Herr, nun selbst den Wagen halt

Reformierte Kirchgemeinde Hasle bei Burgdorf
Predigt am Reformationssonntag, dem 1. November 2015:
„Herr, nun selbst den Wagen halt!“
Lied RG 792 (Huldrych Zwingli) / Bibeltext: Psalm 106,47
Pfr. Hannes Müri
Herr, nun selbst den Wagen halt!
Bald abseit geht sonst die Fahrt;
das brächt Freud dem Widerpart,
der dich veracht‘ so freventlich.
Gott, erhöh deins Namens Ehr;
wehr und straf der Bösen Grimm;
weck die Schaf mit deiner Stimm,
die dich lieb haben inniglich.
Hilf, dass alle Bitterkeit
scheid, o Herr, und alte Treu
wiederkehr und werde neu,
dass wir ewig lobsingen dir.
Liebe Gemeinde!
Heute ist Reformationssonntag. Wir haben soeben ein Lied von Huldrych Zwingli,
dem Zürcher Reformator gesungen. Er ist mehr als nur „Zürcher Reformator“! Der
Titel der neuen Zwingli-Biografie von Peter Opitz lautet: „Ulrich Zwingli – Prophet,
Ketzer, Pionier des Protestantismus“.1 Man kann sagen, dass die Zwingli die
reformierte Kirche in der Schweiz und weltweit ganz entscheidend geprägt hat. Er
steht uns nicht nur geografisch näher als Martin Luther.
Wir schreiben das Jahr 1529. Zwischen den reformierten und den katholischen Orten
in der Schweiz kommt es zum Konflikt. Zürich und Bern stehen auf der einen Seite,
die Innerschweizer Orte Luzern, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden und Zug sind auf
der anderen Seite. In den sogenannten Gemeinen Herrschaften, die von mehreren
eidgenössischen Orten regiert werden, sind nämlich etliche Dörfer und Landstriche
zur Reformation übergegangen und haben Zürich als Schutzmacht angerufen. Zürich
mobilisiert nun Truppen, um die zum reformierten Glauben übergetretene
Bevölkerung des Freiamts zu schützen.
Wir sehen (und nehmen es vielleicht mit Verwunderung zur Kenntnis): Der Glaube
wird in jener Zeit nicht einfach als Privatsache angesehen, sondern ist die
Angelegenheit von Regierungen und hat eine ganz wichtige politische Bedeutung...!
Im Juni 1529 liegen sich die Reformierten und die Katholischen zwischen Kappel und
Baar schussfertig gegenüber. Es ist anzunehmen, dass Huldrych Zwingli sein Lied
„Herr, nun selbst den Wagen halt!“ in dieser spannungsvollen Zeit geschrieben hat.
1
Erschienen 2015 im Theologischen Verlag Zürich TVZ (ISBN 978-3-290-17828-4)
Theophil Bruppacher erzählt anschaulich: „Auf Zürcher Seite herrschte strenge
Mannszucht, statt Schoppen und Dirnen gab es täglich eine Predigt, zu der die
Trommel schlug. In diesen bangen Tagen schrieb sich Zwingli, der als Feldprediger
mitgezogen, das dreistrophige Lied vom Herzen, in dessen jeder Zeile die Not und
Angst des geistlichen Hirten zittert und der Geruch des Heerlagers aufsteigt. [...] Hier
fleht ein Eidgenosse unter der heissen Sonne von Kappel für seine Brüder hüben
und drüben, für die in der Heureife flimmernden Länder ringsum.“2
Dieser Erste Kappeler Krieg geht noch glimpflich aus und endet ohne eigentliche
Kampfhandlung: Die Vermittlungen unter dem Glarner Landammann Hans Aebli
verhindern eine blutige Auseinandersetzung. Kampflos wird der erste Kappeler
Landfriede geschlossen. Es wird vereinbart, dass jede Gemeinde durch
Mehrheitsbeschluss den alten oder neuen Glauben annehmen darf. Der Friede wird
durch ein Versöhnungsessen, die Kappeler Milchsuppe, besiegelt: Es wird
berichtet, genau auf der Grenze
zwischen den beiden Kantonen sei
ein grosser Kochtopf auf ein Feuer
gestellt worden. Die Zuger hätten die
Milch und die Zürcher das Brot für
eine Milchsuppe beigesteuert, die
dann von den beiden Heeren
gemeinsam verspeist worden sei.
Was für ein schönes Bild! – Und doch
brach zwei Jahre später der Zweite
Kappeler Krieg aus, den die
reformierten Zürcher verloren. Auch
Zwingli war unter den etwa
vierhundert Zürcher Toten...
Die Worte unseres Predigtliedes gehören also in jene ganz bestimmte Zeit. Und doch
meine ich, dass sie auch heute, da die Auseinandersetzung um den christlichen
Glauben nicht mehr zwischen Katholiken und Reformierten ausgetragen wird,
sondern viel häufiger zwischen ziemlich militanten Freidenkern und wachen
Christen, ihre Bedeutung haben.
In der ersten Strophe wird das Bild von einem fahrenden Wagen
heraufbeschworen, den der Kutscher nicht mehr im Griff hat. Die Pferde drohen
durchzubrennen, und so ruft der Kutscher einen anderen zu Hilfe: „Herr, nun
selbst den Wagen halt!“ Wenn der Wagen von der Strasse abkäme und
zerschmettert würde, hätte der „Widerpart“ seine helle Freude...!
Ich denke, dass schon Zwingli damit nicht den katholischen Kriegsgegner aus
der Innerschweiz meint, sondern Menschen und Mächte, die Gott verachten.
Zwingli hat nämlich die damals selten gehörte Meinung vertreten, alle Christen –
reformierte, katholische und allenfalls auch weitere – sollten rechtlich anerkannt
werden, die die zwölf Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses
bejahten.3
2
Theophil Bruppacher, Gelobet sei der Herr – Erläuterungen zum Gesangbuch der evangelischreformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz 1953, Seite 377 (Lied KGB 344)
3
Peter Opitz, Ulrich Zwingli, Seite 99
In der zweiten Strophe wird Gott aufgerufen, selbst seine Ehre zu verteidigen und
sich gegen „die Bösen“ zu wehren. Die „Schafe“ aber, die ihn von Herzen lieben,
solle er mit seiner Stimme wecken.
Wie verschlafen oder wach die damaligen Menschen in Bezug auf ihren
Glauben waren, weiss ich nicht. Heute aber ist meines Erachtens eine sehr
grosse Zahl von Leuten, die auf dem Papier Christen wären, nicht wach, sondern
gleichgültig. Für sie und für uns selbst singen wir also Zwinglis fast 500 Jahre
altes Lied!
Die dritte Strophe ist eine Bitte darum, dass die Bitterkeit weichen muss, die das
friedliche Zusammenleben von Menschen verunmöglicht, und dass „alte Treue“
zurückkommt: Treue zu Gott; Treue zwischen Menschen, die einander im Stich
gelassen haben oder einander nicht mehr als Geschwister wiedererkennen.
„Und was ist der letzte Ewigkeitsgedanke des Mannes, der den Kirchengesang
‚abgeschafft‘ hat?“, fragt Theophil Bruppacher. Mit der letzten Liedzeile antwortet
er gleich selbst: „Die Hoffnung, ‚dass wir ewig lobsingen dir‘.“
Bestimmt ist Ihnen auch aufgefallen, dass das Lied auf den Stossseufzer „Herr –
Gott – hilf!“ aufgebaut ist, der aus dem jeweils ersten Wort der drei Strophen
zusammengesetzt wird. Da klingen Worte aus Psalm 106 an:
Hilf uns, HERR, unser Gott,
und bring uns zusammen aus den Völkern,
dass wir preisen deinen heiligen Namen
und uns rühmen, dass wir dich loben können! 4
Zwinglis Lied und Bitte um Gottes Beistand ist auch ein Gebet für die Kirche in
unserer Zeit, auch wenn die Situation unserer Kirche heute eine andere ist als die
Situation der Kirche zu Zwinglis Zeiten.
Mir fällt zum Beispiel auf, wie stark die Kirchenleitung (verkörpert durch den
Reformator Zwingli) und die politischen Behörden (verkörpert durch den Zürcher Rat)
damals zusammenarbeiteten und am gleichen Strick zogen. Ich habe sogar den
Eindruck, dass die Kirche in diesem Gespann die Führung innehatte.
Heute geht es um die Trennung von Kirche und Staat. Man will nicht mehr, dass
der Staat mit einer bestimmten religiösen Haltung in Verbindung gebracht wird,
sondern dass er religiös neutral ist. Und so hat der Berner Grosse Rat im September
beschlossen, die Verbindungen von Kirche und Staat zu entflechten und zum
Beispiel die Pfarrerinnen und Pfarrer künftig nicht mehr als Staatsangestellte zu
halten. Wir werden als Angestellte zur Kirche wechseln.
Das alles ist nicht einfach schlecht, hat die Kirche doch im Verlauf der
Jahrhunderte Freiheit und Eigenständigkeit und Abhängigkeit von Gott(!)
preisgegeben und sich in Verbindung mit politischer Macht oft nicht so verhalten, wie
es ihr eigentlicher Herr, Jesus Christus, gewollt hätte.
4
Psalm 106,47 (Lutherbibel; „Heiden“ habe ich wie in der Einheitsübersetzung durch „Völker“ ersetzt).
Siehe auch Psalm 118,25: „O HERR, hilf! / O HERR, lass wohlgelingen!“
Ganz allgemein hat der christliche Glaube in der heutigen Zeit massiv an Boden
verloren. Äusserlich hängt das damit zusammen, dass Menschen, die einer anderen
Religion angehören, wegen unhaltbaren Zuständen in ihren Heimatländern nach
Europa und in die Schweiz gekommen sind. Innerlich haben sich gleichzeitig viele
Menschen, die einen christlichen Hintergrund haben, von ihrem Glauben
verabschiedet und sind heute vielleicht nur noch auf dem Papier Christen oder sind
gar zur Kirche ausgetreten und gehören zur schnell wachsenden Gruppe von
Konfessionslosen.
Wir haben keinen Kappeler Krieg, in dem es auch um unseren Glauben geht. Und
doch fühle ich mich als Teil der Kirche und als Christ in einer geistlichen
Auseinandersetzung, fühle mich manchmal auch bedrängt... Da spricht mich
Zwinglis Lied unmittelbar an.
Bitten wir singend darum, dass Gott selbst den Wagen hält – unsere Kirche,
unser Leben als Christen – und dass er neu die Zügel in die Hand nimmt. Bitten
wir darum, dass er uns die Richtung angibt und dass er unsere Kirchenleitung,
unsere Synode und die Räte in unseren Kirchgemeinden mit seinem Geist
anleitet, ermutigt und auch tröstet.
Wir sind als Kirche ja daran, unsere Vision wiederzufinden: „Vision Kirche 21“
nennt sich dieser Prozess, bei dem wir Fragen stellen, Antworten finden und mit
neuen Leitgedanken Kirche sein wollen.5
Bitten wir Gott singend darum, dass er uns weckt mit seiner Stimme. Dass wir
überhaupt wieder merken, dass er eine Stimme hat, dass er spricht und uns
etwas zu sagen hat. Ohne ihn und sein Reden können wir weder Christen sein
noch Kirche sein, sondern lassen uns zu Boden drücken durch Menschen und
Mächte, die Gott missachten.
Der „Widerpart“, die „Bösen“ sind nicht die Christen in anderen Konfessionen oder
in den Freikirchen. Das müssen wir lernen und auf andere Christen zugehen.
Eine Ausdrucksform davon soll der Preisegg-Gottesdienst am kommenden 10.
Januar sein, den wir gemeinsam mit Leuten aus anderen Kirchen und
Gemeinschaften in Hasle-Rüegsau feiern wollen.
Bitten wir singend darum, dass wir Bitterkeit ablegen können, dass wir uns
nicht immer daran erinnern lassen, wie uns andere verletzt haben oder
missachtet haben. Erinnern wir uns stattdessen an die Treue Gottes zu uns, die
uns darin bestärkt, selber in Treue unser Leben als „Mitstreiter Jesu Christi“ zu
führen.
Der Ausblick ist das Bild vom gemeinsamen Singen und Musizieren, wenn
jede Stimme und jedes Instrument seinen wertvollen Beitrag zu Melodie und
Harmonie und Rhythmus beisteuert. Wenn das Kriegsgeheul und die Wutschreie
und das angstvolle Weinen und all die anderen Misstöne aufgehört haben. Wenn
Gott selber endlich „z grächtem“ den Dirigentenstab führt.
AMEN
5
Beispiel Martin Luthers, der zweifelnd und sorgend am Fenster steht und über die nächtliche Stadt
schaut. Er erkennt, dass die Kirche nicht seine ist, sondern dass sie Gott gehört. Deshalb hält er sie
ihm hin und gibt sie gesorgt.