Menschen sind verschieden Adrian Kunzmann Wir erfahren es jeden Tag aufs Neue, und zuweilen können wir es kaum fassen und begreifen, wessen andere Menschen fähig sind. Das in diesem Artikel vorgestellte Persönlichkeitsmodell von Riemann-Thomann zeigt Wege auf, um verständnisvoller und konstruktiver mit, in der Persönlichkeit begründeten, Unterschiedlichkeiten umgehen zu können (umgehen zu lernen). In seinem Buch „Grundformen der Angst“ entwirft der Tiefenpsychologe Fritz Riemann (1975), ausgehend von den Grundängsten der menschlichen Existenz, vier Grundstrebungen des Menschen. Ch. Thomann (1988) erweiterte dieses tiefenpsychologische und eher pathologisierend anmutende Modell von Riemann. Das Riemann-Thomann-Modell geht von vier verschiedenen Grundausrichtungen, Grundstrebungen der persönlichen Vorlieben und Muster aus. Diese gilt es, bei sich und anderen zu erkennen und zu begreifen, um sich und andere besser verstehen, und Etikettierungen vermeiden zu können. Geprägt durch die persönliche Geschichte, entwickeln Menschen ganz unterschiedliche Bedürfnisse, Werte und Formen für „das in der Welt Sein“, was sich dann auch im zwischenmenschlichen Verhalten zeigt. Riemann unterscheidet in seinem Modell die beiden Dimensionen Zeit und Raum. Das Gegensatzpaar Nähe und Distanz bildet die Raumachse, die Polarität Dauer und Wechsel die Zeitachse. Menschen, denen Nähe wichtig ist, suchen Harmonie, Geborgenheit, die Gemeinschaft und zwischenmenschliche Kontakte. Wieder andere, die, um sich wohl fühlen zu können, Distanz brauchen, streben nach Individualität, bedürfen der Abgrenzung und Autonomie, der Unabhängigkeit. Die Polarität Dauer und Wechsel ist die Zeitachse. Menschen mit einer Tendenz und Vorliebe zum Dauerhaften fühlen sich innerhalb klarer Strukturen wohl, haben das Bedürfnis nach sorgfältiger Planung, nach Ordnung, Regelmässigkeit und Kontrolle. Die Abwechslung, den Wechsel bevorzugende Menschen, lieben schnelle Abläufe, das Dramatische, die Spontaneität, Kreativität und Flexibilität. Dauer Dauer Nähe Distanz Wechsel Grundsätzlich kennen wir alle vier Grundstrebungen in uns, aber – bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass wir, vor allem in Stresssituationen, nur ein oder zwei aktivieren. Ch. Thomann nennt diese Dominanz das „Heimatgebiet“, welche dann als Unterschiedlichkeit im Verhalten augenfällig wird. Wir empfinden es als Selbstverständlichkeit, dass sich die Menschen voneinander unterscheiden. Ebenso selbstverständlich bekunden wir die Absicht, den anderen akzeptieren zu wollen, wie er ist. Der Alltag zeigt jedoch, dass es oftmals bei der gut gemeinten Absichtserklärung bleibt und sich diese schnell in genervtes Abwenden vom Anderen wandeln kann - und leider auch allzu oft Eskalationspotential in sich birgt. Szenen aus dem Führungsalltag Herr Dauer: „Da sollten wir zuerst die Details klären“. Herr Wechsel antwortet: „Ach was, lassen sie uns doch einfach mal beginnen, wir haben schon viel zu lange geredet und später können wir immer noch improvisieren“. Hinter diesen Aussagen stehen Menschen mit sehr unterschiedlicher Art und Weise, die Dinge zu sehen und anzupacken, genauso, wie z.B. in der Situation zwischen Frau Nähe und Herr Distanz: „Das würde ich gerne nochmals für mich durchdenken. Ich lasse ihnen später meinen Entwurf zukommen“. Frau Nähe entgegnet etwas irritiert: „Ich fände es wichtig, wenn wir uns zuvor zusammensetzten und die Sache gemeinsam angingen“. Lernziel: Unterschiede als Lernchance begreifen In der Zusammenarbeit von Herr Dauer und Herr Wechsel begegnen sich zwei Persönlichkeiten, dessen „Heimatgebiet“ auf der Zeitachse in den gegenüberliegenden Polen Dauer und Wechsel zu finden ist. Herr Dauer muss, um sich wohl fühlen zu können, die Arbeitsabläufe kontrollieren, alles sorgfältig planen und strukturieren und - lange Übung macht den Meister - seine Stärken liegen selbstverständlich in der Organisation, Koordination und Strukturierung. Ihm gegenüber steht Herr Wechsel, dessen „Heimatgebiet“ am anderen Ende der Zeitachse liegt. Er liebt die Improvisation, das spontane Vorgehen, die Flexibilität und er möchte sein kreatives Potential einsetzen. Herr Wechsel und Herr Dauer haben ein ambivalentes Verhältnis zueinander, da sie jeweils im Gegenüber Qualitäten entdecken, die sie nicht besitzen. Zuerst erleben sie sich vielleicht als willkommene Ergänzung, da sie beide voneinander profitieren können. Die Zusammenarbeit kann sich aber auch durchaus ungemütlich gestalten. Versucht nämlich der eine, den anderen in sein Heimatgebiet zu zwingen, verursacht dies Angst und Insuffizienzgefühle. Herr Dauer fühlt sich dann z.B. im Chaos Herrn Wechsels überfordert und Herrn Wechsel bleibt im geplanten, strukturierten Vorgehen keine Luft mehr zum Denken. Die Zusammenarbeit wird destruktiv, sobald einer aus der Angst heraus versucht, seine eigene „Gebrauchsanleitung fürs Leben“, seine Vorlieben und Muster durchzusetzen, und den anderen im Sinne eines „Nacherziehungsprogramms“ auf den „rechten“ Weg zu bringen. In der Regel fühlen wir uns dann angegriffen, bekämpft, bekommen Angst, versuchen uns zu währen – und nicht selten eskaliert die Situation. Der konstruktive Weg kann nur dann eingeschlagen werden, wenn wir der Angst mutig begegnen, d.h., nicht aus ihr heraus agieren, sondern das Fremde als Lernchance zu begreifen versuchen und uns diesem auch Schritt für Schritt annähern. Lernziel „Akzeptanz“ Der Versuch sich zu verändern und dem Fremden näher zu kommen, bringt es mit sich, an seine Grenzen zu stoßen. „Ich kann einfach nicht verstehen, wie unlogisch Herr Wechsel vorgeht! Ständig verändert er wieder seine Arbeitsweise und Richtung, nie weiß ich, woran ich bin. Ich kann so nicht arbeiten!“ Die gegenseitigen Nacherziehungsbemühungen zeigen ihrerseits Nebenwirkungen wie Ärger, Aggression und Unverständnis. Es bleibt also die Frage, was es braucht, um einen begehbaren Weg, hin zu einer zufrieden stellenden Zusammenarbeit, zu finden. 1. 2. Es bedarf des Bewusstseins, dass das Verhalten des anderen keine Kampfansage, sondern Ausdruck einer Grundstrebung ist. Es braucht den offenen Austausch darüber, was die Unterschiede ausmacht. Genau dafür benötigen wir Mut. Mutig müssen wir den Spannungen begegnen, die sich nicht selten in den lange andauernden, gegenseitigen „Nacherziehungskursen“ aufgebaut haben und – Mut braucht es ausserdem, um das positives Selbstbild in Frage stellen und revidieren zu können. Es ist oftmals sinnvoll, für derartige Gespräche einen professionellen Gesprächsmoderator hinzuzuziehen, um entstehende Ängste und Konflikte, welche Veränderungsprozessen immanent sind, professionell begegnen zu können. Sind die Unterschiede herausgearbeitet und besprochen und die emotionalen Begleiterscheinungen bereinigt, können gemeinsame Lösungen angestrebt und entwickelt werden. Über den Autor Der Schweizer Organisationsberater Adrian Kunzmann ist selbständiger Berater und Kommunikationstrainer. Seine Schwerpunkte sind Konfliktklärungen, Teamund Leitbildentwicklungen. Er ist Partner der Beratungsfirma Frischluft und Mitglied des Beraternetzes: Visionact. Frischluft Adrian Kunzmann Zollikerstr. 87 CH - 8008 Zürich Tel: +41 44 261 95 39 [email protected] www.frischluft.ch
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