Von hörbarer Identität und auditiven Wahrzeichen der Stadt von Urs

Von hörbarer Identität und auditiven Wahrzeichen der Stadt
Von hörbarer Identität und auditiven
Wahrzeichen der Stadt
Urs Walter
Akustischer Raum und Stadtidentität
In Architektur und Stadtplanung setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Gefühl für Heimat wesentlich
durch den Klang einer Gegend bestimmt wird.1 Wie bedeutend der akustische Raum für die spezifische
Atmosphäre und Identität einer Stadt ist, wird jedem Besucher Kairos sofort klar. Denn klanglich hat
diese Stadt einiges zu bieten! Dabei besitzt nicht nur jeder Stadtteil seine ganz eigene Klanglandschaft,
sogar Tageszeiten klingen unterschiedlich. Daran haben natürlich die Muezzin mit ihren Ausrufungen
und Gesängen einen großen Anteil. Sie strukturieren den Tag hörbar auf singende Weise. Gleichzeitig
„vermessen“ sie die bauliche Struktur der Stadt. Mit der Fähigkeit zu hören, besitzen wir einen
„navigatorischen“ Räumlichkeitssinn2, das heißt, dass uns die Klänge in Hörweite eine gute Vorstellung
über die Proportionen und Materialität der Umgebung vermitteln. Zu den Gebetszeiten wird daher die
Stadt, auch wenn man gerade nicht aus dem Fenster schaut, sehr dreidimensional. Ein überwältigendes
Erlebnis bietet sich abendlich zum Maghrib-Gebet im Al-Azhar Park. In dem Park, der 2005 über einer
ehemaligen Schutthalde angelegt wurde, hat man einen einzigartigen Ausblick über die Stadt. Während
die Stadt nun im untergehenden Sonnenlicht optisch zu einem großen Teppich verschmilzt, zeugen die
nacheinander einstimmenden Gesänge von dem unterschiedlichen Charakter ihrer jeweiligen
Umgebung.
Auch die Jahreszeiten haben ihren eigenen Klang. Jetzt im Sommer ist es das mehrstimmige Surren der
Klimaanlagen, das alle Straßenzüge erfüllt; begleitet wird es vom charakteristischen Tropfen des
Kondenswassers der Anlagen auf Blechteile der Fassaden. Je nach Wohnlage können die Klimaanlagen
im Hochsommer sogar das allgegenwärtige Klangmeer der Straßen aus Hupen, Motoren und Sirenen
übertönen.
Kommunikativer Autoverkehr
Der Autoverkehr ist neben den Muezzin sicher die bedeutendste Klangsensation in Kairo. Der zumeist
zähflüssig dahin rollende Verkehr äußert sich durch beständiges Hupen und zeugt von einer höchst
kommunikativen Fahrweise. Nicht zuletzt wegen der fehlenden Ampeln sind die Verkehrsteilnehmer
darauf angewiesen, sich über akustische Signale auszutauschen. Dabei können unterschiedliche
Huprhythmen und -weisen ganz verschiedene Mitteilungen ausdrücken. Grundsätzlich scheint zu gelten:
Je ungeschützter das Gefährt oder die Fahrweise, desto mehr wird gehupt. Motorradfahrer hupen kräftig,
um mit unverminderter Geschwindigkeit in eine schlecht einsehbare Kreuzung zu fahren.
Mikrobusfahrer, die rasant jede mögliche Lücke im Verkehrsfluss ausnutzen, bewegen sich manchmal
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durchgängig hupend voran. Viele Besitzer von Motorrädern und Mikrobussen fallen durch ihre
Leidenschaft für Cartuning auf und haben sehr individuelle Signalhörner in ihre Fahrzeuge eingebaut.
Von erfahrenen Kairoer Autofahrern wird empfohlen, die Hupgewohnheiten im Verkehr rasch zu
adaptieren. Da die Aufmerksamkeit der Fahrer meist nur nach vorne gerichtet sei, wird erwartet, dass
man ein Überholmanöver - egal ob von rechts oder links - dem zu überholenden Fahrer durch Hupen
ankündigt.
In den Straßenverkehr direkt eingebunden sind aber auch Fußgänger, einzelne Radfahrer, sowie und
Esel- und Pferdekutschen. Bei langsam fließendem Verkehr entsteht an manchen Orten eine Art shared
space, dessen Regeln durch Handzeichen, Blickkontakt, Rufe und Hupsignale situativ ausgehandelt
werden. Man sollte dieses Phänomen allerdings nicht romantisieren, sondern es liegt schlicht daran, dass
Fußgänger in der Verkehrsplanung kaum Berücksichtigung finden. Daher sind sie im Kairoer Verkehr
auch extrem gefährdet. Dennoch wird der Straßenraum besonders an den bei Autofahrern berüchtigten
streetbumps zu einem Ort sozialer Interaktion. Davon kann auch zukünftige Stadtplanung etwas lernen.
Ein direkter Vergleich mag etwas pauschal klingen, aber mir scheint, dass die Magistralen dieser Stadt
durch ihre kommunikative Grundhaltung deutlich sympathischer klingen, als das anonyme Rauschen
vergleichbarer deutscher Straßen.
Kompaktheit und Ausdifferenzierung unterschiedlicher Klangräume
Es ist die Kompaktheit der Stadt mit vielen verschiedenen Funktionen auf geringem Raum, wie
Wohnen, Handel, Handwerk und gelegentlich sogar Tierhaltung, welche die Klangumgebung Kairos so
bemerkenswert urban macht. Würde man nach einem auditiven Gradmesser für Urbanität suchen,
könnte die Antwort sein: Eine Anzahl völlig unterschiedlicher Klänge sollte gleichzeitig zu hören sein
und auf dichtem Raum sollte eine Ausdifferenzierung sehr unterschiedlicher Klangräume
wahrgenommen werden können. Genau darin unterscheidet sich Kairo von vielen deutschen, bzw.
europäischen Innenstädten. Denn diese entwickeln sich zu immer homogeneren Konsum- und
Bürolandschaften, sogenannten Urban Entertainment Centern3, und klingen dabei eigentlich gar nicht
mehr nach Stadt.
Lautstärke allein ist jedoch kein Gradmesser für Urbanität. Wer in den engen Basarstraßen der alten
Stadtviertel lautes Gewusel erwartet, wird vor Ort überrascht sein. Die dort ausgelegten Waren und die
Umgebung der engen Gassen mit vielen Vor- und Rücksprüngen in den Fassaden wirken als
Schalldiffusor und erzeugen eine fast intime Klangsphäre. Abhängig von Warenangebot und Baustruktur
der Gassen kann sich die akustische Umgebung nach ein paar Metern daher durchgängig verändern. Der
akustische Horizont, also die Entfernung in der noch etwas gehört werden kann, ist nicht besonders
groß. Noch markanter wird dieses Erlebnis auf den Textilmärkten, in denen die Gesamtheit der
ausgelegten Stoffballen als mächtiger Schallabsorber wirkt und eine akustisch trockene Umgebung ohne
jeglichen Nachhall erzeugt.
Ein weiteres Klangphänomen Kairos sind die Straßenverkäufer, die ihre Waren und Preise mündlich
ausrufen. Gerne nutzen sie dafür batteriebetriebene Megaphone mit Speicherkarte, die in Endlosschleife
eingesprochene Texte wiedergeben können. Ausgestattet sind die Geräte mit einer Reihe von
ausgefallenen Halleffekten, die von den Verkäufern gerne kreativ und wirkungsvoll eingesetzt werden.
Andere, vor allem mobile Verkäufer rufen ihre Waren einfach mündlich aus. Sie ziehen mit dem immer
gleichen Ruf durch die ruhigeren Wohnstraßen und nutzen die leichthallige Akustik der Straßen als
Verstärker. Hier geht es also um die Fernwirkung und Wiedererkennbarkeit der Botschaft. Einige nutzen
dafür direkt ihr Warenangebot als Klangwerkzeug. Einen besonders markanten Sound produzieren die
Verkäufer von Kochgasflaschen. Mit jenem Schraubenschlüssel, den sie für den Austausch der Flaschen
bei den Kunden benötigen, erzeugen sie auf ihren Metallflaschen ein durchdringendes Ding-Ding-DingDing. Ein wirklich unverwechselbares Geräusch und somit direkter und eindrücklicher als jeder
Werbejingle.
Urbanität vs. Lärm
Das Klangphänomen Kairo lässt sich mit einem Begriff der neueren kulturwissenschaftlichen Forschung
treffend beschreiben: Signalstadt4. Damit ist das Verständnis von Stadt als Signalraum gemeint, in dem
auditive, visuelle, haptische und olfaktorische Signale zunehmend einander durchdringen. Das
Untersuchungsfeld ist der öffentliche Stadtraum und die Entstehung von undifferenzierten, weitgehend
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ungestalteten Geräusch- und Lärmszenarien5. Bewusst geplant dagegen ist die fortschreitende
Kommerzialisierung europäischer Stadtzentren, aus denen zunehmend ursprüngliche städtische
Funktionen verbannt wurden - mit all ihren dazugehörigen Klängen. Das ist sicherlich ein Grund dafür,
dass die verbliebenen Klänge wie Straßenverkehr und technischen Anlagen dort von immer mehr
Menschen als unangenehme Lärmbelastung wahrgenommen wird7. Ist dagegen auf Kairo ein Begriff
wie Lärm überhaupt anwendbar? Oder anders gefragt: Gehört nicht zur Idee von Urbanität auch das
Recht Lärm zu machen? In Kairo jedenfalls scheint gegenüber Geräuschen, die in vielen europäischen
Wohngebieten nicht akzeptabel wären, - wie Wasserpumpen und nächtlicher Baulärm - eine wesentlich
größere Akzeptanz zu bestehen.
Architektur hören
Seit Oktober 2014 unterrichte ich das Fach Entwerfen und Konstruieren in der Architektur hier in Kairo
an der German University. Die Untersuchung der Beziehung zwischen Hörumgebung und gebautem
Raum ist ein Thema, das ich in der Architekturlehre weiterbringen möchte. Von Seiten der Architektur
und Stadtplanung ist ein wachsendes Interesse zu beobachten, die tatsächliche Wahrnehmung der
gebauten Räume durch die Nutzer und Bewohner in den Mittelpunkt zu stellen. Für die auditive
Wahrnehmung aber ist bislang noch keine angemessene Sprache entwickelt worden. Um ein erstes
Vokabular und Methoden zu entwickeln, sind deswegen Ortsanalysen mit Hörübungen und
Tonaufnahmen vor Ort sehr hilfreich.
Noch während meiner Lehrzeit an der TU Berlin habe ich Tonaufnahmen aus Kairo mitgebracht gewissermaßen „Klangpostkarten“. Gemeinsam mit meinen Berliner Studierenden wollte ich
herausfinden, wie viel über die Architektur eines Ortes eine Tonaufnahme kommunizieren kann. Nach
kurzer Zeit war klar: Sehr viel! Wir starteten mit einer Aufnahme der Kreuzung Port Said und Al-Azhar
Street, wobei nicht verraten wurde, aus welchem Land die Aufnahme stammt. Sie hörten eine typisch
dichte Stadtszene mit vollem Straßenbasar und viel Verkehr unter und über dem Al-Azhar Flyover. Die
Aufnahme war so geschnitten, dass nicht etwa Sprache die geografische Einordnung erleichtern könnte.
Daher war ich sehr erstaunt, als die Studierenden sofort feststellten, dass die Aufnahme aus einer
warmen und sandigen Stadt stammen müsse. Der Grund: es ließe sich Musik durch heruntergelassene
Scheiben aus den Innenräumen der Autos hören und deutlich knirschende Schritte. Sie konnten sogar
Flip Flops heraushören, bzw. locker sitzende Schuhe, die etwas über den Boden schleifen. Obwohl die
Aufnahmen wegen der Überfülle an durchdringenden Signalen, Rufen und Verkehrsgeräuschen
zunächst an eine hektische Szene denken ließ, meinten die Studierenden zu erkennen, dass sich die
Menschen eher lässig und ruhig bewegen. Nach und nach setzte sich ein Bild zusammen aus Details, die
wichtig für das Verständnis des Stadtraumes sind, nämlich darüber, wie er räumlich erlebt und
tatsächlich benutzt und belebt wird. Das sind Details, die sich aus einem statischen Foto nur schwer
ablesen lassen.
Hörbare Karten und Modelle
Mit Tonaufnahmen lassen sich nicht nur bestehende Orte analysieren. Man kann sie auch verwenden,
um hörbare Stadtkarten oder Architekturmodelle zu erstellen. Diese Herangehensweise ist in der
Architektur bislang wenig erprobt, aber sie ist verwandt zu der Arbeit von Soundmakern im
Hörspielbereich oder den Komponisten der Soundscape Bewegung. Klangaufnahmen und
Klangcollagen als hörbare Architekturwerkzeuge eröffnen gegenüber visuellen Medien eine qualitativ
anders geartete Konzeptionsebene. Es können szenische Raumskizzen erzeugt werden, die ihre Hörer
direkt in die Atmosphäre des erdachten Ortes eintauchen lassen.
Kairo ist eine sehr vielseitige Stadt, in der ihre Bewohner ganz unterschiedliche Erfahrungen ihres
Alltags machen. Daher fand ich es interessant, mit meinen Studenten ihre jeweilige Nachbarschaft zu
untersuchen. Dabei fiel sofort auf, dass viele Studenten der GUC, die eine Privatuniversität ist, eine ganz
andere Stadtwahrnehmung haben als ich. Viele wohnen in den sehr dünn besiedelten Wüstenstädten, den
New Towns. Ein großes Thema des Seminars war daher: Das Fehlen von Urbanität. Ganz anders also als
der Text zuvor, der gefärbt ist durch die Erfahrung meines Wohnumfeldes in Dokki, berichten die
Arbeiten der Studierenden davon, wie ihre Wohnorte in Stille und Eintönigkeit geradezu versinken.
Alltägliche Berührungen mit der Stadt Kairo haben nur wenige von ihnen.
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Da sich Ton in Zeitschriften nicht leicht darstellen lässt, können Sie über die angefügten Links eine
Auswahl der Arbeiten nachhören:
“Making my walls speak” (1:35 min) von Marwah Garib
http://www.audiblearchitecture.com/index.php/hoerbarearchitekturmodelle/making-my-walls-speak/
Marwah reiht alle einzelnen Klangereignisse ihres zumeist sehr leeren Hauses neben einander auf, um
den Hörer auf die besondere Atmosphäre der Einsamkeit ihrer Umgebung einzustimmen. Dabei stellt sie
das Prinzip der abgeschotteten Bauweise der Townhouses ihres Viertels in Frage, da diese nur sehr
wenig hörbaren Kontakt zu ihren Nachbarn zulassen.
“Drones on my way back home” (3:34 min) von Ahmed El Shihi
http://www.audiblearchitecture.com/index.php/hoerbarearchitekturmodelle/drones-on-my-way-back-home/
Wie klingt die Stadt wirklich? Diese Frage hängt sehr davon ab, wer gerade hinhört. In Ahmeds Fall
wird Kairo aus dem Auto heraus erlebt. Täglich pendelt er 2 x 65 km über die Ring Road zur
Universität. Hier erleben wir eine Fahrt von New Cairo in Richtung Alex Desert Road, die in Echtzeit
vom Asr bis zum Maghrib Gebet dauert. Die verschiedenen Stadteile, die er passiert, nimmt er als
Verschiebungen innerhalb der Komposition der Umgebungslaute wahr - vermengt mit der
Lieblingsplaylist aus seinem MP3 Player.
“Memories of Tahrir Square” (3:00 min) von Youssif Sameh
http://www.audiblearchitecture.com/index.php/hoerbarearchitekturmodelle/memories-of-tahrir/
Manche Klänge besitzen eine geradezu imaginäre die Kraft. Youssif stellt aktuelle Tonaufnahmen des
Tahrir-Platzes vor, die beim ersten Hinhören banal und alltäglich wirken, aber für viele Kairoer die
Erlebnisse der Revolution an diesem Ort wieder wachrufen können. Hier sind es 1. die akustischen
Signale der Straßenverkäufer, die während der Versammlungen auf dem Platz die Menschen versorgt
haben, 2. die typische Hupmelodie eines Hochzeitskorsos und 3. ein Abschleppwagen, der sich mittels
Sirene durch den Verkehr schiebt. Youssif stellt seine Aufnahmen von Alltagsklängen denen aus der Zeit
der Revolution gegenüber. Er erklärt sie sozusagen zu auditiven Wahrzeichen des Platzes. Gleichzeitig
macht sein Stück deutlich, dass Klänge auch emotional sehr aufwühlend wirken können.
Fragen zur Qualität von Nachbarschaft und der Identität von Raum lassen sich mit auditiven Mitteln
besonders gut untersuchen. Die Nutzer von Architektur und Stadtplanung rücken sowohl als
Wahrnehmende als auch Erzeuger ihrer Klangumgebung in den Mittelpunkt der Betrachtung. Diese
explizit menschliche Perspektive könnte für die Weiterentwicklung bestehender und Konzeption neuer
Wohngebiete hier in Kairo ein großer Vorteil sein. Denn deren Zukunftsbild scheint durch die
bildgewaltigen, aber fragwürdigen Stadt-Visionen auf den riesigen Werbetafeln der großen
Entwicklungsformen dominiert zu sein. Eine Sensibilisierung für die einzigartartigen Klangschätze
dieser Stadt bietet eine reiche Grundlage für eine bislang wenig erprobte Art der Stadterkundung vielleicht sogar des Stadtmarketings.
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1
vergl. Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 79 ;
Barry Blesser, Linda Ruth Salter, Spaces Speak, Cambridge (MA) S. 35;
3
Rem Koolhaas, Harvard Design School Guide to Shopping, Köln 2001
4
Weitere Informationen zur Tagung Signalstadt, Berlin, Mai 2015 http://www.signalstadt.de;
5
https://www.interdisciplinary-laboratory.hu-berlin.de/de/basisprojekte/signalraum;
6
Frank Roost, Die Disneyfizierung der Städte, Opladen 200, S. 123;
7
http://www.hoerstadt.at
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