11. Sonntag nach Trinitatis 16. August 2015 Pfarrer Dr. J. Kaiser Französische Friedrichstadtkirche Predigt über Lukas 18,9-14 Sonntag morgen, fünf vor 11. In fünf Minuten beginnt die Orgel ihr Spiel. Wo setze ich mich hin? Ein paar Leute sind schon da. In den letzten Reihen sind nur noch wenige Plätze frei. Dränge ich mich dazwischen? Besetze ich den ersten Platz in der drittletzten Reihe? Ich will nicht zu dicht neben einem Menschen, den ich nicht kenne. Ich will ihn auch nicht kennen lernen. Gehe ich noch weiter nach vorne? Da hört man vielleicht besser. Nein, da sehen mich ja alle, da falle ich auf. Ich bin kein Streber, ich bin kein Heuchler. Noch stehe ich unschlüssig mit der Qual der Wahl. Da kommt einer rein. Geht mit großen Schritten an mir vorbei. Er wagt sich weit vor. Er scheint hier zu Hause zu sein. Er setzt sich in die erste Reihe – die erste von vorne! Der ist mutig. Er wird von allen gesehen. Will er von allen gesehen werden? Er setzt sich nicht gleich hin. Er bleibt stehen und senkt den Kopf. Betet er? Zumindest tut so. Vielleicht will er, dass man ihn so sieht. Er erzählte aber auch einigen, die überzeugt waren, gerecht zu sein, und die anderen verachteten, das folgende Gleichnis: Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine war ein Pharisäer und der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich hin und betete, in sich gekehrt, so: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, wie Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche, ich gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ganz abseits und wagte nicht einmal seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug sich an die Brust und sagte: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging befreit in sein Haus zurück, jener nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Ob es mit dieser Geschichte zusammenhängt, dass in der Kirche immer die hinteren Reihen zuerst besetzt sind? Die Sympathien scheinen in dieser Geschichte klar verteilt. Der Pharisäer wird als unsympathisch dargestellt: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen bin. Was für ein schrecklicher Satz! Was für ein schrecklicher Mensch! So einer will ich nicht sein! Ich setzte mich lieber ganz nach hinten, wo mich keiner sieht und senke meinem Kopf. Die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten werden die Ersten sein. Hat Jesus gesagt. Der Satz sitzt – in der letzten Reihe. Damit aber, liebe Gemeinde, geht die Sache noch nicht auf. Es braucht ein bisschen mehr, als nur einen der hinteren Plätze, um Letzter zu sein. Es wird auch nicht genügen, dort nur den Kopf scheu zu senken. Man muss dann auch beten, wie der Mensch in der Geschichte, die Jesus erzählt, betet, nämlich: Gott sei mir Sünder gnädig! Aber nicht nur das – man das auch meinen, was man betet und sein, was man sagt: ein Sünder. Der Pharisäer und der Zöllner. Der Pharisäer: Eigentlich besser als sein Ruf. Er gibt den Zehnten, er studiert die Tora, er hält die Gebote der Tora, er geht in den Tempel und in die Synagoge. Er hat einigermaßen gemäßigte Ansichten, ist weder ein religiöser Eiferer wie die Sadduzäer, noch ein politischer Eiferer wie die Zeloten. Versucht, anständig zu bleiben und zu tun, was Gott von ihm verlangt, versucht, gerecht zu sein, nimmt dabei die Gesetze der Tora sehr genau, aber was - 1 11. Sonntag nach Trinitatis 16. August 2015 Pfarrer Dr. J. Kaiser Französische Friedrichstadtkirche bitte - kann daran falsch sein, das Gesetz des Herrn genau zu nehmen? Er ist beim Halten der Tora besser als viele, er ist darin ein Vorbild. Vorbilder soll man zeigen. Der Pharisäer und der Zöllner. Der Zöllner: Er kollaboriert mit der römischen Besatzungsmacht, hat von den Feinden Israels die Zollstationen gepachtet und beutet seine jüdischen Mitmenschen aus und gibt keineswegs den Zehnten, sondern alles Geld den Römern. Er hört nicht auf die Tora sondern er hört auf die Römer. Der Pharisäer und der Zöllner. Der Pharisäer ist ein Gerechter oder versucht zumindest ein Gerechter zu sein. Der Zöllner ist ein Sünder und versucht noch nicht einmal, kein Sünder mehr zu sein. Nun frage ich Sie noch einmal: Mit wem wollen sie sich identifizieren? Mit dem Zöllner oder mit dem Pharisäer? Jesus kommt und stellt die Dinge auf den Kopf. Er erklärt die Zöllner, die Huren, die Unreinen, die Kranken zu Freunden Gottes und die Frommen und die Anständigen und Gerechten zu Feinden Gottes. Die Letzten werden die Ersten sein und die Ersten werden die Letzten Sein. Gut für die Letzten. Nicht gut für die Ersten. Und wir? Die Letzten jedenfalls sind wir nicht, soweit ich sehe. Und ich sehe von hier oben bis in die letzte Reihe. Ich möchte keinem zu nahe treten. Aber wenn ich mich mal aus dem Fenster lehnen darf, bzw. über den Kanzelrand, dann würde ich sagen: Es geht wohl bei uns allen eher Richtung Pharisäer, mehr jedenfalls als in Richtung Zöllner. Freilich, Ihre tiefsten Abgründe, Ihre furchtbarsten Geheimnisse sind mir unbekannt; ich sehe von hier oben nicht in Sie hinein. Aber es würde mich auch nicht wundern, wenn Sie gar keine haben – Abgründe und Geheimnisse. Wir sind anständige Menschen, oder versuchen zumindest, solche zu sein. Wir gehen oft oder ab und zu in den Gottesdienst, wir beten und wir geben, wir spenden und kümmern uns um Notleidende und um den kranken Nachbarn auch. Wir halten nicht alle Gesetze der Tora, aber die Zehn Gebote doch im Großen und Ganzen. Wir sind keine Pharisäer, weil wir keine Juden sind. Aber christliche Pharisäer, so ein bisschen jedenfalls. Was hat Jesus eigentlich gegen die Pharisäer? Das Anstößige an dem Pharisäer in dieser Geschichte ist ja nicht, dass er Pharisäer ist, dass er den Zehnten gibt, dass ihm die Gebote wichtig sind, dass er in den Tempel geht und betet und dass er Gott dafür dankt, dass er all dies tut. Das Anstößige an ihm ist dieser ekelhafte Dünkel, diese fürchterliche Arroganz, dieser eine Satz: Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin! Liebe Gemeinde, das Sich Vergleichen ist die Wurzel allen Übels. Mit dem Sich Vergleichen beginnt die Sünde. Das Sich Vergleichen geht in zwei Richtungen. In Richtung Hochmut und Selbstgerechtigkeit, wie beim Pharisäer. „Ich bin besser als die anderen, schlauer, frömmer, ehrlicher, rechtschaffener, mildtätiger. Danke, Gott, dass ich so bin, besser als die anderen, Danke, Gott, eigentlich brauche ich dich gar nicht. Ich schaff‘s auch ohne dich, ich kann deine Gebote auch ohne dich halten, denn ich bin richtig gut. Und die andere Richtung, Richtung Kleinmut und Verzagtheit. Ich bin so viel dümmer, ärmer, hässlicher, kränker und grämlicher als die anderen; ich versage auf ganzer Linie, ich bin nichts und ich kann nichts. Ich klage und jammere, Gott, aber ich brauche dich eigentlich nicht, denn bei mir kannst du sowieso nichts machen. Alles vergeblich. Das bisschen Talent, das du mir gegeben hast, vergrabe ich lieber, denn du bist ein strenger Herr, verlangst von mir, was ich nicht erfüllen kann. 2 11. Sonntag nach Trinitatis 16. August 2015 Pfarrer Dr. J. Kaiser Französische Friedrichstadtkirche Das Sich Vergleichen ist die Wurzel aller Sünde, in die eine wie in die andere Richtung, als Hochmut und als Kleinmut. Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Sagt Jesus. Freilich: die Selbsterhöher sind unsympathisch – uns und auch dem lieben Gott. Aber auch die Selbsterniedriger sind anstrengend. Sie lechzen nach Trost und Anerkennung. Ich sage euch: Dieser ging befreit befreit in sein Haus zurück, jener nicht. Sagt Jesus. Sonntag morgen, fünf vor 11. In fünf Minuten beginnt die Orgel ihr Spiel. Wo setze ich mich hin, um befreit zu werden? Ich setze mich. Ich setze mich dazu, zu den anderen, egal ob hier oder da oder dort. Ich setze mich in diesen Raum, unter die Kanzel und vor das Buch. Hier bin ich vor Gott. Ich setze mich und werde Gemeinde. Ich setze mich und zähle mich zu denen, die es nötig haben, befreit zu werden. Das sind wir alle! Denn keiner von uns ist schon frei davon, sich zu vergleichen, sich für besser oder für schlechter zu halten als ein anderer, sich selbst einzuschätzen, sich darzustellen, sich gut zu verkaufen. Das erfordert das Überleben da draußen in der Welt. Aber hier in diesem Raum, in der Gemeinde beginnt die große, glückliche Gleichmacherei. Wir sind alle gleich - vor Gott sind wir alle gleich, alle Sünder und alle Gerechte. Sünder wegen dem, was du gemacht oder nicht gemacht hast. Deshalb sitzt du in der letzten Reihe und betest: Gott sei mir Sünder gnädig! Aber gerecht bist du trotzdem. Nicht wegen dem, was gemacht oder nicht gemacht haben, sondern wegen dem, was ein anderer für dich gemacht hat aus Gnade. Hat dir alle Sünde vergeben und alle Schuld weggenommen. Bist frei davon. Weil Gott dich so ansieht. Deshalb sitzt du in der ersten Reihe und betest: Danke, dass du mich um Jesu Christi willen so gütig ansiehst und mir alle meine Sünden vergeben hast. Vor dem Gottesdienst, um fünf vor 11, sitzt jeder für sich, nimmt den anderen wahr, um den Abstand zu ihm zu bestimmen. Bin ich ihm zu nahe? Redet er mich an? Soll ich ihn grüßen? Soll ich mein Gesangbuch mit ihr teilen? Will ich jetzt übers Wetter reden? Was will der überhaupt hier? Den habe ich noch nie gesehen. Am Ende des Gottesdienstes, um fünf nach 12, sitzt jeder da, nicht mehr für sich, sondern als Gemeinde. Nimmst den neben dir wahr nicht mehr als der andere, mit dem ich mich vergleichen muss. Sondern, der genau so ist wie ich, Kind Gottes. Schräger Vogel, wie ich. Gerecht gemacht, wie ich. Flieg heim, befreit. Bis nächsten Sonntag um fünf vor 11. Amen. 3
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