für ein freiesTibet

POLITIK
Nirgends in Europa leben so
viele Tibeter wie in der
Schweiz. Gut ausgebildet
und vernetzt, treten nun vor
allem junge Tibeter mit ihrer
Forderung nach einem freien
Tibet auf den Plan.
für ein freies Tibet
von Vera Rüttimann
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Nr. 21/2008
Foto: Vera Rüttimann
D
er Bundesplatz in Bern hat in
seiner Geschichte schon manche
Demonstration erlebt, doch die
hier an diesem Frühlingsmorgen Ende
April ist anders: Von allen Seiten her
kommen junge Männer mit tibetischen
Nationalfahnen, ältere Frauen in traditionellen Trachten und Kinder mit den
Farben Tibets im Gesicht. Free Tibet
(«Befreit Tibet») steht auf vielen
T-Shirts. Auf dem Bundesplatz erhebt
sich ein rot-gelb-blaues Fahnenmeer. Anlass für die Kundgebung ist die Ankunft
der «Fackel für Tibet» in Bern. Sie gilt
als Symbol für die Hoffnung der Tibeter
auf Freiheit und Gerechtigkeit.
Es ist wohl auch die Wut über die
Folgen des blutigen Aufstandes der
Tibeter vom März, die viele hierher
zieht. Die mit 8000 Teilnehmern grösste
Kundgebung für Tibet, die je in der
Schweiz stattgefunden hat, geht dennoch
Kelsang Gope (links): «Wir müssen jetzt vor den Olympischen Spielen in Peking um Aufmerksamkeit für unser Anliegen ringen.»
friedlich zu Ende. Tibeterinnen überreichen den Demonstranten eine weisse
«Khata», einen Freundschaftsschal.
Turbulent
Am Stand des Vereins Tibeter Jugend
in Europa (VTJE), der diese Kundgebung
mitorganisiert hat, herrscht Hektik: Mit
flinken Händen baut Kelsang Gope mit
seinen jungen Mitstreitern das Zelt ab,
in Zürich warten bereits neue Aufgaben.
Kelsang Gopes Auto stoppt vor einem
Bürokomplex im Industrieviertel ZürichBinz. Hier befinden sich mehrere TibetOrganisationen, so auch das Büro des
VTJE. In dieser Schaltzentrale herrscht
Foto: Keystone
Fotos: Vera Rüttimann
Einsatz
Rund 8000 Tibeter und Schweizer nahmen
an der friedlichen Kundgebung auf dem
Bundesplatz in Bern teil.
Rigzin Gyaltag, Radprofi und Vizepräsident des Vereins Tibeter Jugend in Europa, entzündete in Zermatt die «Fackel für Tibet». Sie repräsentiert die Hoffnung der Tibeter auf Freiheit
und Gerechtigkeit.
derzeit Hochbetrieb: Neue Protestaktionen werden koordiniert, hektisch werden Texte in Laptops gehackt und
Medientermine geplant. In den Gängen
stapeln sich Schachteln und Plakatrollen. Im Arbeitsraum des VTJE
herrscht ein überbordendes Chaos. Über
allem lächelt selig der Dalai Lama von
der Plakatwand.
Im Büro klingelt es unaufhörlich. Wie
alle Tibet-Aktivisten, so hängt auch Tendon Dahortsang ständig am Draht. Als
Präsidentin des Vereins Tibeter Jugend
Europas ist sie derzeit eine gefragte Person. Der Gast reagiert verblüfft. Denn
auch diese junge Frau entspricht in
keinster Weise dem Bild, das sich man-
cher von Tibetern macht: Gut ausgebildet, akzentfreies Schweizerdeutsch, cooler Businesslook. Zudem weiss sie genau, was sich medial gut verkauft. Als
Graffiti-Künstler in Zürich unlängst
Stand up for Tibet («Setzt euch ein für Tibet») an eine Wand sprühten, posierte
sie dort mit Kelsang Gope für die Fotografen. Der Werbetexter war ihr Vorgänger. Von Jugend auf politisch aktiv, kennt
man sich untereinander. Ob Medientermine, Podien oder Protestaktionen
vor der Zentrale des Internationalen
Olympischen Komitees (IOK) in Genf –
die organisatorischen Abläufe im Verein
laufen aufgrund dieser Vernetzung mit
der Präzision eines Schweizer Uhrwerks.
Tibetische Organisationen
in der Schweiz
Verein Tibeter Jugend in Europa
Binzstrasse ,  Zürich
Tel.    
www.vtje.org
Tibet-Institut Rikon
Wildbergstrasse,  Rikon
Tel.    
www.tibet-institut.ch
Gereizt
Wie an jedem Mittwoch, steht auch
diese Woche eine Mahnwache vor dem
chinesischen Konsulat in Zürich an.
Tibeter und Schweizer bringen Kerzen
und Spruchbänder mit. Die Stimmung
unter den Demonstranten ist gereizt. Die
neuerlichen Dialogangebote seitens der
chinesischen Regierung an den Dalai
Lama kommentiert man hier mit Achselzucken. Seit junge Tibeter in Zürich
Steine gegen Schaufenster geworfen
haben, ist in der Tibet-Gemeinschaft
eine Diskussion über den vom Dalai
Lama propagierten «mittleren Weg»
entbrannt, der auf Dialog, Gewaltfreiheit
und Geduld basiert. Tendon Dahortsang
will, «dass endlich etwas passiert», doch
Gewalt allein unterstützt auch sie nicht.
Die meisten in der grössten Jugendorganisation Europas wollen kein autonomes, sondern ein freies Tibet. Und vor
allem die Einhaltung der Menschenrechte – endlich. Sie bekunden Mühe mit
der gemässigten Haltung des Dalai
Lama, akzeptieren ihn aber ohne Abstriche als spirituellen Führer.
Beharrlich
So denkt auch Yangzom Brauen, die
kürzlich in Zürich eine Veranstaltung
zum derzeit laufenden Film «10 Fragen
an den Dalai Lama» moderiert hat. Brauen fährt allerdings einen politisch noch
schärferen Kurs: Sie will den Boykott der
Olympischen Spiele. Yangzom Brauen,
die in der Schweiz als Tochter eines
Schweizer Ethnologen und einer Tibeterin zur Welt kam, dachte schon immer
radikal. Bereits 2001 protestierte sie
gegen die Olympia-Stadt Peking und
landete prompt in einem russischen
Gefängnis. Das hält sie bis heute nicht
davon ab, für ein freies Tibet im Fernsehen aufzutreten. Brauen, die als
Schauspielerin in Berlin und Los AngeNr. 21/2008
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Foto: Vera Rüttimann
POLITIK
Die Fussballnationalmannschaft Tibets trat in Rapperswil-Jona gegen ein Schweizer Promi-Team an.
Das Freundschaftsspiel war eine Solidaritätsbekundung an das tibetische Volk.
les lebt, teilt das Schicksal vieler Tibeter:
das einer gewissen Heimatlosigkeit.
Yangzom Brauen hat eine dramatische
Familiengeschichte: Ihre Grossmutter ist
eine tibetische Nonne. Gemeinsam mit
ihrem Mann, einem tibetischen Mönch
und den beiden Töchtern, floh sie vor
dem chinesischen Regime nach Indien.
Dort schlug sich die Familie durch, indem Vater und Mutter im Strassenbau
arbeiteten.
Ermutigt
Auch wenn die im VTJE-Büro versammelten Tibeter zu erzählen beginnen,
kommen bewegende Familiengeschichten hervor. Die Geschichte von Rigzin
Gyaltag etwa, Student der Publizistik in
Zürich und VTJE-Vizepräsident. Sein
Grossvater war noch Mitglied der letzten Regierung Tibets vor der chinesischen Besatzung. Auch seine Eltern
mussten einst unter abenteuerlichen Bedingungen fliehen und gehörten später
in der Schweiz zu den aktiven Aufbaukräften vieler Tibet-Organisationen. Als
Radrennfahrer im tibetischen OlympiaTeam, das vom Olympischen Komitee
jedoch nicht zugelassen wird, ist der
25-Jährige ein gefragter Mann bei den
Medien.
Ähnlich ging es Tendon Dahortsang,
die in Nepal zur Welt kam und in den
Armen der Mutter fliehen musste. Ihr
Vater konnte erst dreizehn Jahre später
über Tibet in die Schweiz ausreisen.
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Mit 21 wollte sie das Land ihrer Eltern
schliesslich sehen und besuchte in
Tibet auch den Potala-Palast, die ehemalige Residenz des Dalai Lama in Lhasa.
Dort kam es zu einer einschneidenden
Begegnung mit einem Mönch. Tendon
Dahortsang erinnert sich, wie er zu ihr
sagte: «Ihr im Westen seid unsere einzige Hoffnung, tut etwas für Tibet!»
Diese Worte empfand Dahortsang wie
einen Auftrag, an den sie sich bei jeder
Missachtung der Menschenrechte
seitens Chinas erinnert fühlt.
Aufgenommen
Tendon Dahortsang, Kelsang Gope und
Rigzin Gyaltag gehören zu den Nachkommen der ersten Tibet-Flüchtlinge
aus den 60er Jahren in der Schweiz. Wie
kam es dazu, dass heute in der Schweiz
die grösste Tibeter-Gemeinschaft in
Europa lebt?
Als sich 1959 die einheimische Bevölkerung gegen die chinesische Besatzungsmacht erhob, flohen 80 000 Tibeter über den Himalaja nach Indien oder
Nepal, unter ihnen auch der junge Dalai Lama. Mutige Personen wie der UnoExperte Toni Hagen wandten sich angesichts des Flüchtlingsdramas an die
Schweizer Regierung und regten an,
Tibeter in die Schweiz zu holen. So wurden 1961 tausend tibetische Flüchtlinge in Pflegefamilien gebracht, die vorzugsweise meist in hügeligen Gegenden
wohnten. Die Tibeter sollten sich mög-
lichst wohl fühlen in ihrer neuen Heimat. Weitere Hilfsaktionen folgten, viele Tibeter kamen nach. Wie kein anderes Land in der westlichen Welt öffnete
die Schweiz die Grenzen für TibetFlüchtlinge. Heute zählt die tibetische
Gemeinschaft 4000 Menschen.
Sportlich
Gern gesehen und fotografiert sind dieser Tage auch die rotgewandeten Mönche aus dem Tibet-Kloster in Rikon, das
vor vierzig Jahren mit Unterstützung
des Dalai Lama in der Schweiz gebaut
wurde. Mönch Lama Tenzin ist mit seinen Ordensbrüdern derzeit fast jeden
Tag unterwegs zu einer Tibet-Veranstaltung. So auch an diesem Sonntag in
Rapperswil-Jona. Tenzin sitzt auf der Tribüne, um The forbidden Team («Die verbotene Mannschaft»), wie die tibetische
Fussballnationalmannschaft genannt
wird, anzufeuern. Sie ist Teil der tibetischen Olympiamannschaft, der vom
IOK eine Teilnahme an den Spielen in
Peking verwehrt wurde. Ihr Gegner, eine
Schweizer Prominenten-Mannschaft,
geht mit 2:9 unter. Dem Verein Tibeter
Jugend in Europa, der das Spiel organisiert hat, geht es jedoch um weit mehr
als um das Freundschaftsspiel. Kelsang
Gope sagt: «Wir müssen jetzt vor den
Olympischen Spielen in Peking um Aufmerksamkeit für unser Anliegen ringen.
Wer weiss, ob sich uns eine solche Gelegenheit noch einmal bietet.»
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