Vortrag für ehrenamtlich Tätige

Der Umgang mit traumatisierten Geflüchteten im freiwilligen Engagement
Vortrag für ehrenamtlich Tätige am 19.11.2015
Von:
Sabine Müller, Bremen
Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin
Praxis für Traumatherapie und Trauerbegleitung
Zahllose Menschen engagieren sich in der Flüchtlingsarbeit. Oft treffen sie in ihrem Engagement auf
traumatisierte Menschen, die vor Kriegen fliehen mussten und Gewalterfahrungen gemacht haben.
Dieser Vortrag soll Freiwilligen dabei helfen, sich auf die Arbeit mit eventuell traumatisierten
Menschen vorzubereiten. Was ist ein Trauma, woran erkenne ich eine Traumatisierung, und wie
kann ich traumatisierten Menschen hilfreich begegnen? Wie kann man als Freiwilliger auch die
eigenen Grenzen erkennen? Er richtet sich ausdrücklich nicht an Professionelle, sondern an
Menschen, die sich freiwillig engagieren.
1. Trauma und Traumafolgen
Trauma heißt Wunde. Es gibt große, kleine, riesige …,
von Menschen verursachte und Naturkatastrophen, kollektive Traumata oder technische
Katastrophen.
Psychotrauma = Seelische Verletzungen, Erschütterungen.
Nicht alles, was wehtut, ist ein Trauma.
Trauma = zugefügt bekommen einer lebensbedrohlichen Erfahrung.
Eine schwere Verletzung. An Leib und Leben bedroht werden.
Wie ist ein Mensch ausgestattet, um mit Verletzungen umzugehen?
Hängt von der Entwicklung, vom Alter ab.
Die Wunde ist da. Die Seele setzt sich damit auseinander.
Trauma kann heißen: Krieg. Gewalt. Sexualisierte Gewalt. Folter. Verlust von Menschen.
Verlust der Heimat. Existentielle Not. Flucht. Zeuge/Zeugin sein von Gewalt gegen andere
uva …
Zentrale Aspekte einer traumatischen Erfahrung sind Angst und Hilflosigkeit, die das
Erträgliche übersteigen
Der Organismus kennt drei Antworten auf überwältigende Bedrohung:
Kämpfen, Flüchten, Erstarren. Danach ist nichts mehr wie es war.
Die erste Zeit nach einem Trauma nennt man die akute Phase (akute Belastungsreaktion), in
der im Körper starke Stressreaktionen ablaufen, die sich als vermehrte Energie,
Schmerzbetäubung, Erstarrung, Schockreaktion oder Kampf- und Fluchtbereitschaft zeigen
können. Zugleich werden Selbstheilungskräfte aktiviert.
Nach traumatischen Erfahrungen kommt es häufig zu Symptomen:
- Überschwemmende Bilder/Erinnerungen (Flashbacks), viel daran denken, Gefühle von
Panik, Todesangst holen immer wieder ein. Alpträume. Unruhezustände. Kinder spielen oder
malen häufig die traumatischen Erlebnisse
- Vermeiden, was erinnert. Nicht sprechen/fühlen wollen, dicht machen. Ängste. Erstarrt
sein, leer fühlen, abgestumpft. Dissoziation. Erinnerungslücken.
- Vegetative Übererregung: hohe Anspannung, schlecht schlafen, Konzentrationsstörungen.
Schreckhaftigkeit.
Halten solche Symptome länger als 3 Monate nach dem traumatischen Ereignis an, spricht
man von einer Traumafolge-Störung (Posttraumatische Belastungsstörung)
Die körperlichen Reaktionen auf ein Trauma:
Instinktive Reaktionen auf Bedrohung:
Adrenalinausschüttung (verleiht starke körperliche Kräfte), starkes Herzklopfen
Blut strömt in die Fluchtmuskulatur Atmung wird schneller und flacher
Blutdruck und Puls steigen
Pupillen weiten sich (damit die Augen mehr aufnehmen können)
Muskelfasern sind stark erregt (bis zum Zittern)
Ausschüttung von körpereigenen Opiaten hemmen die Schmerzwahrnehmung
... verbales Ausdrucksvermögen nimmt ab. Eingeengtes Denken.
Wenn Flucht und Kampf unmöglich sind: Erstarren. d.h. der Körper erscheint inaktiv, wie gelähmt –
aber die körperlichen Mechanismen zum Kämpfen/Flüchten sind noch voll aufgeladen.
Der eigentlich notwendige Ablaufplan (der Körper bereitet sich auf Kampf/Flucht vor) wird
mittendrin unterbrochen. Extreme Hilflosigkeit entsteht.
Folge: Die Energie bleibt im Körper eingeschlossen und verursacht später posttraumatische
Symptome (P.Levine). Der Körper bleibt weiter in der Stressreaktion, auch wenn die Gefahr vorbei
ist. Abbau/Entladung der angestauten Energie ist hilfreich! Deshalb Bewegung, Zittern, Weinen nicht
unterdrücken oder vorschnell beruhigen.
Trauma-Reaktionen sind auch kulturell geprägt – und werden kulturell verarbeitet.
Nach traumatischen Erfahrungen brauchen Betroffene Beruhigung, Stabilisierung,
tröstende, unterstützende Reaktionen.
Seelische Widerstandskraft ermöglicht teilweise bemerkenswerte Selbstheilungskräfte =
Resillienz.
Schwere Lebenserfahrungen können auch die Entfaltung kostbarer Fähigkeiten bewirken:
Einfühlungsvermögen, Dankbarkeit für das Leben, Verbundenheit mit anderen und die
Bereitschaft, anderen zu helfen.
2. Hinweise zum Umgang mit traumatisierten Menschen
Traumatisierte Flüchtlinge brauchen äußere Sicherheit, Zeit, Akzeptanz und
Freundlichkeit.
Äußere Sicherheit:
- Lebenssituation, die Beruhigung möglich macht (in Massenunterkünften kaum
möglich)
- körperliche Stabilisierung (Gesundheit, Essen, Schlaf, Hygiene etc)
- Kontakt mit Nahestehenden (Angehörigen, Freunden)
- Perspektive (Bleiberecht, Familie, beruflich, Wohnen etc)
- Soziale Integration (Sprache, Freunde, Freude)
- Kraftquellen der eigenen Kultur nutzen können (religiöse Rituale, sozialer
Zusammenhalt)
- Zugang zu medizinischer und therapeutischer Hilfe
- Anerkennung der Traumatisierung durch äußere Instanzen
Innere Sicherheit/Stabilität
- setzt äußere Sicherheit voraus
- sich beruhigen können, wenn Erinnerungen belasten
- anerkennen, was schlimm war
- Entlastung von Scham- und Schuldgefühlen
- Hilfreiche soziale Kontakte
- Erfahrungen von Freude, Sinn, Kompetenz
- Um Hilfe/Unterstützung bitten können – und sie finden
- Zugang zu Kraftquellen (in sich selbst, im Kontakt mit anderen, zum Größeren/der
spirituellen Dimension)
- Freude und Leid ausdrücken, zwischen beidem pendeln
- Zeit, Geduld,
- freundliche akzeptierende Begleitung (bei Bedarf Therapie)
- Trauern
- Kraft im Neuanfang finden
Verarbeitung braucht Zeit!!!
Viele Bedingungen, die hilfreich und not-wendig wären, liegen nicht in der
Macht der ehrenamtlich Tätigen. Um Ausbrennen zu vermeiden: schauen, was
kann ich jetzt tun und darauf konzentrieren. Jeder Beitrag ist wichtig, verändert
das Ganze.
Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt (Talmud)
ErsthelferInnen sehen die traumatisierten Menschen derzeit v.a. in der Akutphase,
wenn Schock, Erstarren und überwältigende Gefühle auftreten, die Menschen
körperlich und seelisch geschwächt sind.
Sie helfen dabei, ein Gefühl des Willkommenseins zu vermitteln, ermöglichen den
erschöpften Menschen, ein wenig Sicherheit und Vertrauen zu spüren.
Das wesentlichste Empfinden, das zur Entspannung beiträgt, ist wenn in Leib und
Seele ankommt: „Die Gefahr ist vorbei.“
Vertrauen ist das beste Mittel gegen Angst und Hilflosigkeit.
Was kann ich tun, um vertrauenswürdig zu sein?
- Freundlichkeit: Du bist willkommen
- respektvolle Haltung
- Achtsamkeit (was ist gerade los – und was ist hilfreich zu tun?)
- Geduld !!!
- Transparenz (auch über die eigene Begrenztheit)
- Zuverlässigkeit
- Mitgefühl (nicht verschmelzen, nicht Mitleid)
- Wertschätzung
- Auf Stärken des Gegenübers achten und diese betonen
- Interesse an dem, was fremd ist
- Da sein, trösten, zuhören, auch ohne Worte
- Ein wenig Privatsphäre schaffen
- Kleine Freude-Momente ermöglichen
- Bei Unsicherheit: fragen, nicht einfach drauf los handeln
- Irritationen nicht persönlich nehmen (kulturelle Unterschiede verursachen
Missverständnisse)
- Ablenkung anbieten (Spiele für Kinder, Sport, Natur, Stadt erkunden, Singen
…)
-
Geschlechtsspezifische Aspekte beachten (z.B. bei Körperkontakt,
persönlichen Themen, Konflikten). Frauen mit sexualisierten
Gewalterfahrungen schämen sich oft für das Erlittene.
-
Auf Körpersprache achten (signalisiert sie Nähe oder Distanzierung?)
-
Keinen Druck ausüben, Grenzen respektieren
Ehrenamtliche sind keine Professionellen !!!
3. Psychohygiene der HelferInnen
Vertrauen & Zuversicht: mein Beitrag ist wichtig.
Wir sind alle ein Teil des Ganzen und bringen unseren Beitrag ein.
Das ist gut genug.
Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt (Talmud)
Was erwarte ich von mir?
Was erwarte ich von jenen, denen ich helfe?
Sind die Erwartungen realistisch?
Kann ich sie lockern, die Situation offen anschauen und mein Bestes tun?
Symptome einer sekundären Traumatisierung erkennen:
Bedrängende Bilder und Gedanken vom Gehörten/Gesehenen
Sich sehr ohnmächtig fühlen
Emotional angesteckt sein von der Verzweiflung, Wut, Angst …
Erstarren, Abschalten in Dumpfheit, Gleichgültigkeit
Hohe Anspannung, mangelnde Entspannung, Schlafstörungen
Auch HelferInnen brauchen Beruhigung, Stabilisierung, Wertschätzung,
Entspannung, Zeit zum Verarbeiten, Gespräche, Kraftquellen, Freude und Ausruhen.
Pausen sind notwendig!
Bitte achten Sie auf Ihre Grenzen. Obwohl es so viel zu tun gibt.
Wie im Flugzeug: Erst sich selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen, dann den anderen
helfen. Sonst kann man nicht helfen.
Drei Übungen (jeweils kurz demonstriert, mit der Einladung, mitzumachen)
Zur Distanzierung: Tresor-Übung (nach L. Reddemann)
Belastendes Material in einen imaginierten Tresor einschließen.
Zur Unterscheidung Ich - Andere: Lichtstrom-Übung (nach C. Diegelmann)
Eine Armlänge um mich herum ist meine Aura, gehört zu meinem Raum.
Aura als Schützhülle aus Licht imaginieren, in der bevorzugten Farbe.
Zur Beachtung von Freude und Dankbarkeit: Sternstunden-Übung (nach S. Wetzel)
Wann habe ich gestern und heute Freude-Momente erlebt, Momente des Glücks, der
Dankbarkeit? Welche Sinne waren beteiligt? In welcher Situation, alleine, mit anderen,
draußen, drinnen … Was kann ich tun, um solche Momente zu fördern und zu bemerken?
Zum Abschluss ein Gedicht von Rose Ausländer:
Ich verzichte nicht
auf Blumen und Musik
auf meinen Zorn über das Hungern Tausender
auf das Lächeln eines Menschen
auf harte und zarte Worte
auf das Da-Sein
in einer unfassbaren Welt
…