„Grenzziehung per Lineal“ Die Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dem 1. Weltkrieg als Ursache vieler Konflikte 1918 zerfiel das Osmanische Reich und neue Staaten entstanden auf dessen ehemaligem Gebiet. Wie wirken sich diese neuen Grenzen in Hinsicht auf ethnische und religiöse Konflikte bis heute aus? Von Matthias Hoffmann N ach dem Ende des 1. Weltkriegs und der Kapitulation der Mittelmächte (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Bulgarien) wurde die „Konkursmasse“ dieser unterlegenen Staaten unter den siegreichen Ententemächten (Großbritannien, Frankreich und Russland) aufgeteilt. Dabei hatte das von US-Präsident Wilson geforderte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ in Europa zu einer Umgestaltung der alten Grenzen geführt. Auch das Osmanische Reich war davon hart betroffen. England und Frankreich teilten das Gebiet im Nahen Osten (gegen die Richtlinien Wilsons) quasi per Lineal auf, ohne auf mögliche ethnische oder religiöse Konflikte oder auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker Rücksicht zu nehmen. Eine rücksichtslose Neuordnung Die Idee zu dieser Grenzziehung entstand bereits 1916, als das Osmanische Reich sich noch im Krieg befand. Dabei wurden die Grenzen zwischen dem Nordteil der Gebiete, die unter französischen Einfluss kommen sollten, und den britischen Mandaten im sogenannten „SykesPicot-Abkommen“ (1916) anhand von Linienziehungen zwischen Buchstaben der Beschriftung einer Landkarte festgeschrieben. US-Präsident Wilson hingegen wollte an dem von ihm geforderten „Selbstbestimmungsrecht“ festhalten und beauftragte 1919 den Geschäftsmann und Arabisten Charles Richard Crane und den Theologen Henry Churchill King herauszufinden, ob die Bevölkerung Syriens ein französisches und die Bevölkerung Mesopotamiens und Palästinas ein britisches Mandat akzeptieren würden. Der Bericht der „King-Crane Commission“ ergab, dass die Bevölkerung die jeweils zur Debatte stehenden Mandatschaften ablehnte. Stattdessen wird im Bericht empfohlen, dass Palästina und Syrien zusammen ein Mandat der USA werden sollten unter Miteinbeziehung einer arabischen Regierung (unter Faisal bin Hussein als König). Übersicht zu den wichtigsten Ereignissen 1916 „Sykes-Picot-Abkommen“ Aufteilung osmanischer Gebiete in französische und britische Mandatszonen 1917 „Balfour-Deklaration“ Zusage des britischen Außenministers Balfour an die zionistische Föderation, bei der Errichtung eines jüdischen Staates zu helfen 1918 Waffenstillstand von Moudros Kapitulation des Osmanischen Reiches 1919 „King-Crane Commission“ Umfrage zur Akzeptanz der Mandatschaften, erst 1922 veröffentlicht 1920 Vertrag von Sèvres Plan einer drastischen Aufteilung der ehemaligen Gebiete des Osmanischen Reiches unter den Ententemächten 1920 Konferenz von Sanremo Bestätigung des „Sykes-Picot-Abkommens“ 1923 Vertrag von Lausanne Relativierung des Vertrags von Sèvres: Festlegung der Grenzen der Türkei (inklusive zuvor in Frage stehender Gebiete, z.B. der Kurdenregion) 14 welt und umwelt der bibel 1/2016 at iq S op Sk opje jee ue ALB LB BA ANI ANI NIE M GÉOR GÉ ORG GIIE THRACE MA M ACÉ C DO DOIN NE NE OI ÉD C A Tbi bili liis Constantinople C h a î n e e Po n t i q u AR A RMÉ MÉN MÉNI NIIE AZ A ZE ER RBA BAÏÏD D DJA JA JA AN N Ankara Mer Égée Mer Ionienne M LY D I E Pergame Casp Vansee Corinthe Athènes Éphèse Tigris TÜ ÜRK KEI EI Urmiasee M Ninive SY S SYR YRI RIEN EN N Eu p A IR Doch anstelle dieses Vorschlags, der vermutlich Patmos eine stabilisierende Wirkung entfalten hätte können, werden die britisch-französischen Pläne umgesetzt: Frankreich übernimmt die nördlich gelegene Region,Kreta die Gebiete Libanon und Syrien, und Großbritannien erhält die Kontrolle ZYPE ZY PE P ERN über Palästina und Mesopotamien (dem zuvor noch die Provinz Mossul einverleibt wird). Zwischen den Mandaten Palästina, Mesopotamien (Irak) und Syrien entsteht als „Pufferstaat“ Transjordanien (ab 1950 Jordanien). Durch diesen radikalen Eingriff ohne Rücksicht auf ethnische oder religiös-konfessionelle Gegebenheiten ÄG Y P T EN entstehen massive Konflikte. hr at Mari Französisches Mandatsgebiet Britisches Mandats IRAK gebiet LIBANON Beirutt ISRAEL TRANSJORDANIEN M Baag Bagd B gd dad d Babylon Britisches Mandatsgebiet Ka K airro KU K KUWE UWE WEIT W ET Spannung zwischen den Religionen SINAI r Ro ug e y e Lib 15 lf Me de rt se welt und umwelt der bibel 1/2016 o l Dé 500 km G Die Etablierung der britischen und französischen Mandate führte in Syrien zu AuseinandersetzunTell el-Amarna gen zwischen Muslimen und Christen und zur Golfe Die Aufteilung des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg d’Aqaba Hégra Abspaltung des Libanon als einer Art Schutzzone unter die Mandatsmächte HAUTE für die (überwiegend maronitischen) Christen. ÉG Y P T E P É N I N S U L E Louxor Die Auseinandersetzung zwischen Christen und A R A B I Q U E Muslimen wurde in dieser Region erneut 1958 in Riyad a der Libanonkrise und massiv von 1975 bis 1990 Médine ÉGY ÉG YP PTE E Konflikt ohne absehbares Ende im libanesischen Bürgerkrieg ausgetragen. In ARABIE den anderen Mandatsgebieten waren Christen Unter den verschiedenen muslimischen GruppieS A OU O U DI DITE – wie schon zur Zeit des Osmanischen Reichs – rungen entstanden innerhalb der neuen Grenzen eine Minderheit. Konflikte, vor allem zwischen den Schiiten, die bereits zur Zeit des Osmanischen Reiches die La Mecque Mehrheit bildeten und den meist in der MinderMinderheitenschutz für Christen heit befindlichen Sunniten. Dies gilt besonders für den Irak, wo Saddam Hussein wegen der Im Osmanischen Reich waren Christen generell Massaker an Schiiten und Kurden zum Tode verdurch das Millet-System (eine Form islamischer urteilt wurde. Diese Auseinandersetzungen breRechtsordnung) wenigstens minimal geschützt. chen heute wieder besonders in den durch den Übergriffe gegen christliche Bevölkerungsgrup„Islamischen Staat“ terrorisierten Regionen auf. pen waren zumeist wohl eher durch nationalisEines der größten durch die neuen Grenzen tische Aspekte geprägt, wie etwa die Verfolgung verursachten Probleme entstand im englischen der Pontos-Griechen am Schwarzen Meer und der Mandatsgebiet Palästina: Durch den britischen Aramäer oder der Massenmord an Armeniern im Außenminister Arthur Balfour wurde in der nach 1. Weltkrieg (und bereits 1894–1896 und 1909). In ihm benannten „Balfour-Deklaration“ im Jahr der (eigentlich laizistischen) Türkei sind Christen 1917 der zionistischen Föderation in London zunicht als Körperschaft öffentlichen Rechts anerDr. Matthias gesagt, bei einer „Errichtung einer nationalen kannt. Auf dem „Weltverfolgungsindex“, in dem Hoffmann Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ Verfolgung und Benachteiligung von Christen habilitiert sich an der zu helfen. Diese Zusage stand natürlich den Inanalysiert werden, belegt die Türkei 2015 immerEvangelisch-Theologischen Fakultät der Uniteressen der arabischen Welt entgegen, und die hin den 41. Platz. Auch in den anderen nach dem versität München. Seine Probleme einer Besiedlung Palästinas durch 1. Weltkrieg neu entstandenen Staaten waren ForschungsschwerpunkJuden wurden zwischen Juden, Arabern und Christen eher geduldet, ohne wirklich gleichgete sind frühjüdische Liauch Briten immer wieder in bewaffneten Konstellt zu sein. Mitunter standen sie unter einem teratur, Magie im frühen flikten ausgetragen, die bekanntlich auch nach expliziten Minderheitenschutz, so zum Beispiel Judentum und Neuen der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 bis im Irak bis zum Zusammenbruch des Regimes Testament und die heute immer wieder aufflammen. W unter Saddam Hussein. Johannesoffenbarung. Ni LIIBY L BYE Bako B akou
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