Verwaltungsrecht I Wintersemester 2015/16 9. Vorlesung Handlungsformen der Verwaltung IV Verwaltungsakt Priv.-Doz. Dr. Ulrich Jan Schröder November 13, 2015 Handlungsformen der Verwaltung IV Programm für heute Vollstreckung des Verwaltungsaktes November 13, 2015 2 Handlungsformen der Verwaltung IV Vollstreckung des Verwaltungsaktes Verwaltungsakt ist ein Vollstreckungstitel ● Verwaltung schafft sich Titel in eigener Sache ● Gerichtsurteil nicht nötig ● Rechtsschutzbedürfnis des Bürgers ● verfahrensrechtliche Anforderungen ● Vollstreckung von Verwaltungsakten durch ○ Verwaltungsakte (Androhung, Festsetzung des Zwangsmittels) ○ Realakte (Ersatzvornahme, unmittelbarer Zwang) November 13, 2015 3 Handlungsformen der Verwaltung IV Regelung des Verfahrens zum Erlass von Verwaltungsakten: ○ Verwaltungsverfahrensgesetze (bzw. Spezialgesetze) Regelung der Vollstreckung aus Verwaltungsakten: ○ VwVG des Bundes ○ HessVwVG ○ §§ 47-63 HSOG November 13, 2015 4 Handlungsformen der Verwaltung IV 1. Beitreibung von Geldforderungen 2. Verwaltungszwang zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen Beispiele: 1. Die Abrissverfügung wird vom Eigentümer des baufälligen Hauses nicht befolgt. Die Bauaufsichtsbehörde beauftragt ein Abrissunternehmen. 2. Nach Auflösung der Versammlung wird ein Demonstrant weggetragen. 3. Das Auto im Parkverbot wird abgeschleppt. November 13, 2015 5 Handlungsformen der Verwaltung IV Verwaltungszwang zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen a) §§ 68-79 HessVwVG b) §§ 47-63 HSOG (vgl. § 1 II 1 HessVwVG) ▪ Erforderlichkeit von Spezialvorschriften ▪ polizei- und ordnungsrechtliche Verwaltungsakte haben starken Eingriffscharakter ▪ entsprechend auch die Vollstreckungsakte ▪ Gesetzesvorbehalt erfordert Spezialvorschriften ▪ evtl. besondere verfahrensrechtliche Anforderungen November 13, 2015 6 Handlungsformen der Verwaltung IV Verwaltungszwang zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen ● Vollstreckung eines Verwaltungsaktes = Durchsetzung des Regelungsgehaltes (Befehle [Gebote und Verbote]) ● der Adressat des VA wird gezwungen, die gebotene Handlung vorzunehmen - unmittelbarer Zwang Demonstrant wird weggetragen, Tür wird eingetreten - Zwangsgeld (Ersatzzwangshaft) ● die Behörde vollzieht den Regelungsgehalt anstelle des Adressaten - Ersatzvornahme Selbstvornahme der Behörde oder Fremdvornahme November 13, 2015 7 Handlungsformen der Verwaltung IV Verwaltungszwang zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen 1. Bestimmung der einschlägigen Vorschriften a) Beitreibung von Geldforderungen (§§ 15 ff. HessVwVG) b) Verwaltungszwang zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen (§§ 68 ff. HessVwVG) c) Verwaltungszwang zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen, die durch polizeiliche oder ordnungsbehördliche Verwaltungsakte angeordnet wurden (§§ 47 ff. HSOG) d) Beitreibung von Geldforderungen der Polizei- und Ordnungsbehörden (§§ 15 ff. HessVwVG) November 13, 2015 8 2. Vollstreckungsvoraussetzungen a) Vollstreckbarer Verwaltungsakt (§§ 69 I, 2 HessVwVG, § 47 I HSOG) sogen. Grundverwaltungsakt à gestrecktes Verfahren (≠ Sofortvollzug) ▪ Unanfechtbarkeit ▫ Anfechtungsfrist abgelaufen (§§ 70, 74 VwGO) ▫ Rechtskräftige Gerichtsentscheidung ▪ Rechtsbehelfe haben keine aufschiebende Wirkung ▫ Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit (80 II 1 Nr. 4 VwGO) ▫ Entfall der aufschiebenden Wirkung kraft Gesetzes (§ November 13, 2015 80 II 1 Nr. 1-3 VwGO) … 9 2. Vollstreckungsvoraussetzungen a) Vollstreckbarer Verwaltungsakt (§§ 69 I, 2 HessVwVG, § 47 I HSOG) ○ wirksamer Verwaltungsakt - keine Nichtigkeit nach § 44 VwVfG - Wirksamkeit nach § 43 VwVfG November 13, 2015 ○ Rechtmäßigkeit des VA eine Vollstreckungsvoraussetzung? - keine Voraussetzung bei bestandskräftigen VAen - bei Entfall der aufschiebenden Wirkung (vor Eintritt der Bestandskraft): umstr. ▪ keine Voraussetzung: Schutz der Titelfunktion, Möglichkeit eines Antrags nach § V VwGO ▪ Voraussetzung: Rechtsstaatsprinzip 10 b) Verwaltungszwang ohne Verwaltungsakt (§§ 72 II HessVwVG, § 47 II HSOG) ○ sogen. Sofortvollzug (abgekürztes Vollstreckungsverfahren) - keine Zeit mehr für einen Grundverwaltungsakt ▪ Adressat nicht erreichbar etc. ○ nicht zu verwechseln mit: Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit (vgl. § 80 V VwGO à betrifft Suspensiveffekt) November 13, 2015 ○ Abgrenzen zur unmittelbaren Ausführung (vgl. § 8 HSOG): - Redundanz (Voraussetzungen u. Rechtsfolgen vergleichbar) - § 47 II HSOG: gegen den Willen (str.) - formelle Subsidiarität des § 47 II HessVwVG 11 2. Vollstreckungsverfahren (mit Grundverwaltungsakt) a) Zulässige Adressaten ○ §§ 68 ff VwVG: der Pflichtige ○ §§ 47 ff HSOG: Personen bzw. Pflichtige b) Anwendung des Verwaltungszwangs ○ Entschließungsermessen über das Ob ▪ § 69 I VwVG ▪ § 47 I HSOG ○ Auswahlermessen unter den Zwangsmitteln ▪ § 70 VwVG (Verhältnismäßigkeit) ▪ ebenso im HSOG November 13, 2015 12 b) Anwendung des Verwaltungszwangs ○ Entschließungsermessen über das Ob ○ Auswahlermessen unter den Zwangsmitteln ○ Androhung des gewählten (bestimmten) Zwangsmittels ▪ § 69 I Nr. 1 VwVG (entbehrlich gem. § 72 I) ▪ § 53 HSOG (entbehrlich gem. § 53 I 4) ○ Erfolgloses Verstreichen der in der Androhung gesetzten Frist ▪ § 69 I Nr. 4 VwVG ▪ so auch für das HSOG (Erforderlichkeit) ○ Festsetzung des Zwangsmittels ▪ Zwangsgeld (§ 76 I VwVG, § 50 I HSOG) ▪ bei anderen Zwangsmitteln? Str. ○ Ausführung des Zwangsmittels November 13, 2015 (von Ersatzvornahme,Zwangsgeld,unmittelbarem Zwang) 13 b) Anwendung des Verwaltungszwangs ○ Ausführung des Zwangsmittels (Ersatzvornahme, Zwangsgeld, unmittelbarer Zwang) zum Beispiel: unmittelbarer Zwang ▪ VwVG à nur Wegnahme/Räumung (§ 77 f.) ▪ § 52, §§ 54-63 HSOG - abschließende Aufzählung - unzulässig daher: psychische Einwirkung November 13, 2015 ○ immer: Ausübungsermessen bei der Anwendung des Zwangsmittels ▪ § 40 VwVfG, § 5 HSOG ▪ insbes. Verhältnismäßigkeit: § 70 VwVG 14 2. Vollstreckungsverfahren (ohne Grundverwaltungsakt) Verwaltungszwang ohne Verwaltungsakt (§§ 72 II HessVwVG, § 47 II HSOG) ○ Handeln der Behörde innerhalb ihrer Befugnisse ▪ § 72 II VwVG ▪ § 47 II HSOG à fiktiver Grundverwaltungsakt ▫ müsste rechtmäßig sein November 13, 2015 15 Beispiel Der A stellt sein Auto im Einklang mit der StVO an der Straße ab, wo er es immer abstellt, und fährt für zwei Wochen in den Urlaub. Nach einer Woche werden mobile Halte- und Parkverbotsschilder aufgestellt, die auch das Auto des A betreffen. Nach vier weiteren Tagen lässt die zuständige Ordnungsbehörde den Wagen durch einen privaten Unternehmer abschleppen und auf einen benachbarten öffentlichen Parkplatz stellen. Zu Recht? November 13, 2015 16 I. Ermächtigungsgrundlage für das Abschleppen 1. § 74 I VwVG (Ersatzvornahme eines Wegfahrgebots), § 68 I bzw. § 72 II VwVG oder 2. § 40 Nr. 1 HSOG (Sicherstellung) Sicherstellung? à Wesentlich: Entfernung auf einen amtlichen Verwahrplatz (str., nur Nebeneffekt) à jedenfalls: bloße Umsetzung auf öffentlichen Parkplatz keine Sicherstellung November 13, 2015 17 I. Ermächtigungsgrundlage für das Abschleppen im Ergebnis: § 74 I (Ersatzvornahme), §§ 68 I oder 72 II VwVG II. Formelle Rechtmäßigkeit III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. Liegt der Tatbestand der EGL vor? 2. Wurde eine richtige Rechtsfolge gewählt? November 13, 2015 18 Lösung: Ersatzvornahme III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. Tatbestand a) § 68 I VwVG setzt einen VA, der auf Vornahme einer Handlung, Duldung oder Unterlassung gerichtet ist, voraus ▪ Halte- und Parkverbotsschild ein Verwaltungsakt? ▪ Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 VwVfG ▪ Regelungsgehalt? ▪ bei Verstoß auch ein Wegfahrgebot November 13, 2015 ▪ gesetzliche Grundlage: § 41 I StVO iVm Anlage 2 Nr. 62 (Zeichen 283) iVm § 6 StVG 19 1. Liegt Tatbestand der EGL vor? § 68 I VwVG setzt einen VA, der auf Vornahme einer Handlung, Duldung oder Unterlassung gerichtet ist, voraus ▪ der VA muss dem A gegenüber wirksam sein ▪ Wirksamkeit setzt Bekanntgabe voraus (§ 43 I 1 VwVfG) ▪ keine Bekanntgabe gem. § 41 I 1 VwVfG ▪ „Eine Allgemeinverfügung darf auch dann öffentlich bekanntgegeben werden, wenn eine Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist.“ § 41 III 2 VwVfG November 13, 2015 20 1. Liegt Tatbestand der EGL vor? § 68 I VwVG setzt einen VA, der auf Vornahme einer Handlung, Duldung oder Unterlassung gerichtet ist, voraus ▪ Besondere Bekanntgabe-Form der StVO? (vgl. auch § 41 III 1 VwVfG) Bekanntgabe durch Aufstellung des Verkehrsschildes (vgl. insb. §§ 39 I, 45 IV StVO) = bes. Form der öff. Bekanntgabe „Sind Verkehrszeichen so aufgestellt oder angebracht, daß sie ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach §1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon “mit einem raschen und beiläufigen Blick" erfassen kann ..., so äußern sie ihre Rechtswirkung gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrnimmt oder nicht ...“ BVerwG, NJW 1997, 1021 (1022) November 13, 2015 21 § 39 I StVO: „Angesichts der allen Verkehrsteilnehmern obliegenden Verpflichtung, die allgemeinen und besonderen Verhaltensvorschriften dieser Verordnung eigenverantwortlich zu beachten, werden örtliche Anordnungen durch Verkehrszeichen nur dort getroffen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend geboten ist.“ § 45 IV StVO: „Die genannten Behörden dürfen den Verkehr nur durch Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen regeln und lenken; […]“ November 13, 2015 22 1. Liegt Tatbestand der EGL vor? b) § 68 I VwVG setzt einen VA voraus, der unanfechtbar ist oder gegen den ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat ● 2. Variante: keine aufschiebende Wirkung? ○ § 80 II 1 Nr. 2 VwGO: „bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten“ (-) ○ § 80 II 1 Nr. 1 VwGO analog: Verkehrsschilder und Polizisten sind funktionell austauschbar (vgl. auch § 44 II 1 StVO) ● evtl. ansprechen: Rechtmäßigkeit des VA Voraussetzung? ○ hier ist Grundverfügung (Schild) rechtmäßig ○ daher: Meinungsstreit irrelevant November 13, 2015 23 Handlungsformen der Verwaltung IV 2. Wurde eine richtige Rechtsfolge gewählt? a) Richtiger Adressat? ● für die Abschleppmaßnahme ○ der Pflichtige (vgl. § 74 I VwVG) = Adressat des zu vollstreckenden VA = Fahrer des Wagens (auch Halter) ○ hier tatsächlich nicht „adressiert“ ▫ dennoch zu fingieren, wegen besonderer Bekanntgabeform nach StVO November 13, 2015 24 Handlungsformen der Verwaltung IV 2. Wurde eine richtige Rechtsfolge gewählt? im Ermessen: Verhältnismäßigkeit gewahrt? ● Erfordernis einer „konkreten“ Gefahr? ▪ das Auto stört nicht konkret ▪ allerdings Verstoß gegen VA (Gefahr der Fortdauer) = konkrete Gefahr ▪ aber: Verbote gelten unabhängig von konkreter Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts (wie VO) ▪ abstrakte Gefahr ausreichend? str. à General- und Spezialprävention Normzweck (der EGL des Wegfahrgebots) ▫ Abschleppen zu Spezialprävention erforderlich? (Verwarnungsgeld nach § 56 OWiG) ▫ Abschleppen für Generalprävention geeignet(+) November 13, 2015 25 Handlungsformen der Verwaltung IV Ergebnis: III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. Tatbestand (+) 2. Eine richtige Rechtsfolge (+) November 13, 2015 26 Handlungsformen der Verwaltung IV Literaturhinweise Zur Vollstreckung von Verwaltungsakten: Ruffert, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2010, § 27 (S.748-755) Muckel, JA 2012, S. 272-279 Hermes, in: ders./Reimer, Landesrecht Hessen, 8. Aufl., 2015, S. 94-99 Reimer, ebenda, S. 232-238 November 13, 2015 27
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