L’Enfance du Christ Hector Berlioz’ ›Weihnachtsoratorium‹ L’Enfance du Christ bekommt durch die gegenwärtig größte Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg eine unverhoffte Aktualität: Im Mittelteil des Werks steht Die Flucht nach Ägypten vor König Herodes’ Häschern und damit die Rettung Jesu vor dem Kindermord zu Bethlehem. Zum Text: Dieses Werk aus dem liturgischen Weihnachtsfestkreis lässt – im Gegensatz zu sonstigen Vertonungen – die Geburt Jesu aus und setzt erst mit dem Traum des Herodes ein, der um den Verlust seiner Macht bangt. Berlioz schreibt den Text nach dem Bericht des Matthäus-Evangeliums relativ frei, z.T. in Reimform, setzt einen Tenor als Récitant (Erzähler) ein, um die Handlung voranzutreiben. Die Trilogie sacrée besteht aus drei Teilen: I. Le Songe d’Hérode (Der Traum des Herodes), 6 Szenen, II. La Fuite en Égypte (die Flucht nach Ägypten), 1 Szene und III. L’Arrivée à Saïs (Die Ankunft in Saïs), 2 Szenen. Im Programmheft wird neben dem französischen Libretto zum besseren Textverständnis die deutsche Übersetzung des zeitgenössischen Komponisten und Literaten Peter Cornelius (1824-1874) abgedruckt. Zur Entstehung: L’Enfance du Christ ist als einziges unter Berlioz’ Werken nicht aus einem großen Entwurf entstanden, die Spuren lassen sich über fünf Jahre von 1850 bis zur Uraufführung in Paris am 10.12.1854 verfolgen. Im Jahr 1850 bittet ein Freund Berlioz’, der Architekt Joseph Louis Duc, um einen musikalischen Beitrag für sein Album. Es entsteht ein vierstimmiges Orgelstück, ein Choral im alten Stil, textiert als L’Adieu de Bergers. Als Komponist gibt Berlioz Pierre Ducré an, ein fiktiver Meister der Sainte Chapelle von 1697. Den inzwischen instrumentierten Choral nimmt Berlioz im November 1850 in ein Konzert auf, Hörer und Kritiker sind begeistert. Versehen mit einer vorausgehenden fugierten Orchester-Ouvertüre und einem nachfolgenden Tenorstück La Repos de la Sainte Famille publiziert es Berlioz 1852 unter dem Titel La Fuite en Égypt als op. 25, Uraufführung in Leipzig am 10.12.1853. Einflussreiche Stimmen motivieren Berlioz, die Kantate zu einer Trilogie sacrée zu erweitern. Er beginnt mit dem dritten Teil L’Arrivée à Saïs und komponiert den ersten Teil Le Songe d’Hérode. Zwei dramatische Teile mit mehreren Szenen umrahmen somit den pastoralen, kürzeren Mittelteil. Der Hörer findet in L’Enfance du Christ vertraute musikalische Formen wieder: Rezitative, Arien, Chöre und reine Instrumentalsätze. Eingängige Elemente sind: Nächtlicher Marsch der Soldaten, Beschwörung der Wahrsager im damals ungebräuchlichen 7/4-Takt, Schriftgelehrte als Männerchor, Chor der Engel als Frauenstimmen (Hosanna singend), im Mittelteil Hirtenidylle des Schäferchores, nach der Ankunft in Saïs u.a. ein Trio für zwei Flöten und Harfe. Im Vergleich mit anderen Chorwerken Berlioz’ instrumentiert er sehr sparsam und durchsichtig, verwendet Kirchentonarten, die Rhythmik ist relativ einfach gehalten. Die internationale Bedeutung von Berlioz schon als Vierzigjähriger zeigt die nachhaltige Verbreitung seiner bedeutenden Instrumentationslehre Grand Traité d’instrumentation et d’orchestration modernes op. 10, Paris 1844. Noch im selben Jahr! erscheinen drei Übersetzungen, deutsch in Berlin und Leipzig, italienisch in Mailand. Neuausgabe von Richard Strauss Leipzig 1905, Nachdruck 1955. Das sehr eindrucksvolle Werk wird relativ selten aufgeführt – so auch die Statistik der ›Chorsinfonik Werkkunde‹, Ursache dafür dürfte das Aufführungsmaterial sein, das in Europa nicht käuflich, sondern nur gegen teures Entgelt »mietbar« ist. Der OratorienVerein Esslingen hat L’Enfance du Christ erstmals am 3.12.1989 aufgeführt. Prof. Dr. Ulrich Prinz
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