Jiaozhou Gymnasium No. 1

Jiaozhou Gymnasium No. 1
Eine heitere Xylophonmelodie verkündet das Ende der Schulstunde. Schon bald ist die Luft von den
lauten Stimmen beinahe sechzig sechzehnjähriger Schüler erfüllt. Ein typischer Schultag. Bloß steht
die Schule in Jiaozhou, einem Vorort der 10-Millionen-Stadt Qingdao, etwa 500 Kilometer
südwestlich von Peking. Und die Schüler erzählen einander keine Geschichten über ihr Wochenende,
sondern lernen ihre dicken Geschichtsbücher seitenweise auswendig.
Manchmal sieht jemand kurz von seiner Lektüre auf und wagt einen verstohlenen Blick zu den
gutaussehenden Europäern in der letzten Reihe. Auf den belebten Straßen der Stadt ist
normalerweise kein einziges nichtchinesisches Gesicht zu sehen. Daher war die Ankunft der drei
waiguoren, der exotischen Ausländer, das Ereignis der Woche, wenn nicht sogar des Monats. Sechzig
Augenpaare erstrahlten hinter dicken Brillengläsern, als die Neuankömmlinge mit frenetischem
Applaus begrüßt wurden. Die Jungen stehen jetzt Schlange, um Autogramme zu ergattern; die
Mädchen sitzen am Rande des Fußballfeldes, um Fotos zu schießen oder den Fremden kichernd
Komplimente hinterherzurufen. Freundlichkeit ist zweifelsohne eine hohe Tugend in China, doch
leider ist diese meist mit Schüchternheit gepaart. Nur manchmal gewinnt die Neugier Oberhand und
ein aufgeweckter Jugendlicher wagt den Weg zu den Österreichern. Ob man denn in Österreich auch
Hausaufgaben machen müsste, kritzelt der Klassensprecher gespannt auf ein Blatt Papier. Oder
vielleicht sogar Freundinnen haben dürfe?
Doch viel Zeit bleibt für solch einen trivialen Zeitvertreib nicht. Es muss gelernt werden, viel gelernt.
Vom Morgengrauen bis spät in den Abend versuchen die knapp zweitausend Internatsschüler des
Jiaozhou Gymnasium No. 1, sich die Texte aus den Lehrbüchern auswendig einzuprägen. Bleibt
einmal kurz Zeit für körperliche Ertüchtigung, so halten sie während des monotonen Joggings die
Augen immer noch fest auf ihre Aufzeichnungen geheftet. Im Unterricht verlässt kein Blick die
Lehrperson und schweift kein Gedanke vom Lernstoff ab. Die Sätze des am Pult stehenden laoshi
werden ohne Aufforderung vervollständigt und dessen Fragen im Chor beantwortet. Nach der
eigenen Meinung werden die Schüler jedoch kaum gefragt, die Richtigkeit des Gelernten wird keinen
Augenblick hinterfragt oder angezweifelt. Im täglichen Englischunterricht paukt man komplizierte
Grammatikregeln und vorgefertigte Texte. Im persönlichen Gespräch bringt kaum ein Schüler einen
korrekten Satz heraus. Das moderne Smartboard, welches stolz in der Mitte des staubigen Zimmers
prangt, steht im krassen Gegensatz zu den antiquierten Lehrmethoden. Im Schulalltag steht
Mathematik, um welches sich auch der Physik- und Geographieunterricht dreht, im Mittelpunkt. Für
kreative Fächer bleibt da keine Zeit.
Denn der Wettbewerb ist hart. Jedes Jahr streiten sich über neun Millionen junge Absolventen der
Gymnasien um knapp sieben Millionen Studienplätze. Darum schicken Eltern aus der ganzen Provinz
ihre Zöglinge in ein riesiges Internat, der besten Schule Jiaozhous. Über Sein oder Nicht Sein
entscheiden die am Schluss der achten Klasse stattfindenden gaokao, zentralisierte landesweite
mehrtägige Prüfungen. Dann bleibt der Verkehr rings um Schulgegenden stehen und die Bauarbeiten
kommen zum Erliegen. Wer genug gebüffelt hat, kann den Traum von Wohlstand weiter träumen.
Wer nicht, der bleibt beim unaufhaltsamen Aufstieg Chinas wohl auf der Strecke.
Der Weg zum Erfolg liegt für die Schulleitung nicht zuletzt auch in der Disziplin. So springt die ganze
Klasse beim Erscheinen des Lehrers auf und ruft aus vollen Hälsen: „Guten Tag, Herr Lehrer!“
Überhaupt werden Erzieher in China respektiert und geschätzt, genauso wie der Bildung im
Allgemeinen ein enorm hoher Stellenwert eingeräumt wird. Sport ist nur an manchen Tagen in den
Nachmittagsstunden angedacht. Dann jagen Dutzende Jugendliche einem Fußball hinterher oder
zielen auf einen der vielen Basketballkörbe. Alle Schulklassen werden außerdem jeden Tag nach der
zweiten Schulstunde zu einem riesigen Sportplatz gerufen, wo sie zunächst pseudomilitärisch
exerzieren müssen. Dann läuft man in Reih und Glied zu einem vorgegebenen Takt. Aber der Drill von
unsportlichen und schwächlich wirkenden Jugendlichen scheint sogar im strengen China nur noch ein
bizarrer Anachronismus zu sein. Denn die Volksrepublik ist im neuen Jahrtausend längst nicht mehr
das Paradies der Bauern, Arbeiter und Soldaten. Stattdessen liegt die Zukunft des Landes in den
Händen von schüchternen, intelligenten Einzelkindern, die westliche Kleidung anziehen, aber
chinesische Musik hören. Die viel lernen, aber nicht alles verstehen. Die ihren Platz in einem sich
ständig wandelnden, aber stets unveränderten Land suchen.
Nach wenigen Minuten schallt die beschwingte Melodie von vorher, die so überhaupt nicht zu dem
grauen Alltag der Schüler passt, erneut aus den Lautsprechern. Die Schüler schweigen und warten
still auf ihren Lehrer. Es ist wieder Schule in China.
Johannes Lang, 17