Betriebswirtschaftliche Blätter Fachzeitschrift für Unternehmensführung in der Sparkassen-Finanzgruppe 13.07.15 Firmenkundengeschäft Digitalisierung mess- und greifbar gemacht von Michael Schirmer, Dr. Stefan Kampmann Die Digitalisierung verändert das Wirtschaftsleben maßgeblich. Wie Veränderungen auf Kundenseite durch eine quantitative Analyse mess- und greifbar und wie für jeden Firmenkunden individuelle vertriebliche Implikationen abgeleitet werden, hat ein RSGV-Projekt erfolgreich demonstriert. Unternehmer, die sich ständig mit Digitalisierung beschäftigen müssen, erwarten von Sparkassen auf diesem Gebiet ebenfalls hohe Kompetenz. (WavebreakMediaMicro/fotolia) Die Digitalisierung ist eines der großen Trendthemen der vergangenen Dekade und nimmt gerade erst Fahrt auf. Viele hoffen bereits, dass die dadurch verursachten Veränderungsprozesse der Wirtschaft nun bald vollzogen sein werden: Doch wie der US-Ökonom und Nobelpreisträger Professor Dr. Paul Krugman bereits 2008 prognostiziert hat: „Alles was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert.“1 Somit befinden wir uns eher am Anfang als am Ende dieser Entwicklung, denn weitere Experten fügen mit Blick auf Veränderungsprozesse im Rahmen der Digitalisierung hinzu, dass sich viele Entwicklungen zunächst langsam vollziehen, später sprunghaft: Die Nutzung von Paypal als Dienst für Onlinebezahlverfahren oder die Adoption von Smartphones sind aktuelle Beispiele, wie Nutzerkurven exponentiell ansteigen. Diese Entwicklung ist branchenübergreifend: Selbst das Taxigewerbe, das viele Beobachter vor einigen Jahren noch als wenig beeinflusst eingeschätzt haben, sieht sich nun umfassenden Veränderungen ausgesetzt: Über digitale Karten auffindbare Stadtfahrräder sind vielerorts als Substitut nur einen Buchungsklick auf dem Smartphone entfernt. Mytaxi und Uber greifen etablierte Taxivermittlungen an. Das Car-Sharing von Car2Go und Drivenow entwickelt sich ebenfalls sprunghaft als Alternative zum Taxi, seit digitale Karten das Abstellen der Fahrzeuge an jedem Ort und das komplikationslose Auffinden und Buchen über das Smartphone gewährleisten. Unternehmen, die sich nicht anpassen −so zeigen Beispiele aus der Vergangenheit − scheiden aus dem Seite 1 Betriebswirtschaftliche Blätter Fachzeitschrift für Unternehmensführung in der Sparkassen-Finanzgruppe 13.07.15 Markt aus: So verschlief die Firma Kodak als Pionier der Fotografie – übrigens auch der digitalen Fotografie – in den 2000er-Jahren die digitale Entwicklung und musste 2012 Insolvenz beantragen. Natürlich werden auch Sparkassen und Banken sowie deren gewerbliche Kunden von der Digitalisierung erfasst: Die Sparkassen sind dabei von einer doppelten Komplexität betroffen. Zum einen verändern sich ihre Kunden und die Schnittstellen zu ihnen. Zugleich muss sich auch die Sparkasse in Zeiten der Digitalisierung verändern und weiterentwickeln. Das gilt umso mehr, als Bankdienstleistung ein Informationsgut ist, das sich problemlos digital abbilden lässt. Durch Integration des Kunden in den Erstellungsprozess der Bankdienstleistung ist es künftig noch besser möglich, ein spezifisch für den individuellen Kundenbedarf erstelltes Produkt online abzuschließen. Somit werden die zu erwartenden Auswirkungen der Digitalisierung auf Sparkassen seit vielen Jahren engagiert diskutiert – allerdings zumeist in Form einer qualitativen Beschreibung zu erwartender Veränderungen und Umwälzungen, nur selten faktenbasiert auf Zahlenbasis. Um die Lücke zu einer quantitativen Analyse zu schließen und die erwarteten Effekte quantitativ messbar zu machen, hat der Rheinische Sparkassen und Giroverband (RSGV) im Rahmen des Projekts „Konsequenzen für den Firmenkundenvertrieb aus der Digitalisierung“ ein quantitatives Modell auf Basis einer Kundenstichprobe aus drei teilnehmenden Sparkassen entwickelt. Damit lassen sich jetzt Effekte der Digitalisierung quantitativ messen. Das „Digitalisierungsmodell“ genannte Instrument basiert auf ausgewählten Firmen kundendaten von Sparkassen, einem Scoringmodell für die Abschätzung digitaler Anpassungsfähigkeit von Firmenkunden, einem Expertenmodell für die Prognose der Ertragsentwicklung der Sparkasse in den Bereichen Aktiv-, Passiv- und Provisions geschäft sowie einer Prognose digitaler Transformation nach Branchen bis 2020.2 Seite 2 Betriebswirtschaftliche Blätter Fachzeitschrift für Unternehmensführung in der Sparkassen-Finanzgruppe 13.07.15 Wie digital anpassungsfähig ist (m)ein Kunde? (BBL) Anhand der Inputdaten und Modellberechnungen können gewerbliche Kunden von Sparkassen in einer Matrix abgebildet werden. Sie zeigt, in welchem Umfang die Unternehmen von der Digitalisierung betroffen sind (Y-Achse: Ausmaß der Betroffenheit der Branchen) und wie die Unternehmen selbst auf die Digitalisierung antworten (X-Achse: Ausmaß der digitalen Anpassungsfähigkeit der Unternehmen) und ihr Geschäftssystem anpassen werden. Die entsprechende Matrix mit abgebildeten Unternehmen aus der Stichprobe zeigt Abbildung 1. In einer Digitalisierungs-Matrix werden die Firmenkunden der an der Stichprobe beteiligten Sparkassen abgebildet, wobei die Analyse einen Blick auf jeden einzelnen Kunden ermöglicht und unterstützt. Über den gesamten Kundenstamm, ausgewählte Kundensegmente (etwa Firmen- oder Gewerbekunden) oder einzelne Kundenverbünde lassen sich Szenarien zur Entwicklung der Bruttoerträge (DB-II) modellieren und in exemplarischen Simulationen abbilden. Hohe Praxisrelevanz und Handlungsorientierung von Instrument und Mapping in Matrixform werden dadurch gewährleistet, dass sich für die einzelnen Unternehmen je nach Quadranten spezifische vertriebliche Priorisierungen erarbeiten und im Vertrieb der Sparkasse ad hoc für ein zeitnahes Nutzeninkasso umsetzen lassen. Die hohe Praxisorientierung belegen nachstehende Erläuterungen zu den im Quadranten 4 positionierten Firmenkunden: > betroffen von einer hohen Branchendynamik in ihrem Umfeld, > in hohem Maß selbst digital anpassungsfähig, > gewillt, sich im dynamischen Wettbewerbsumfeld durch Weiterentwicklung ihrer Positionierung und des Geschäftssystems zu behaupten. In der vertrieblichen Ansprache durch den Firmenkundenbetreuer ergeben sich für Unternehmen aus dem Quadranten 4 folgende Prioritäten und vertrieblichen Ansätze: > Unternehmen im Quadranten 4 sind mit der höchsten Priorität anzusprechen. > Der Firmenkunde in diesem Quadranten ist offen für neue Entwicklungen und weist somit eine hohe Affinität auf, neue Angebote oder Dienstleistungen (unter Umständen auch Seite 3 Betriebswirtschaftliche Blätter Fachzeitschrift für Unternehmensführung in der Sparkassen-Finanzgruppe 13.07.15 von Wettbewerbern) auszuprobieren (insgesamt „offenere“ Entwicklung des Kunden im Vergleich mit Quadrant 2): Als plakatives Beispiel wären in diesem Quadranten Kunden positioniert, die das Sourcing für ihr Handelsgeschäft heute partiell über Paypal abwickeln. In Bezug auf das E-Commerce-Geschäft des Kunden sollte Zielsetzung der Sparkasse sein, die Leistungen des elektronischen Händlergeschäfts bei ihm zu positionieren und abzuschließen. In Bezug auf den Zahlungsverkehr gilt es, mögliche Defizite des PaypalVerfahrens aufzuzeigen (etwa Datenschutz und verzögerte Liquiditätsbereitstellung), die Kundenbindung im Zahlungsverkehr der Sparkasse zu erhöhen und den Kunden im unter Umständen vorhandenen eigenen Onlineshop als künftigen Anbieter des neuen innovativen Bezahlverfahrens der Deutschen Kreditwirtschaft, Paydirekt, zu gewinnen. > Übergreifende Zielsetzung für Kunden im vierten Quadranten ist, eine positive Unternehmensentwicklung mit erhöhter Produktdurchdringung und höheren Deckungsbeiträgen zu begleiten. Seitens des Firmenkundenbetreuers ist in diese Kundenbeziehung viel Zeit zu investieren, um die Geschäftsbeziehung zu sichern und den Kunden auf seinem Wachstumspfad mit zunehmender Produktdurchdringung zu begleiten. Vertriebliche Priorisierung mittels Digitalisierungsmatrix (BBL) Die aus dem Digitalisierungsmodell abzuleitende Priorisierung der Kundenansprache in Abhängigkeit zur Position im Quadranten verdeutlicht, dass sich durch die Digitalisierung auch die vertrieblichen Vorgehensweisen und organisatorischen Rahmenbedingungen ändern. Mit Blick auf eine ABCD-Feinsegmentierung der Kunden (nach Ertrags- und Potenzialachse) ergibt sich die Notwendigkeit, deren vertriebliche Auswirkungen sinnvoll mit den Aussagen der Digitalisierungsmatrix zu verschmelzen. Daraus lassen sich anschließend für die Betreuer konsistente Handlungsempfehlungen ableiten. Weiterhin haben differenzierte zeitliche Vorgaben für die Betreuung der Kunden je nach individuellem Kundenstamm eines Betreuers Einfluss auf etablierte Betreuungsrelationen: So sind etwa die Betreuungsrelationen nach den Aspekten Kundenbedarf und Wirtschaftlichkeit zu untersuchen. Das vertriebliche Vorgehen der Betreuer ist mit den spezifischen Anforderungen aus der Digitalisierung zu hinterlegen, sodass der etablierte Vertriebsprozess für Firmenkunden in zwölf Schritten selektiv modifiziert und durch sinnvoll zu ergänzende Standards erweitert wird. Abbildung 2 zeigt den standardisierten Vertriebsprozess in seinen zwölf Schritten mit einer exemplarischen Darstellung von Veränderungsimpulsen aufgrund der Digitalisierung (rechte Seite). Seite 4 Betriebswirtschaftliche Blätter Fachzeitschrift für Unternehmensführung in der Sparkassen-Finanzgruppe 13.07.15 Flankierend zur heutigen Potenzialorientierung sollte eine Zahlungsverkehrsanalyse eingesetzt werden, um vorhandene Kunden zu identifizieren, die bereits heute innovative Fremdanbieter für die Abwicklung des Zahlungsverkehrs nutzen. Die Erkenntnisse aus der Zahlungsverkehrsanalyse fließen unmittelbar in den ersten und vierten Schritt des Vertriebsprozesses ein. Als Ergänzung zu primär vertriebsorientierten Anspracheanlässen gibt das Instrument auch Impulse für eine noch stärkere Positionierung des Betreuers als unternehmerischen Begleiter: So sollte ein Kunde aus dem dritten Quadranten (hohe Branchendynamik, aber geringe digitale Anpassungsfähigkeit) mit hohem Aktivvolumen und damit entsprechender Risikorelevanz für die Sparkasse intensiver durch seinen Betreuer begleitet werden. Im Rahmen einer intensivierten unternehmerischen Begleitung soll dem Kunden die strategische Bedeutung der Digitalisierung mit entsprechenden Chancen und Risiken für sein Unternehmen verdeutlicht werden. Als Ergänzung zur vertrieblichen Zielsetzungen der Sparkasse würde somit auch die Absicherung des Aktivgeschäfts durch eine verbesserte Wettbewerbsposition des Unternehmens verfolgt. Zugleich werden den Sparkassen mögliche Risiken aus der fehlenden Anpassung der kundenseitigen Wertschöpfungskette viel früher transparent. Sparkassen sehen sich im Ergebnis durch die Digitalisierung einer doppelten Komplexität ausgesetzt: Ihre Firmenkunden verändern sich, und auch die Sparkasse muss das Firmenkundengeschäft und sich neu aufstellen. Ein analytisch geprägtes Vorgehensmodell, das auf einer quantitativen Modellierung der Effekte auf Kunden- und Sparkassenseite basiert, hat sich in der Praxis bewährt. Fortlaufende Diskussionen mit Vertriebsverantwortlichen und Betreuern zeigen, dass die tägliche Arbeit mit der Digitalisierungsmatrix viele handlungsorientierte und sinnvolle Impulse für das Tagesgeschäft bringt. Nun gilt es, den vorhandenen, jedoch höchst unterschiedlichen Veränderungsbedarf im Sinne eines „Digitalisierungskonzepts“ als Querschnittsthema zu anderen Konzepten in der vertrieblichen Aufstellung, im Aktivgeschäft (Re-Design stationärer und internetbasierter Kredit- und Serviceprozesse) und anderer Eckpfeiler der Value Chain entsprechend Rechnung zu tragen: Die entsprechenden Veränderungen sind innerhalb der Organisation einzuleiten, um die aktuellen Herausforderungen anzunehmen und die Sparkassen und ihren Firmenkundenvertrieb für die Digitalisierung schlagkräftig aufzustellen. Fazit Die Digitalisierung hat einen umfassenden Einfluss auf die Wirtschaft: Effekte, die daraus resultieren, nicht nur qualitativ zu beschreiben, sondern quantitativ abzubilden, hat sich ein RSGV-Projekt zum Ziel gesetzt. Die Ergebnisse ermöglichen es Sparkassen schon heute, Antworten auf die Anforderungen aus der Digitalisierung zu geben, etwa indem der Blick auf die Firmenkunden und einer potenzialorientierten Priorisierung im Vertrieb geschärft wird. Autoren Michael Schirmer ist Abteilungsdirektor für den Bereich Markt und Produkte beim Rheinischen Sparkassen- und Giroverband (RSGV) in Düsseldorf. Dr. Stefan Kampmann ist Managing Partner der Topmanagement-Beratung Kampmann, Berg & Partner mit Bürostandorten in Hamburg und Essen. 1 Krugman, P.: Bits, Bands and Books, 2008. 2 Rigby D. K./Tager S.: Leading a Digital Transformation, 2014. Seite 5
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