Esther Straub – Eröffnungsreferat Kappeler Kirchentagung (26.02.2016) Sehr verehrte Kirchenpflegende, geschätzte Mitarbeitende (es gilt das in Mundart gesprochene Wort) Ich freue mich, Sie im Kloster Kappel zur Kirchentagung willkommen zu heissen, und ich danke Ihnen, dass Sie sich zwei Tage Zeit nehmen, sich aufs Reformationsjubiläum der nächsten Jahre einzustimmen und mit möglichen Projekten für das Jubiläum auseinanderzusetzen. Kappel ist in der Reformationsgeschichte ein bekannter Ort, wo zuerst Friede geschlossen und dann zwei Jahre später doch Krieg geführt wird. Im ersten Kappeler Krieg kann Blutvergiessen noch verhindert werden. Das berühmte Bild der Milchsuppe illustriert die glückliche Wendung. Der zweite Kappeler Krieg ist dann jedoch wirklich einer: Über 400 Tote sind zu beklagen, darunter auch Zwingli. Dass ausgerechnet die Schweiz so mit dem ersten europäischen Religionskrieg (avant la lettre) in die Geschichtsbücher einging, wurde mir persönlich – ehrlich gesagt – erst bewusst, als ich das neue Zwingli-Buch gelesen habe und anschliessend die Kappeler Kriege googelte. Ich kam dann zum Schluss, dass die traurige Pioniertat uns davor bewahren könnte, heute überheblich zu agieren, in einer Zeit, in der die Verknüpfung von Religion und Krieg wieder erschreckend aktuell und täglich in den Schlagzeilen ist. Im Bescheidensein anstelle von Überheblichkeit – oder zumindest im Kokettieren mit Bescheidenheit – sind wir Reformierten ja bekanntlich gut. Zwingli bezeugt: «Wenn dann meine Schriften einmal von allen gelesen wären, so wünschte ich, mein Name geriete allenthalben wieder in Vergessenheit.» Wir haben ihn nicht vergessen, den Zwingli – allerdings wurden seine Schriften auch nicht von allen gelesen – aber darum sind wir eben zusammengekommen, um zu erfahren und miteinander zu diskutieren, wie wir die Errungenschaften Zwinglis und der Reformation im Jubiläumsjahr erinnern und feiern und für unsere Zeit neu fruchtbar machen. Viele Vorbereitungen sind im Tun und erste Veranstaltungen aufgegleist. Eine Zwingliwurst ist patentiert, es gibt Zwinglitassen und andere Gadgets zu verteilen, der Theologische Verlag Zürich hat eine kurzgefasste und ebenso -weilige Zwinglibiographie von Peter Opitz veröffentlicht, und ein Mysterienspiel, ein Zwingli-Film und einiges mehr sind in Planung. Allerdings wäre es, wie das Zitat Zwinglis zeigt, nicht in seinem Sinn, würden wir ihn selbst feiern und heroisieren. Zwingli ging es um die Sache, also ums Evangelium. Das Evangelium aber soll die ganze Gesellschaft durchdringen und prägen, das ist die reformatorische Überzeugung. Dass zusammen mit der Kirche auch Stadt und Kanton das Reformationsjubiläum offiziell feiern, bedeutet zwar nicht, dass unsere Gesellschaft mittlerweile ganz vom Evangelium durchdrungen wäre, aber es zeigt, dass sich die heutige stark säkularisierte Gesellschaft der Prägung durch die Reformation durchaus bewusst ist und weiss, wo Errungenschaften wie das Sozialwesen oder die Volksschule ihren Ausgang genommen haben. Die Reformation kommt bekanntlich nie an ihr Ziel. Darum heisst es auch im 2. Artikel unserer Kirchenordnung: «Sie [die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich] führt die von Huldrych Zwingli und Heinrich Bullinger begonnene Reformation weiter.» Das Reformationsjubiläum soll Gelegenheit bieten, das Weiterreformieren bewusst zu betreiben. Vieles ist heute grundlegend anders als vor 500 Jahren und auch anders als vor 100 oder noch 50 Jahren, z.B. dass wir in einer multireligiösen und säkularisierten Gesellschaft leben. Umgekehrt aber gibt es auch heute immer noch frappante Parallelen zu vor 500 Jahren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Zwingli kämpfte gegen die Reisläuferei, dass also mit dem Export von Kriegssöldnern Geld gemacht wurde. Und diese Woche wurde publik, dass die kleine Schweiz im globalen Rüstungsgeschäft mit dem Export von Kriegsmaterial auf Platz 14 rangiert. Das Reformationsjubiläum bietet Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie das Weiterreformieren von statten gehen soll. Sie als Kirchgemeinde sind eingeladen, Ihre Reformationsprojekte vor Ort zu entwickeln und so am Zürcher, Schweizer und internationalen Reformationsjubiläum mitzuwirken. An welchen Grundsätzen sich das ständige Reformieren ausrichten soll, wurde bereits früh in der Reformation mit drei oder auch vier oder fünf «soli» beschrieben: sola scriptura, solus Christus, sola gratia, sola fide, soli Deo gloria. Das tönt nicht wirklich deutsch und volksgerecht, wie die Reformation doch zu reden beanspruchte. Machen wir uns also an die Übersetzung: Sola scriptura: Die Schrift, die Bibel alleine zählt. Diesem Grundsatz hat sich Zwingli früh verpflichtet und grub mit biblischen Argumenten kirchlichen Traditionen wie der Heiligenverehrung oder dem Ablass das Wasser ab. Die Auslegung der Bibel, wie also Gottes Wort überhaupt zu verstehen sei, nahm die Zürcher Reformation als eine gemeinschaftliche Aufgabe wahr. Die Zürcher Bibel ist ein solches Gemeinschaftswerk, und im «Lectorium» (oder auch «Prophezey») versammelten sich fünfmal die Woche die Geistlichen der Stadt und Gäste im Chor des Grossmünsters, um gemeinsam die Bibel auszulegen. Kirche ist dort, wo Gottes Wort gehört wird, so einfach sagt es Zwingli und so steht es in unserer Kirchenordnung. Miteinander öffentlich im Gespräch darüber zu sein, was Gottes Wort zu sagen hat und was es heute in der Welt in Bewegung setzen will, über unterschiedliche Auffassungen des Wortes zu disputieren: Das ist Kirche. Tun wir es? Oder bleibt die Auseinandersetzung bei der Sonntagspredigt einer Einzelperson stehen? Trauen wir es dem biblischen Wort überhaupt noch zu, öffentlich relevant zu sein und eingeschliffene, problematische Muster unserer Gesellschaft kritisch zu hinterfragen? Sind wir uns einig darüber, welche biblischen Kernsätze, welche Prophezey heute etwas in Bewegung setzen könnte? Und wenn wir uns nicht einig sind, wo streiten wir darüber und diskutieren miteinander? Das Reformationsjubiläum bietet Gelegenheit, dass die Kirche als vielstimmiger Resonanzkörper auftritt, der Gottes Wort in der Welt Gehör verschafft. Ich bin übrigens nicht so pessimistisch, ob in unserer individualisierten reformierten Kirche gemeinsame Meinungen überhaupt möglich seien. Die Pfarrkonferenzen vor einem Jahr zeigten überraschend, dass sogar Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Landeskirche – von denen manchmal behauptet wird, jeder und jede habe ihr eigenes Evangelium – durchaus in der Lage sind, zu grundsätzlichen Fragen eine gemeinsame Meinung zu fassen. Voraussetzung ist, dass überhaupt diskutiert wird. Und ein weiteres Übrigens: Dass am Wochenende voraussichtlich eine der höchsten Stimmbeteiligungen zustande kommen wird, zeigt, dass Schweizerinnen und Schweizer sich von Grundsatzfragen wie etwa derjenigen der Menschenwürde oder einer Zweiklassengesellschaft durchaus affizieren lassen, insbesondere, wenn die Zivilgesellschaft sich in einem Abstimmungskampf engagiert und das Feld nicht einfach den Parteien und Verbänden überlässt. Auch die Kirche thematisiert Grundsatzfragen über Gott und die Welt, und auch Sie tun dies in Ihren Gemeinden zu einem grossen Teil zivil. Solus Christus: Ist es nicht eine Anmassung, in einer multireligiösen Gesellschaft ein solus Christus, Christus alleine, zu behaupten? Zwingli brauchte die Formel allerdings nicht in Abgrenzung nach aussen, sondern als inneren Glaubensmassstab – weniger anmassend ist sie damit allerdings nicht. Dass das Evangelium berichtet, dass Gott sein Schicksal an das Schicksal eines Menschen gebunden hat, der einen elenden Tod gestorben ist, müsste eigentlich heute noch provozieren und einige unserer eigenen Gottesbilder kritisch hinterfragen. Lassen wir uns noch provozieren? Die Anmassung, dass Gottes Kraft sich nicht in Machtdemonstrationen äussert, sondern am Ort der Schwachheit wirkt, diese Anmassung des solus Christus führt gerade nicht in eine Abgrenzung nach aussen, im Sinne von: «Mir wüssed, wo Gott hockt». Sondern solus Christus führt in einen offenen Dialog mit anderen Glaubensgemeinschaften. Das Reformationsjubiläum bietet Gelegenheit, im Gespräch mit anderen Religionen zu neuen Einsichten in den eigenen Glauben zu gelangen. Sola gratia: Durch die Gnade allein. «Gnade» – dieses Wort tönt in heutigen Ohren kühl juristisch. Gratia oder der griechische Begriff charis haben demgegenüber eine viel umfassendere Bedeutung, die von Grazie, Gefälligkeit, Geschenk über Liebesgabe, Liebesdienst, Wohlwollen bis zu Erkenntlichkeit, Dank und Lohn geht. Die urreformatorische Erkenntnis, dass Gott sich uns bedingungslos – eben alleine durch seine Liebesgabe – zuwendet und wir darum von allen möglichen und unmöglichen religiösen Lasten befreit sind, diese Erkenntnis hat sich vor 500 Jahren z.B. im Fastenbruch Luft verschafft. Da wären wir nun eben bei der Zwingliwurst. Christinnen und Christen haben laut Zwingli die Freiheit zu fasten oder nicht zu fasten, beides(!) kann Gottesdienst sein, keines ist heilsnotwendig. «Freiheit von» ist für Zwingli immer «Freiheit zu», eine Freiheit also, die es verantwortlich zu nutzen gilt. «Gnade, die nicht tätig wird, ist Einbildung», formulierte Ernst Käsemann 450 Jahre nach Zwingli. Mit der verantwortlich genutzten Freiheit sind wir bereits bei sola fide angelangt. Sola fide, allein durch den Glauben, meint die menschliche Entsprechung zum göttlichen sola gratia. Das Reformationsjubiläum bietet Gelegenheit zu zeigen, dass die Liebesgabe Gottes keine Einbildung ist, sondern dass wir sie mit Leib und Seele mitvollziehen. Wenn ich z.B. die vielen Projekte sehe, die in unseren Kirchgemeinden zurzeit zusammen mit und für Flüchtlinge gelebt werden, aber auch alle anderen diakonischen Tätigkeitsfelder, die nebenher weiterhin beackert werden, dann kann uns tatsächlich niemand vorwerfen, wir würden uns mit der Liebe nur etwas einbilden. «Tue Gutes und rede darüber», heisst eine Formel in der PR und im Projektmarketing. Sola fide formuliert diesen Zusammenhang etwas anders. Paulus schreibt: «Wir haben [alle] dieselbe Geistkraft des Glaubens, von der geschrieben steht: Ich glaube, darum rede ich. Auch wir glauben, und darum reden wir.» (2Kor 4,13). Der Glaube kann gar nicht bei sich selber bleiben, sondern bewegt zum Reden. Das Reformationsjubiläum bietet Gelegenheit, über den inneren Kreis der Kirchgemeinde hinaus gehört zu werden. Unser Zürcher Jubiläum steht in einem nationalen Jubiläum und dieses in einem internationalen, das in Deutschland, Frankreich, in vielen anderen Ländern und auch in Übersee gefeiert wird. Die Resonanz, die das Dada-Jubiläum, das derzeit über die Bühne geht, in in- und ausländischen Medien erfährt, wird auch dem Reformationsjubiläum zuteilwerden. Reden wir also darüber, was uns im Glauben bewegt und zu was uns der Glaube bewegt, tragen wir es an die Öffentlichkeit, reden wir und wirken wir in die Gesellschaft hinein! Das letzte Solus heisst: Soli Deo gloria – Gott allein zur Ehre. Diese Formel trägt eine kritische Spitze gegen die Götzen der Welt. Die Regentschaft Gottes duldet keine goldenen Kälber. Die basileia, Gottes Reich, will die ganze Wirklichkeit umfassen. Und weil in diesem Reich die Liebe regiert, bedeutet der umfassende Machtanspruch Gottes paradoxerweise Freiheit. Diese Wahrheit haben die Reformatoren wiederentdeckt. Zwingli schreibt: «Die Wahrheit hat ein fröhliches Angesicht.» Soli Deo gloria setzte J.S. Bach unter jede seiner Kompositionen. Auch unter unseren Kompositionen und Projekten des Reformationsjubiläums soll jeweils S.D.G. stehen. Sie dienen nicht den Götzen der Welt, sondern wirken an Gottes Reich – und auch wenn sie mit Lotteriefondsgeldern finanziert sind, tanzen sie nicht um goldene Kälber. Wenn wir in diesem Sinn und Geist das Jubiläum begehen, eben fröhlich und ausgerichtet auf Gottes Ehre und auf sein Reich, dann braucht es uns am Schluss nicht zu kümmern, ob wir mit den Jubiläumsfeiern den Mitgliederschwund abschwächen konnten oder nicht – wichtiger ist, dass sich in unserem Feiern Gottes Kraft, seine dynamis, erleben lässt und die Dynamik, die diese Kraft in der Welt entfaltet. Soli Deo gloria. Fünf Soli, fünf reformatorische Grundsätze, und jeder zeigt auf seine Art, dass das Evangelium mehr ist als ein Heilszuspruch für den einzelnen Menschen. Das biblische Wort führt ins Gespräch, in den Dialog, das Evangelium wirkt in die Gesellschaft hinein und will die Welt gestalten. Nutzen wir das Reformationsjubiläum, um die «fröhliche Botschaft», wie Zwingli schreibt, ins Gespräch zu bringen, uns als Kirche ins Geschehen einzumischen und verantwortlich in der Gesellschaft mitzuwirken. Der Kirchenrat freut sich auf vielfältige Projekte aus den Gemeinden. Tauschen Sie sich hier in Kappel über Ideen aus, nehmen Sie neue Ideen mit und gehen Sie dann mit Freude und Gottes Segen an die Arbeit. Ich danke Ihnen im Namen des Kirchenrates für Ihren wertvollen Beitrag zu einem eindrücklichen Jubiläum. Esther Straub
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