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Donnerstag, 15. Oktober 2015, 20.00 Uhr
Freitag, 16. Oktober 2015, 20.00 Uhr
Straßburg, PMC Salle Érasme
Marko Letonja Leitung
Eve-Maud Hubeaux Mezzosopran
Carl-Maria von Weber (1786-1826)
Einladung zum Tanz (Orchestrierung Hector Berlioz)
Moderato - Allegro vivace – Moderato
Hector Berlioz (1803-1869)
Les Nuits d’été op. 7
9’
31’
Villanelle
Le Spectre de la Rose
Sur les Lagunes (Lamento)
Absence
Au Cimetière (Clair de lune)
L'Ile inconnue
►
Modest Mussorgski (1839-1881)
Bilder einer Ausstellung (Orchestrierung Maurice Ravel)
36’
Promenade
Gnomus
Promenade
Il Vecchio Castello (Das alte Schloss)
Promenade
Tuileries. Disputes d'enfants après jeux (Die Tuilerien. Spielende Kinder im Streit)
Bydło
Promenade
Балет невылупившихся птенцов (Ballett der Küken in ihren Eierschalen)
Samuel Goldenberg und Schmuÿle
Promenade
Limoges. Le marché. La grande nouvelle (Limoges. Der Marktplatz. Die große
Neuigkeit)
Catacombae. Sepulcrum romanum (Die Katakomben. Römische Gruft)
Cum mortuis in lingua mortua (Mit den Toten in einer toten Sprache)
Избушка на курьих ножках (Баба-Яга) (Die Hütte auf Hühnerfüßen [Baba-Jaga])
Богатырские ворота (В стольном городе во Киеве) (Das große Tor von Kiew)
Carl-Maria von Weber (1786-1826)
Aufforderung zum Tanz (Orchestrierung Hector Berlioz)
Carl Maria von Weber gab der Aufforderung zum Tanz oder Aufforderung zum
Walzer mit der Opuszahl 65 den Untertitel Rondo brillant für das Pianoforte. Er
komponierte das Stück im August 1819. Die virtuose Partitur in drei Sätzen
(Moderato – Allegro vivace – Moderato) stand lange Zeit im Schatten der Opern
Webers. Dass das Werk schließlich international bekannt wurde, ist paradoxerweise
Hector Berlioz zu verdanken. In romantischen Kreisen begeisterte man sich zu
Zeiten des französischen Komponisten für den Tanz – besonders den Walzer, der
ausgehend von volkstümlichen Schichten Bürgertum und Adel in ganz Europa
eroberte.
Weber hatte bei der Entstehung dieses Stücks nicht nur die Virtuosität des
Interpreten im Sinn, sondern wollte Stimmungsmusik schaffen, die den Hörer in
einen Ballsaal versetzte. Caroline von Weber, geb. Brandt, die junge Ehefrau des
Komponisten, entwarf folgendes Programm: Takte 1-5: Erstes Bitten des Mannes
zum Tanze; Takte 5-9: Die ausweichende Antwort der Dame; Takte 9-13: Seine
drängende Aufforderung; Takte 13–16: Ihre Zustimmung, etc.
Hector Berlioz erkannte, dass die Klangfarben des Orchesters den Reiz des Werkes
noch verstärken konnten. Er ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen und legte 1841
die Instrumentierung vor, die heute zu hören ist. Sie wurde erstmals bei einer
Aufführung von Webers Freischütz als Balletteinlage gespielt.
Hector Berlioz (1803-1869)
Les Nuits d’été op. 7
1841 vertonte Hector Berlioz sechs Gedichte aus der Sammlung La Comédie de la
mort von Théophile Gautier (1811-1872), mit dem er befreundet war.
Ursprünglich schuf Berlioz eine Partitur für Klavier und Gesangsstimme. 1843
instrumentierte er das Gedicht L’Absence, 1856 folgten fünf weitere Melodien.
Berlioz sah eine Interpretation dieser Melodien durch drei oder vier Männer- und
Frauenstimmen vor. Die kontrastreiche Thematik der Stücke entwickelt sich von
frühlingshafter Liebe über Leidenschaft bis hin zu Einsamkeit und Tod. Die
Verwendung verschiedener Stimmlagen erscheint gerechtfertigt, um auch hier
Monotonie zu vermeiden. Doch durch eine einzige Stimme bleibt der Eindruck
natürlicher Einheit ebenso gewahrt wie die Ausdrucksstärke der Musik.
Mit der Entstehung von Les Nuits d’été schlug gewissermaßen die Geburtsstunde
des französischen Kunstlieds in seiner modernen Form. Im Verlauf der Stücke
kommt es zu überraschenden Dialogen zwischen der Stimme und den Holzbläsern,
wie in Villanelle, aber auch den gedämpften Streichern oder der Harfe, in Le Spectre
de la rose. Es folgen Sur les lagunes, L’Absence, Au Cimetière und L’Ile inconnue. In
den kunstvollen und überraschenden Kompositionen gibt Berlioz komplexe Gefühle
wieder. Die Orchestrierung erscheint für die damalige Zeit äußerst geschmeidig und
elegant. Der Zyklus Les Nuits d’été bildet einen Höhepunkt in der Geschichte des
französischen Lieds und diente Komponisten wie Charles Gounod, Henri Duparc und
Gabriel Fauré als Inspirationsquelle.
Modest Mussorgski (1839-1881)
Bilder einer Ausstellung (Orchestrierung Maurice Ravel)
Als Mussorgski mit der Komposition der Bilder einer Ausstellung begann, stand er
noch ganz unter dem Eindruck des Todes seines Freundes, des Malers Victor
Hartmann (1834-1873). Innerhalb von rund zehn Tagen zwischen Juni und Juli 1874
schrieb er eine Reihe von Klavierstücken und dachte dabei an Hartmanns
Zeichnungen und Aquarelle. Die Idee einer Promenade – ein als Leitmotiv dienendes
Thema, das von einem Bild zum anderen führt und Zusammenhang schafft – stand
ihm dabei ganz klar vor Augen. Die volkstümliche Melodie deutet die Anwesenheit
eines Betrachters an und bringt dessen Gemütszustand zum Ausdruck. Mussorgskis
Freunde nahmen die Handschrift der Partitur entsetzt zur Kenntnis, worauf der
Komponist erwiderte: „Die Welt der Klänge kennt keine Grenzen. Nur das Gehirn ist
begrenzt.“
Der russische Musiker, der stets zwischen Begeisterung und Niedergeschlagenheit,
Trunkenheit und Apathie schwankte, war ein Maler mit Klangfarben. RimskiKorsakow beschrieb dies mit einer Mischung aus Bewunderung und Verachtung in
seiner Chronik meines musikalischen Lebens. Er gab die Bilder einer Ausstellung
1889 in Moskau heraus, legte jedoch keine Orchestrierung aller Stücke vor. Maurice
Ravel und andere Komponisten nach ihm übernahmen dies.
Die Partitur besteht aus zehn Charakterstücken. Wenig bekannt ist, dass die bei
Bessel veröffentlichte erste Ausgabe zahlreiche Fehler enthielt. Ravel verfügte 1922
nur über diese Partitur und regte an, die Irrtümer in der Neuausgabe, die 1930 bei
Lamm erschien, zu korrigieren, was der Verleger jedoch ablehnte. Paradoxerweise
weckte gerade der Erfolg der Orchesterfassung bei Pianisten das Interesse für die
Originalpartitur.
Die Bilder einer Ausstellung stellen die Interpreten vor eine doppelte
Herausforderung: Einerseits natürlich die technische Schwierigkeit für die Solisten.
Noch anspruchsvoller ist allerdings die Wiedergabe der Gemütsregungen des
Betrachters, denn es handelt sich bei dem Werk gewissermaßen um eine „Oper
ohne Worte“. Empfindungen wie Angst, Ironie und Humor fügen sich in die komplexe
Partitur ein. Schon geringste Abweichungen können die dramatische Entwicklung in
Frage stellen.
Die Suite beginnt mit der Promenade. Bei Ravel läutet sie mit Trompetenklängen das
erste Bild ein: Gnomus. Es handelt sich um eine unförmige, hinkende Figur, deren
groteskes Auftreten eine Mischung aus Heiterkeit und Angst erzeugt. Die beiden
Motive, von denen das eine lebhaft und das andere gequält wirkt, rufen ein Gefühl
des Unbehagens hervor. Die Grundlage für den Gnomus, so der Kritiker Stassow,
bildete Entwurf für einen Nussknacker. Auf das intensive Finale folgt eine weitere
Promenade mit der Bezeichnung Moderato comodo assai e con delicatezza. Die
nostalgisch-verträumte Passage leitet zu Il Vecchio Castello über. Die Melodie
erinnert an einen Troubadour, der eine endlose Legende erzählt. Anschließend setzt
eine Promenade die Erzählung entschlossen fort.
Die nächste Station sind die spielenden Kinder in den Tuilerien. Wie Tschaikowski
findet auch Mussorgski mühelos den richtigen Ton für Kindheitsmotive. Dann tritt
abrupt Bydło auf, der polnische Ochsenkarren. Das schwere Gefährt scheint näher
zu kommen und sich dann wieder zu entfernen – ein faszinierender Effekt. Das Werk
wirkt nun weniger persönlich. Die folgende Promenade deutet auf eine neue
Dimension der behandelten Themen hin. Das Ballett der Küken in ihren Eierschalen
(Scherzino – vivo, leggiero – Trio) ist humorvoll und komisch, aber auch von einer
gewissen Grausamkeit geprägt. Mussorgski ließ sich hier von Kostümentwürfen für
ein Ballett inspirieren. Der Übergang zu Samuel Goldenberg und Schmuÿle erfolgt
ohne Promenade. Die beiden polnischen Juden werden durch zwei gegensätzliche
Themen dargestellt, von denen das eine für Reichtum und Macht und das andere für
Armut und Bescheidenheit steht. Auf die Karikatur, die sich an zwei Skizzen
Hartmanns anlehnt, folgt eine lebhafte Promenade, die den Hörer mitten in die
Menge auf dem Marktplatz in Limoges führt. Hier gibt Mussorgski in der Musik, die
bereits expressionistische Züge trägt, den herrschenden Lärm und einen Streit
zwischen zwei Frauen wieder. Ein Crescendo führt aus dieser Welt heraus. Dann
taucht der Hörer in die beunruhigende Stille der Katakomben ein. In der römischen
Gruft (Sepulcrum romanum / Con mortuis in lingua mortua) beschwören kräftige
Akkorde den Tod, die Geister und die Vibration von Knochen, die durch die Schritte
des indiskreten Besuchers zum Schwingen gebracht werden (in einer seiner
Zeichnungen bildete Hartmann sich selbst mit einer Laterne in der Hand ab). Über
die Triller legt sich die Melodielinie, eine Variation des Themas der Promenade, die
von nun an nicht mehr auftaucht. Auf der Partitur vermerkte der Komponist auf
Russisch: „Der Schöpfergeist des verstorbenen Hartmann führt mich zu den
Schädeln und ruft sie an – die Schädel beginnen im Innern sanft zu glühen."
In den letzten Takten kommt das Tageslicht wieder zum Vorschein, und der Hörer
steht vor der Hütte auf Hühnerfüßen. Der erste Teil des Stücks (Allegro con brio,
feroce) beschreibt die Behausung der schrecklichen Hexe Baba-Jaga, vor der alle
russischen Kinder Angst haben. Das diabolische Scherzo erinnert an die
Johannisnacht auf dem kahlen Berge, die erste Fassung des von Rimski-Korsakow
orchestrierten Stücks von Mussorgski, das später den Titel Eine Nacht auf dem
kahlen Berge erhielt. Die Rauheit der Harmonien ist frappierend. Ein weiteres
Crescendo führt zum Großen Tor von Kiew. Das Gemälde, das Hartmann hier
vorschwebte, kam nie über das Skizzenstadium hinaus. Die Passage enthält eine
Mischung aus weltlichen und geistlichen Elementen und evoziert meditative
Gedanken ebenso wie die Größe des ewigen Russland. Der Gedanke an die
Krönungsszene aus Boris Godunow drängt sich auf.
Diskografische Empfehlungen
Weber/Berlioz, Aufforderung zum Tanz
• Wiener Philharmoniker, Leitung Nikolaus Harnoncourt (Deutsche Grammophon,
2003)
• Berliner Philharmoniker, Leitung Herbert von Karajan (Deutsche Grammophon,
1983)
• Tschechische Philharmonie, Leitung Karel Ancerl (Supraphon, 1964)
• New York Philharmonic, Leitung Leonard Bernstein (Sony, 1963)
Berlioz, Les Nuit d’Eté
• Régine Crespin, Orchestre de la Suisse Romande, Leitung Ernest Ansermet
(Decca, 1963)
• Leontyne Price, Chicago Symphony Orchestra, Leitung Fritz Reiner (RCA, 1963)
• Victoria de los Ángeles, Boston Symphony Orchestra, Leitung Charles Munch
(RCA, 1955)
Mussorgski, Bilder einer Ausstellung
• Orchester des Marijinski-Theaters, Leitung Valery Gergiev (Marijinski, 2014)
• Berliner Philharmoniker, Leitung Herbert von Karajan (Deutsche Grammophon,
1986)
• Chicago Symphony Orchestra, Leitung Carlo-Maria Giulini (Deutsche
Grammophon, 1977)
• Tschechische Philharmonie, Leitung Karel Ancerl (Supraphon, 1968)
• Minneapolis Symphony Orchestra, Leitung Antal Dorati (Mercury, 1959)
• Chicago Symphony Orchestra, Leitung Fritz Reiner (RCA, 1959)