Bindung und Sorgeauftrag von Eltern dementiell erkrankter behinderter Kinder Die Verbindung zwischen Eltern und ihren Kindern ist die Beziehung, die Grundlage aller weiteren Beziehungen im Leben ist. In ihr werden Muster und Verhaltensweisen ausgebildet, die das menschliche Leben des Kindes und späteren Erwachsenen prägen. In der Eltern-Kind-Beziehung wird Vertrauen gelernt, das nicht ausgebildet wird, wenn die ElternKind-Beziehung im frühen Alter unvollständig bleibt oder scheitert. Nur wer Vertrauen in der ursprünglichen Beziehung erlebt, wird auch später Vertrauen zu anderen aufbauen können oder sich im Misstrauen verzehren (Bowlby 1972; Stuhlmann 2004). Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern besteht, in welcher Form und Intensität auch immer, im weiteren Leben fort. Das gilt auch, wenn das erwachsene Kind zunehmend für sich selbst Verantwortung übernimmt und schließlich das eigene Leben selbst meistert. Dennoch bleibt die Elternrolle bestehen und tritt aber dann wieder in Erscheinung, wenn die Eltern selbst der Hilfe bedürfen. Sollte ein Elternteil demenzerkrankt sein, treten häufig frühere Rollenmuster, wenn auch unter umgekehrten oder veränderten Vorzeichen, wieder auf. Es kommt häufig zu einer Umkehr der Rollenverteilung: Kinder werden zu Eltern und Eltern zu Kindern (mit dem für Kinder bekannten Unterstützungsbedarf). Eltern mit einem umfassend behinderten Kind erfahren die Selbständigkeit ihres Kindes nur eingeschränkt oder gar nicht. Das ist eine große Herausforderung, da die Zeit nicht endet, in der die Eltern ihren Auftrag zu Sorgen abgeben oder aber erheblich zurückstellen können. Für viele Eltern mit behinderten Kindern bleibt die Begleitung der Kinder eine nicht endende Lebensaufgabe, da es ihrem Kind an weitest gehender Selbstständigkeit fehlt. Sie erleben die Elternschaft als Verlust ihrer Projektion auf das gesunde, entwicklungsfähige Kind. Sie durchleben zumeist eine Elternschaft in Trauer, stets abhängig von der Sorge, die sie für ihre Kinder aufbringen müssen (Jonas 1990). Das ist für Eltern mit behinderten Kindern eine biographische Herausforderung. Sie kann zwar dadurch gemildert werden, dass die Eltern ihre behinderten Kinder in einer zuverlässigen Fürsorge wähnen, doch wird ihre Grunderfahrung der unerfüllten Lebensaufgabe bestenfalls gemildert. Auch Geschwister und in einzelnen Fällen entfernte Verwandte sind von dem familiären Muster früher Bindung und der sich daraus resultierender Verantwortung geprägt (Künemund 2000). Da Geschwister ihre behinderten Mitgeschwister nie als selbständige Menschen erfahren haben, gleiten sie nicht selten in die elterliche Rolle, sobald die Eltern nicht mehr zur Verfügung stehen. Die hohe Anzahl von Betreuern in der gesetzlichen Vertretung durch Geschwister von geistig behinderten Menschen macht diese Konstellation deutlich. Sie erleben sich nicht selten als Eltern statt Geschwister und übernehmen die Aufgaben und die Verantwortung für ihre behinderten Mitgeschwister (Grünziger 2005). Das kann auch für entferntere Verwandte gelten, wenn sie eine familiäre Bindung zu dem behinderten Menschen haben. Sie übernehmen oft nach dem Ausfall vorrangiger Familienmitglieder die Unterstützungsaufgaben. Es gibt zahlreiche behinderte Menschen, bei denen die beschriebenen familiären Bindungen nicht mehr vorhanden sind oder andere Gründe dazu beitragen, sich im Laufe des Lebens aus den Augen zu verlieren. Mental 1 bleibt die Bindung auch und gerade bei Menschen mit Behinderungen bestehen, wenn sie sich in die Vergangenheit zurücksehnen, das Grab ihrer Eltern noch einmal aufsuchen wollen oder den Kontakt zu den Geschwistern noch einmal aufnehmen möchten. Menschen mit schweren Behinderungen sind durchweg kinderlos, so dass die typische Unterstützung durch eigene Kinder fehlt. Die Bewältigung einer dementiellen Erkrankung fällt damit in starkem Maße der Ursprungsfamilie zu. Tritt eine demenzielle Erkrankung bei dem behinderten Menschen auf, kann sich hieraus für die Angehörigen eine neue Herausforderung ergeben. Bei jüngeren dementiell erkrankten Menschen sind häufig die Eltern, wenn auch selbst hochaltrig und bereits erkrankt, noch am Leben. Die Demenz des Kindes ist für die Eltern zumeist irritierend, weil es die bislang erworbenen Fähigkeiten, insbesondere die um den Alltag zu bewältigen, zunehmend verliert. Der nun steigende Hilfebedarf des Kindes kann noch einmal zu einem letzten Einsatz der Kräfte führen. Dort wo der dementiell erkrankte Mensch seinen Eltern im Tod vorausgeht, erleben die Eltern und die weitere Familie den Tod des Kindes in der tiefen Trauer, die gerade dann entsteht, wenn das eigene Kind verstirbt. Der Tod des behinderten Kindes kann aber auch bei aller Trauer auch in Anbetracht des eigenen hohen Lebensalters als Erfüllung oder Abschluss erlebt werden. Das familiäre Bild bleibt bei hochaltrigen behinderten Menschen mit Demenz in den Bindungserfahrungen und den Beziehungen weiter bestehen und prägt die Erkrankten. Diese Erfahrungen bleiben auch, wenn die Mitglieder längst nicht mehr physisch präsent sind. Da in den heutigen Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen der Alltag familienähnlich gestaltet wird, lassen sich viele Merkmale der ursprünglichen Familienerfahrung der behinderten Menschen in deren Verhalten und in deren Kommunikation wiederfinden. Die Beziehung zwischen den nahen Angehörigen ist so bedeutend und prägend, sodass der behinderte Mensch und seine Angehörigen als eine Einheit betrachtet werden sollten. Beide Seiten haben über weite Strecken des Lebens einheitliche Erfahrungen gemacht, eine gemeinsame Biographie und Geschichte entwickelt und verfügen über einen gemeinsamen Pool der Erinnerungen, Wertehaltungen, Verhaltensweisen, Freuden oder Abneigungen. Diese gemeinsame Vergangenheit spiegelt sich im dementiellen Erleben wider und spielt bei der Bewältigung von Demenz eine zentrale Rolle. Wird ein behinderter Mensch mit Demenz begleitet, verändert sich das Förderprinzip immer mehr hin zum Prinzip der Unterstützung bei den alltäglichen Funktionen. Die Demenz fordert alle Beteiligten in einem solchen Umfang heraus, dass die Aufgabe nicht mehr durch eine einzige Person bewältigbar ist. Dieser Umstand gilt auch für Mitarbeiter in Wohneinrichtungen oder im Betreuten Wohnen, die nach Unterstützung suchen sollten. Zu einem potentiellen Kreis von Unterstützern gehören auch Angehörige, die konstruktiv und hilfreich sein können. Aufgaben können verteilt und Absprachen getroffen werden. Angehörige, insbesondere Eltern und Geschwister, können Auskunft über die Biographie, Gewohnheiten und wichtige Regeln geben, die für den kranken Menschen prägend gewesen sein können. Der Abschied von einem Menschen mit Demenz ist zumeist ein Abschied in Trauer. Wer seinen kranken Angehörigen begleiten kann, kann auf dem Weg Abschied nehmen und seine Trauer erfahren. Die Person spürt den zunehmenden Verfall, aber auch die Zufrie- 2 denheit, welche die kranken Menschen zeigen können, solange sie angemessen unterstützt und versorgt werden. Dieses positive Modell gelingt nicht immer, da über die lange Zeit der Lebensgeschichte die Bindungen und Beziehungen nicht immer glücklich verlaufen sind: es kann zur Neuorientierung in Beziehungen und Partnerschaften kommen oder zur Abkehr vom behinderten Menschen, oft unterstützt durch die Geschlossenheit und Machtfülle der Fürsorge. In den Gefühlen und Empfindungen, den Beziehungen und Bindungen, den Erinnerungen und deren Verlust bleibt aber der Angehörige präsent. Die dementielle Erkrankung verdeutlicht umfassend die Verbindung von Lebens- und Bindungsgeschichte mit den Verhaltensweisen des erkrankten Menschen. Autor Wolfgang Wessels Demenz-Servicezentrum Region Ruhr E-Mail: [email protected] Web: www.demenz-service-ruhr.de Juni 2015 Literatur: Bowlby, John (1972):Mutterliebe und kindliche Entwicklung. Reinhardt, München, Basel Grünzinger, Eberhard (2005): Geschwister behinderter Kinder. Besonderheiten, Risiken, Chancen. Ein Familienratgeber. Care-Line, Neuried Jonas, Monika (1990): Behinderte Kinder – behinderte Mütter? Fischer, Frankfurt/Main Künemund, Harald / Hollstein, Bettina (2000): Soziale Beziehungen und Unterstützungswerke. In: Kohli, Martin / Künemund, Harald (Hg.), Die zweite Lebenshälfte, Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey, Leske und Budrich, Opladen S. 212-276 Stuhlmann, Wilhelm (2004): Demenz – wie man Bindung und Biographie einsetzt, Reinhardt, München Basel 3
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