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Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie
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12.11.2015
Von: Sarah Mersch, freie Korrespondentin in Tunesien
Interview
„Probleme kann man nur durch Dialog lösen“
Houcine Abbassi (68) ist seit Dezember 2011 Generalsekretär des tunesischen Gewerkschaftsverbandes
UGTT, dem stärksten Akteur der tunesischen Zivilgesellschaft. Seit ihrer Gründung 1946 mischt sich die
UGTT immer wieder in die Politik ein und hat bei der Revolution 2011 eine wichtige Rolle gespielt. Für ihr
Engagement im Nationalen Dialog wurde sie als eines der vier Mitglieder des sogenannten Quartettes 2015
mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Tunesien-Korespondentin Sarah Mersch hat für uns mit Houcine
Abbassi gesprochen.
Foto: Miguel Schincariol/Getty Images
Houcine
Abbassi, Generalsekretär des tunesischen Gewerkschaftsverbandes UGTT: "Der tunesische
Gewerkschaftsverband hat seit seiner Gründung vor fast 70 Jahren neben seiner ureigenen Rolle der
Verteidigung der Arbeiterrechte auch immer das eigene Land verteidigt."
Herr Abbassi, die UGTT hat mehr als 700 000 Mitglieder, dabei hat Tunesien gerade einmal 11
Millionen Einwohner. Wie kommt es, dass die Gewerkschaft so stark in der Gesellschaft verankert ist?
Der tunesische Gewerkschaftsverband hat seit seiner Gründung vor fast 70 Jahren neben seiner ureigenen
Rolle der Verteidigung der Arbeiterrechte auch immer das eigene Land verteidigt, angefangen beim
Befreiungskampf gegen die französische Kolonialherrschaft. Anfang der fünfziger Jahre haben die
französischen Besatzer die meisten politischen Kräfte ins Gefängnis gesteckt. So blieb kaum jemand anderes
übrig um sich um die Politik zu kümmern als die Gewerkschaft. An seiner Spitze stand damals der Gründer
der UGTT, Farhat Hached, der 1952 von Frankreich ermordet wurde. Seit dieser Zeit ist die Gewerkschaft in
der Gesellschaft tief verankert.
Auch nach der Unabhängigkeit (1956, Anm.d.Red.) gab es in Tunesien bis zur Revolution 2011 nie eine
wirkliche politische Pluralität. Daher war der Gewerkschaftsbund immer präsent, um ein politisches
Gegengewicht darzustellen. Uns wird deswegen immer wieder vorgeworfen, dass wir uns in Bereiche
einmischen, die uns nichts angehen. Unsere Antwort lautet, dass keiner das Recht hat, unser Aufgabengebiet
einzugrenzen, außer unseren Mitglieder und dem tunesischen Volk, und die haben Vertrauen in uns. Das
erklärt auch unsere relativ hohe Mitgliederzahl. Aber wir haben noch viel Arbeit vor uns: während im
öffentlichen Dienst fast 90 Prozent Gewerkschaftsmitglieder sind müssen wir unsere Präsenz im Privatsektor
noch stärken.
Historisch gesehen war die UGTT ein Gegenspieler der Macht, nicht zuletzt beim Aufstand des 14.
Januar 2011. Ist sie heute durch ihre Rolle im Nationalen Dialog zu einem politischen Partner
geworden?
Nein, und das ist unsere Stärke. Uns wurde mehrfach eine Regierungsbeteiligung angeboten, die wir
abgelehnt haben. Das ist Aufgabe der Parteien. Um zwischen ihnen zu vermitteln braucht es eine
außenstehende Organisation. Wir stehen keiner einzelnen Partei nahe. Das ganze Mosaik des tunesischen
Parteienspektrums ist bei uns vertreten. Das ist unsere Stärke und um die zu bewahren dürfen wir nicht in die
Politik gehen.
Die sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Hauptauslöser für den Umbruch vom 14.
Januar 2011 waren, bestehen nach wie vor. Jetzt verhandelt Tunesien mit der Europäischen Union
über ein Freihandelsabkommen. Kann das Teil einer Lösung sein?
Wir sind nicht gegen dieses Abkommen, denn kein Land kann sich heute mehr vor der Welt
verschließen. Aber es besteht ein großes Ungleichgewicht zwischen den Verhandlungspartnern: auf der einen
Seite steht mit der Europäischen Union eine große Wirtschaftskraft, auf der anderen Seite ein kleiner Staat
wie Tunesien. So können keine Verhandlungen auf Augenhöhe geführt werden. Das ist leider unser Fehler,
der Fehler der Anrainer des südlichen Mittelmeers, angefangen in Marokko bis nach Ägypten und
Saudi-Arabien. Hätten wir eine starke arabische Wirtschaftsunion dann stünden sich zwei echte
Verhandlungspartner gegenüber. So verhandelt die EU mit jedem Land einzeln. Und wenn ein Land schwach
und auf ausländische Hilfe angewiesen ist, dann nimmt es auch Angebote zu schlechten Konditionen an. Die
tunesische Landwirtschaft zum Beispiel ist noch nicht dafür bereit. Wir fordern unsere Regierung auf, sie
vom Abkommen auszunehmen, sonst riskieren wir, dass die Folgekosten höher sind als die Profite durch das
Abkommen insgesamt.
Sie stehen in einer der schwierigsten Phasen der UGTT an ihrer Spitze. Wie sehen sie Ihre Zukunft
nach dem nächsten Kongress?
Mein Mandat geht nächstes Jahr zu Ende und ich werde wie angekündigt mein Amt niederlegen. Aber ich
bleibe Gewerkschafter. Ich werde einige Monate brauchen, um mich von den letzten Jahren zu erholen, und
dann möchte ich meine Memoiren schreiben. Sie werden sich vor allem um den Nationalen Dialog drehen.
Es gibt viele Details, die der Öffentlichkeit und selbst der Führungsspitze nicht bekannt sind, denn oft habe
ich alleine verhandelt. Ich möchte an die kommenden Generationen weitergeben, dass man Probleme nur
durch einen friedlichen Dialog lösen kann.
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