Markus 2, 23-28 Und es geschah, dass er am Sabbat durch die

Markus 2, 23-28
Und es geschah, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und
unterwegs begannen seine Jünger, Ähren zu raufen. Und die Pharisäer
sagten zu ihm: Schau her, warum tun sie, was am Sabbat nicht erlaubt ist?
Und er sagt zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er Mangel litt
und hungrig war, er und seine Gefährten? Wie er in das Haus Gottes
hineinging zur Zeit des Hohen Priesters Abiatar und die Schaubrote ass,
die niemand essen darf ausser den Priestern, und wie er auch seinen
Gefährten davon gab? Und er sagt zu ihnen: Der Sabbat ist um des
Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen.
Also: Der Menschensohn ist Herr auch über den Sabbat.
Liebe Gemeinde
„Feste soll man feiern, wie sie fallen“. So heisst es im Volksmund. Und
was der Volksmund weiss, das gilt auch für die Zürcher Reformierten:
Jeden ersten Sonntag im November feiern sie deshalb ein Fest – den
Reformationssonntag – zur Erinnerung an die Reformation.
Ob Martin Luther, der deutsche Reformator, am 31. Oktober 1517 seine
berühmten 95 Thesen tatsächlich an die Schlosskirche von Wittenberg
genagelt hat, ist zwar umstritten. Dass er sie damals geschrieben und zur
Diskussion gestellt hat, jedoch nicht. Deshalb erinnern sich Protestantinnen
und Protestanten auf der ganzen Welt an diesem Tag oder an dem darauf
folgenden Sonntag an die Reformation.
Wenn sie eben mitgerechnet haben, dann wissen Sie bereits: In zwei
Jahren steht ein ganz besonders Jubiläum an. Denn dann feiert die
Reformation ihren 500. Geburtstag. Dass dies für die protestantischen
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Kirchen ein besonderes Ereignis ist, versteht sich von selbst. 500 Jahre
wird man schliesslich nicht alle Tage. Wie schon vor hundert, zweihundert
und dreihundert Jahren steht also ein grosses Fest vor der Tür. Höchste
Zeit also, sich darüber klar zu werden, wie wir dieses historische Datum
begehen wollen!
„Feste soll man feiern, wie sie fallen“, habe ich eben gesagt. – Doch haben
wir überhaupt Anlass zum Feiern? Die Frage muss erlaubt sein. Denn
machen wir uns nichts vor: Besonders gut geht es uns nicht. „Kleiner,
ärmer und älter“ werden wir Reformierte in den nächsten Jahren. Das
jedenfalls prophezeien uns die Soziologen. Klar, auch Soziologinnen und
Soziologen können sich irren. Aber die Lust am Feiern kann einem
angesichts solcher Prognosen schon vergehen. Wäre da nicht noch etwas
anderes: Die Einsicht nämlich, dass nirgendwo geschrieben steht, dass
man
Reformationsjubiläen
nach
dem
Vorbild
nordkoreanischer
Militärparaden feiern oder als Orgie kollektiver Selbstbeweihräucherung
inszenieren muss.
Tatsächlich wollen Reformationssonntage ja Gedenktage sein, und für
Reformationsjubiläen gilt das gleiche. Sie sind dazu da, dass wir einmal
innehalten und uns fragen, was uns als Reformierte eigentlich ausmacht.
Wer sind wir? Und was haben wir eigentlich zu sagen? Gibt es da etwas an
der Reformation, das nicht nur von bildungsbürgerlichem Interesse ist, weil
die Reformation nun einmal zu unserer Geschichte und Kultur gehört? Ist
da etwas, das wirklich Bedeutung hat für das Leben von Menschen? Hier
und heute? – Ich meine: Wenn wir als Kirche eine Zukunft haben wollen,
müssen wir Antworten auf diese Fragen geben können. Und um solche
Antworten geben zu können, müssen wir uns tatsächlich zunächst einmal
erinnern. An das nämlich, worum es Reformatoren wie Martin Luther und
Huldrych Zwingli eigentlich ging.
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Ich weiss: Huldrych Zwingli geniesst hierzulande nicht den besten Ruf. Und
für seine Nachfolger gilt das ebenso. Kein Zürcher und auch keine
Zürcherin lässt sich gern als Zwinglianer oder Zwinglianerin bezeichnen.
Zwar heisst es, Zwinglianer seien sparsam und fleissg, doch diese
Tugenden stehen heute nicht besonders hoch im Kurs. Wichtiger ist:
Zwinglianer
und
Zwinglianerinnen
gelten
als
fleischgewordene
Spassbremsen. Sie sind intolerant, sie sind humorlos und sie sind
fleischlichen Genüssen gegenüber ähnlich aufgeschlossen wie der
sprichwörtliche Teufel dem Weihwasser.
Keine Frage, wäre Zwingli noch am Leben, müsste man ihm schleunigst
einen Imageberater verpassen. Denn ein Zwinglianer war Zwingli nicht.
Wer wissen will, wer Zwingli wirklich war, muss sich mit seiner Biographie
befassen. Und wer wissen will, worum es ihm ging, der sollte lesen, was er
geschrieben hat.
Die Zürcher Reformation begann nicht 1517, sie begann auch nicht mit
Zwinglis Amtsantritt als Leutpriester am Grossmünster am 1. Januar 1519.
Vielmehr ist es der 9. März 1522, der als Urdatum der Zürcher Reformation
in die Geschichtsbücher eingegangen ist. An diesem ersten vorösterlichen
Fastensonntag versammelte sich nämlich ein Dutzend Personen am frühen
Abend im Haus des Buchdruckers Christoph Forschauer, zu einem
demonstrativen Wurstessen. Zwei geräucherte Würste zerschnitt man in
kleine Stücke und verteilte sie unter die Anwesenden. Der Rest ist, wie
gesagt, Geschichte.
Denn was heute allenfalls einen besorgten Hinweis auf die bedenklichen
Folgen des Fleischverzehrs im Allgemeinen und jenen der Wurst im
Besonderen zur Folge hätte, das rief damals die Obrigkeit auf den Plan.
Denn der demonstrative Verstoss gegen die geltenden Fastenvorschriften
inspirierte Nachahmungstäter und erregte die Gemüter. Froschauer, der
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Buchdrucker, wurde vor den Rat der Stadt Zürich bestellt und verteidigte
sich, indem er zum einen auf die schwere Arbeit und den Hunger seiner
Angestellten und zum anderen auf Zwinglis Predigten verwies. Der
wiederum nutzte die Gelegenheit und nahm zwei Wochen nach dem
Wurstessen von der Kanzel des Grossmünsters aus zum Fastenproblem
Stellung. Dass es dabei nicht nur im wörtlichen, sondern auch im
übertragenen Sinne „um die Wurst ging“, erkennt man daran, dass Zwingli
seine Predigt drucken liess. Sie erschien am 16. April 1522 unter dem Titel
„Die freie Wahl der Speisen“ im Hause Froschauer.
„Die freie Wahl der Speisen“ war Zwinglis erste reformatorische Schrift und
unser Predigttext spielt in ihr keine unwesentliche Rolle. Denn Zwingli
verteidigt den Buchdrucker und seine Mittäter, indem er auf die Geschichte
vom Ährenausraufen am Sabbat verweist.
Zwingli ist kein fundamentalistischer Anti-Fundamentalist. Er lehnt das
Fasten nicht rundweg ab, sondern kann ihm durchaus etwas abgewinnen.
Nur zum Zwang darf es nicht werden. Dementsprechend schreibt er: „Willst
du gerne fasten, dann tue es! Willst Du dabei auf Fleisch verzichten, dann
iss auch kein Fleisch! Lass mir dabei aber dem Christen die freie Wahl!“
Auf die Freiheit also kommt es Zwingli an. Dass wir sie uns selber und
anderen zugestehen, darum geht es ihm. Denn das Fasten ist in seinen
Augen eine – durchaus sinnvolle – menschliche Erfindung und kein
göttliches Gebot. Anders als der Sabbat. Wenn nun aber Jesus selbst den
von Gott eingerichteten Ruhetag den Bedürfnissen der Menschen
unterordnet, wenn von ihm gilt „Der Sabbat ist um des Menschen willen
geschaffen“, um wieviel mehr gilt dies dann für die von Menschen
erdachten Fastenordnungen? Die Antwort auf diese Frage ist natürlich klar:
Menschliche Ordnungen müssen sich erst recht daran messen lassen, ob
sie dem Menschen dienen oder nicht. Das gilt auch für das Fasten.
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Bei alldem geht es Zwingli natürlich nicht nur um die damals geltende
Fastenordnung. Für ihn steht viel mehr auf dem Spiel. Wogegen er sich
wendet, das ist nicht eine bestimmte Form der Selbst-Disziplinierung,
sondern der religiöse Leistungssport im Allgemeinen. Denn zu nichts
anderem wird das Fasten, wenn man es zu einer religiösen Übung macht,
die es unbedingt zu befolgen gilt. Zu nichts anderem als religiösem
Leistungssport verkommt auch das von Gott gegebene Gebot der
Heiligung des Sabbats, wenn seine unbedingte Einhaltung über alles
gestellt wird. Wie gut wir auch sind beim Fasten oder anderen religiösen
Übungen, selig werden wir dadurch nicht. Das ist es, was Zwingli sagen
will. In Christus liebt Gott uns so wie wir sind. Wie Eltern ihre Kinder. Wir
können und müssen uns seine Liebe nicht erst verdienen.
Was, so fragen Sie, liebe Gemeinde, sich wahrscheinlich schon längst, was
soll das denn nun eigentlich mit uns zu tun haben. Haben sich die
Probleme, mit denen Zwingli sich herumschlug, nicht längst erledigt? Sind
die Zeiten, da man durch religiöse Leistungen zu Gott finden wollte, nicht
vorbei?
Ich meine: Das Gegenteil ist der Fall! Formen religiösen Leistungssports
sind auch heute noch in Mode. Jedenfalls kann ich mich angesichts der
Begeisterung vieler Menschen für buddhistische Meditationen und anderen
spirituelle Praktiken dieses Eindrucks manchmal nicht erwehren. Viel
bemerkenswerter aber finde ich etwas anderes: Dass der Leistungsdruck,
den wir uns in unserem beruflichen und privaten Leben unterwerfen,
seinerseits durchaus religiöse Züge trägt! – Als ob unser Heil und Leben
davon abhinge, dass wir die nächste Stufe auf unserer beruflichen
Karriereleiter erklimmen! Oder davon, dass wir Berufliches und Privates auf
perfekte Weise miteinander in Einklang bringen! Oder davon, dass wir 756
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Freunde auf Facebook haben, dass wir unseren Urlaub in Nepal oder in
Südafrika verbringen oder die beste Grossmutter der Schweiz sind!
Sicher, all das mag mehr oder weniger wichtig sein. Aber wenn wir so
leben, als hinge unser Leben davon ab, als hätten wir nur dann ein Recht
auf diesem Planeten zu sein, wenn wir dies oder jenes leisten, dann läuft
etwas schief, und zwar gewaltig. Gott liebt uns nämlich so wie wir sind.
Dass heisst auch: Wir selbst dürfen uns annehmen, so wie wir sind. Unsere
Existenz bedarf keiner Rechtfertigung. – Das jedenfalls würde Zwingli uns
sagen wollen, und deshalb finde ich, dass die Reformation tatsächlich mehr
ist als ein kulturhistorisches Ereignis und dass das, worum es den
Reformatoren ging, durchaus etwas zu tun hat mit uns und unserem
Leben. Daran sollten wir erinnern, das sollten wir uns und anderen
vergegenwärtigen, wenn wir heute Reformationstag und in den nächsten
Jahren das Reformationsjubiläum feiern.
Natürlich ist das noch nicht alles. Reformation und Reformiert-Sein
bedeutet noch manches mehr. Nicht zuletzt dies: Zur Freiheit gehört bei
den Reformierten immer auch die Verantwortung für den Menschen.
Schliesslich ist er es, der Mensch also, um dessentwillen der Sabbat da ist.
Zu Zwinglis Zeit manifestierte sich diese Verantwortung etwa in der
Almosenordnung, die am 15. Januar 1525 im inzwischen reformierten
Zürich in Kraft gesetzt wurde. Sie sorgte dafür dass die Stadt sich der
Armen annahm und dass die Armen jeden Morgen beim Mushafen in der
Nähe des Predigerklosters ein warmes Essen erhielten.
Die reformatorische Freiheit und die Verantwortung für den Mitmenschen
gehören also zusammen. Was das heute heisst, das überlasse ich nun
Ihrer Phantasie und Menschlichkeit.
Amen.
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