Wie Inklusion in der Schule gelingen kann und warum manche

Irle, K. [2015]
Wie Inklusion in der Schule gelingen kann und
warum manche Versuche scheitern.
Interviews mit führenden Experten.
Weinheim und Basel: Beltz
141 S., ISBN 978-3-407-25724-6, 16,95 €
Katja Irle vereint in ihrem Band über die „größte Reformbaustelle der deutschen Bildungspolitik“ (11) Interviews mit namhaften Experten aus unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern: Der kabarettistische Pfarrer Rainer Schmidt und der Jugendbuchautor
Peter Härtling werden ebenso befragt wie Wissenschaftler mit unterschiedlichen Ansätzen von der Pädagogik-der-Vielfalt-Autorin Annedore Prengel über die Inklusionsdidaktiker Kersten Reich, Hans Wocken und Andreas Hinz über den MethodikExperten Heinz Klippert und die Expertin für Sonderpädagogik im Nationalsozialismus Dagmar Hänsel bis zum Inklusionskritiker Bernd Ahrbeck. Es kommt auch eine
Mutter zu Wort, Lehrer_innen werden interviewt und eine Schulleiterin.
Irle verfolgt mit dem Band den Anspruch, „den Blick aufs Ganze“ zu wagen: „auf
die Schulgemeinde, die Familien, das Arbeitsleben, eben auf alle Bereiche, in denen
Menschen mit und ohne Behinderungen leben und lernen“ (11). Sie will dem Leser
Perspektivwechsel anbieten und „Bewegung im Kopf“ (11).
Um einen kleinen Überblick über die Beiträge zu geben, zitiere ich einige Interviewpartner_innen mit ein bis zwei markanten Sätzen.
Rainer Schmidt erklärt auf humorvolle Weise, auf der Sonderschule sei er „nicht
wegen meiner kurzen Arme und der Beinprothese ausgelacht [worden], sondern weil
ich diese unmögliche Brille hatte“ (21). Bessere Erfahrungen habe er auf dem Gymnasium gemacht, dessen Schulleiter ihm „die schöne und sehr inklusive Frage [gestellt habe]: Was müssen wir tun, damit Sie bei uns Abitur machen können?“ (21).
Heinz Klippert fordert zur Überwindung chronischer Überforderung von Lehrer_innen und Schüler_innen den Aufbau von „Integrationskompetenz“ in der Lehrerausbildung. Darunter versteht er „die Bereitschaft und Fähigkeit der Lehrer, gemeinsames Lernen in heterogenen ‚Standardklassen‘ so zu kultivieren, dass kein Schüler
ausgegrenzt wird und alle Kinder ihre unterschiedlichen Talente einbringen können.“
(29).
Kersten Reich fokussiert darauf, dass im inklusiven Unterricht persönliche Exzellenz gefördert werden kann: „Der größte Feind dieses Ansatzes ist ein Unterricht, der
für alle gleich ist. Das halten wir in Deutschland zwar immer noch für gerecht, weil
alle das gleiche Ziel erreichen müssen. In Wahrheit ist diese Methode aber zutiefst
ungerecht.“ (37).
Bernd Ahrbeck plädiert für eine bedächtige Schulentwicklung ohne vollständige
Abschaffung des Sonderschulwesens, um eine optimale Förderung von Kindern mit
Behinderung zu gewährleisten: „Der Verweis auf die die ‚Menschenrechte‘ kann doch
nicht ernsthaft ein Argument dafür sein, dass Kinder in ihrer Entwicklung geschädigt
werden. Diese Gefahr droht aber, wenn radikale Inklusionsbefürworter keinerlei Differenzierung mehr zulassen wollen.“ (51).
Auch Peter Härtling, der Autor des Jugendbuchs „Das war der Hirbel“ (1973), in
dem es um die Einsamkeit eines Jungen mit schwerer geistiger Behinderung geht, ist
trotz positiver Eindrücke von inklusiven Schulen pessimistisch, was eine flächendeckende Inklusion angeht: „Für einen Teil der behinderten Schüler muss es weiterhin
Spezialschulen geben – etwa für Kinder wie den Hirbel, die zu schwer geschädigt
sind.“ (131)
Dagmar Hänsel sieht hingegen die Tradition der Sonderpädagogik sehr kritisch,
sieht Kontinuitäten der Sonderschullehrerausbildung seit der NS-Zeit und warnt vor
„sonderpädagogischer Förderung in der allgemeinen Schule“: „Mehr Sonderpädagogen erzeugen wie die Erweiterung der sonderpädagogischen Förderorte mehr Behinderte, und die deutsche Hilfsschultradition lebt auch im Zusammenhang von Inklusion ungebrochen fort.“ (64).
Ein großartiger Beitrag ist das Gruppeninterview mit Andreas Hinz (Universität
Halle-Wittenberg), Michael Töpler (Bundeselternrat) und Rainer Starke (Deutscher
Philologenverband) über Inklusion am Gymnasium, das Hinz darin aufgrund des exklusiven Anspruchs sehr provokativ als „größte Sonderschule in Deutschland“ (76f)
bezeichnet. Töpler plädiert für „zieldifferenten Unterricht am Gymnasium“ (82), Starke
betont demgegenüber die Verpflichtung des Gymnasiums, die Schüler auf eine wissenschaftliche Ausbildung vorzubereiten (86)
Im finalen Interview betont die Grande Dame der diversitätssensiblen Pädagogik
Annedore Prengel die Bedeutung der Inklusion als „große und dauerhafte Entwicklungsaufgabe für unsere Demokratie.“ (141)
Insgesamt zeigt das Bändchen einen interessanten Einblick in die Inklusionsdebatte, stellt verschiedene Positionen und Perspektiven dar. Durch die Interviewform
ergibt sich eine Alltagssprachlichkeit, die auch wissenschaftliche Positionen in einer
für die im inklusiven Feld tätigen Praktiker_innen oder auch den interessierten Laien
verständlichen Form darstellt und auch für den wissenschaftlich Interessierten „Appetithäppchen“ in Bezug auf die wissenschaftlichen Publikationen der jeweiligen Interviewpartner_innen anbietet.
Catrin Siedenbiedel