S C H W E R P U N K T | Sprache und Soziale Arbeit Audiopädagogik: Begleitung auf dem Weg zur Teilhabe Wie hörbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche zu einer gelingenden Kommunikation finden Text: Eva Graf «Nicht sehen trennt den Mensch von Dingen. Nicht hören trennt den Mensch vom Menschen.» Hörbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche erfahren Tag für Tag, wie treffend das Zitat des Philosophen Emanuel Kant ist. Nicht gut hören hat denn auch einen Einfluss auf die gesamte Entwicklung eines Kind angemessen zu kommunizieren. Gleichzeitig empfehlen wir ihnen eine Kontaktaufnahme mit der Elternvereinigung SVEHK (Schweizerische Vereinigung Eltern hörgeschädigter Kinder). Andere Eltern, welche gleichermassen betroffen sind, können eine wertvolle Unterstützung sein. Kindes. Audiopädagoginnen und -pädagogen begleiten hörbeeinträchtigte junge Menschen von Geburt an. Ein Bericht aus der Praxis. Wenn bei einem Kleinkind eine Hörbeeinträchtigung diagnostiziert wird, so kann das bei der betroffenen Familie Fragen, Sorgen und Ängste auslösen. Wir Fachleute des audiopädagogischen Diensts APD Münchenbuchsee (siehe Kasten) bemühen uns deshalb stets, möglichst rasch nach der Anmeldung mit den Familien in Kontakt zu kommen. So können wir ihre Fragen aufnehmen und Sorgen verringern. Die Folgen einer Hörbeeinträchtigung sind weitreichend. Die eingeschränkte auditive Wahrnehmung führt dazu, dass sprachliche Mitteilungen nur unvollständig wahrgenommen werden. Das Kind muss fortwährend kombinieren, was der Sprechende meint, weil es nicht alles gehört hat: Hab ich es richtig verstanden? Macht das Gehörte resp. das Verstandene Sinn? Zusammenhänge müssen aus wenigen Schlüsselwörtern kombiniert werden. Ausserdem kann das Weltwissen durch fehlende Erfahrung eingeschränkt sein. Auch die Raumorientierung und die Schalllokalisation (woher kommt das Geräusch?) sind stark erschwert. Enge Zusammenarbeit mit den Eltern Die Eltern sind für uns wichtige Ansprechpartner während der Begleitung der Kinder. Sie können über Beobachtungen berichten, welche sie bei ihrem Kleinkind machen, was die Einstellung einer guten apparativen Versorgung ermöglicht. Unsere wöchentlichen Besuche reichen allein aber nicht aus, um das Erlernen der Muttersprache beim Kleinkind zu sichern. Unser Bestreben ist es daher, die Eltern im Sinne des Empowerment anzuleiten, mit ihrem Eva Graf, Schulische Heilpädagogin mit Schwerpunkt für Schwerhörige und Gehörlose, ist B ereichsleiterin beim audiopädagogischen Dienst (APD). 18 SozialAktuell | Nr. 2_Februar 2016 Der Sprach- und Schrifterwerb Die Kinder und Jugendlichen, welche wir begleiten, besuchen in der Regel die Schule an ihrem Wohnort. Deshalb steht das Erlernen der Lautsprache im Vordergrund. Wir empfehlen den Eltern, mit ihrem Kind in der Familiensprache zu kommunizieren, da es ihre emotionale, vertrauensbildende Sprache ist. Dies gilt auch für Familien, welche nicht Deutsch als Familiensprache sprechen. Für das Kind ist es von Vorteil, wenn es möglichst früh viele sprachliche Angebote erhält. Alltagsgeräusche sollen erlebt und so begreifbar gemacht werden. Als Zweitsprache erlernen die meisten Kinder die Standardsprache. Bei Kleinkindern, welche noch nicht oder erst gerade in die Lall- und Sprechphase kommen, empfehlen wir das zusätzliche Anbieten von Gebärden der Deutschschweizer Gebärdensprache. Wir beobachten, dass dies Kleinkinder im Sprechlernprozess unterstützt, da nebst dem auditiven ein weiterer Sinn angesprochen wird. Die Anwendung der Gebärden geschieht in Absprache mit den Eltern. Für das Kind ist es von Vorteil, möglichst früh viele sprachliche Angebote zu erhalten Sehr früh binden wir die Schriftsprache in unsere Sprachförderung ein. Dies aber nicht mit der Idee, dass die Kleinkinder früh lesen lernen sollen. Gesprochene Sprache hat einen Anfang und ein Ende: Ein Satz beginnt, und irgendwann ist er fertig. Schrift ist unendlich, sie ist immer da und bleibt bestehen. Die Schriftsprache dient als Mittel der Sprachförderung: Wir empfehlen unter anderem, Erlebnisse mit Bild und Text (kurze Sätze, Schlüsselwörter) festzuhalten. Dem Kleinkind wird bei Betrachtung dieser Erlebnisse immer wieder der gleiche sprachliche Inhalt angeboten. Wiederholungen bringen dem Kleinkind Sicherheit. Ausserdem kann das Kleinkind damit auch anderen Personen etwas «erzählen» und wird durch die visuelle Hilfe (Bild und kurzer, schriftlicher Beschrieb) besser verstanden. Die Personen können Fragen dazu stellen, und das Kleinkind erlebt eine gelingende Kommunikation. Bei grösseren Kindern kann mit Einbezug der Schrift das Hörbild vervollständigt und verbessert werden. Es ist oft zu beobachten, dass Kinder die Endungen einzelner Wörter akustisch schlecht wahrnehmen. So kann dem Kind, das Sprache und Soziale Arbeit | S C H W E R P U N K T welche Form von Unterstützung für das Kind/den Jugendlichen aktuell am besten geeignet ist. Dies können die Kleingruppe, Partnerarbeit, aber auch das Arbeiten in der Einzelsituation sein. Auch wenn Kinder und Jugendliche nicht regelmässig durch den APD begleitet werden, können sich die Eltern jederzeit bei uns melden und sich unsere Unterstützung holen. Bei mehr als der Hälfte der bei uns gemeldeten Kinder sind wir so auch nur im Rahmen eines jährlichen Beratungsgesprächs tätig. jeweils «Aben» anstelle von «Abend» spricht, anhand des Schriftbildes des Wortes «Abend» aufgezeigt werden, dass am Ende ein plosiver Laut (Verschlusslaut) folgt. Auch grammatische Strukturen können anhand der Schrift visualisiert und somit unterstützend verwendet werden. Schulische Integration Dank der Früherfassung durch das Neugeborenen-Hör screening, apparativer Versorgung und sprachlicher (lautsprachlich und gebärdensprachlich) Förderung durch die Eltern sowie durch die Unterstützung von Audiopädagogik und weiteren Fachpersonen wird es möglich, dass ein gros ser Teil der Kinder mit Hörbeeinträchtigung den Kindergarten und die Schule wohnortsnah besucht. In enger Zusammenarbeit mit den Eltern und der Schule wird ein bedarfsgerechtes audiopädagogisches Förderangebot für das Kind gestaltet. Die enge Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen ermöglicht uns die optimale Unterstützung der K inder in ihrem schulischen Umfeld. Gleichzeitig können wir die Lehrpersonen aktiv beraten und in ihrem täglichen Handeln unterstützen. Die Intensität der Begleitung durch uns ist sehr individuell. Nicht jedes Kind braucht gleich viel Unterstützung. Daher wird dies mit den Eltern und der Schule abgesprochen. Im Laufe eines Schuljahres kann bei Bedarf die Intensität der audiopädagogischen Begleitung auch verändert werden. Gemeinsam mit der Lehrperson wird besprochen, APD Münchenbuchsee 55 Jahre Erfahrung Der audiopädagogische Dienst APD im Kanton Bern ist eine Abteilung des Pädagogischen Zentrums für Hören und Sprache in Münchenbuchsee. Er besteht seit 55 Jahren und verfügt über viel Erfahrung zum Thema Integration. 23 Audiopädagoginnen und -pädagogen begleiten und fördern zurzeit über 430 Kinder im Kanton Bern, im Oberwallis und im deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg. Wissenswertes für die Soziale Arbeit A. Kommunikation: –– Blickkontakt ist wichtig. Schauen Sie einander beim Sprechen an. Vermeiden Sie es, die Hände vor das Gesicht zu halten oder gar den Mund abzudecken. Bei Männern erschwert ein Bart das Absehen von den Lippen. –– Sprechen Sie in klaren Sätzen. Überdeutliches Sprechen ist ungünstig, denn es verändert das gewohnte Mundbild. –– Vermeiden Sie unnötiges Herumlaufen während eines Gespräches/im Unterricht etc. –– Eine klare Gesprächsführung ist von Vorteil: Nur eine Person spricht. Sobald jemand anderes sprechen will, macht er dies beispielsweise durch ein Handzeichen kund, damit die hörbeeinträchtigte Person sich sofort umorientieren kann. –– Ein Gespräch wird einfacher, wenn das Thema für alle Beteiligten klar ist. –– Vermeiden Sie abrupte Themenwechsel. Geben Sie diese vorgängig bekannt. –– Beziehen Sie wenn möglich visuelle Unterstützung mit ein. –– Vergewissern Sie sich mit gezielten Rückfragen, ob das Gesagte verstanden wurde. Formulieren Sie Ihre Frage so, dass keine Ja-Nein-Antwort möglich ist –– Bedenken Sie, dass bei Betrachtung eines Filmes, Gehörtem ab Band das visuelle Absehen nicht möglich ist. Inhalte werden dadurch womöglich nicht vollumfänglich verstanden. Verwenden Sie wenn möglich Untertitel oder geben Sie vorgängig schriftliche Informationen ab/ besprechen Sie Gesehenes, Gehörtes im Anschluss. B. Räumliche Rahmenbedingungen: –– Wer nicht gut hört, muss gut sehen = Licht ein –– Vermeiden Sie Störschall = Fenster und Türen bleiben (auch im Sommer) zu. –– Ein hörbeeinträchtigtes Kind/eine hörbeeinträchtigte Person soll in der Nähe des Sprechers sitzen und Blickmöglichkeit auf dessen Gesicht haben. Absehen hilft Hörlücken zu füllen. Ausserdem sollte die hörbeeinträchtigte Person mit dem Rücken zum Fenster sitzen. So sind die Gesichter der Sprechenden gut sichtbar. –– Hallende Räume sollten mit schallschluckenden Isola tionen versehen werden. Links www.audiopädagogik-bern.ch – Homepage des APD Münchenbuchsee mit Downloads, Agenda zu audiopädagogischen Themen, häufigen Fragen, einem Forum, Kurzfilmen u.a. www.audiopädagogik.ch – Kurzfilm Audiopädagogik im Frühbereich, Kurzfilme Schulbereich, Hörgeräte, Adressen der audiopädagogischen Dienste Deutschschweiz www.svehk.ch – Schweizerische Vereinigung der Eltern hörgeschädigter Kinder mit verschiedenen Regionalgruppen Nr. 2_Februar 2016 | SozialAktuell 19
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