IM FOKUS Rotwild Hirschfieber . . . wen es einmal gepackt hat, den lässt es nicht mehr los: das Hirschfieber. Zwar nicht lebensbedrohlich, ist es dennoch schwerwiegender als Sehnsucht oder bloßes Verlangen. Das Hirschfieber befällt aber nicht nur uns Menschen, sondern auch – und vor allem – den Hirsch! Wie, das schildert ein Betroffener. Text & Fotos Ing. Thomas E. Tscherne B eginnen wir bei der Geburt. Das beim ersten Zyklus beschlagene Tier konnte in der kargen Winterzeit genügend Zeit mit dem Embryonalwachstum verbringen, um in den immer länger werdenden Maitagen ein starkes Hirschkalb zu setzen. Als dieses das Licht der Welt erblickte, wurde es bereits sehr aufregend. Das erfahrene Alttier hatte sich als Ort für den Setzakt den ruhigen, entlegenen Bergwald oberhalb der massiven Felswand ausgesucht, dort, wo es einen lockeren Lärchen-Zirben-Fichtenwald gibt, der sich seit Jahrhunderten dort oben in kleinen Inseln wieder und wieder verjüngt und in vielen unterschied lichen Wald- und Lichtungsstrukturen gleichzeitig Schutz, Äsung, Sonne und Schatten spendet. Umgefallene Baumgreise bieten auf dem Boden wiederum Pflanzen weiteren Besiedelungsraum und Tieren zusätzliche Deckung. Möglich ist dieser intakte Lebensraum, weil dort die Motorsägen aufgrund fehlender Ökonomie seit jeher schweigen und deshalb den natürlichen Zyklen freien Lauf gelassen wird. Dieser Lebensraum dort oben ist gerade für die Jungenaufzucht ideal. Die monotonen Altersklassenwälder der Menschen mit ihren riesigen Freiflächen und/oder gleichaltrigen Fichtenwäldern, fehlender Struktur und minimalem Äsungsangebot zwischen den Bäumen bedeuten für das Alttier nur Stress. Auch findet das Hirschkalb dort keinerlei Deckung. Am Beginn des Lebens Unmittelbar nach der Geburt versuche ich bereits, auf den eigenen Läufen zu stehen und werde von meiner Mutter trocken geleckt. Da kommt auch schon meine Halbschwester – oder vielleicht sogar meine richtige Schwester, wer weiß das nach der Hirschbrunft schon so genau? – herbei und will mir, wo ich noch unbeholfen bin und wie ein Weberknecht auf wackeligen Läufen stehe, einige Schläge mit den Vorderläufen verpassen. – Entweder aus Konkurrenzgründen oder einfach, weil jedes schwache Stück von den eigenen Artgenossen gnadenlos „bekämpft“ wird. Nur – meine energische Mama kann ihr Kalb aus dem letzten Jahr dann doch noch nach oben wegjagen. Als dieses nach kurzer Zeit wieder von unten erscheint und erneut heranstürmt, wird es abermals abgeschlagen, sodass Mamas Vorderläufe am Körper des Schmal stückes nur so schnalzen. Dies wiederholt sich einige Male, bis meine Schwester schließlich aufgibt und mich und Mama in Ruhe lässt. Und da ist dann noch der Adler, der ständig über den Baumkronen der alten, urigen, teilweise vom Blitz zerfetzten Baumwipfeln seine Kreise zieht. Das feine Säuseln in der Luft, welches mir jedes Mal „unter die Decke“ fährt und immer erst kurz vor seinem Erscheinen knapp oberhalb der Baumwipfel zu vernehmen ist, entsteht in den Fingern der nach außen stehenden langen Schwungfedern des Adlers. Dieses Säuseln lässt mich immer sofort zu Boden gehen und dann heißt es: nicht bewegen, den Atem anhalten, das Haupt fest auf den Boden drücken, die Lauscher anlegen und hoffen, dass mich der Adler, der nur einige Meter oberhalb vorbeistreicht, nicht entdeckt. Instinktiv spüre ich bei dieser oder ähnlichen Begegnungen einen kalten Schauer, und ich möchte am liebsten im Erdboden versinken oder einfach in eine andere Welt abtauchen. Jedes Mal, egal, ob irgendwo ein Zweig knackt, sich ein Steinchen löst, ein unerwarteter Schatten auftaucht – wenn auch nur von einer Wolke – oder der Wind heftiger durch den Wald bläst und die aneinanderreibenden Äste leise knarren, drücke ich mich in eine Bodenmulde oder in die Achsel eines Wurzelanlaufs und halte den Atem an. Begegnung der anderen Art Eines Tages ist es so weit: Ich bin beinahe einen Monat alt, meine Mutter lässt mich jetzt schon mehr als einen halben Tag lang allein, und da werden das Warten und das ständige Sich-Drücken langweilig. Trotz des konstanten Nervenkitzels ist es auch irgendwie immer dasselbe; einerseits entsteht zwar eine „Mordsangst“, andererseits aber auch eine inflationäre Haltung diesen Störungen gegenüber. Besonders als junger Hirsch, welcher in späteren Jahren stolz Herausforderungen annimmt und eines Tages als König herrscht, liegt es mir gewissermaßen im 14 WEIDWERK 8 | 2015 ww0815_s1417.indd 14 23.07.2015 11:27:31 Blut, immer mehr zu riskieren und zu erfahren. Auf einmal höre ich etwas Eigen artiges. Es klingt wie ein Pfiff, ähnlich einem Vogel. Vorsichtshalber ist wie üblich vorerst Drücken und Warten angesagt, aber nachdem man ja schließlich und endlich als künftiger König zu herrschen gedenkt, ist es an der Zeit, pro-offensiv in die Welt hinauszuschreiten. Schließlich kann ich ja immer noch abspringen, Deckung und Fluchtmöglichkeiten gibt es in besagtem Bergwald zuhauf, und ich kenne jeden Wurzelteller, jeden großen Stein und die deckungsreichen Jungwuchsinseln der Bäume. Klar muss man Auswege kennen, aber später einmal, im Vollbesitz sämtlicher Kräfte, können die Feinde schon kommen! Mit den Waffen auf dem Kopf und Vorderläufen, die beim Zuschlagen Knochen brechen können, bin ich nicht zum ständigen Davonlaufen geboren! Nach ein paar Metern stehen sie mir gegenüber – irgendwelche völlig unbekannten Fabelwesen, beinahe gleich groß wie ich und dennoch völlig anders; von der Statur her gleich, aber dennoch komplett unterschiedlich; was zum Geier ist das? Kleine, feine, spitze weiß-schwarze Gesichter, lange Haarbüschel überall am Träger und am Widerrist, zwischen den Lauschern spitze Hörner, die sich eigenartig nach hinten biegen; starke, kürzere Läufe und dann noch dieses zischende Pfeifen und Herumspringen, so, als ob es keine Schwerkraft gäbe! Eindeutig, das sind Lebe wesen aus einer anderen Welt, vielleicht Berg geister? Und so zieht sich der junge König zurück, und die neugierigen Gamsjahrlinge begleiten ihn ein Stück, oder jagen sie ihm hinterher? läuft überall hin, huscht von einem Waldeck ins nächste. Ja und dann sind da die großen Hirsche – die schreien und raufen, und das den ganzen Tag über! Den ganzen Tag über kann man laut sein, laufen, springen, ohne geschimpft zu werden; einfach ein Traum, die Hirschbrunft! Bald beginnt auch schon der erste Winter, ich wiege zu Beginn des Winters rund 55 kg. Jetzt ist es gut, dass ich schon im Mai zur Welt gekommen bin. Ich habe genügend Zeit gehabt, mir im Herbst einen dicken Wintermantel wachsen zu lassen. Diese – im wahrsten Sinne des Wortes – Winterdecke mit ihren beinahe borstigen und langen Grannen, welche wärmedämmende Luftpolster einschließen, ist in der kalten Jahreszeit ein idealer Schutz. Später gesetzte Artgenossen sind mit ihrem Stoffwechsel nicht nachgekommen und haben zum Teil noch die Kälberdecke mit den flauschigen, feinen roten Sommergrannen und den weißen Tupfen; diese Decke isoliert wiederum überhaupt nicht, bei jedem kalten Wind pfeift die Körperwärme nur so aus der Decke. Wirklich nicht zu beneiden! Die Nahrung wird in diesem Fall zum Einfach ein Traum, die Hirschbrunft Es vergehen die Frühsommertage voller Erfahrungen, und jeden Tag lernt der junge König des Waldes mehr über sich und seinen Lebensraum und seine Art genossen, bis das vorsichtige kleine Hirscherl kaum noch zur Ruhe kommt, denn es beginnt die bei Weitem lustigste Jahreszeit – die Hirschbrunft. Die Mama ist viel aufgeweckter und unternehmungslustiger als sonst, 15 WEIDWERK 8 | 2015 ww0815_s1417.indd 15 23.07.2015 11:27:36 IM FOKUS Rotwild Durchläufer – von wegen Substanzauf- meiner Lichter wächst etwas! Je näher bau! Im Gegenteil: Als spät gesetztes der Sommer kommt, desto länger werden diese Beulen, bis diese aussehen wie Kalb muss man sogar Angst vor dem Erfrieren haben! Zwei Wochen bei mehr Spieße. Bis es einfach genug ist und das als –20 °C gelten als sicheres Todes Gras ausgewachsen schmeckt, wenig urteil, und das kann auch keine noch Eiweiß hat und grob strukturiert ist. so gute Fütterung verhindern. Dann werden diese Spieße gefegt, die Endlich kommt das erste Frühjahr den Knochen umgebende Basthaut ab– herrlich sind die frischen Gräser! Jetzt gestreift. Was toll ist, denn nichts ist spielt meine Verdauung auf einmal ver- besser, als dorthin zu gehen, wo auch rückt, mit dem pH-Wert geht es auf die großen Hirsche hingehen und Mann und ab wie auf der Hochschaubahn; das tut, was die großen Hirsche auch Sodbrennen und Durchfall sind die tun und man von diesen geduldet wird. Folge. Schuld daran ist das leicht lös Einfach alles will nachgeahmt werden liche Eiweiß in den jungen Pflanzen mit – auch das Verschlagen mit den neuen wenig Zellstruktur, auf das sich die ge- Stangen auf dem Haupt; überall muss samte Pansenfauna erst einstellen muss und kann ich diese jetzt hineinstecken: – die nächste natürliche Barriere, die es in den Boden, ins Gras, ins Wasser und zu überleben gilt; wenn man schwach in den Dreck, dass es nur so spritzt. ist, während der ganze Körper wieder Ganz besonders toll ist es, die jungen zu wachsen beginnt, sich alle Grannen Bäume zu attackieren, dass denen die vom Körper lösen und man so richtig Rindenfetzen nur so herunterhängen, struppig aussieht, kann man Durchfall denn dann kann jeder, der zufällig vorschon überhaupt nicht brauchen. Und beikommt, von Weitem schon sehen: einige Artgenossen überleben das auch „ICH WAR HIER! ICH BIN EIN nicht . . . HIRSCH!“, und außerdem rieche ich Eine ganz komische Zeit, alles ist dann ganz besonders gut, und der anders: Die alten Hirsche schauen jetzt verschlagene Baum riecht ganz nach aus wie die Mama – oben ohne – und mir – jeder weiß jetzt, dass ich hier bin! schneiden deshalb grimmige Grimassen: Außerdem sind diese kleinen Bäume Sie verziehen das Haupt und rümpfen richtig gute Therapeuten, wenn es wiedie Nase, verdrehen die Lichter, stre- der einmal nicht so gut läuft, ich von cken den Lecker seitlich aus dem Äser einem älteren Hirsch in die Schranken und lassen diesen so hinunterhängen, gewiesen worden bin; so ein ordentlich als hätten sie so lange Eckzähne wie ein verschlagener Baum legt schließlich Vampir! Dabei weiß ich ganz genau: auch Zeugnis ab von meiner Stärke! Diese verkümmerten Eckzähne, die So vergehen Jahre, und aus dem Grandln, dienten bei den Urhirschen Hirschkalb wird ein erwachsener Hirsch als Waffe! Solche „überdimensionalen“ – mit vollen 7 Jahren erst. Und dann, ja Eckzähne sind heute noch beim Munt- dann ist der Hirsch lange noch nicht jak oder beim Wasserreh zu finden. Die erwachsen, denn mit seinen 7 Jahren „Lecker imitation“ der alten Hirsche ist er nur körperlich ausgewachsen, vertaugt für den Kampf heutzutage aller- gleichbar mit einem 20-jährigen Mann. Er ist im Saft, strotzt vor Tatendrang dings überhaupt nicht, auch wenn es im Zusammenspiel mit dem Zähneknir- und ist bis zum Rand voll mit Testosteschen, Blasen und Fauchen ganz schön ron. Die alten Hirsche aber nehmen grimmig wirkt . . . Wenn man nicht auf ihn, der jetzt im Sommer bereits an die Seite geht, wird man entweder rich- die 200 kg wiegt, immer noch nicht so tig fest in den Rücken gebissen oder richtig ernst. Aber jetzt wird es Zeit, dass sie es tun, und der Hirsch will jetzt man bekommt ein paar Hiebe mit den endlich, in der schönsten Zeit des Vorderläufen, dass der Schädel nur so Jahres, in der alles Rotwild Tag und brummt! Nacht unterwegs ist und jeder alles für Das tun, was die Gunst der Tiere gibt, selbst Platzauch die Hirsche tun hirsch sein und über die Tiere herrIrgendetwas drückt mich auf dem schen. Eben wie ein König leben. Aber Haupt! Vor den Lauschern und oberhalb das ist eine andere Geschichte . . . DER WINTER NAHT. Wird man als Kalb zu spät gesetzt, kann das im bevor stehenden Winter den Tod bedeuten. ZÄHNE ALS WAFFE? Die Eckzähne, die Grandln, dienten bei den Urhirschen als Waffe – noch heute wird damit gedroht . . . DA WÄCHST WAS! Vor den Lauschern und ober halb der Lichter wachsen Beulen, die immer größer werden! 16 WEIDWERK 8 | 2015 ww0815_s1417.indd 16 23.07.2015 11:27:45 17 WEIDWERK 8 | 2015 ww0815_s1417.indd 17 23.07.2015 11:28:00
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