Hans Weigel Unvollendete Symphonie Roman Herausgegeben von Alexander Kluy Für VIKTOR E. FRANKL in dankbarer Freundschaft KLEINE VORREDE ZU EINEM »ZEIT«-ROMAN E s ist mir völlig unbegreiflich, daß Maler zu ihrer Arbeit Modelle brauchen, daß sie Menschen, Dinge und Landschaften, die sie gestalten, dabei direkt ansehen. Ein wirkliches Kunstwerk erstrebt meiner Überzeugung nach die Überwindung und nicht die Wiedergabe der äußeren Wirklichkeit. Könnte man sich vorstellen, daß sich ein Komponist vor der Niederschrift seiner Pastoralsymphonie aufs Land begibt, um Material zu sammeln, daß er sich am Bachesrande oder während des Gewitters Notizen macht? Die allzu große Nähe des realen Objekts sollte, wie mir scheint, die künstlerische Bewältigung eher hemmen als fördern. Schreiben, malen, komponieren – das heißt: die Oberfläche vergessen, um die Tiefe zu gewinnen. So befindet sich jeder Autor mit jedem »zeitnahen« Stoff in einer problematischen Situation. Die Nähe, vom Leser geschätzt, von Kritikern gefordert, wird zur Gefahr für den Schreibenden, welcher erkannt hat, daß Literatur sich vom Stenogramm und von der Photographie etwa ebensosehr unterscheidet wie die Tragödie von der Todesanzeige oder die Gerichtssaalrubrik vom Kriminalroman. Die Gefahr ist übrigens nicht neu; denn obwohl es gewiß auch schon in ihren Tagen Zeitprobleme gegeben 7 hat, verarbeiteten und deuteten die großen Geister immer wieder mit Gelingen das scheinbar Ferne: Ödipus war ebensowenig Zeitgenosse des Sophokles wie Wallenstein Zeitgenosse Schillers, wie Egmont oder Götz Zeitgenossen Goethes. Und während der Arbeit an der »Iphigenie« formuliert Goethe den ewigen Zwiespalt zwischen Aktualität und Kunst: »Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden, als wenn kein Strumpfwirker in Apolda hungerte.« Wir verstehen Goethes Bedrängnis, aber wir sind dankbar, daß er sich nicht um den Preis der »Iphigenie« von dem beklagenswerten Los der Strumpfwirker hat gefangennehmen lassen. Unsere Gegenwart und jüngste Vergangenheit sind jedoch so überreich an Stoffen und Fragen, an Erlebnissen von besonderer Intensität, daß mancher Autor nicht mehr seinen Gegenstand zu wählen vermag, sondern von ihm ergriffen und überwältigt wird. Ist dies der Fall, wird er gezwungen sein, sich die erforderliche Distanz auf irgendeine Weise zu schaffen. Wo ihm die Flucht in die Vergangenheit der Historie versagt ist, versucht er es mit der zeitlosen All-Gegenwart (die Stücke von Thornton Wilder) oder der utopischen Flucht nach vorne (Orwells »1984«). Solche und andere Wege sehr bewundernswerter Vorbilder erwiesen sich aber als ungangbar für eine Darstellung des Themas: Wien und Wiederkehr. Ein Loblied auf das Unvollendete legt überdies das Fragmentarische auch für die Form nahe. Jeder Versuch eines »Tatsachenberichts« hätte schließlich eine untragbare Fülle von Verpflichtungen mit sich gebracht; der politische, soziale, wirtschaftliche Hintergrund hätte überdeutlich und umständlich das Wesentliche verdrängt und belastet: die Begegnung zweier Menschen miteinander und mit einer Stadt. 8 So wählte ich eine indirekte Darstellungsart, die auf den ersten Blick befremdlich scheinen mag. In diesem Roman spricht weder der Autor direkt noch sein Held. Wie der Held und die Heldin Distanz zu ihrer Stadt gewinnen und sie erst aus dieser Distanz richtig sehen, gewinnt der Autor Distanz zu seinem Helden, indem er zurücktritt und ihn von der Heldin darstellen läßt. Der Leser hat also Aufzeichnungen eines jungen Mädchens in Wien vor sich. Diese höchst privaten Aufzeichnungen eines überaus subjektiven Mädchens, das vieles einseitig und manches gar nicht sieht (die Politik zum Beispiel), wollen einen Beitrag zu Zeitproblemen und zum Problem der Zeit geben, der weder umfassend noch vollkommen sein kann, aber wahr sein möchte. Wien, im Frühjahr 1951 HANS WEIGEL 9 »Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick.« (Faust II., 3. Akt.) D er Ort ist Wien. Und die Zeit ist heute. Wann aber ist heute? Was geschieht, hat Anfang und Ende; und eine Geschichte wird auch nicht an einem Tag niedergeschrieben. Heute ist viele Tage lang, wenn es geschieht, heute ist viele Tage lang, wenn ich’s erzähle, und heute ist, wenn du in vielen Augenblicken liest, was ich schreibe. Dir schreibe? Ich erzähle mir, was gewesen ist, um zu wissen, was ist. Ich will Blatt um Blatt vollschreiben, will alles sagen. Alles? Die Minute auf der Bühne währt kürzer als die Minute im Leben. Die gelebte Minute aber nachzuerzählen mit allen Bildern, Gedanken, Handlungen, füllt viele, viele Minuten. Jeder Tag, ganz eingefangen, wäre ein großes Buch, jedes Leben eine Bibliothek, die entstehen zu lassen viele Leben erforderte. Wollte ich wirklich alles erzählen, auch nur alles von mir und dir, den ich erst seit wenigen Jahren kenne, ich würde nie, nie zu Ende kommen, und es wäre nie, nie alles. So will und kann ich nur weniges sagen, und selbst in dem wenigen wirst nicht immer nur du, werde nicht immer ich sein. Die Stadt wird da sein und das ganze geliebte Land und einiges von unserem verfluchten und gelieb11 ten Leben in diesen wirren Jahren, Punkte nur und Linien, so willkürlich hingesetzt, wie sie mir in den Sinn kommen, der mit dem Blick auf das Vergangene von einem Heute ins nächste gleitet. Und wenn ich am letzten Heute dieser Zeilen mich ins Morgen und sie ins Gestern entlasse, sollen sie, wirr und zufällig wie jede Begegnung, doch alles bergen, was du bist und was ich bin. Alles. 12 M an saß viel beisammen in jenem dunklen und kalten Winter nach dem Krieg. Licht und Wärme schienen im Beisammensein vervielfacht. Es gab auch kaum andere Verbindungen zu den Menschen als: sie aufsuchen. So ging man, wenn man in der Nähe war, zu denen, die man kannte, in die Wohnung. Waren sie zu Hause, saßen wohl andere schon bei ihnen und holten sich Licht und Wärme. Das war eine unbekümmerte und sehr ursprüngliche Geselligkeit. Mir erschien sie damals als die wienerische Art der Geselligkeit; denn ich war erst im Herbst nach Wien gekommen. Was ich hier fand, kam mir nicht wie zu dieser Zeit, sondern wie zu dieser Stadt gehörend vor. Viel später erst merkte ich allmählich, wie die Zeit und die Stadt einander wandelten. Wer ein Zimmer betritt und drin eine Anzahl von Menschen findet, meint, daß er eine Gesellschaft vor sich hat, und bringt sie in viel dichtere Beziehung zueinander, als es meist angemessen ist. So ging es mir, als ich in die große Stadt Wien, aus dem kleinen Bezirk meiner ersten Jugend kommend, kläglichen Einzug hielt. Die Zufälligkeiten erster Begegnungen schienen mir unwandelbare Gegebenheiten. Und so ist’s wohl auch dir gegangen, als du in dieses zufällige Zimmer gekommen bist, in dem inmitten von Zufälligkeiten zufällig auch ich gesessen bin. Der Hausherr, einer meiner noch spärlichen Bekannten jener Tage, hatte eben auf einem großen Teller Brote aufgetischt, bestrichen mit einer Mischung, die uns erstaunlich wohlschmeckend vorkam, deren Hauptbestandteil für uns, auf ewig unvergeßbar, mit jenen Zeiten verbunden zu sein schien und von der ich heute kaum mehr weiß, daß sie »Nährhefe« hieß. 13
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