PDF 120 KB Teil 3

Ausklang
Die zweite Brokatübung: „Nach links
und rechts den Bogen spannen, als
wollte man auf einen großen Vogel
schießen“
Ulla Blum, Eva Ottmer
Im Folgenden die Fortsetzung der praktischen Anleitungen der Acht Brokat-Übungen. Dies ist ein Teil einer Serie, in
der neben der theoretischen Einleitung alle Acht Brokat-Übungen vorgestellt werden. Zusammen ergeben sie ein
ausführliches Kompendium dieser wertvollen Qigong-Form.
Hintergrund und Wirkungsweise der acht
außerordentlichen Gefäße aus Sicht der acht
Brokatübungen im Qigong; Brokat-Übung 2 –
Yin Wei Mai
Das Spiegelprinzip
Wir haben zuvor gesehen, wie mit der Entwicklung der
vier Meridiane der ersten Generation, mit Ren, Du, Chong
und Dai Mai, die ursprüngliche Anlage des Körpers entsteht.1 Sie folgt den vier Richtungen des Raumes und erzeugt ein erstes geschlossenes Ganzes in seiner Ausdehnung zwischen oben und unten, vorne und hinten, rechts
und links.
Damit ist die strukturelle Grundlage für das Spiegelprinzip entstanden. Der Körper ist rechts und links nahezu
identisch angelegt. Zwischen oben und unten ist die Spiegelung nicht so offensichtlich, aber dennoch erkennbar.
Indem nun die vier Meridiane der zweiten Generation erscheinen, wird das zuvor Angelegte brauchbar in der Welt
der Dinge. Mit ihnen entstehen die vier Richtungen des
Raumes auch an Händen und Füßen. Alles, was zuvor die
vier Meridiane der ersten Generation hervorgebracht haben, erscheint jetzt auch rechts und links, also doppelt. So
lässt sich bestens gehen und greifen. Yin- und Yang Qiao
Mai und Yin- und Yang Wei Mai liegen zwar später im Leben ganz innen, verbinden uns aber von der Entwicklung
des Körpers her gesehen mit der Welt. Noch erfüllt sich
das Gesetz von Yin und Yang nicht perfekt in Raum und
Zeit. Dies geschieht erst mit den zwölf Hauptmeridianen,
die dann ebenfalls rechts und links der Spiegelachse, also
doppelt erscheinen.
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Die Funktion der Schreit- und VerbindungsGefäße
Die Qiao Mai (Schreit-Gefäße) verbinden Gehirn und Augen mit den Füßen und dem Gehen und bestimmen somit
die Richtung, in die der Mensch geht. Sie lenken den Körper und richten ihn dorthin aus, wo er Verwirklichung
sucht. Die Funktion, die im Menschen Sehen, Erkennen
und Wünschen mit einer darauf-zu-Bewegung verknüpft,
ist den Schreit-Gefäßen zugeordnet.
Anders die Wei Mai (Verbindungs-Gefäße). Sie verbinden
und bewahren alles Yin und Yang im Körper, wobei das
Yin die Grundlage für das Yang bildet. Damit sammeln
und verbinden sie einerseits, andererseits treffen sie eine
klare Unterscheidung und bestimmen eine Grenze. Jedes
lebende Wesen unterscheidet exakt zwischen innen und
außen. Es ist die Grundlage für den Selbstschutz jedes Lebens und der stärkste Yang-Aspekt im Yin des Menschen.
Der Yin Wei Mai wirft vorne und unten sein Netz aus und
sammelt und bewahrt alles Yin. Der Yang Wei Mai wirft
hinten und oben sein Netz aus und sammelt und verbindet alles Yang. Jetzt sind zwei Kräfte deutlich voneinander
unterschieden und können zusammen rechts und links
der Spiegelachse agieren. Der Vorteil in dieser polarisierenden Zusammenarbeit ist, dass beide Kräfte sich selbst
und einander gegenseitig erhalten und bewegen. Gemeinsam können sie sowohl nach innen als auch nach außen in
jede Richtung reagieren und agieren. Diese Idee spiegelt
sich auch im Namen ihrer jeweiligen Öffnungspunkte wieder: Pe 6, „Inneres Tor“ (Nei Guan) ist der Öffnungspunkt
für den Yin Wei Mai, und SJ 5, „Äußeres Tor“ (Wei Guan)
ist der Öffnungspunkt für den Yang Wei Mai.
Qi · Zeitschrift für Chinesische Medizin | 04/2015
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Ausklang
Abb. 1 Die vier Himmelsrichtungen sind die Grundlage für die Entwicklung des menschlichen Körpers
Yin Wei Mai – Verbinder und Bewahrer des Yin
In der heutigen Ausgabe beschäftigen wir uns mit dem Yin
Wei Mai, der mit der zweiten Brokatübung: „Nach links
und rechts den Bogen spannen, als wollte man auf einen
großen Vogel schießen“ verbunden ist. Das Schriftzeichen
Wei 维 bedeutet „verbinden“ und „festhalten“ und verweist
nicht nur auf das Verbinden und Festhalten aller dazugehörigen Teile2, sondern beschreibt ursprünglich „ein feinmaschiges Seidennetz, welches dazu dient, etwas Lebendiges festzuhalten und zu bewahren“3; in etwa so, wie ein
Netz einen Vogel fängt, ohne ihn zu verletzen. In Bezug auf
den Menschen ist mit dem Vogel der Geist des Herzens gemeint. In den klassischen Schriften wird das Herz und der
vom Herzen gehütete Geist vom Sternum und den sich von
dort ausbreitenden Rippen beschützt, die mit dem Körper
und den Flügeln eines Vogels verglichen werden. Empfindlich wie die Vögel, die bei der kleinsten Störung vom Baum
auffliegen, ist auch der Geist (Shen) des Menschen, der im
Herzen wohnt. Der Yin Wei Mai legt sich wie ein feinmaschiges Netz über alle inneren Funktionen und verbindet
alle Yin-Organe in einer Weise, dass der Geist (Shen) im
Herzen bewahrt werden kann. Diese eindeutige Yin-Kraft
ist in der chinesischen Vorstellung nur denkbar, wenn sie
außen von einem Yang unterstützt und ergänzt wird, in unserem Fall vom Yang Wei Mai. Zusammen bewahren die
Wei-Gefäße die Einheit von Yin und Yang.
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Abb. 2 Yin Wei Mai
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Ausklang
Abb. 3 Ausgangsposition Brokat-Übung 2
Definition von Innen und Außen
Eine umfangreiche Beschreibung der Außerordentlichen
Gefäße findet sich bei dem Arzt und Gelehrten Li Shi Zhen
aus der Ming-Dynastie4. Dort heißt es, dass Yin und Yang
Wei Mai, anders als Yin und Yang Qiao Mai, weder am Fuß
auf gleicher Ebene beginnen, noch sich im Bereich des
Kopfes vereinen. Sie beginnen und enden in einiger Entfernung voneinander. Es sei eben jene Distanz, kommentieren Larre und la Vallée, welche die Yin und Yang Wei
Mai voneinander haben, die das Gleichgewicht und die
gute Beziehung beider Funktionen zueinander garantiere,
denn damit habe alles Yang, ebenso wie alles Yin, ein gutes
Verhältnis zu sich selbst, was erst das Gleichgewicht beider
Grundkräfte zueinander ausmache5.
Wir sehen also, dass die beiden Wei Mai diejenigen Gefäße
im Menschen sind, die Yin und Yang im Körper definieren. Sie sagen uns, was innen und was außen ist. Dabei beherrscht der Yang Wei Mai die Außenseiten und der Yin
Wei Mai die Innenseiten des Körpers. Li Shi Zhen nannte
sie auch Himmel und Erde (Qian 乾 und Kun 坤) im Menschen. Udo Lorenzen schreibt dazu, der Einfluss von Yin
und Yang Wei Mai sei so groß, dass Li Shi Zhen sie mit
dem Wirken von Himmel und Erde verglichen habe, denn
es gehe darum, dass ein Jedes zwischen Himmel und Erde
seinen Platz findet – nur dann kann es auch seine bestimmte Funktion erfüllen.6 Genau das ist die Aufgabe der
acht Meridiane in der Entwicklung des Menschen.
Verlauf
Der Yin Wei Mai kommt im Punkt Ni 9 Zhu Bin (Gästehaus) an die Oberfläche. In diesem Punkt vereint sich der
Yin Wei Mai mit dem Nieren-Meridian. In seinem Schriftzeichen findet sich die Bedeutung Zhu 築 „bauen“ und Bin
賓 „Strand“, „Ufer“, was seine Zugehörigkeit zum Wasser
zeigt. Baut man dem Gast ein Haus, handelt es sich um einen gern gesehenen Gast, dem man Ernährung, Stabilität
und Sicherheit bieten möchte. So ist mit dem Gast auch
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der Fötus gemeint, der sich im Uterus einnistet, wo er im
Fruchtwasser heranwachsen kann. Auch dies ist ein starker Yang-Aspekt im Yin. Hingewiesen wird damit insgesamt auf das Prinzip der Vereinigung zweier Kräfte in einem Punkt, und auf die Bedeutung eines Übergangs, an
dem sich zwei Kräfte austauschen können. Ni 9 ist auch
der Xi-Spalt-Punkt des Yin Wei Mai im Übergang zwischen Sehne und Muskel der Wade, 5 Cun oberhalb des
Innenknöchels, wo Blut und Qi tiefer in die Struktur des
Körpers eindringen. Von diesem Ort aus legt der Yin Wei
Mai sein Netz über alles Yin, um es zu bündeln, zu vernetzen und festzuhalten. Damit bildet er den Raum, innerhalb dessen sich das Nähr-Qi (Ying Qi) bewegt (Abb. 2).
Von Ni 9 zieht der Yin Wei Mai auf der Innenseite von Unter- und Oberschenkel hoch zur Leiste zu den Punkten
Mi 12 (Chong Men) und Mi 13 (Fu She). Er folgt der
Milz-Leitbahn bis Mi 16 (Fu Ai) unterhalb des Rippenbogens, von wo aus er sich im Punkt Le 14 (Qi Men) mit der
Leber-Leitbahn vereint. Von Le 14 verläuft er durch die
Brust zu Ren Mai 22 (Tian Tu) in der Drosselgrube, und
endet in Ren Mai 23 (Lian Quan) auf Höhe der Kehle. Damit vereinigt der Yin Wei Mai alle drei Yin-Schichten
(Shao Yin, Tai Yin und Jue Yin) und den Ren Mai zu dem,
was wir unser Inneres nennen. Das können Sie erfühlen,
wenn Sie ihren eigenen Körper abtasten. Wandern Sie auf
Ihrer Vorderseite vorsichtig mit Ihren Händen nach oben
und nach unten, nach innen und nach außen. Spüren Sie
sich und atmen dabei. Fragen Sie sich: innen? außen? Fühlen Sie selbst, wie auch nur der Hauch einer Abweichung
im Territorium exakt registriert wird. Alles was Ihre Hände als „innen“ bezeichnen, ist das Refugium des Yin Wei
Mai.
Öffnungspunkt Pe 6 (Nei Guan) –
Ankopplungspunkt Mi 4 (Gong Sun)
In der Betrachtung der Öffnungs- und Ankopplungspunkte erkennt man das enge Verwandtschaftsverhältnis von
Yin Wei Mai und Chong Mai: Der Öffnungspunkt des Yin
Wei Mai Pe 6 (Nei Guan) ist der Ankopplungspunkt des
Chong Mai Mi 4 (Gong Sun), und umgekehrt ist der An­
kopplungspunkt des Yin Wei Mai der Öffnungspunkt des
Chong Mai. Der Unterschied wird in der Akupunktur
deutlich, wo man die Nadelung der Punkte in der Reihenfolge und Seitenverteilung umkehrt. Im Öffnungs- und
Ankopplungspunkt wird ein System von Paarbeziehungen
beschrieben, welches immer ein oben und unten verbindet. Gleichzeitig bringt es die zeitliche Dimension der
menschlichen Entwicklung ins Spiel, denn es verbinden
sich immer die vier Meridiane der ersten Generation mit
denen der zweiten Generation. Den Chong Mai, den wir
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Ausklang
als Ursprung aller Gefäße kennen gelernt haben7, nennt
man in der traditionellen Zuordnung der „Acht Trigramme“ auch den Vater (Trigramm Qian, Himmel
),
den Yin Wei Mai kennt man als Mutter (Trigramm Gen,
Berg
) der Acht Außerordentlichen Leitbahnen8.
Eigentlich steht der Rang des Vaters auf der gleichen Beziehungsebene wie der der Mutter, doch beschreibt diese
Beziehung ein erstes Mal das Werden der Form als einen
zeitlichen Prozess bestehend aus Yang/Vater/männlich
und Yin/Mutter/weiblich. Das Leben kommt ursprünglich
vom Himmel (Yang), dringt in die Erde (Yin) ein und geht
aus dieser hervor. Somit beginnt das Leben mit dem Chong
Mai (Vater) und wird durch den Yin Wei Mai (Mutter) in
einem zweiten Schritt verwirklicht. Damit erzeugen Vater
und Mutter als Paar gemeinsam die körperliche Verbindung von unten und oben, Bauch und Brust. Das Konzept
von vor- und nachgeburtlichem Qi oder den „Wurzeln
und Zweigen“ ist geboren. Ab jetzt wird es immer und
überall im Körper anzutreffen sein.
Die Lemniskate der natürlichen Qi-Bewegung
Die Dualität von Yin und Yang drückt sich auf der kosmologischen Ebene als Himmel und Erde, auf der Ebene der
Elemente als Feuer und Wasser, in Bezug auf den Menschen als Mann und Frau aus. Die Öffnungspunkte werden therapeutisch einseitig und für Frauen und Männer
seitenverkehrt genadelt. Wir sehen darin die Bestätigung,
dass sich das Qi in einer Diagonalen zwischen oben und
unten, vorne und hinten und zwischen rechts und links
bewegt. Dies ergibt die Form der Lemniskate, der liegenden Acht. Nur mittels dieser Form kann sich das Qi in einem geschlossenen System wie dem menschlichen Körper
überall hin bewegen und so den Austausch auf allen Ebenen ermöglichen. Alle unsere Bewegungen fußen auf der
Form des Kreises und der Verdoppelung des Kreises, auch
wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. So fließt das Qi
der Meridiane im Menschen als Lebensstrom ohne Unterbrechung vom Beginn bis zum Ende und verbindet durch
die Bewegung der Lemniskate immer die beiden Aspekte
von Raum und Zeit. Es ist die sich wandelnde Bewegung
unseres physischen Körpers und in ihm die Bewegung aller Körperflüssigkeiten innerhalb der körperlichen Grenzen zwischen Kopf und Fuß, Brust und Rücken, links und
rechts. Die sogenannte Tellerübung demonstriert dies genau. Wenn Sie diese Übung ausprobieren, beobachten Sie
jede Ihrer Bewegungen genau und sprechen Sie aus, was
Sie tun! Dann werden Sie die Transformation auf anschauliche Weise verstehen. Stellen Sie sich vor, dass auf Ihrer
rechten, nach oben geöffneten Hand ein Teller liegt. Beschreiben Sie nun mit dieser Hand die Form einer Lemniskate. Dabei zeigt die Handfläche immer nach oben. Die
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Hand beginnt auf Höhe der Taille und trägt den Teller zunächst nach oben, wo sie sich entlang des oberen Kreises
der Lemniskate bewegt. Dabei zeigen die Finger nacheinander nach vorne, nach außen, nach hinten und nach innen. Damit haben Sie den Knotenpunkt bzw. das Zentrum
der Lemniskate erreicht. Nun beginnt der untere Teil der
Lemniskate. Er lässt sich nur ausführen, wenn Sie nacheinander alle drei Armgelenke deutlich mitbewegen. Die
rechte Hand (sie fühlt sich etwas verdreht an) zeigt jetzt
schon nach links und halb vorne und der Ellbogen nach
außen. Bewegen Sie zuerst die Hand nach vorne und außen, das bewegt den Ellbogen und dann die Schulter zurück in die Ausgangsposition. Damit haben Sie auch im
unteren Kreis der Lemniskate die Finger nacheinander
nach vorne, außen, hinten und innen bewegt.
So spüren und sehen Sie, wie alle räumlichen Aspekte miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen
wie Yin und Yang. Gemeinsam ermöglichen sie so auch
die Transformation von innen nach außen und umgekehrt. Damit ist der natürliche Qi-Fluss vollständig beschrieben.9
Verbindet man im Qigong Vorstellung und Bewegung mit
dem Rhythmus der Atmung, wird unser Bewusstsein jede
Bewegung begleiten. Doch selbst ohne diesen bewussten
Aspekt kennt der Mensch instinktiv immer die Bedeutung
einer Bewegung in eine bestimmte Richtung, denn die Intelligenz des Menschen wurzelt im Motorischen.
Das alles ist möglich, weil die Meridiane der zweiten Generation das weiter tragen, was im ersten Entwicklungsschritt bereits entstanden ist. So werden auch die zwölf
Meridiane das weiter vervollkommnen, was zuvor mit den
je vier Meridianen der ersten und zweiten Generation angelegt wurde. Denn die acht und zwölf Meridiane sorgen
dafür, dass sich das „Gesetz von Yin und Yang“ überall im
ganzen Körper ausbreitet. Deshalb wird ab jetzt jede Information im Körper immer auch die zentrale Struktur der
vier Meridiane der ersten Generation nutzen.
Praktische Ausführung der zweiten
Brokatübung
„Nach links und rechts den Bogen spannen, als
wollte man auf einen großen Vogel schießen“
Vorbereitung
Im Qigong steht die Entspannung am Anfang und Ende jeder Übung. Das bedeutet, dass man während der Übung
darauf achtet alle Gelenke (Schranken) zu entspannen.
Am wichtigsten sind die lockeren Knie (unten), die leicht
geöffneten Ellbogen (Mitte) und der entspannte Kiefer
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(oben). Wenn Sie die Übung nach unseren Anweisungen
ausprobieren, empfehlen wir zu Beginn wenigstens 3–5
Minuten im schulterbreiten Stand mit Armen und Händen in balltragender Haltung zu verweilen, da sich so die
Spannungen des Oberen Erwärmers lösen und sich das Qi
reflektorisch im unteren Dantian sammeln kann. Kehren
Sie anschließend in die Ausgangsposition (geschlossener
Stand) zurück, um die zweite Brokatübung zu beginnen.10
Ausgangsposition
Zu Beginn der Übung sind die Füße geschlossen. Im Qigong symbolisieren die geschlossenen Füße die Einheit,
aus welcher der Mensch kommt. In dieser Haltung werden
beide Hände vor dem Unterbauch zu Fäusten geformt.
Der Daumen schließt die hohle Faust und legt sich über
das erste Glied von Mittel- und Zeigefinger. Die Faustaugen beider Hände stehen nebeneinander und zeigen nach
oben (Abb. 3). Heben Sie so beide Fäuste zusammen im
Bogen über vorne hoch zur Brust. Vor der Brust angekommen formt die linke Hand die Pfeilhand. Dazu legt man
den Daumen auf Ring- und Kleinfinger, und streckt den
Zeige- und Mittelfinger aus. Die rechte Hand wird damit
zur Bogenhand (Abb. 4).11
Der Pferd-Schritt
Der Schwerkraft folgend, sinkt das Gewicht durch das
rechte Bein bis tief in die Erde. Im linken Fuß wird das
Gewicht „leer“, so kann er leicht entlang der Wade bis
knapp unter das Knie gehoben werden. 12 Es folgt eine
Gleichgewichtsübung (Abb. 5). Bleiben Sie ruhig eine
Weile auf dem rechten Bein stehen. Geben Sie dem Körper
ein paar Atemzüge lang Gelegenheit seine Balance zu finden. So findet er neben der horizontalen Mitte, die im unteren Dantian angesiedelt ist, auch die senkrechte Mitte,
die den Körper von oben bis unten durchzieht. Üben wir
so das Bild vom Baum, hat die Übung an erster Stelle die
Funktion, Himmel und Erde im Menschen zu verbinden.
Abb. 4
6
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Abb. 5
In der Entwicklung des Menschen entsteht aus dieser Verbindung die erste Kraft. Öffnen Sie nun ihren linken Fuß
zum tiefen, parallelen Pferd-Schritt, auch Reitersitz genannt. Er ist 1,5–2,5 Fußlängen breit. Die Füße stehen parallel, die Fußspitzen zeigen nach vorn. Die drei Dantian
der senkrechten Achse stehen übereinander (Abb. 6).
Im Pferd-Schritt öffnen sich die Knie in etwa so weit, wie
die Füße auseinander stehen. Aus praktischen Gründen
können wir im Qigong in der Vorstellung auch Zahlen und
Formen nutzen. So denken wir uns ein ungefähres Rechteck (vier) zwischen dem Vorderfuß und der Ferse. Das
sorgt an den Füßen für festen Halt. Denken Sie sich ein
weiteres Rechteck zwischen den beiden Knie- und Fußgelenken und eine Dreieckskraft zwischen den Knien und
der Mitte des unteren Beckens. Überall üben wir die widerstreitenden Kräfte zwischen oben und unten, rechts
und links, vorne und hinten. So werden mit dieser Übung
die Muskeln der Beine gestärkt. Dies ist auch die physische
Voraussetzung dafür, dass der Unterbauch das Gefäß des
Atems werden kann. Kann sich so der Atem im Dantian
entfalten, können Sie auch wahrnehmen, wie das Qi über
das Kreuzbein mit der Gravitation in die Erde fließt, und
wie sich die Wirbelsäule und das Becken entspannen. Die
Wirbelsäule ist gerade, und das Becken hängt locker und
ist beweglich in alle Richtungen. Beide Füße entwickeln
greifende Kräfte, und man nutzt den Steiß als „Drittes
Bein“. So sitzt man im Stehen, da der Steiß den Körper
zwischen vorne und hinten in der Mitte zwischen den Fersen verwurzelt. Probieren Sie in dieser Haltung alle Bewegungen aus und suchen Sie dabei stets den sicheren Halt.
Während man in den tiefen Reitersitz sinkt, führt man
beide Fäuste entlang der Mittellachse bis zum Nabel.
Den Bogen spannen
Es folgt das Spannen von Pfeil und Bogen. Dabei bewegt
man beide Arme und Hände gleichzeitig in unterschiedliche Richtungen. Üben Sie der Einfachheit halber beide
Abb. 6
Abb. 7
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Bewegungen voneinander getrennt ein. Später setzen sie
sich von alleine zusammen.
Zuerst bewegen Sie die rechte Fausthand im Halbkreis
wieder nach oben bis vor die rechte Brust. Sie spannt die
Sehne. Indem Hände, Arme, Schultern und Nacken eine
nach innen schließende Kraft üben, ziehen die Ellbogen
die Schultern leicht nach innen. Beim Spannen des Bogens
wird die runde Kraft übergehen in die gerade Kraft zwischen dem rechten Ellbogen und dem Pfeil vorne links.
Der Abstand der Bogenhand zur Brust beträgt ein bis zwei
Faustbreiten.
Bewegen Sie nun die linke Pfeilhand circa 45 Grad nach
links im Bogen über unten und vorne nach oben bis maximal Kopfhöhe.
Diese ganze Bewegung wird begleitet vom Blick, der auf
Höhe des Horizonts sein Ziel findet. Verbinden Sie die
rechte Bogenhand über Schultern und Nacken mit der linken Pfeilhand und dem Ziel in der Ferne. Dabei ist es
wichtig, den gesamten Schulter-Arm-Gürtel zu entspannen. Besonders die Schulterblätter und Ellbogen folgen
der Gravitation und öffnen und senken sich.
Indem Sie so alle Gelenke lösen, können Sie die Spannung
des Schulter-Arm-Gürtels, die aus der Streckung der linken Pfeilspitze kommt, bestimmen und ausgleichen. Beide
Arme müssen verbunden sein. Üben Sie eine gerade Kraft
zwischen Pfeilspitze und Ellbogen. Auch das Handgelenk
ist gerade. Feine, weiche Bewegungen zeigen seine Kraft,
die sich aus dem Ursprungs-Qi (Yuan-Qi) speist. Das
Handgelenk kennt die Richtung, in die der Pfeil fliegt. Es
ist der Blick, der das Ziel bestimmt. Er geht weit in die Ferne, wo er bei leicht geschlossenen Lidern sein Ziel fixiert.
Doch vorerst lenken wir die Aufmerksamkeit in das untere Dantian.
Ruhehaltung
Sie haben die Ruhehaltung der zweiten Brokat-Übung im
tiefen Pferd-Schritt erreicht (Abb. 7). Spüren Sie nun, wie
Abb. 8
Abb. 9
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der Atem im unteren Dantian ein- und ausgeht. Folgen Sie
seinen Bewegungen. Er allein kennt den richtigen Moment, um den Pfeil in sein Ziel zu entlassen. Lenken Sie
sieben Teile Ihrer Aufmerksamkeit in das untere Dantian!
Nur drei Teile fixieren das Ziel in der Ferne. Schauen Sie
innerlich hinab ins Dantian. Spüren und sehen Sie, wie Ihr
Atem den Raum füllt. So verbindet sich die Dantian-Kraft
mit der Vorstellungskraft zum Bewusstsein über uns selbst.
Das Lösen den Pfeils
Wenn Sie Ihren Atem im Unterbauch spüren, dann arbeiten Geist (Shen) und Körperseele (Po) gemeinsam, und
Herz und Lunge unterstützen sich gegenseitig. Ist der
Geist klar und eindeutig, überlässt man der Körperseele
die Aufgabe das Ziel zu erreichen. Sie folgt dem Atem.
Ohne selbst Einfluss nehmen zu wollen, übernimmt der
Atem den Moment des Los-Lassens und der Pfeil wird
sein Ziel finden. Letztlich üben wir damit ein Sich-Anvertrauen an ein größeres Ganzes. Mit dem Lösen des Pfeiles
lösen sich auch Ring- und Kleinfinger aus der Klammer
des Daumens. Schauen Sie, wie der Pfeil sein Ziel erreicht
(Abb. 8).
Ist dann der Höhepunkt überschritten, entspannt sich reflektorisch der ganze Körper, und die schließende Bewegung wird eingeleitet. Drehen Sie nun beide Fußspitzen
circa 45 Grad nach links auf das Ziel zu, schließen Sie die
linke Hand wieder zur Fausthand (greifen Sie den Vogel!)
und rollen Sie den rechten Fuß in Pfeilrichtung ab
(Abb. 9). Damit schließen sich die Füße wieder, und die
Faustaugen treffen sich vor der Brust (Abb. 10). Richten
Sie den rechten Fuß wieder nach vorn aus, indem Sie ihn
in der Ferse drehen, und setzen Sie den linken Fuß daneben. Dann öffnen Sie die Finger fächerartig und führen
Arme und Hände im Bogen über außen zurück vor den
Unterbauch (Abb. 11). Hier bilden die Hände wieder Faustaugen. Sie haben die Ausgangsposition erreicht und können die Übung nun nach rechts wiederholen (Abb. 12).
Abb. 10
Abb. 11
7
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Ausklang
Abb. 12
Interpretation
„Nach links und rechts den Bogen spannen, als
wollte man auf einen großen Vogel schießen“
Mythologische Deutung
Man sollte sich den Menschen nicht nur als kühnen Jäger,
sondern auch als steten Beobachter des Himmels vorstellen. Verbunden mit der zyklischen Wiederkehr der nächtlichen Konstellationen studierte er die Veränderungen in
der Zeit und konnte sich so entsprechend der natürlichen
Gegebenheiten verhalten. Seine Vorhersagen über die Jahreszeiten und das Wetter waren wichtig für sein Überleben. Deshalb wusste der frühe Mensch genau, wann wo
welche Sterne auf- und untergingen. In der mythologischen Deutung der zweiten Brokatübung bedeutet das
Ausrichten des Pfeiles den gerichteten Blick auf die Sterne
und Planeten. Ziel dieser Geste ist die Kenntnis der himmlischen Veränderungen. Dieses Wissen existiert nur, weil
es über Jahrtausende von den Vorvätern an die Nachkommen weiter gegeben wurde – Wissen, das Kontinuität besitzt.
Energetische Deutung
Die Bedeutung des Yin Wei Mai wird verständlich, wenn
wir die Energiebewegung des Chong Mai mit einbeziehen.
Öffnet man über Mi 4 im Fußgewölbe den Chong Mai, so
öffnet sich der innere Raum, der den Dammbereich, das
Herz und den Zungengrund miteinander verbindet. Dabei
etabliert und stabilisiert sich die innere Mitte des Menschen entlang der Längsachse zwischen Kopf, Brust und
Bauch.
Öffnet man über Pe 6 den Yin Wei Mai, so steigt die Energiebewegung von Ni 9 aus dem Innenbereich der Waden
bis zur Leiste und 4 Cun seitlich des Ren Mai über Bauch
und Brust ebenfalls bis zum Herzen und zur Kehle.
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Das Herz wird so zum Sammelort von Chong und Yin Wei
Mai. Auf der vorderen Mittellinie manifestiert sich diese
Kraft im Punkt Ren Mai 17 (Tan Zhong), dem Meisterpunkt des Qi und dem Mu-Alarm-Punkt des Perikards. In
diesem Punkt entspringt auch der Perikard-Meridian, der
von hier aus innen am Arm zum Mittelfinger zieht.13 Aus
Sicht der Bewegung kommt aus der Mitte der Brust nicht
nur die Öffnung, sondern auch die Entscheidung zwischen
rechts und links. Erst hier teilt sich der Strom, der von unten, innen und vorne aufsteigt, nach rechts und links zum
Kontakt mit der Welt.
Mithilfe des Perikards ist der Yin Wei Mai also in der Lage,
die gesammelte Energie über die Arme nach außen zu leiten. Das ist die Bedeutung der Pfeilgeste. Bei gestrecktem
Zeige- und Mittelfinger konzentriert sich die gesamte
Kraft in der Handwurzel, im Bereich um Pe 6, dem Öffnungspunkt des Yin Wei Mai. Sie sehen, wie die Sehnen
um diesen Punkt kräftig hervortreten. Dies aktiviert, ähnlich wie in der Akupunktur, die Öffnung des Yin Wei Mai.
Die Übung des Yin Wei Mai bringt uns dazu, aus den vielen Aspekten des Lebens eine gerichtete Kraft zu machen
und zu üben. Weil sich im tiefen Reitersitz das Qi im unteren Dantian versammelt, kommt das Herz zur Ruhe. Das
Herz, die Residenz des Geistes (Shen), verbindet uns in
der Übung nicht allein mit dem Yin des Körpers, sondern
auch mit der Kraft des Himmels, die uns hilft, eine Richtung im Leben zu finden. Löst sich der Pfeil, um sein Ziel
zu treffen, entspannt sich augenblicklich der physische
Körper und mit ihm der Bereich des Herzens und der
Emotionen.
Blut-Mangel schädigt den Yin Wei Mai
Indem rechter und linker Ast des Yin Wei Mai alle Yin-Organe im Körper verbinden und vernetzen, vernetzen und
verbinden sie auch alle Emotionen, die im Innern des
Menschen an die fünf Yin-Organe und deren Substanzen,
vor allem an das Blut, gebunden sind. Das Herz beherbergt den Geist, der die unterschiedlichen und vielfältigen
Impulse, denen der Mensch ausgesetzt ist, zu einer Einheit
verbindet. Es ist der Yin Wei Mai, der über die Kommunikation der inneren Substanzen das Herz zum Zentrum des
Körpers macht. Deshalb ist die ausreichende Versorgung
mit Blut die Grundlage für geistige Stabilität und eine harmonische Bewegung der Emotionen. Bei einem Blut-Mangel kommt es zur Unterversorgung des Herzens und damit
auch zu einer Schwäche des Geistes. Ein Blut-Mangel kann
durch Verletzungen oder nach einer Entbindung sowie
durch langanhaltende emotionale Belastung oder Schock
entstehen. Selbst das Altern kann über einen Yin-Mangel
in den Blut-Mangel führen. Blut-Mangel, der den Yin Wei
Mai angreift, zeigt sich in folgenden typischen Sympto-
Qi · Zeitschrift für Chinesische Medizin | 04/2015
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Ausklang
men: Psychosomatische Beschwerden mit Schlaflosigkeit,
Gedankenandrang und Unruhe bis hin zu Herzrasen,
Hysterie, Ängstlichkeit, Traurigkeit und Willensschwäche.
Durch das Üben der zweiten Brokatübung wird das Netz
des Yin Wei Mai gestärkt, so dass die inneren Organe und
besonders das Herz ausreichend genährt werden. Mit dieser Übung unterstützen Sie daher Ihr seelisches und emotionales Gleichgewicht und die Kraft ihres Herzens, die
Ihnen hilft, die Richtung im Leben zu bewahren.
Ulla Blum,
Heilpraktikerin, Praxis für Akupunktur und
ganzheitliche Körpertherapie (TCM), Leitung von San Bao – Schule für Qi Gong und
Chinesische Medizin in Berlin. Gründungsmitglied und langjährige Dozentin der Berliner AGTCM-Schule Shou Zhong.
www.qigong-ausbildung-berlin.com
[email protected]
Eva Ottmer, Dr. phil.
Heilpraktikerin für Akupunktur und Qi
Gong, Dozentin für Akupunktur in Berlin.
Studium der buddhistischen Philosophie in
Neu Delhi, Promotion über tibetische Erkenntnislehre 2002.
www.eva-ottmer.de
Fotos von Tilo Schönknecht.
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Anmerkungen
1 Qi – Zeitschrift für Chinesische Medizin, 02/2015
2 Claude Larre, Elisabeth Rochat de la Vallée: The Eight Extraordinary
Meridians. Monkey Press, London 1997, S. 207–213.
3 Udo Lorenzen: Mikrokosmische Landschaften, Band1. Müller & Steinicke, München 2006, S. 329.
4 Lǐ Shízhēn李時珍: Qíjīng Bāmài Kăo 奇 经 八 脉 考(Untersuchungen
über die acht außerordentlichen Gefäße), 1572.
5 Larre, Rochat de la Vallée, S. 219.
6 Lorenzen, S. 339.
7 Qi – Zeitschrift für Chinesische Medizin 02/2015.
8 Kiiko Matsumoto, Stephen Birch: Extrordinary Vessels. Paradigm Publications 1986. S.15–16; Barbara Kirschbaum: Die 8 außerordentlichen
Gefäße in der traditionellen chinesischen Medizin. Medizinisch-Literarische Verlagsgesellschaft, Uelzen 1995, S. 27 sowie Unterrichtsmaterialien
von Udo Lorenzen, Shou Zhong Berlin 1997.
9 Wir stellen uns diesen Qi-Fluss im Innern des Körpers wie die Vorwärtsbewegung auf einem Möbius-Band vor.
10 Weiterführende Einzelheiten zum Üben entnehmen Sie bitte den Ausführungen von Prof. Jiao Guorui: Die 8 Brokatübungen, Qigong Yangsheng – Gesundheitsfördernde Übungen der traditionellen chinesischen
Medizin. Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft, Uelzen 1996.
11 siehe weiter unten und Jiao, S. 66 ff.
12 Wir beschreiben die Übung nur nach links. Es ist die Richtung, in die
man sie zuerst ausführt. Aschließend wiederholt man die Übung nach
rechts und so oft im Wechsel zwischen links und rechts, wie man möchte.
13 Vgl. Kiiko Matsumoto, Stephen Birch: Hara Diagnosis: Reflections on
the Sea, Paradigm Publications 1988, S. 58–61.
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