„DURCHSETZUNGSINITIATIVE“ vs. Gesetzestext Wie

„DURCHSETZUNGSINITIATIVE“ vs. Gesetzestext
Wie wird die „Härtefallklausel“ von den Gerichten ausgelegt?
Die Umsetzungsgesetzgebung zur Ausschaffungsinitiative enthält in Art. 66a Abs. 2 StGB
folgenden Passus: Das Gericht kann ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn
diese für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die
öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des
Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation
von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind.
Welchen Auslegungsspielraum haben Schweizer Gerichte bei der allfälligen Anwendung dieser
Bestimmung?
Das Bundesgericht hat in konstanter Rechtsprechung klare Regeln entwickelt, wie
Gesetzesbestimmungen auszulegen sind. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene
Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter
Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf die
Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck sowie auf die Bedeutung, die der Norm im
Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt (BGE 131 II 697). Hier kommt regelmässig die
Debatte im Bundesparlament ins Spiel. Ein kurzer Blick auf die Voten zur Gesetzesberatung
zeigt, dass die Gerichte einen engen Rahmen in der Auslegung der Verhältnismässigkeitsklausel
haben, denn es ist der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers, dass die Härtefallklausel nur
ausnahmsweise und im Sinne einer „Notbremse“ zur Anwendung kommen soll (schwerer
persönlicher Härtefall und keine überwiegenden öffentlichen Interessen). Dies geht auch so aus
den Debatten in den parlamentarischen Beratungen hervor:
Schon aus der Zusammenfassung der Parlamentsdienste geht hervor, dass die Ratsmehrheit von
SR und NR eine sehr restriktive Härtefallklausel beabsichtigten:
http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/legislaturrueckblick.aspx?rb_id=20130056
Die Voten folgender Ständerate (in dessen SPK wurde die Härtefallklausel kreiert) illustrieren
dies (Quelle Amtl. Bull.):
SR Engler (Sprecher der Kommissionsmehrheit):
«Im Vergleich nun zum Entwurf des Bundesrates weist die Variante der Kommission des
Ständerates folgende drei Vorteile auf: Die Variante der Kommission enthält einen
umfassenderen Deliktskatalog als der Entwurf des Bundesrates, der Katalog umfasst
insbesondere alle Verbrechen, bei denen Menschen an Leib und Leben oder in ihrer sexuellen
Integrität verletzt oder gefährdet werden. Damit trägt er dem Kern der neuen
Verfassungsbestimmungen, die auf Gewaltdelikte ausgerichtet sind, besser Rechnung. Die
Variante der Kommission enthält eine strengere Härtefallklausel als der Entwurf des Bundesrates.
Dies gilt insbesondere für die Taten, die mit weniger als sechs Monaten Freiheitsstrafe bestraft
werden. Damit kommt die Variante unserer Kommission dem in der neuen
Verfassungsbestimmung angelegten Automatismus näher. […]. Der Antrag der
Kommissionsmehrheit sieht eine rigide Härtefallbestimmung vor. Die eine Minderheit möchte
ganz auf eine Härtefallklausel verzichten, die andere Minderheit möchte von klein auf im Inland
aufgewachsenen Ausländern eine Privilegierung einräumen.
Auslegung der Härtefallklausel (B. Flach)
SR Egerszegi:
«Einer der umstrittensten Punkte unserer Version ist die Härtefallklausel. Sie ist aber in der
Haltung der Mehrheit sehr restriktiv formuliert und kann nur ausnahmsweise angewendet werden,
wenn eine Ausschaffung einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und das
öffentliche Interesse an einer Ausschaffung des Täters nicht grösser ist als die privaten Interessen
des Ausländers am Verbleib in der Schweiz.»
SR Diener (damalige Präsidentin SPK-S):
«Das Gericht kann ausnahmsweise - ich betone: ausnahmsweise - auf eine Landesverweisung
verzichten, wenn diese für den jeweiligen Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall
bewirkt und wenn die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten
Interessen des Ausländers an einem Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Das ist eine enge
Interpretation dieser Härtefallklausel.»
SR Schwaller:
«Der ständerätliche Vorschlag aber schränkt mit seiner engen Formulierung gerade auch das
Ermessen der Richter stark ein. Die von Ihrer SPK vorgeschlagene Härtefallklausel - auch in
Zusammenarbeit mit der Verwaltung entstanden, die sehr viel dazu geliefert hat - zieht für ihre
Anwendung klare und enge Grenzen. Wir machen damit als Parlamentarier die Arbeit, die von
einer gesetzgebenden Behörde auch erwartet werden kann und darf. Wir definieren die
Härtefallklausel, wir definieren sie als Gesetzgeber selber und delegieren die Auslegung nicht
bloss nach Strassburg.»
Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass das Bundesgericht – und damit auch alle
vorinstanzlichen Gerichte – eine äusserst engen Auslegung allfälliger Härtefälle unterliegt. Die
Härtefallklausel ist eine Ausnahme und soll nur dann Anwendung finden, wenn die obgenannten
Kriterien erfüllt sind.
Eine funktionierende Demokratie verteilt die Rollen im Staat so, dass sich die Institutionen
gegenseitig ergänzen. Sie kontrollieren, bremsen oder beschleunigen sich. Sie Setzen um
oder bilden den Rahmen, innerhalb dessen umgesetzt werden soll, was beschlossen wurde.
Das Volk hat seine Rolle, die Regierung hat ihre Rolle und das Parlament hat seine Rolle.
Wenn – wie mit der Durchsetzungsinitiative geplant – das Parlament und ebenso das
Bundesgericht umgangen werden soll, so ist das eine Gefahr für die Demokratie.
Beat Flach, 2016
Auslegung der Härtefallklausel (B. Flach)