M. Hayne: Grundstrukturen menschlicher Gruppen Erkenntnisse aus Selbsterfahrungsprozessen in Altaussee im Lichte der vier Psychologien der Psychoanalyse Pabst Science Publishers, Lengerich, Berlin, Düsseldorf, Leipzig, Riga, Scottsdale (USA), Wien, Zagreb, 1995. Josef Shaked, Wien Die vorliegende Untersuchung ist das Produkt einer 20jährigen Tätigkeit des Autors als Mitbegründer der und Ausbilder innerhalb der "Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Gruppenanalyse", deren Aus-, Weiter- und Fortbildungsstätte in Altaussee in Österreich liegt. An diesem Ort finden sich zweimal jährlich bis zu hundert Teilnehmer ein, großteils Ärzte und Psychologen, um in Theorie und praktischer Selbsterfahrung ein tieferes Verständnis für die unbewusste Dynamik von Gruppenprozessen zu gewinnen. In methodischer Hinsicht hält der Autor fest, dass die Analyse seiner Beobachtungen und Reflexionen, die schließlich zu Einsichten über "Grundstrukturen menschlicher Gruppen" geführt hat, mit bestimmten Vorentscheidungen in Zusammenhang steht. Zunächst war aus den inzwischen vorhandenen sechshundert Beobachtungsprotokollen analytisch geführter Gruppen eine Auswahl zu treffen, wobei sich Hayne auf zwölf Gruppen, die von ihm geleitet wurden, sowie auf eine Großgruppe beschränkt. Für die Auswertung dieser Gruppenverläufe wiederum musste ein wissenschaftstheoretischer Rahmen abgesteckt werden, innerhalb dessen sich die Interpretation bewegen sollte. Dabei präsentiert der Autor in einem längeren Exkurs die Konzepte einiger Exponenten der Wissenschaftstheorie (Dilthey, Max Weber, Popper, T. S. Kuhn u. a.), um seinen Ansatz schließlich an der Tiefenhermeneutik von Habermas zu orientieren, d. h. an einer Sichtweise, welche die methodische Eigenständigkeit des psychoanalytischen Interpretationsverfahrens nicht nur gegenüber der Logik der Naturwissenschaften, sondern auch gegenüber der traditionellen Hermeneutik betont. Habermas hatte ja in seiner Freud-Abhandlung von "Erkenntnis und Interesse" zwei wesentliche Aspekte hervorgehoben. Zunächst, dass die Textentstellungen, welche die Hermeneutik Diltheys zu beheben sucht, keinen systematischen Stellenwert haben, denn der auf bewusste Intentionen gerichtete Sinnzusammenhang der Texte ist immer nur durch externe Einwirkungen bedroht (Sinnentstellungen durch die kulturelle Überlieferung u. a. m.). Die psychoanalytische Hermeneutik, die Freud paradigmatisch an der Traumdeutung entwickelt, zielt dagegen auf einen systematischen Zusammenhang, weil hier die Verstümmelungen des Textes intern bewirkt sind und im Kontext des Unbewussten als solche einen Sinn haben. Es handelt sich somit um Selbsttäuschungen eines Autors bzw. eines Patienten, der seinen Text bzw. sein Symptom namentlich durch das Auseinanderfallen von Rede, Handlungen und Erlebnisausdrücken nicht "verstehen" kann. Darüber hinaus demonstriert Habermas, dass die psychoanalytischen Begriffskategorien, die Freud aus der analytischen Situation und der Traumdeutung gewonnen hatte, auf eine methodologische Besonderheit verweisen: Denn diese Kategorien sind unter bestimmten Bedingungen einer geschützten Kommunikation nicht nur entdeckt worden, sie konnten "unabhängig davon gar nicht expliziert werden". Freud selbst nennt es bekanntlich den "Ruhmestitel der analytischen Arbeit, dass Forschung und Behandlung bei ihr zusammenfallen." Hayne folgt der hier in nuce nachgezeichneten Argumentationslinie von Habermas nun weitgehend, vertieft bzw. erweitert sie aber in zwei entscheidenden Punkten. Während Habermas seiner Abhandlung ein mehr oder weniger unhinterfragtes Verhältnis Therapeut – Patient zugrunde legt und damit die "Textentstellungen" wie selbstverständlich den Patienten zurechnet, thematisiert Hayne in beeindruckender Weise auch die unbewussten Textverstümmelungen bzw. Blockaden seiner eigenen analytischen Tätigkeit und damit das Problem der Gegenübertragung. Die ständige Reflexion auf die Leiterproblematik, die in Altaussee durch ein wechselseitiges Kommunikationsgeflecht von Gruppenleitern, Co-Leitern, Beobachtern und StaffKonferenzen besonders manifest ist, wurde so zu einem der Hauptanliegen des "interaktiven Konzeptes", wie der Autor seine Arbeit charakterisiert. Darüber hinaus zeigte die langjährige gruppenanalytische Erfahrung, dass das von Freud in der therapeutischen Dialogsituation entdeckte Begriffsinstrumentarium, namentlich das der psychosexuellen Entwicklungsstadien, sich bei der Interpretation von Gruppenabläufen zwar als fruchtbar erweist, aber durchaus ergänzungsbedürftig ist. Hayne würdigt daher neben der Triebpsychologie Freuds noch drei weitere psychoanalytische Schulen, auf die auch der Untertitel der Untersuchung anspielt: die Ichpsychologie (H. Hartmann, M. Mahler, O. F. Kernberg u. a.), welche die Beobachtung verschiedener Ichfunktionen auf Gruppenebene, vor allem die der Abwehrmechanismen zur Abwendung von Angst in der Gruppe gestattet; die Objektbeziehungstheorie (M. Klein, W. Bion u. a.), mit der die Einbeziehung von tieferen regressiven Vorgängen und primitiven Abwehrmechanismen in die analytische Gruppenarbeit möglich wird, und schließlich die Selbstpsychologie (H. Kohut, u. a.), mit deren Hilfe die Rolle der Erhaltung des Selbstgefühls und des Schutzes gegen Kränkungen in der Gruppe transparent gemacht werden kann. Bei der Offenlegung des theoretischen Bezugsrahmens skizziert Hayne schließlich nicht nur Grundgedanken von Freuds Massenpsychologie sowie den Ansatz von Foulkes, dessen Idee einer umfassenden Gruppenmatrix die Untersuchung stark prägt, sondern er nimmt auch Anregungen aus thematisch relevanten Nachbardisziplinen auf. Dazu zählen die Einsichten Sartres über die immanenten Machtstrukturen sozialer Verbände, die Massentheorien von Canetti und Broch sowie die Institutionsanalyse von Erdheim. Auf Basis des Zusammenspiels von breitgefächertem Vorverständnis und langjähriger Gruppenerfahrung entwickelt der Autor nun seine Hauptthese, die besagt: Gruppen entfalten ihre Dynamik und speziell jene zwischen Mitgliedern und Leitern im Spannungsgefüge von Liebe und Macht, wobei sich innerhalb dieser Dialektik sechs Dimensionen von Gruppenabläufen konstatieren lassen. Der Begriff "Dimension", den der Autor in Anlehnung an das familientherapeutische Konzept von Boszormenyi-Nagy verwendet, soll einerseits darauf hinweisen, dass sich Gruppen in Reifungs- und Differenzierungsschritten entwickeln, andererseits und im Gegensatz zu Begriffen wie "Stadien" und "Phasen" aber auch davor warnen, die einzelnen Entwicklungsmomente zu sehr als monadische Gebilde und in zeitlich-linearer Abfolge aufzufassen. In Wirklichkeit überlagern sich die einzelnen Dimensionen ebenso, wie mit einer permanenten Neigung zur Regression in frühere Entwicklungsstufen zu rechnen ist. Den sechs immanenten Ablaufsregeln weist Hayne folgende Termini und Charakterisierungen zu: 1. Die Nidation, in der sich die Mitglieder in das "Nest" der Gruppe einnisten, um ein erstes Gefühl der Geborgenheit zu erlangen (medizinisch steht der Begriff für das Sich-Einbetten des befruchteten Eis in die Schleimhaut der Gebärmutter). 2. Die Kontrolle, in der bereits ein gestärktes Selbst- und Machtgefühl der Gruppenmitglieder sich selbst und den anderen gegenüber erkennbar ist. 3. Die Initiation, die durch Formen des Aufstandes gegen die Autorität und des Ringens um die eigene Potenz gekennzeichnet ist. 4. Die Ökodomee, in der das Selbstprofil der einzelnen Teilnehmer deutlich wird und gemeinsame gestalterische Kräfte geweckt werden (man baut - gemäß dem griechischen Terminus - ein "Haus", man will ein "Dach über dem Kopf"). 5. Die vollständige Kommunikation, über die nun reifere Beziehungen untereinander eingegangen werden können. 6. Die Ablösung, in der die Auseinandersetzung mit Trennung und Trauer das Gruppengeschehen bestimmt. Insgesamt stellt Haynes Buch einen wertvollen, die aktuelle Literatur in mehrfacher Hinsicht bereichernden Beitrag für das Verständnis immanenter Gruppenstrukturen dar. Zwar wären einzelne Punkte vielleicht einer näheren Ausarbeitung würdig: So etwa könnte man sich in formeller Hinsicht eine exaktere Zitierweise vorstellen (Literaturverweise erfolgen häufig ohne Seitenangaben). Und inhaltlich würde man sich eine noch stärkere Einbindung kulturtheoretischer Problemstellungen (etwa bei Canetti) in die Analyse und Deutung konkreter Gruppenverläufe wünschen. Auch ein Leitmotiv der Untersuchung, die Dialektik von Liebe und Macht, eignete sich für eine grundsätzliche theoretische Abklärung der beiden Zentralbegriffe (der Machtbegriff wird nur en passant mit einigen Querverweisen auf A. Adler abgehandelt). Alles in allem aber überwiegen die Vorzüge dieser Arbeit bei weitem. Insbesondere fällt der erfreulich undogmatische Umgang mit den vier Hauptströmungen der Psychoanalyse auf, die als gegenseitig sich befruchtende Ergänzungen begriffen werden, was in der gegenwärtigen Diskussion durchaus keine Selbstverständlichkeit ist. Und die Einbeziehung sozial- und geisteswissenschaftlicher Nachbardisziplinen hat zur Konsequenz, dass der enge Rahmen der Psychoanalyse als einer Beschäftigung mit dem Seelenleben des Einzelnen überwunden und dadurch nicht nur Erkenntnisse über Gruppen-, sondern von Institutions- und Gesellschaftsprozessen überhaupt evident werden. Im weiteren besticht die zurückhaltende, immer wieder von weiterführenden Fragen durchsetzte Interpretation der exemplarisch vorgelegten Gruppenverläufe. Namentlich die Veranschaulichung der sechs Dimensionen wird zweifellos zu nachhaltigen Auseinandersetzungen innerhalb des gruppenanalytischen Diskurses führen. Letztlich, aber nicht zuletzt findet die gezielte Thematisierung subjektiver Komponenten bei der Leitung von Gruppen die Aufmerksamkeit des Lesers. Dabei wirkt das beständige Hinterfragen eigener Befindlichkeiten niemals wie ein bloßes Abgleiten in den Subjektivismus, sondern liefert im Gegenteil einen entscheidenden Beitrag zur Objektivierung des Gruppengeschehens. Insbesondere dieses hohe Maß an Selbstreflexion ist es, das Haynes Buch zu einer anregenden Lektüre macht.
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