Essay 4

 Geschichtsessay „Jede neuerbaute Dampfmaschine vermehrt die Zahl der Bettler“
Eine Textilfabrik in Bangladesch:
So, nur noch eine Hose und Zia hat es für heute geschafft. Es ist schon spät und sie ist
hundemüde. Seit fast 12 Stunden1 hat sie jetzt gearbeitet. Dabei ist sie erst 14 Jahre1 alt. Für
sie ist das völlig normal. Alle ihre Freundinnen arbeiten seit sie 12 sind, denn ihre Familien
brauchen das wenige Geld, das sie bekommen, für Essen und Wasser.
Deshalb darf sie jetzt nicht aufhören. Sie muss weitermachen, sonst verliert sie ihre Stelle
als Näherin womöglich noch, und die Aufseher in der Fabrik sind streng. Wenn man nur kurz
Pause macht, schlagen sie einen und man wird gemeldet, das weiß Zia aus eigener
Erfahrung.
Es ist heiß und stickig. Im Raum sitzen so viele Menschen. Junge Näherinnen, alte
Näherinnen. Und so wie Zia bangen sie alle jeden Tag aufs Neue um ihre wertvolle Stelle als
Näherin- Ja, richtig: Selbst eine Stelle als Näherin gilt in Zias Heimat Bangladesch als
wertvoll. Denn auch wenn es harte Arbeit für gerade mal einen Hungerlohn ist, ist es
immerhin mehr als nichts. Wenn man als Normalbürger in Bangladesch überleben will, muss
man sich ausbeuten lassen. Sonst lassen es andere tun und man selber hat gar nichts.
Zia spürt das Flackern der warmen Neonröhren auf ihrer Haut. Ihr Summen ist manchmal
unerträglich laut. Da kann man sich eigentlich nur schwer konzentrieren, aber die miserablen
Arbeitsbedingungen ist sie schon gewohnt.
Dort, wo Zia arbeitet, werden Jeans hergestellt. Ihre Aufgabe ist es, die vorderen Taschen
und das Etikett anzunähen. Die zwei Taschen sind schnell angenäht. Jetzt kommt das
Etikett. Sie nimmt sich eins der kleinen Schildchen aus der Schachtel und schaut es sich an.
„H&M“ steht darauf. Sie kann es zwar nicht lesen, aber sie weiß, was es bedeutet. Das ist
die Marke für die ihre Firma die Jeans herstellt. Als sie einmal im Zentrum der Stadt war, hat
sie ein riesiges Plakat mit diesem Logo gesehen. Die Frauen auf dem Plakat sahen wirklich
sehr hübsch aus, und die Sachen, die sie trugen kamen ihr vor, wie aus einer anderen Welt.
Ob sie sich irgendwann einmal auch nur ein Kleidungsstück dieser Marke leisten kann? Zia
glaubt nicht. Nein, sie weiß es. Sie verdient 10 Cent die Stunde, im Monat gerademal 30
Euro1. Davon geht alles für Lebensmittel drauf, ab und zu mal was Günstiges zum Anziehen,
aber nur wenn es auch wirklich nötig ist. Wenn sie 18 wird, verdient sie hoffentlich mehr,
denn Kinder bekommen weniger. Das Problem: In letzter Zeit wurde immer mehr
Arbeiterinnen gekündigt. Eine neue Nähmaschine soll nämlich eingeführt werden. Die ist
schneller und somit billiger für den Besitzer der Fabrik. Mehr Lohn bekommen sie dadurch
trotzdem nicht. Zia hofft, dass sie nicht aussortiert wird. Aber mehr als sich anstrengen kann
sie jetzt auch nicht dagegen machen. Also näht sie fix das Schild an die Hose –und fertig!
So, das war’s für heute. Oh man, jetzt ist sie echt alle. Glücklich darüber, einen weiteren Tag
geschafft zu haben, macht sie sich auf den Heimweg…
Ein H&M-Geschäft in Berlin:
Frau Müller kommt gerade aus der Umkleidekabine. Sie schaut auf die Uhr: 17:30 –„Oh, so
spät schon! Na, dann muss ich jetzt los.“ Schnell läuft sie zur Kasse. Sie hat sich für ein
schwarzes Top, ein T-Shirt mit Aufdruck und eine gestreifte Hose entschieden. Das kauft sie
sich einfach mal so –kostet ja nicht viel. 30 Euro, das ist gar nichts, wenn man bedenkt, was
sie im Monat verdient. Aber komisch ist das schon, denkt sie sich –Drei Kleidungsstücke für
so wenig Geld. –Sie denkt nicht weiter drüber nach, schließlich hat sie es eilig. Auf dem Weg
zur Kasse springt ihr eine süße blaue Jeans ins Auge –15 Euro! Supergünstig. „Die könnte
Anne doch gefallen“, denkt sie sich und nimmt eine mit.
Sie bezahlt, und fährt nach Hause. Dort angekommen will sie ihrer Tochter das errungene
Schnäppchen präsentieren. Sie läuft hoch in ihr Zimmer. Anne sitzt auf ihrem Bett und drückt
an ihrem Handy rum. So was aber auch!
„Anne, häng doch nicht immer so am Handy!“
„Boa, Mama! Das ist doch voll normal, was hast du denn!?“ wird sie gleich angefahren.
„Na ja, wie auch immer… Schau ma, was ich dir mitgebracht hab! Ist die nicht hübsch? Hat
nur 15 Euro gekostet. Irre, was?! Wie findest du sie?“
„Hmmmm“
„Anne! Jetzt schau doch mal!“
„Ja, warte! Ich schreib noch….
Oh! Die ist wirklich hübsch! Tolle Farbe! …danke Mama, pack sie mal in meinen Schrank.“
„Na, ich wusste doch gleich, dass sie dir gefällt. Schön! …Na gut, dann wird ich mal Essen
machen gehen“
„Ja, ok, bis dann.“
Als ihre Mutter weg ist, geht Anne zum Schrank und schaut sich die Hose etwas genauer an:
„Oh, von H&M! Ja, die sieht echt gut aus! Aber die Sachen von H&M sehen ja eigentlich
immer gut aus…
Dabei hab ich ja eigentlich schon so viele Hosen. Da reicht der eine Schrank bald nich
mehr… Na ja, aber Klamotten kann man doch nie genug haben!… Ich könnte eigentlich auch
ma wieder shoppen gehen…“
Sie stopft die Jeans zurück in den Schrank. Dann setzt sie sich wieder an ihr Handy und
widmet sich den wichtigen Dingen….
Diese Geschichte ist zwar fiktiv, ihr Hintergrund dennoch alles andere als frei erfunden! Ich
glaube, jeder hat schon mal davon gehört, wie schlecht die Arbeitsbedingungen im
Produktionssektor der Massentextilbranche sind. Dabei bietet die Globalisierung den
Konzernen völlig neue Möglichkeiten der Ausbeutung. Sie findet jetzt nicht mehr lokal,
sondern global statt, das heißt die Konzerne lassen einen Großteil ihrer Produkte in den
verarmtesten Ländern der Welt produzieren. Die Arbeiter können sich nicht mal dagegen
wehren, denn auch wenn es nur ein Hungerlohn ist, den sie bekommen, sind sie auf ihn
angewiesen.
Warum kaufen wir also trotzdem weiter die Produkte riesiger Konzerne, wie H&M3, Zara3oder
GAP2?
Weil es jeder macht. Weil ihre Produkte schön sind. Weil man die Schuld einfach auf die
Konzerne abschieben kann. Und vor allem, weil es viel mehr Geld kosten würde, unter
humanen Arbeitsbedingungen hergestellte Kleidung zu kaufen.
Wir schauen uns die dramatischsten Science-Fiction Filme an, in denen die versklavte
Unterschicht von der Oberschicht unterdrückt wird und sind dabei immer auf der Seite der
Sklaven. Dabei halten wir, als westliche Gesellschaft uns unsere eigenen Sklaven, die
Textilbranche ist nur ein Beispiel dafür. Es lässt sich nur so gut verdrängen, weil die
schlimmen Zustände so weit weg von uns sind.
Wie können wir das ändern? Die Konzerne müssen dafür sorgen, dass ihre Lieferanten die
Arbeitsbedingungen verbessern und die Löhne erhöhen.
Wir, die Konsumenten, können sie nur durch Boykott dazu zwingen! Ich bezweifle, dass da
alle mitmachen! Ich muss zugeben, dass ich wahrscheinlich selber Probleme damit hätte,
meinen Kleiderkonsum einzuschränken.
In der Kölnischen Zeitung stand 1818 geschrieben: „Jede neuerbaute Dampfmaschine
vermehrt die Zahl der Bettler“. Die Schattenseite der Industrialisierung lässt sich problemlos
auf die der Globalisierung übertragen. Und das nach 200 Jahren…
Anmerkungen und Quellenangaben
1: https://netzfrauen.org/2014/11/04/die-billige-masche-von-hm-die-karawane-zieht-weitermade-in-ethiopia/(15.11.2015, 11:04) Werte zum Teil leicht verändert
2: https://netzfrauen.org/2014/01/23/bangladesch-naehen-bis-den-tod-keineentschaedigung-fuer-naeherinnen/ (15.11.2015, 11:07)
3: https://netzfrauen.org/2014/11/04/die-billige-masche-von-hm-die-karawane-zieht-weitermade-in-ethiopia/ (15.11.2015, 10:37)