufvertrags unter Benennung der einzelnen Unternehmen an den Erwerber weitergeleitet hat. Die Feststellungslast (objektive Beweislast)
für die Tatsachen, die die Einbeziehung der Bau- bzw. Ausbaukosten in die Bemessungsgrundlage der Grunderwerbsteuer rechtfertigen, trägt das Finanzamt, das sich auf deren Vorliegen beruft. Im Streitfall hatte das FG die dafür
erforderlichen Feststellungen noch nicht getroffen.
D. Auswirkungen für die Praxis
Die Besprechungsentscheidung zeigt einmal mehr die Tücken der Grunderwerbsteuer im Zusammenhang mit dem
1
2
3
4
5
Ständige Rechtsprechung; vgl. auch jüngerer Zeit: BFH, Urt. v.
28.03.2012 - II R 57/10 - BFHE, 237, 460 = BStBl II 2012, 920; BFH,
Urt. v. 27.09.2012 - II R 7/12 - BFHE, 239, 154 = BStBl II 2013, 86;
BFH, Urt. v. 19.06.2013 - II R 3/12 - BFHE, 242, 173 = BStBl II 2013,
965; BFH, Urt. v. 27.11.2013 - II R 56/12 - BFHE, 243, 415 = BStBl II
2014, 534; BFH, Urt. v. 01.10.2014 - II R 32/13 - BFH/NV 2015, 230,
Rn. 11; BFH, Urt. v. 04.12.2014 - II R 22/13 - BFH/NV 2015, 521,
Rn. 9.
BFH, Urt. v. 01.10.2014 - II R 32/13 - BFH/NV 2015, 230, Rn. 12,
m.w.N.
BVerfG, Beschl. v. 27.12.1991 - 2 BvR 72/90 - BStBl II 1992, 212;
BVerfG, Beschl. v. 20.05.2013 - 1 BvR 2766/12 (Nichtannahme);
EuGH, Beschl. v. 15.04.2008 - C-156/08 - EU:C:2008:663.
BFH, Urt. v. 24.01.2008 - V R 42/05 - BFHE 221, 316 = BStBl II 2008,
697; BFH, Urt. v. 19.03.2009 - V R 50/07 - BFHE 225, 224 = BStBl II
2010, 78.
BFH, Urt. v. 27.09.2012 - II R 7/12 - BFHE, 239, 154 = BStBl II 2013,
86.
JM 11 |
einheitlichen Erwerbsgegenstand. Der BFH hat seine
Rechtsprechung nicht etwa ausgeweitet, sondern konsequent auch auf die Fälle angewandt, in denen die Bauleistungen von einer Vielzahl von Handwerkern erbracht
werden. In diesen Fällen kann – nicht muss – ein einheitlicher Erwerbsvorgang gegeben sein. In der Praxis wird das
einheitliche Angebot bei einer Vielzahl von Handwerkern
indes kaum nachzuweisen sein. Nur in Ausnahmefällen
wird man annehmen dürfen, dass Handwerker, die nicht
gesellschaftsrechtlich oder familiär miteinander verbunden
sind, in einer Weise zusammenwirken, dass dem Erwerber
die Leistungen einheitlich angeboten werden. Je mehr Anbieter auf der Veräußererseite daran mitwirken, dass der
Erwerber ein bebautes Grundstück erwirbt, desto schwerer
wird dem Finanzamt dieser Nachweis gelingen.
Zugriff auf Kassendaten eines Einzelhändlers
BFH, Urt. v. 16.12.2014 - X R 42/13
VRiBFH Silvia Schuster
A. Problemstellung
1966 (Streitjahr 1956) hatte der BFH entschieden, aus den
Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ergebe sich
für Einzelhandelsunternehmer, die im Allgemeinen Waren
an ihnen der Person nach nicht bekannte Kunden über den
Ladentisch gegen Barzahlung verkaufen, in der Regel nicht
die Verpflichtung, die baren Betriebseinnahmen einzeln
aufzuzeichnen.1 Es sei technisch, betriebswirtschaftlich
und praktisch unmöglich, an die Aufzeichnung der einzelnen zahlreichen baren Kassenvorgänge in Einzelhandelsgeschäften gleiche Anforderungen wie bei anderen Handelsgeschäften zu stellen, nämlich zur Identifizierung und
zur Bestimmung des Inhalts des Geschäfts Namen und Anschrift des Kunden und den Gegenstand des Kaufvertrages
festzuhalten.
§ 147 Abs. 6 Satz 2 AO räumt der Finanzbehörde im Rahmen einer Außenprüfung u.a. die Möglichkeit ein, vom
Steuerpflichtigen die gespeicherten Daten auf einem maschinell verwertbaren Datenträger zu verlangen. Dies gilt
jedoch nur, wenn der Steuerpflichtige die gespeicherten
Daten nach § 147 Abs. 1 AO aufbewahren muss. Der sachliche Umfang der Aufbewahrungspflicht wird wiederum
grundsätzlich begrenzt durch die Reichweite der zugrunde
liegenden Aufzeichnungspflicht.2
Im Streitfall hatte sich die Klägerin, eine Apothekerin, darauf berufen, als Einzelhändlerin müsse sie ihre baren Be-
NOVEMBER
2015
triebseinnahmen nicht einzeln aufzeichnen, folglich auch
nicht aufbewahren und deshalb die gespeicherten Daten
nicht auf einem maschinell verwertbaren Datenträger an
die Finanzbehörde herausgeben.
Im Mittelpunkt der Entscheidung stand somit die Frage,
welche Aufzeichnungspflichten einen Einzelhändler treffen, der seine Einnahmen durch eine PC-Registrierkasse erfasst.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin, eine Apothekerin, war buchführungspflichtig
nach § 238 Abs. 1 Satz 1 HGB. Sie verwendete in den
Streitjahren ein speziell für Apotheken entwickeltes PC-gestütztes Erlöserfassungssystem mit integrierter Warenwirtschaftsverwaltung. Über modulare PC-Registrierkassen
wurden die Tageseinnahmen erfasst, anschließend durch
Tagesendsummenbons (Z-Bons) ausgewertet und als Summe in ein manuell geführtes Kassenbuch eingetragen. Bei
einer Außenprüfung verweigerte die Klägerin der Finanzbehörde den Datenzugriff auf ihre baren Warenverkäufe
mit der Begründung, sie sei nicht zu Einzelaufzeichnungen
verpflichtet.
Im Gegensatz zum Finanzgericht kam der BFH zu dem Ergebnis, die Klägerin sei zur Aufzeichnung der einzelnen
Geschäftsvorfälle einschließlich der Kassenvorgänge verpflichtet gewesen und müsse deshalb die Daten aufbewahren und der Finanzbehörde in elektronisch verwertbarer Form überlassen. § 238 Abs. 1 Satz 1 HBG verpflichte
jeden Kaufmann, Bücher zu führen und in diesen seine
Handelsgeschäfte und die Lage seines Vermögens nach
den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (GoB) ersichtlich zu machen. § 140 AO transformiere die handelsrechtlichen Pflichten in solche des Steuerrechts. Ein sachverständiger Dritter müsse aus der Buchführung innerhalb
angemessener Zeit die Geschäftsvorfälle und die Lage des
Unternehmens ersehen können. Die Entstehung und Abwicklung der Geschäftsvorfälle müsse sich verfolgen lassen. Die Aufzeichnungen müssten vollständig, richtig, zeitgerecht und geordnet vorgenommen werden. Deshalb
müsse grds. jedes einzelne Handelsgeschäft einschließlich
der darauf beruhenden Kassenvorgänge einzeln aufgezeichnet werden. Zusammengefasste oder verdichtete
Buchungen müssten in Einzelpositionen aufgegliedert werden können. Der Geschäftsvorfall, der nach den GoB aufgezeichnet werden müsse, sei nicht nur die Tageslosung.
1
2
BFH, Urt. v. 12.05.1966 - IV 472/60.
BFH, Urt. v. 24.06.2009 - VIII R 80/06.
433
Die Monatszeitschrift
Dass die Betriebseinnahmen bar geleistet würden, entbinde den Einzelhändler nicht von seiner Verpflichtung, die
einzelnen Geschäftsvorfälle getrennt aufzuzeichnen, wenn
ihm dies zumutbar sei. Verwende er ein modernes PC-Kassensystem, das alle Kassenvorgänge einzeln und detailliert
aufzeichne sowie die Einzelaufzeichnungen speichere, könne er sich nicht auf die Unzumutbarkeit der Aufzeichnungspflicht berufen, auch wenn er in der Wahl seines
Aufzeichnungsmittels grundsätzlich frei sei.
Durch § 145 AO werde die Geltung der GoB im Steuerrecht
nicht eingeschränkt und die §§ 143, 144 AO stünden einer
Einzelaufzeichnungspflicht für Einzelhändler nicht von
vornherein entgegen.
Der Senat weiche nicht vom Urteil des IV. Senats des BFH3
aus dem Jahr 1966 ab. Angesichts der veränderten technischen Möglichkeiten sei die damalige Fallkonstellation
nicht mit dem mehr als 50 Jahre später liegenden Streitfall
vergleichbar.
Eine Verpflichtung nur zur Aufbewahrung und Speicherung
von Tagesendsummenbons (Z-Bons) lasse sich auch nicht
aus der Verwaltungsauffassung4 herleiten. Zweck von
norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften sei, die
gleichmäßige Auslegung und Anwendung des Rechts zu
sichern. Sie könnten regelmäßig aber weder eine einer
Rechtsnorm vergleichbare Bindung aller Rechtsanwender
noch eine Bindung nach dem Grundsatz von Treu und
Glauben herbeiführen. Eine von den Gerichten zu beachtende Selbstbindung der Verwaltung bestehe lediglich ausnahmsweise im Bereich des Ermessens, der Billigkeit (z.B.
bei Änderung der Rechtsprechung) und der Typisierung
oder Pauschalierung.5 Um einen solchen Fall handele es
sich bei der Gewährung von Aufbewahrungserleichterungen für Kassengrundaufzeichnungen nicht.
C. Auswirkungen für die Praxis
Mit der Entscheidung hat der BFH klargestellt, dass Steuerpflichtige, die ein PC-gestütztes Erlöserfassungssystem mit
integrierter Warenwirtschaftsverwaltung nutzen, also betriebsintern die einzelnen Barumsätze aufzeichnen, sämtliche Daten aufbewahren und diese dem Finanzamt auf
einem maschinell verwertbaren Datenträger zur Prüfung
zur Verfügung stellen müssen. Damit ist ebenfalls geklärt,
dass Steuerpflichtige, die keine PC-Kasse nutzen, auch
434
künftig nicht die Daten der Einzelumsätze aufbewahren
und diese der Finanzbehörde zur Verfügung stellen müssen. Dem Kiosk „um die Ecke“ ist auch weiterhin die Erfassung aller Einzelumsätze nicht zumutbar.
Die Entscheidung hat nicht zur Folge, dass Einzelhändler,
die PC-Kassen verwenden, künftig jede Bareinnahme einzeln verbuchen müssen. Ausreichend ist auch weiterhin
die Verbuchung der zusammengefassten Tageslosung.
Wichtig aber ist, dass diese sich auf die einzeln erfassten
Verkäufe zurückführen lässt und – ggf. unter Zuhilfenahme
des Warenwirtschaftssystems – nachweisbar ist.
Bei den mit Hilfe einer PC-Kasse einzeln aufgezeichneten
Bareinnahmen (Umsätze/Warenverkäufe) handelt es sich
um Grundaufzeichnungen i.S.d. § 147 Abs. 1 Nr. 1 AO und
nicht um „freiwillige“ Aufzeichnungen, auch wenn eine
PC-Kasse regelmäßig wohl primär aus betriebswirtschaftlichen Gründen angeschafft wird.
Dem Datenzugriff unterfallen grundsätzlich auch die Daten
aus vorgeschalteten Systemen oder Nebensystemen. Dies
ist jedenfalls dann der Fall, wenn die in einem Vorsystem
– wie einem Kassensystem – erzeugten (steuerrelevanten
und aufbewahrungspflichtigen) Daten in verdichteter Form
in das eigentliche Buchführungssystem übergeben werden.
Soweit in der Datei nicht steuerrelevante Daten gespeichert sind, obliegt es dem Steuerpflichtigen, diese zu selektieren (sog. Erstqualifikationsrecht6). Sind beispielsweise in der Datei patientenbezogene Daten abgelegt, deren
Herausgabe nach § 102 Abs. 1 Nr. 3 lit. c AO verweigert
werden darf7, kann der Einzelhändler diese aus der Datei
entfernen. Ist dies nicht möglich, kann er den Zugriff auf
die Datei mit den Kasseneinzeldaten nicht verweigern. Der
Steuerpflichtige trägt die Verantwortung und damit auch
das Risiko, wenn er steuerrelevante und nicht steuerrelevante Daten ununterscheidbar vermengt.
3
4
5
6
7
BFH, Urt. v. 12.05.1966 - IV 472/60.
BMF-Schreiben v. 09.01.1996 - IV A 8-S 0310-5/95.
BFH, Urt. v. 26.04.1995 - XI R 81/93 und v. 07.12.2005 - I R 123/04.
BMF-Schreiben v. 14.11.2014 - IV A 4-S 0316/13/10003, Rn. 160 f.
BFH, Urt. v. 28.10.2009 - VIII R 78/05, unter II.4.g dd für einen
Rechtsanwalt/Steuerberater als Berufsgeheimnisträger.
JM 11 |
NOVEMBER
2015
Strafrecht
Der Vertrieb von Adolf Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf“.
Urheber- und strafrechtliche Aspekte
Prof. Dr. Hannes Ludyga
A. Einleitung: „Mein Kampf“
Das Buch „Mein Kampf“ war die „zentrale Programmschrift der nationalsozialistischen Weltanschauung“1 und
ein „ideologisches Grundkonzept“2 Adolf Hitlers. Band 1
des Werks erschien 1925 und Band 2 1926;3 der Verlag
„Franz Eher Nachf.-GmbH“ – der „Zentralverlag der
NSDAP“4 – in München Schwabing verlegte es. Etwa zehn
Millionen Exemplare der Schrift, in deren Mittelpunkt eine
rassenantisemitische Hetze steht, wurden bis 1945 vertrieben. Der erste Band des Buchs enthält manipulierte und
verklärte autobiographische Ausführungen von Hitler, der
zweite Teil eine verfälschte Geschichte der NSDAP. Band 1
der Schrift entstand während Hitlers Zeit in der „Festungshaft“ in Landsberg am Lech, den zweiten Band schrieb Hitler nach seiner Haftentlassung. Beide Bände wurden ab
1930 gemeinsam in einem Buch gedruckt.5 Im Folgenden
wird der Frage nachgegangen, ob und wie einem Vertrieb
dieser Schrift in inhaltlich unveränderter Form in Gegenwart und Zukunft entgegengetreten werden kann. Diese
rechtliche Frage weist eine große Relevanz in aktuellen tagespolitischen Diskussionen auf. So stellte die SPD-Bundestagsfraktion im Februar 2013 eine kleine Anfrage an
die Bundesregierung, „wie mit antisemitischem und rassistischem Propagandamaterial, wie Hitlers ‚Mein Kampf‘, im
Hinblick auf einen ggf. inhaltlich unveränderten Nachdruck
umzugehen ist, bzw. ob es angesichts der menschenverachtenden Ideologie dieses Dokuments geboten erscheint,
eine unveränderte Veröffentlichung, d.h. insbesondere propagandistisch motivierte Versionen, gesetzlich zu unterbinden“.6 Die Frage, ob der Freistaat Bayern eine vom Münchener Institut für Zeitgeschichte erarbeitete kritische Ausgabe von „Mein Kampf“ besonders finanziell fördern soll,
war wiederholt und jüngst im Mai 2015 Gegenstand von
Diskussionen im bayerischen Landtag sowie in Tages- und
Fachzeitschriften.7
entstehenden urheberrechtlichen Schutz, da das Urheberrecht prinzipiell keinen moralischen Wertungen unterliegt
und von Gesetzes- oder Sittenverstößen grundsätzlich
unabhängig ist.8 Inhaber des Urheberrechts an „Mein
Kampf“ ist der Freistaat Bayern, ohne Erbe Hitlers zu sein.9
Zwar ist das Urheberrecht gemäß § 28 UrhG vererblich
und das Urheberrecht an „Mein Kampf“ gehörte zum
Nachlass Hitlers, der 1948 gemäß Artikel 35 des Gesetzes
Nr. 104 zur „Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ (Befreiungsgesetz) vom 05.03.194610 zugunsten des Freistaats Bayern vollständig eingezogen wurde.
Diese Einziehung erfolgte aber unabhängig von der gesetzlichen Erbfolge oder einer letztwilligen Verfügung von
Todes wegen11, auch wenn gemäß § 29 UrhG das Urhe-
1
2
3
4
5
6
7
B. Urheberrecht
8
I. Vervielfältigungs- und Verbreitungsverbot
9
Gegenwärtig ist das Urheberrecht das bedeutendste Instrument gegen eine Vervielfältigung (§ 16 UrhG) und Verbreitung (§ 17 UrhG) von „Mein Kampf“. Auch die Hetzschriften von NS-Ideologen genießen einen kraft Gesetzes
10
11
Jäckel/Latzin, Hitler, Adolf: Mein Kampf, 1925/26. In: Historisches
Lexikon Bayer, www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_
44547; Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft,
1983.
Bauer, Nationalsozialismus, 2008, S. 106.
Hitler, Mein Kampf, 2 Bde., 1925/26.
Heldrich in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris zum 70. Geburtstag, Bd. 2, 2007, S. 645-654, hier S. 652; Seul, MR-Int 2014, 131139, hier 134; LG München I, Urt. v. 25.03.2009 - 21 O 1425/09: Der
Alliierte Kontrollrat löste den Verlag Franz Eher Nachf.-GmbH nach
dem 2. Weltkrieg auf und übertrug 1951 alle Verlagsrechte des Verlags auf den Freistaat Bayern. Der Freistaat Bayern ist als Rechtsnachfolger des Franz Eher Nachf. Verlags Inhaber der Verlagsrechte
an „Mein Kampf“.
Bauer, Nationalsozialismus, 2008, S. 106-107; Large, Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung, München
1998, S. 205-249, 252-253; Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, 2008, S. 35.
BT-Drs. 17/12426.
www.sueddeutsche.de/bayern/auslaufen-des-urheberrechts-landtagstreitet-um-hitlers-mein-kampf-1.2467580; www.focus.de/wissen/
mensch/geschichte/nationalsozialismus/mein-kampf-kommentierteausgabe-soll-im-januar-2016-erscheinen_id_4489573.html.
BGH, Urt. v. 23.02.1995 - I ZR 68/93; Bogedain, ZUM 2015, 205,
208.
Sebastian/Briske, AfP 2013, 101.
Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1946, 145.
OLG München, Urt. v. 14.06.2012 - 29 U 1204/12; LG München I,
Urt. v. 08.03.2012 - 7 O 1535/12; Heldrich in: Festschrift für ClausWilhelm Canaris zum 70. Geburtstag, Bd. 2, 2007, S. 648; Sebastian/
Briske, AfP 2013, 101; Seul, MR-Int 2014, 134.
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Die Monatszeitschrift
berrecht nicht übertragbar ist, es sei denn, es wird in Erfüllung einer Verfügung von Todes wegen übertragen. Artikel 35 des Befreiungsgesetzes ermöglichte entgegen
§ 29 UrhG eine solche Einziehung. Zuständig für die Verwaltung und Verwertung des Nachlasses Hitlers war zunächst das bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung. Gegenwärtig ist eine Zuständigkeit des Bayerischen Staatsministeriums der
Finanzen gegeben.12
C. Strafrecht
Der Rechtsnachfolger des Urhebers hat gemäß § 30 UrhG
die dem Urheber nach dem Urheberrechtsgesetz zustehenden Rechte, soweit nichts anderes bestimmt ist. Der Freistaat Bayern rückte damit in die Rechtsstellung von Hitler
als Urheber von „Mein Kampf“ ein, ohne aber Urheber
dieser Schrift zu sein.13 Von § 30 UrhG ausgehend verwendet der Freistaat Bayern aufgrund seiner „negativen Veröffentlichungsfreiheit“14 das Urheberrecht „als Instrument
der Unterdrückung von Inhalten“15 von „Mein Kampf“
durch Verbreitungen, Vervielfältigungen oder sonstigen
Veröffentlichungen im In- und Ausland.16 Anerkanntermaßen beinhalten die urheberrechtlichen Verwertungsrechte
die Möglichkeit, „von der Verwertung des Werks abzusehen“.17 Es existiert im Übrigen keine Grundentscheidung
des Gesetzgebers, die Verbreitung von NS-Ideologie nur
über das Strafrecht zu verhindern.18 Dem Freistaat Bayern
steht bei der Vervielfältigung und Verbreitung von „Mein
Kampf“ durch Dritte ein Unterlassungsanspruch gemäß
§ 97 Abs. 1 UrhG oder ein Schadensersatzanspruch aus
§ 97 Abs. 2 UrhG zu.19 Vollständig verhindern kann der
Freistaat Bayern den Vertrieb des Buchs nicht, da es bereits veröffentlicht ist. Es ist erlaubt, „einzelne alte Stücke“ von „Mein Kampf“ in Antiquariaten zu verbreiten
und zu erwerben.20
II. Strafgesetzbuch
II. Ende des Urheberrechts
12
Das Urheberrecht erlischt gemäß § 64 UrhG siebzig Jahre
nach dem Tod des Urhebers. Die Frist beginnt gemäß § 69
UrhG mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem das für
den Beginn der Frist maßgebende Ereignis eingetreten ist.
Hitler verstarb 1945. Das Urheberrecht an „Mein Kampf“
erlischt demnach 70 Jahre nach dem Tod von Hitler mit
Ablauf des 31.12.2015. Ab dem 01.01.2016 ist das Werk
gemeinfrei. Da das Urheberrecht erlischt, kann eine freie
Verwertung von „Mein Kampf“ ab 2016 erfolgen. Jedem
ist es ab 2016 gestattet, „Mein Kampf“ zu vervielfältigen
und zu verbreiten.21 Für die Bundesrepublik Deutschland
gibt es keinen Handlungsspielraum, die urheberrechtliche
Schutzfrist im Allgemeinen zu verlängern, da diese Frist
nach europarechtlichen Vorgaben einheitlich 70 Jahre in
der Europäischen Union beträgt.22
I. Strafvorschriften im UrhG
Keinen Schutz hinsichtlich einer Vervielfältigung und Verbreitung von „Mein Kampf“ bieten ab dem 01.01.2016
die urheberrechtlichen Strafvorschriften. Diese Bestimmungen finden ab Januar 2016 keine Anwendung hinsichtlich
„Mein Kampf“, da die Normen nach dem Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfrist nicht greifen.23
1. § 86 StGB: Verbreiten von Propagandamitteln
verfassungswidriger Organisationen
§ 86 Abs. 1, 2 StGB verbietet Propagandamittel, deren Inhalt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung
oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist,
zu verbreiten, herzustellen, vorrätig zu halten, einzuführen, auszuführen oder öffentlich zugänglich zu machen.
§ 86 StGB findet bei „Mein Kampf“ keine Anwendung, da
die Norm – so zumindest die wohl h.M. im Strafrecht –
nur Schriften erfasst, die nach Inkrafttreten des Grundgesetzes verfasst wurden.24 Der BGH negiert die Anwendbarkeit von § 86 StGB hinsichtlich „Mein Kampf“, da es
sich „um eine vorkonstitutionelle Schrift handelt, aus deren unverändertem Inhalt sich eine Zielrichtung gegen die
in der Bundesrepublik Deutschland erst später verwirklichte freiheitliche demokratische Ordnung noch nicht ergeben
konnte“.25
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Sebastian/Briske, AfP 2013, 101; Heldrich in: Festschrift für ClausWilhelm Canaris zum 70. Geburtstag, Bd. 2, 2007, S. 647.
Dreier/Schulze, UrhG, § 30 UrhG, 4. Aufl. 2013, Rn. 1, 8.
Elmenhorst, GRUR-Prax 2012, 383.
Peifer, jurisPR-WettbR 11/2012 Anm. 2; Seul, MR-Int 2014, 134.
Seul, MR-Int 2014, 131, 134; DER SPIEGEL 11.12.2013.
OLG München, Urt. v. 14.06.2012 - 29 U 1204/12. Das Urheberrechtsgesetz gehört zu den allgemeinen Gesetzen gemäß Art. 5
Abs. 2 GG, die die Meinungs- und Informationsfreiheit nach Art. 5
Abs. 1 GG einschränken.
OLG München, Urt. v. 14.06.2012 - 29 U 1204/12.
OLG München, Urt. v. 14.06.2012 - 29 U 1204/12; Bogedain, ZUM
2015, 205, 209.
BGH, Urt. v. 25.07.1979 - 3 StR 182/79 (S); Peifer, jurisPR-WettbR
11/2012 Anm. 2; Seul, MR-Int 2014, 135.
Sebastian/Briske, AfP 2013, 101, 104. Seul, MR-Int 2014, 131; Peifer,
jurisPR-WettbR 11/2012 Anm. 2; Seul, MR-Int 2014, 138.
BT-Drs. 17/12660.
Sebastian/Briske, AfP 2013, 101, 104.
Sebastian/Briske, AfP 2013, 101, 105 f., m.w.N.
BGH, Urt. v. 27.07.1979 - 3 StR 182/79 (S) Rn. 6.
JM 11 |
2. § 130 StGB: Volksverhetzung
a) Verwirklichung des Tatbestands
Bei einer Vervielfältigung und Verbreitung von „Mein
Kampf“ kommt die Erfüllung des Tatbestands der Volksverhetzung gemäß § 130 StGB in Betracht. Gemäß § 130
Abs. 2 StGB wird bestraft, wer 1. eine Schrift verbreitet
oder der Öffentlichkeit zugänglich macht oder einer Person
unter achtzehn Jahren eine Schrift anbietet, überlässt oder
zugänglich macht, die a) zum Hass gegen eine in § 130
Abs. 1 Nr. 1 StGB bezeichnete Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer in Absatz 1 Nummer 1 bezeichneten
Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung aufstachelt,
b) zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen in Buchstabe a genannte Personen oder Personenmehrheiten auffordert oder c) die Menschenwürde von in Buchstabe a
genannten Personen oder Personenmehrheiten dadurch
angreift, dass diese beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden. Angriffsobjekte in § 130
Abs. 1 StGB sind „nationale, rassische, religiöse oder
durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppen“, Bevölkerungsteile und Einzelpersonen. Juden sind als Bevölkerungsteil sowie eine durch die religiöse Herkunft bestimmte Gruppe Angriffsobjekte i.S.v. § 130 StGB.26 Anders als
§ 86 StGB erfasst § 130 StGB vorkonstitutionelle Schriften27, da durch die Norm „keine Angriffe auf die formelle
Staatlichkeit sanktioniert“ werden28. Schutzgut von § 130
StGB ist der öffentliche Friede und die Menschenwürde
eines jeden Einzelnen.29 Die deutsche Geschichte im Nationalsozialismus verlangt – so das LG München I – eine besondere Sensibilität30 bei der Interpretation von § 130
StGB. Unter § 130 StGB fallen nach der bisherigen Rechtsprechung Schriften, die Juden, Ausländer oder Minderheiten pauschal diskriminieren und diffamieren.31 Für derartige Pamphlete, die das politische Klima vergiften und den
öffentlichen Frieden stören, besteht nach § 130 StGB ein
absolutes Herstellungs- und Verbreitungsverbot.32 Entscheidend für die Verwirklichung einer Strafbarkeit von
§ 130 StGB ist der objektive Inhalt der Schrift; subjektive
Vorstellungen des Autors müssen mindestens „zwischen
den Zeilen“ erkennbar sein.33
Hitler verwirklicht in „Mein Kampf“ alle Tathandlungen
des § 130 Abs. 2 Nr. 1 StGB.34 Im Sinne eines „gesteigerten Aufreizens bzw. Aufhetzens“35 stachelt er gemäß
§ 130 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 StGB gegen Juden auf. Er erkannte das Judentum nicht als Religionsgemeinschaft an36,
sondern bezeichnete es als „Rasse“37. Hitler behauptete
eine „rassische Minderwertigkeit von Juden gegenüber
den Ariern“, betrachtete Juden als „Parasit im Körper anderer Völker“38 und sah in Juden den „größten Feind“ der
NOVEMBER
2015
Deutschen39. Juden und Tiere setzte er im Rahmen von
Vergleichen auf eine Stufe, indem er Juden als eine „Rotte
von Ratten“ bezeichnete.40 Er wertete Juden ausschließlich
aus rassistischen Motiven diskriminierend herab41 und
schrieb:
„Die Rasse aber liegt nicht in der Sprache, sondern ausschließlich im Blute, etwas, das niemand besser weiß als
der Jude, der gerade auf die Erhaltung seiner Sprache nur
sehr wenig Wert legt, hingegen allen Wert auf die Reinhaltung seines Blutes.“42
Hitler forderte in „Mein Kampf“ zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB gegen
Juden auf, um „Pogrome zu ermöglichen.“43 Direkt und
indirekt verlangte Hitler in „Mein Kampf“ eine physische
Vernichtung von Juden.44 Er verwirklicht den Tatbestand
des § 130 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 3 StGB, da er die Menschenwürde von Juden durch Verleumdungen angreift. Dies gilt
etwa hinsichtlich Hitlers Behauptungen zu einer „jüdischen Weltverschwörung“.45 Er schrieb:
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Schäfer in: MünchKomm StGB, 2. Aufl. 2012, § 130 Rn. 63-65; Bogedain, ZUM 2015, 205, 207; Sebastian/Briske, AfP 2013, 101, 106.
Schäfer in: MünchKomm StGB, 2. Aufl. 2012, § 130 Rn. 68; Schönke/
Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 29. Aufl. 2014, § 130 StGB Rn. 14.
Sebastian/Briske, AfP 2013, 101, 106.
Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Ostendorf, StGB, § 130 StGB Rn. 4.
LG München I, Urt. v. 25.03.2009 - 21 O 1425/09.
Schäfer in: MünchKomm StGB, 2. Aufl. 2012, § 130 Rn. 70, m.w.N.
Sebastian/Briske, AfP 2013, 101, 106.
Schäfer in: MünchKomm StGB, 2. Aufl. 2012, § 130 Rn. 69.
Sebastian/Briske, AfP 2013, 101, 106.
Schäfer in: MünchKomm StGB, 2. Aufl. 2012, § 130 Rn. 70.
Hitler, Mein Kampf, Bd. 1, S. 335.
Hitler, Mein Kampf, Bd. 1, S. 337, Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, S. 424;
Bauer, Nationalsozialismus, 2008, S. 107.
Hitler, Mein Kampf, Bd. 1, S. 334.
Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, S. 424; Bauer, Nationalsozialismus, 2008,
S. 107.
Hitler, Mein Kampf, Bd. 1, S. 330-331.
Hitler, Mein Kampf, Bd. 1, S. 372; Wildt, Geschichte des Nationalsozialismus, 2008, S. 35-36.
Hitler, Mein Kampf, Bd. 1, S. 342.
Lohse in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 2. Aufl. 2014, § 130
StGB Rn. 16; Bauer, Nationalsozialismus, 2008, S. 107; Hitler, Mein
Kampf, Bd. 2, S. 738. Hitler schrieb: „Nicht Fürsten und fürstliche
Mätressen schachern und feilschen um Staatsgrenzen, sondern der
unerbittliche Weltjude kämpft für seine Herrschaft über die Völker.
Kein Volk entfernt diese Faust anders von seiner Gurgel als durch
das Schwert. Nur die gesammelte konzentrierte Stärke einer kraftvoll
sich aufbäumenden nationalen Leidenschaft vermag der internationalen Völkerversklavung zu trotzen. Ein solcher Vorgang ist und
bleibt aber ein blutiger.“
Bogedain, ZUM 2015, 205, 207.
Sebastian/Briske, AfP 2013, 101, 107.
437
Die Monatszeitschrift
„Entsprechend den Schlußzielen des jüdischen Kampfes,
die sich nicht nur in der wirtschaftlichen Eroberung der
Welt erschöpfen, sondern auch deren politische Unterjochung fordern, teilt der Jude die Organisation seiner
marxistischen Weltlehre in zwei Hälften, die, scheinbar
voneinander getrennt, in Wahrheit aber ein untrennbares
Ganzes bilden: in die politische und die gewerkschaftliche
Bewegung.“46
b) Kein Verstoß gegen das Zensurverbot
Vorbehalte und Bedenken gegen eine Strafbarkeit gemäß
§ 130 Abs. 2 StGB werden vereinzelt wegen des grundgesetzlich verankerten Zensurverbots vorgebracht.47 Allerdings steht dem die wohl herrschende Meinung im Verfassungsrecht entgegen, wonach Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG bei
publizierten Äußerungen nicht anzuwenden ist, da dies zu
einer Umgehung und Aushebelung der Schranke gemäß
Art. 5 Abs. 2 GG führen würde.48 Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG
erfasst nur die Vorzensur.49
der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Wissenschaft, der
Forschung oder der Lehre dienen, nicht strafbar.51 Zum
Zwecke der Forschung sollte der Vertrieb nicht kommentierter Neuauflagen von „Mein Kampf“ an Universitäten
möglich sein.52
D. Schluss
Der Freistaat Bayern bemüht sich als Inhaber des Urheberrechts an „Mein Kampf“, den Vertrieb von Hitlers Schrift
„Mein Kampf“ unter Berufung auf das Urheberrecht zu
verhindern.53 Ab dem 01.01.2016 ist „Mein Kampf“ wegen des Ablaufs der urheberrechtlichen Schutzfrist gemeinfrei. Das einzige Mittel der Verhinderung einer Vervielfältigung und Verbreitung von „Mein Kampf“ bleibt ab 2016
das Strafrecht mit dem Tatbestand der Volksverhetzung
gemäß § 130 Abs. 2 StGB.
46
47
c) Wissenschaftliche Ausgaben
Wissenschaftliche Ausgaben mit Kommentaren zu „Mein
Kampf“, die Hitlers Aussagen entgegentreten und über die
NS-Ideologie aufklären50, erfüllen den Tatbestand der
Volksverhetzung gemäß § 130 StGB nicht. Gemäß § 130
Abs. 7 StGB findet in den Fällen des § 130 Abs. 2 StGB die
Sozialadäquanzklausel nach § 86 Abs. 3 StGB entsprechende Anwendung. Demnach sind Tathandlungen, die
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53
Hitler, Mein Kampf, Bd. 1, S. 352.
Elmenhorst, GRUR-Prax 2012, 383.
Bogedain, ZUM 2015, 205, 210; Grabenwarter in: Maunz/Dürig,
Grundgesetz-Kommentar, 73. Ergänzungslieferung 2014, Art. 5 GG
Rn. 118; OLG München, Urt. v. 14.06.2012 - 29 U 1204/12.
Grabenwarter in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 73. Ergänzungslieferung 2014, Art. 5 GG Rn. 116; Sebastian/Briske, AfP 2013,
101, 109.
Sebastian/Briske, AfP 2013, 101, 109.
Bogedain, ZUM 2015, 205, 208; Seitz, NJW 2000, 573.
Bogedain, ZUM 2015, 205, 210.
BT-Drs. 17/12426.
BÜCHERSCHAU
Johannsen/Henrich, Familienrecht –
Scheidung, Unterhalt, Verfahren
6. Aufl. 2015, C.H. Beck Verlag, München,
ISBN 978-3-406-66569-1, 2.432 Seiten, 149 €
RiAG Stefanie Roggatz
Ein gelungener Querschnittkommentar zum Familienrecht
Im C.H. Beck Verlag ist im Januar 2015 die sechste Auflage
des Kommentars „Familienrecht“ erschienen, herausgegeben von Johannsen und Henrich. Die Kommentierung bietet
einen Querschnitt durch das aktuell praxisrelevante Familienrecht, zusammengestellt von einem verjüngten Autorenteam aus Praxis und Wissenschaft. Der Kommentar ist übersichtlich in zwei Abschnitte – materielles Recht (Teil A) und
Verfahrensrecht (Teil B) – eingeteilt, wobei die Kommentatoren zwischen den beiden Bereichen viele Querverweise
bieten, was deren symbiotische Verknüpfung widerspiegelt.
Die meisten Paragraphen werden ausführlich und gut nachvollziehbar kommentiert, Grundlagen und weiterführende
Fragen werden mit der notwendigen Tiefe dargestellt.
Praxisnahe Darstellung des Versorgungsausgleichs
und des Unterhaltsrechts
Im Einzelnen: Der Teil A widmet sich in erster Linie den Bereichen Scheidung, Versorgungsausgleich, nachehelicher
Unterhalt und elterliche Sorge. Besonders gelungen ist die
Bearbeitung des Komplexes Versorgungsausgleich. Herr
Holzwarth stellt dieses den meisten Praktikern nur schwer
zugängliche Rechtsgebiet gut verständlich und mit vielen
Fallbeispielen dar. Etwa bietet er für die praxisrelevanten
Bereiche interne und externe Teilung sowie schuldrechtlicher
Versorgungsausgleich Tenorierungsvorschläge an, was den
Praxisbezug für die Richterschaft noch erhöht. Diese kompakte Darstellung macht so manches einzelne Werk zum
Versorgungsausgleich überflüssig. Der Abschnitt zum Unterhaltsrecht stellt die Standardprobleme zum nachehelichen
Unterhalt und zum Kindesunterhalt unter Einarbeitung der
aktuellen Rechtsprechung und mit zahlreichen Beispielen
sehr gut dar. Etwa der Betreuungsunterhalt und Kindesunterhalt mit der Erarbeitung des bereinigten Nettoeinkommens sind gut strukturiert kommentiert. Aufgrund der zahlreichen Fußnoten dient der Kommentar hier gut als Wegweiser für weitergehende Literatur und die entsprechende
Rechtsprechung. Die einzelnen Unterhaltstatbestände werden gut strukturiert und damit verständlich dargestellt.
Einarbeitung der Reform der elterlichen Sorge
Anlässlich des im Mai 2013 in Kraft getretenen Gesetzes
zur Reform der elterlichen Sorge nicht verheirateter Eltern
sind § 1626a BGB und § 155a FamFG neu bearbeitet wor-
JM 11 |
NOVEMBER
2015
den. Ihr Zusammenspiel wird gut dargestellt. Hervorzuheben sind auch die Kommentierungen zu §§ 1666, 1671
BGB, die dank der verschiedenen Fallkonstellationen sehr
hilfreich sind. Weiterhin hat das Umgangsrecht im Verhältnis zur Vorauflage (2010) eine deutliche Aufwertung erfahren. Genau beleuchtet werden hier der gerichtlich gebilligte Vergleich, die Wohlverhaltensklausel und das Institut
der Umgangspflegschaft.
Gute Verknüpfung von FamFG mit materiellem Recht
Der Teil B widmet sich den Vorschriften des FamFG. Ein
Schwerpunkt wird bei der sehr praxisrelevanten Verfahrenskostenhilfe mit den korrespondierenden Vorschriften
der ZPO gesetzt. Hier gibt es zahlreiche Beispiele zu den
möglichen Abzügen und auch zur Frage der Mutwilligkeit.
Ausführlich wird weiterhin das gesamte Verfahren bei Verbundsachen dargestellt. Beim Abschnitt über die Ehewohnungssachen (§§ 200 ff. FamFG) fällt positiv die Verknüpfung mit dem materiellen Recht auf. Frau Götz verflicht
hier anschaulich das FamFG mit den §§ 1361b, 1568a
BGB und dem GewSchG. Hervorzuheben ist auch der Bereich der Abänderung von Titeln nach §§ 238, 239 FamFG.
Herr Brudermüller stellt die Voraussetzungen für eine Abänderung gut verständlich und ausführlich dar.
Auch Internationales Recht fehlt nicht
Auch das Internationale Recht kommt in beiden Teilen
nicht zu kurz. Das 2011 in Kraft getretene Haager Kinderschutzübereinkommen wird eingehend dargestellt, ebenso
die europäische Unterhaltsverordnung, die seit 2011 die
internationale Zuständigkeit in Unterhaltssachen regelt,
und das Haager Unterhaltsprotokoll, welches das auf Unterhaltsansprüche anwendbare Recht regelt. Ausführlich
werden auch die die internationale Zuständigkeit in Ehesachen regelnde Brüssel II a-VO und die die Frage des anzuwendenden Scheidungsrechts klärende Rom III-VO kommentiert. Was bei diesem Kommentar zum FamFG jedoch
vermisst wird, ist die Einbindung der weiteren Verfahrensbeteiligten wie Jugendamt und Verfahrensbeistände. Ihre
Rolle und ihre Eingriffsmöglichkeiten in den Kindschaftsverfahren werden lediglich am Rande gestreift, was zum
Verständnis des Zusammenwirkens der Verfahrensbeteiligten im FamFG jedoch hilfreich wäre.
Fazit: Der Querschnittkommentar überzeugt mit seiner
fundierten Darstellung in den praxisrelevanten Bereichen
des Familienrechts. Mit seiner Hilfe können sowohl Richterinnen und Richter als auch Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälte substantielle Hilfe zur Problemlösung in
vielen verschiedenen Rechtsgebieten finden. Dieser Kommentar ist ein guter praxisnaher Allrounder, der schnelle
Antworten bietet und ein guter Wegweiser ist für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Familienrecht.
439
Die Monatszeitschrift
Prof. Dr. Sebastian Omlor, LL.M. (NYU),
LL.M. Eur.
Professor an der Philipps-Universität
Marburg
Studium der Rechtswissenschaft an der Universität des Saarlandes und der New York
University; 2009 Promotion; 2013 Habilitation; 2013-2015 Lehrstuhlvertretungen in
Heidelberg und Freiburg; seit Oktober 2015 Professor für Bürgerliches
Recht und Rechtsvergleichung an der Philipps-Universität Marburg.
Über 70 Veröffentlichungen zum Handels-, Gesellschafts-, Wirtschaftsund Europarecht, zur Rechtsvergleichung sowie zum Internationalen
Privatrecht.
Julia Elixmann
Rechtsreferendarin
Erste juristische Prüfung 2013, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg, zunächst am Lehrstuhl
für Zivil- und Wirtschaftsrecht, Medien- und
Informationsrecht bei Prof. Dr. Boris P. Paal,
M.Jur. (Oxford), anschließend am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht,
Handels- und Wirtschaftsrecht bei PD Dr. Sebastian Omlor, LL.M.
(NYU), LL.M. Eur. Seit August 2015 Referendariat am LG Köln.
Prof. Dr. Wolfgang Voit
Professor an der Philipps-Universität
Marburg
Prof. Dr. Wolfgang Voit betreut u.a. die Zusatzqualifikation im privaten Baurecht und
einen LLM-Studiengang zum Baurecht an der
Philipps-Universität Marburg. Daneben ist er
als Schiedsrichter sowie als Gutachter tätig. Mitherausgeber des Kommentars Messerschmidt/Voit, Privates Baurecht, und des Beck´schen
Großkommentars zur VOB/B. 2013 wurde ihm der Deutsche Baurechtspreis verliehen.
Christoph Schmidt
Staatsanwalt
Studium der Rechtswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Im Anschluss Rechtsreferendariat im Bezirk des
OLG Koblenz mit Station u.a. beim BVerfG.
Studium der VWL an der Fernuniversität in
Hagen. Von 2009 bis 2014 Tätigkeit am Lehrstuhl für Öffentliches
Recht, Europarecht, Finanz- und Steuerrecht von Prof. Dr. Hanno
Kube. Seit 2014 Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Kaiserslautern – Zentralstelle f. Wirtschaftsstrafsachen. Lehrbeauftragter an der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
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DIE AUTOREN
Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel
Richterin am Bundesfinanzhof
Auf die Tätigkeit im Bay. StMF und Habilitation folgten eine Professur an der Universität
Heidelberg sowie staats-und steuerrechtliche
Lehrstühle an den Universitäten Jena und
Hamburg. Seit 2005 RiBFH im VIII. und IX. Senat sowie Lehre an der LMU München. Derzeitiger Arbeitsschwerpunkt: Besteuerung der privaten Vermögensverwaltung.
Prof. Dr. Hannes Ludyga M. A.
Professor an der Universität des Saarlandes
Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte, Promotion und Habilitation an der
LMU München. 2009 Promotion über die
Rechtsstellung der Juden in Bayern im 19. Jahrhundert, 2014 Habilitation über Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit. Seit 2014 Inhaber des Lehrstuhls für
Bürgerliches Recht, Immaterialgüterrecht, Deutsche und Europäische
Rechtsgeschichte an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen
Fakultät der Universität des Saarlandes.
IMPRESSUM
Herausgeber: Vors. Richter am BSG Prof. Dr. Thomas Voelzke, Kassel
Richterin am BFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel, München
Vizepräsident des LG Holger Radke, Mannheim
Prof. Dr. Stephan Weth, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Winterhoff, Hamburg
Expertengremium: Vors. Richter am BGH a.D. Wolfgang Ball, Lemberg
Rechtsanwalt Prof. Dr. Guido Britz, Homburg
Vizepräsident des LAG a.D. Dr. Heinz-Jürgen Kalb, Köln
Richter am BVerwG Prof. Dr. Harald Dörig, Leipzig
Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Weiterer aufsichtsführender Richter am AG Dr. Wolfram Viefhues, Oberhausen
Redaktion: Ass. iur. Helene Sobotta, stv. Ass. iur. Sebastian Butschkau
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Handbüchern der führenden Fachverlage der jurisAllianz. Dazu gehören die Verlage Dr. Otto Schmidt,
De Gruyter, Erich Schmidt, C.F. Müller, Verlagsgruppe
Hüthig Jehle Rehm, Stollfuß Medien und der Bundesanzeiger Verlag. Besonderer Vorteil für die Anwender: Alle Informationen werden quellen- und medienübergreifend recherchiert und genutzt.
juris PartnerModule im Fokus
Die aktuelle Portfolio-Anpassung bringt für die Nutzer zusätzliche Vorteile mit sich: Durch die Verschmelzung von Inhalten bisheriger Modulkategorien
mit den juris PartnerModulen konnten sämtliche juris
PartnerModule inhaltlich noch tiefer in den einzelnen
Rechtsgebieten verankert werden. Gleichzeitig wurden im Zuge der Maßnahmen zahlreiche der juris
PartnerModule optimiert und zum Teil erheblich ausgebaut – bis hin zur Konzeption von neuen PartnerModulen premium. Die Spezialisten unter Ihnen werden mit diesen Modulen so umfassend mit Fachinhalten für ihr Rechtsgebiet versorgt, dass die Zubuchung
JM 11 |
NOVEMBER
2015
einzelner Werke nicht mehr notwendig sein wird.
Ihre Recherche und die durchgängige Nutzung verlagsübergreifender Fachinformationen der jurisAllianz
werden damit entscheidend verbessert und beschleunigt.
Neue Rechtsgebiete erweitern die Auswahl
Auch die Produktpalette rund um die juris PartnerModule konnte erweitert werden: Erstmalig sind nun
Informationen der jurisAllianz für das Rechtsgebiet
Betreuungsrecht enthalten, das Baurecht wird folgen.
Der Bereich Zivilrecht wird um zwei neue juris PartnerModule zum Zivil- und Zivilprozessrecht sowie
zum Internationalen Privatrecht ergänzt. Insgesamt
bietet die jurisAllianz nun juristische Fachinformationen für 19 Rechtsgebiete. Allen Juristen – vom Einsteiger bis zum Spezialisten – steht damit eine entsprechend umfassende Ausstattung an Informationen
für den Einsatz in ihrer täglichen Praxis zur Verfügung. Sämtliche Rechtsbereiche sind mit den juris
eigenen Inhalten und den Fachinformationen der Verlagspartner in vollem Umfang abgedeckt.
Das ganze Leistungsangebot im Web-Shop
Ein neuer Web-Shop vereinigt das gesamte Leistungsangebot der jurisAllianz unter einem Dach und unterstützt Interessenten und Kunden bei Recherche und
Auswahl von passenden Informationen.
juris Geschäftsführer Samuel van Oostrom zeigt sich
mit dem Ergebnis der Maßnahmen äußerst zufrieden:
„Mit der Neustrukturierung unseres Produktportfolios
rund um die juris PartnerModule und dem Start eines
eigenen Web-Shops der jurisAllianz positionieren wir
uns als Einheit mit unseren Verlagspartnern. Und für
die Anwender wird deutlich erkennbar, dass wir eine
vollständige Ausstattung an Fachinformationen in
nahezu allen Rechtsgebieten bereitstellen.“
Profitieren Sie vom Einführungspreis! Rechtsprofessionals erhalten 10 % Nachlass auf alle juris PartnerModule im ersten Bezugsjahr (gilt nicht für Steuerrechtsmodule), das Angebot endet am 30.08.2016.
XXXIX
NEUES VON juris
Mehrwert für Juristen: juris Lex
juris Webinare
juris startet innovative Gesetzessammlung
Die Teilnehmer können per Mikrofon und Lautsprecher ihres Computers (VoIP), per Telefon oder mit der
Citrix-App GoToWebinar ein kostenloses juris Webinar belegen: www.juris.de/webinare
Wir haben uns gefragt, ob es gelingen kann, eine Gesetzessammlung zu entwickeln, die aus den Möglichkeiten des digitalen Zeitalters schöpft und zugleich
sämtliche Anforderungen der Juristen in einem Produkt zusammenbringt. Eine Gesetzesbibliothek, die
an kein Medium gebunden ist, die als E-Book und als
tagesaktuelles, gebundenes Buch genutzt werden
kann. Eine Bibliothek, die Bundes-, Landes- und EUGesetze für ein Rechtsgebiet vereint. Unsere Antwort
heißt juris Lex.
Grundlage von juris Lex bilden Gesetzesbibliotheken
aus 11 Rechtsgebieten kombinierbar mit den Gesetzen des Bundes, der Länder und der EU. Für Studierende in den ersten Semestern wurde eine Basisausgabe konzipiert.
Jede juris Lex Gesetzesbibliothek enthält das Bundesrecht sowie das jeweilige Landesrecht und berücksichtigt auch das relevante EU-Recht. Das System
juris Lex schafft zahlreiche individuelle Wahlmöglichkeiten, mit denen Juristen ihre persönliche Gesetzesbibliothek exakt zusammenstellen können. Bei der
Auswahl entscheidet man sich zunächst für das
Rechtsgebiet mit den Gesetzen des Bundes und der
EU, dazu wählt man das Bundesland und erhält die
entsprechenden Ländergesetze dazu.
Der Aktualitätscheck per QR-Code bietet die Sicherheitsgarantie: Anwender der E-Book-Variante können
jederzeit die Aktualität der eigenen Gesetzesbibliothek prüfen und updaten. Sie sehen auf einen Blick,
welche Gesetzesänderungen inzwischen angefallen
sind. Und wer seine persönliche Gesetzesbibliothek
lieber als gedruckte Ausgabe verwendet, kann diese
jederzeit auf dem Stand der tagesaktuellen Datensätze als Print on Demand-Ausgabe im Amazon OnlineShop auf amazon.de beziehen.
Mehr unter: www.juris.de/Lex
Basis I – Einführung in die juris Recherche
12.11.2015,
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10.12.2015,
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Basis II – Personalisierungsfunktionen
19.11.2015,
03.12.2015,
17.12.2015,
14:00 – 15:00 Uhr
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11:00 – 12:00 Uhr
Fortgeschrittenen-Webinare
18.11.2015,
09.12.2015,
14:00 – 15:00 Uhr
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Europarecht-Webinar
08.12.2015,
10:00 – 11:00 Uhr
Informationsforen und Veranstaltungen
Alle Termine Stand Redaktionsschluss. www.juris.de/
veranstaltungen
Informationsforum Münster
03.11.2015,
10:00 – 12:00 Uhr
Informationsforum Düsseldorf
01.12.2015,
10:00 – 12:00 Uhr und
13:30 – 15:30 Uhr
Veranstaltungen
Treffen Sie uns vor Ort, wir freuen uns auf Ihren Besuch! Aktuelle Termine finden Sie auch unter: www.
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Deutscher Arbeitgebertag, Berlin
24.11.2015
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