29/2016 ÖSTERREICH: Straßburger Urteil zur Halterhaftung

Mitteilungen der Juristischen Zentrale
VERTRAGSANWÄLTE
Nr. 29/2016
09.03.2016 Ni/Th
ÖSTERREICH: Straßburger Urteil zur Halterhaftung
bei Geschwindigkeitsüberschreitung
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einem Urteil vom
18.03.2010 (Az. 13201/05, Krumpholz v. Austria, DAR 2010, S. 571 ff.) entschieden,
dass die Verurteilung eines Kfz-Halters wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung
unter bestimmten Voraussetzungen gegen Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt. Dies insbesondere dann, wenn sie ausschließlich darauf
gestützt wird, dass der Fahrzeughalter die Identität des Fahrers zum Tatzeitpunkt nicht
bekannt geben konnte und darüber hinaus im Verfahren nicht persönlich gehört wurde.
Obwohl der Gerichtshof nicht grundsätzlich von seiner Rechtsprechung zur Lenkererhebung (Fahrerermittlung) abweicht, ist das Urteil insofern von Bedeutung, als es die
nach wie vor vereinzelt zu beobachtende Praxis österreichischer Behörden beanstandet, bei Nichtbenennung des Autolenkers auf die Fahrereigenschaft des Kfz-Halters
zu schließen.
Dem Verfahren zugrunde liegender Sachverhalt
Dem Verfahren liegt der Fall eines deutschen Fahrzeughalters zugrunde, mit dessen
Kfz eine Geschwindigkeitsüberschreitung in Österreich begangen wurde. Nach Feststellung der Übertretung erfolgte keine Anhaltung; dem Halter wurde vielmehr eine Aufforderung zur Lenkerauskunft gemäß § 103 Abs.2 Kraftfahrgesetz (KFG) zugeschickt.
Der Halter kam der Aufforderung nicht nach und reagierte nicht. In der Folge verhängte
die zuständige österreichische Bezirkshauptmannschaft dem Halter gegenüber zwei
Geldbußen: eine wegen der Geschwindigkeitsüberschreitung und eine in gleicher Höhe
wegen der Nichterteilung der Lenkerauskunft (Nichtbekanntgabe des Fahrers).
Der Betroffene legte daraufhin gegen beide Strafverfügungen Einspruch ein mit der Begründung, nicht gefahren zu sein. Seine Weigerung, den Fahrer bekannt zu geben, begründete er damit, dass diese Verpflichtung gegen Art. 6 EMRK verstoße.
Das Verfahren wegen Nichtbenennung des Fahrers gem. § 103 Abs.2 KFG wurde daraufhin eingestellt, die Bestrafung wegen des Tempolimitverstoßes hingegen mittels
eines Straferkenntnisses aufrechterhalten. Die Bezirkshauptmannschaft berief sich da-
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bei auf die Rechtsprechung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs, wonach bei
Weigerung des Halters, den Fahrer zu benennen, die Annahme zulässig sei, der KfzHalter sei selbst der Fahrer gewesen.
Im Rahmen der Begründung seiner Berufung zum Unabhängigen Verwaltungssenat
(der UVS ist kein Gericht, sondern eine verwaltungsbehördliche Einrichtung) verwies
der Berufungsführer darauf, das Kfz zum fraglichen Zeitpunkt nicht selbst gelenkt zu
haben, nicht in Österreich gewesen zu sein und den Lenker nicht benennen zu können.
Zudem liege ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vor, wenn sich die Behörde auf die bloße
Weigerung der Lenkerbekanntgabe stütze. Die Berufung wurde ohne mündliche Verhandlung abgewiesen. Die Beschwerden zum österreichischen Verwaltungsgerichtshof
(VwGH) und Verfassungsgerichtshof (VfGH) waren erfolglos.
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
Der Gerichtshof sieht in diesem Fall eine Verletzung des Art. 6 Abs.1 und 2 EMRK
(Recht auf ein faires Verfahren in Form eines Rechts zu schweigen / keine Selbstbezichtigung und Unschuldsvermutung).
Der EGMR beanstandet dabei zwar grundsätzlich nicht das österreichische System der
Lenkererhebung und der damit verbundenen Sanktionen. Als problematisch wird jedoch
angesehen, dass die Behörde an der Bestrafung wegen des Grunddelikts (Geschwindigkeitsverstoß) festgehalten hat: Hier lag dem UVS neben den polizeilichen Aufzeichnungen über den Verstoß die schriftliche Aussage des Halters vor, dass er das Kfz zum
fraglichen Zeitpunkt nicht gefahren habe und sich nicht in Österreich aufgehalten habe.
Daraus lässt sich – so der Gerichtshof – nicht zwingend von der Halter- auf die Fahrereigenschaft schließen. Ohne Vorliegen eines überzeugenden Prima-facie-Beweises
verlagere die Behörde hier die Beweislast auf den Kfz-Halter.
Ferner bemängelte der EGMR, dass es der UVS vorliegend unterlassen habe, eine
mündliche Verhandlung durchzuführen, aus der er einen Eindruck von der Glaubwürdigkeit des Berufungsführers hätte erhalten und in seine Entscheidung einfließen lassen
können.
Die Republik Österreich wurde folglich vom Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof
zum Ersatz der Verfahrenskosten in Höhe von 7.000 Euro gegenüber dem Beschwerdeführer verurteilt.
Folgen für die anwaltliche Beratung in österreichischen Halterhaftungsfällen
Der EGMR hat das österreichische Rechtsinstitut der Lenkererhebung und die Sanktionierung diesbezüglicher Zuwiderhandlungen gemäß § 103 Abs.2 KFG wie Nichtbenen-
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nung des Lenkers nicht angetastet. Es kommt also weiterhin zu einschlägigen Ahndungen, die allerdings in Deutschland ausnahmsweise nicht vollstreckt werden.
Der österreichische VwGH hat in mehreren Fällen vor dieser EGMR-Entscheidung entschieden, dass bei bloßem Ignorieren der Bitte um Lenkerauskunft der Schluss auf die
Fahrereigenschaft des Lenkers zum Übertretungszeitpunkt zulässig sei. Die daraus resultierende Bestrafung wegen des Grunddelikts (Verkehrsverstoß) ist für deutsche Betroffene insofern problematisch, als diese Sanktion – anders als diejenigen wegen
Nichtbenennung des Fahrers gem. § 103 Abs.2 KFG – in Deutschland grundsätzlich
vollstreckt werden kann. Bei einschlägig begründeten Bescheiden österreichischer Behörden sollte daher im Einzelfall Einspruch eingelegt und auf die erwähnte EGMREntscheidung verwiesen werden.
In der Beratung ist zudem ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, dass ein Ersuchen um Lenkerauskunft nicht unbeantwortet bleibt, sondern – sofern zutreffend - eine
möglichst ausführliche Begründung enthält, aus welchem Grund der Halter nicht als
Fahrer in Betracht kommt bzw. der Lenker nicht (mehr) benannt werden kann. Der
österreichischen Behörde obliegt es dann, ggf. einen Gegenbeweis zu erbringen. Hier
werden österreichische Behörden nicht mehr ohne weiteres auf den Halter als Täter
schließen können und vermehrt wegen § 103 Abs.2 KFG bestrafen. Auf Grundlage des
§ 103 Abs.2 KFG verhängte Geldbußen werden in Deutschland jedoch nicht vollstreckt
(vgl. auch FG Hamburg, Beschluss v. 16.03.2010, Az. 1 V 289/09, DAR 2010, S. 281 ff.
sowie FG München, Urteil v. 10.10.2013, Az. 10 K 2217/13, DAR 2015, S. 420 ff.).
In diesem Zusammenhang weisen wir Sie auch auf die Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes (VfGH) vom 22.09.2011 (Gz.: B1369/10) hin, in der
sich der VfGH erstmalig in einem ähnlich gelagerten Fall mit der o.g. Rechtsprechung
des EGMR auseinandersetzt. Der VfGH kommt in dieser Entscheidung zu dem Ergebnis, dass die Verhängung einer Verwaltungsstrafe gegen einen Fahrzeughalter wegen
einer Geschwindigkeitsübertretung nicht verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte,
insbesondere die durch Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)
garantierten Rechte verletzt, wenn der Fahrzeughalter trotz mehrfacher Möglichkeiten
seine im Gesetz verankerten Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist. Einzelheiten können Sie der Mitteilung für Vertragsanwälte Nr. 58/2011 entnehmen.
Die vorliegende Mitteilung ersetzt die Mitteilung für Vertragsanwälte Nr. 32/2010.
Mit freundlichen kollegialen Grüßen
Dr. Markus Schäpe
Leiter Juristische Zentrale